Entscheidungsdatum
14.02.2020Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z4Spruch
W182 2216617-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20.02.2019, Zl. 733595207 - 171362331, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 30.10.2019 gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:
A) I. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt VII. des angefochtenen
Bescheides wird insofern stattgegeben, als gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, die Dauer des Einreiseverbotes auf sieben Jahre herabgesetzt wird.
II. Im Übrigen wird die Beschwerde gemäß §§ 7 Abs. 1 und Abs. 4, 8 Abs. 1 Z 2, 10 Abs. 1 Z 4, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I. Nr. 100/2005 idgF, §§ 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl I. Nr. 87/2012 idgF, und §§ 52 Abs. 2 Z 3 FPG idgF, § 46 FPG, § 52 Abs. 9 FPG, § 55 Abs. 1 - 3 FPG als unbegründet abgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz
(B-VG), BGBl I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an, ist Muslim, stammt aus der Republik Tschetschenien und reiste im November 2003 im Alter von 5 Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern illegal in das Bundesgebiet ein. Für den damals minderjährigen BF wurde am 20.11.2003 ein Asylerstreckungsantrag unter Bezugnahme auf das Verfahren seines Vaters gestellt.
Dem Vater des BF wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 01.04.2004, Zl. 03 36.15-BAT, gemäß § 7 Asylgesetz 1997, BGBl I 1997/76 idgF, Asyl gewährt und gemäß § 12 leg. cit. festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Der Vater hatte als Fluchtgrund in der Einvernahme beim Bundesasylamt am 30.03.2004 angegeben, er sei vom russischen Militär verfolgt, da im Februar 2000 russische Soldaten sein Haus durchsucht hätten und dabei die tschetschenische Uniform und das Abzeichen eines Neffen gefunden hätten, welcher im ersten und zweiten Krieg in Tschetschenien gekämpft hätte. Zwei seiner Cousins seien ebenfalls auf Seite des tschetschenischen Widerstandes an Kampfhandlungen gegen das russische Militär beteiligt gewesen und genau wie der Neffe getötet worden.
Dem BF wurde aufgrund seiner Eigenschaft als Familienangehöriger des asylberechtigten Vaters mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 06.04.2004, Zl. 03 35.952-BAT, gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 durch Erstreckung in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
Der BF wurde mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2014, Zl. XXXX , wegen der Verbrechen des Raubes nach §142 Abs. 1 und 2 StGB, des versuchten Raubes nach §§ 15, 142 Abs. 1 und 2 StGB, des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB sowie des Diebstahls durch Einbruchs nach §§ 127, 129 Z 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt, welche ihm unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurde. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX 2014 gemeinsam mit einer unmündigen Person und einem weiteren unbekannten Täter im bewussten und gewollten Zusammenwirken als Mittäter durch Androhung von Schlägen und Wegversperren, wobei der Raub ohne Anwendung von erheblicher Gewalt an einer Sache geringen Wertes begangen wurde und die Tat nur unbedeutende Folgen nach sich zog, einer Person Bargeld in Höhe von EUR 5,- weggenommen einer anderen Person einen Bargeldbetrag von EUR 5,- wegzunehmen versucht hat, wobei die Ausführung daran scheiterte, dass die Person kein Bargeld bei sich führte. Am XXXX 2014 hat er im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit fünf anderen Personen als Mittäter einer Person Bargeld in Höhe von EUR 20,-, einer Person Bargeld in Höhe von EUR 115,- und einer Person ein Mobiltelefon im Wert von ca. EUR 400,- weggenommen indem die Opfer umringt wurden, die Herausgabe von Bargeld und Wertsachen gefordert wurde, ein Mittäter einem Opfer mehrmals mit der flachen Hand ins Gesicht schlug und ein Mittäter einem Opfer mit der flachen Hand und der Faust wiederholt ins Gesicht schlug, während der BF EUR 115,- aus der Geldbörse eines Opfers nahm und die Komplizen Aufpasserdienste leisteten, die Opfer bedrängten und einschüchterten. Am XXXX 2014 hat der BF im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit zwei anderen Mittätern 27 Getränkedosen im Wert von EUR 75,- einer Person durch Einbruch in dessen Geschäftslokal weggenommen, in dem er das Schiebefenster aufschob und mit einem Mittäter ins Innere des Geschäftslokals einstieg. Als mildernd wurden dabei das Geständnis, die Unbescholtenheit, der teilweise Versuch und die teilweise Schadensgutmachung durch Sicherstellung der Beute, als erschwerend das Zusammentreffen von 4 Verbrechen gewertet.
Mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2015, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB und der Vergehen der Urkundenunterdrückung nach § 229 Abs. 1 StGB und der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs. 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten verurteilt und davon 9 Monate unter Setzung einer Probezeit von 3 Jahren bedingt nachgesehen wurden. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF im bewussten und gewollten Zusammenwirken am XXXX 2015 mit zwei anderen Personen als Mittäter einer Person ein Mobiltelefon in nicht mehr feststellbarem Wert, eine Silberkette ohne Anhänger und ein Silberarmband im Gesamtwert von EUR 1.000,- wegnahm bzw. abnötigte, indem sie die Person in ein Gespräch verwickelten, ein Mittäter das Opfer aufforderte ihm sein Mobiltelefon und sein Armband auszuhändigen, was dieses auch tat, und der andere Mittäter dem Opfer die Halskette gewaltsam vom Hals riss und anschließend mehrere Faustschläge ins Gesicht und Fußtritte versetzte, und vier anderen Personen Mobiltelefone in nicht mehr feststellbaren Werten, einen Bargeldbetrag in der Höhe von EUR 70,-
Kopfhörer, eine Jacke und eine Ledergeldbörse in nicht mehr feststellbaren Werten wegnahm bzw. abnötigte, indem sie die Opfer einkreisten und unter Androhung von Schlägen deren Mobiltelefone und Geld forderten, diese den Opfern teilweise entrissen und ein Mittäter nach der Übergabe der Mobiltelefone die SIM-Karte aus dem Mobiltelefon eines Opfers entfernte, diese in seinen Mund nahm, zerbiss und auf den Boden spuckte; im Zuge der zuletzt genannten Handlung zwei Schülerausweise, eine Fahrkarte und eine Fitnesskarte, sohin Urkunden, unterdrückten, sowie im Zuge dieser Tathandlung ein unbares Zahlungsmittel, nämlich eine Bankomatkarte, unterdrückten. Als mildernd wurden dabei das reumütige Geständnis und der Beitrag zur Wahrheitsfindung, als erschwerend die einschlägige Vorstrafe, der rasche Rückfall und das Zusammentreffen von zwei Verbrechen und zwei Vergehen beurteilt.
Mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2017, Zl. XXXX , wurde der BF wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 2. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am XXXX 2016 mit zwei Mittätern unter Verwendung einer Waffe, nämlich einer Gaspistole, mit Gewalt und durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben zwei Person fremde bewegliche Sachen, nämlich deren Mobiltelefone mit dem Vorsatz wegnahm, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, indem die Opfer von drei Beitragstätern angesprochen und gefragt wurden, ob sie Marihuana verkaufen würden, ein Mittäter plötzlich ein Opfer von hinten umklammerte, ihm eine Pistole an den Kopf hielt und dabei sagte:
"ich schwöre auf meine Mutter, ich drücke ab!" sowie ihm mit der Pistole mehrfach gegen den Kopf schlug, ein Mittäter und der BF dem Opfer Faustschläge versetzten, diesem und dem anderen Opfer, das von zwei unbekannten Tätern umkreist wurde, ihre Mobiltelefone aus den Taschen nahmen und der BF einem Opfer, als dieser versuchte zu fliehen, einen Tritt in den Rücken versetzte. Als mildernd wurden die großteils geständige Verantwortung und die Tatbegehung im Alter unter 21 Jahren, als erschwerend die zwei einschlägigen Vorstrafen, die Begehung der strafbaren Handlung während offener Probezeit und 2 verletzte Opfer gewertet.
Im Zuge des seitens des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) eingeleiteten Aberkennungsverfahrens wurde der BF am 20.02.2019 niederschriftlich einvernommen. Er gab dabei zu Protokoll, dass er Tschetschenisch, Deutsch, Englisch und ein bisschen Russisch sprechen würde. Er sei gesund, im Alter von 5 Jahren nach Österreich gekommen und habe 4 Jahre die Volksschule, 4 Jahre die Hauptschule und 1 Jahr die Polytechnische Schule besucht, gearbeitet habe er bis jetzt noch nicht. Er habe vermutlich Tanten und Onkel in der Russischen Föderation, mit denen er keinen Kontakt habe. Für den Fall einer Rückkehr befürchte er umgebracht zu werden, da ein Großcousin von ihm in Syrien gewesen sei; in einen anderen Teil des Heimatlandes könne er nicht gehen, da er nicht lesen und schreiben könne. Die Familie des BF lebe in Österreich, er würde seinen Lebensunterhalt durch den Staat finanzieren.
2. Mit dem im Spruch genannten, angefochtenen Bescheid vom 20.02.2019 erkannte das Bundesamt dem BF den mit Bescheid vom 06.04.2004 zuerkannten Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab und stellte gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters erkannte das Bundesamt dem BF gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihm gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA- VG wurde gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen (Spruchpunkt IV). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.) und gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein zehnjähriges Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt VII.).
Darin wurde u.a. festgestellt, dass der BF Staatsangehöriger der Russischen Föderation sei und Tschetschenisch sprechen würde. Er stamme aus Tschetschenien, leide an keiner lebensbedrohlichen Erkrankung und habe nach wie vor verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte in der Russischen Föderation. Der BF sei mehrfach strafrechtlich angefallen und stelle eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Eine Verfolgung im Herkunftsland könne nicht festgestellt werden, der BF sei arbeitsfähig und habe familiäre Anknüpfungspunkte im Heimatland. Aufgrund der rechtskräftigen Verurteilung wegen eines besonders schweren Verbrechens seien die Voraussetzungen einer Aberkennung nach § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 erfüllt. Der subsidiäre Schutz sei dem BF nicht zuzuerkennen, da dieser keine Gründe glaubhaft vorgebracht habe, die ein Leben in der Russischen Föderation als unzumutbar darzustellen vermochten. Zu den in Österreich lebenden Familienangehörigen bestehe kein Abhängigkeitsverhältnis und daher kein schützenswertes Familienleben, darüber würde keine besondere Integration des BF in Österreich vorliegen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sei daher zulässig.
Mit Verfahrensanordnung vom 20.02.2019 wurde dem BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.
3. Gegen den am 23.02.2019 durch persönliche Übernahme zugestellten Bescheid erhob der BF durch seine rechtliche Vertretung fristgerecht in vollem Umfang Beschwerde und führte darin im Wesentlichen aus, die belangte Behörde habe den maßgeblichen Sachverhalt nicht festgestellt, da sie die Aberkennung pauschal mit den strafrechtlichen Taten des BF begründet und nicht das Gesamtverhalten des BF in Betracht gezogen habe, und liege entgegen der Ansicht der Behörde ein schützenswertes Privatleben im Sinne des Art. 8 EMRK vor. Es wurde u.a. ein Antrag auf Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung sowie auf Zuerkennung einer aufschiebenden Wirkung der Beschwerde gestellt.
4. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 30.10.2019 wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF in Anwesenheit des Vertreters des BF sowie einer Dolmetscherin der tschetschenischen Sprache, wobei die Einvernahme letztlich zur Gänze auf Deutsch durchgeführt werden konnte, durch Einvernahme des Vaters des BF als Zeugen sowie weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.
Der BF brachte dabei im Wesentlichen vor, in Österreich seien seine Eltern, zwei Brüder, zwei Schwestern, fünf Onkel und eine Großmutter aufhältig, derzeit wohne er bei einem Onkel. Zu Familienangehörigen im Herkunftsland habe er keinen Kontakt. Er sei ledig und kinderlos und befinde sich seit 11 Monaten in einer Beziehung. Er sei 2003 nach Österreich gekommen, habe 4 Jahre die Volksschule, 4 Jahre die Hauptschule und dann das Polytechnikum in Österreich besucht, danach sei er beim AMS gemeldet gewesen und habe berufsorientierende Kurse besucht. Im Juni 2019 sei er nach Verbüßung der vollständigen Haftstrafe aus der Haft entlassen worden, er habe damals die falschen Freunde gehabt und keine Ziele. Er arbeite derzeit als Kellner in einem Gastronomiebetrieb, wolle aber eine Lehre als Schlosser absolvieren und sei es sein Ziel, mit seiner Freundin eine Familie zu gründen und seine Eltern stolz zu machen. Einer Rückkehr in die Russische Föderation stehe entgegen, dass er auf Kyrillisch weder lesen noch schreiben und daher auch keine Arbeit finden und kein Geld verdienen könne, und dass ihm Verfolgung drohe, da ein Großcousin von ihm auf dem Weg nach Syrien festgenommen und nach Tschetschenien abgeschoben worden sei.
Der Vater des BF gab im Zuge der Zeugenbefragung an, dass seine beiden Schwestern mit ihren Familien in Tschetschenien leben würden und ein Onkel väterlicherseits irgendwo in der Russischen Föderation aufhältig sei. Der BF würde im Fall der Rückkehr in die Russische Föderation keine Unterstützung durch die Familie erhalten und drohe ihm die Festnahme, um den Vater zu einer Rückkehr nach Tschetschenien zu nötigen. In Tschetschenien sei ein Verfahren gegen ihn geführt worden, da während einer Hausdurchsuchung durch russische Sicherheitskräfte im Rahmen einer Kontrolle oder Säuberungskation im Jahr 2002 eine Militäruniform bzw. ein Auto mit gefälschten Dokumenten gefunden worden sei. Sein Cousin sei damals verhaftet, jedoch später freigelassen worden.
Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung brachte der BF eine Bestätigung eines Gastronomiebetriebes über die Beschäftigung als Hilfskraft in Vorlage.
In der Beschwerdeverhandlung wurden den Parteien aktuelle Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation zu Kenntnis gebracht.
In einer schriftlichen Stellungnahme für den BF vom 08.11.2019 zu den in der Verhandlung zu Kenntnis gebrachten Länderinformationen wurde auf kollektive Bestrafungen von Familienangehörigen von mutmaßlichen Rebellen verwiesen und wurde dazu auf einen Bericht von Human Rights Watch vom 14.07.2015 sowie eine ACCORD-Anfragebeantwortung vom 17.01.2014 verwiesen. Dazu wurde auch angemerkt, dass sich das Bundesamt über die Feststellungen des Bundesasylamtes vom 30.03.2004, indem das Fluchtvorbringen des Vaters des BF als glaubwürdig erachtet worden sei, hinweggesetzt habe. Im Wesentlichen habe der Vater des BF auch in der Beschwerdeverhandlung über 20 Jahre nach seiner Flucht gleichlautende Angaben über die Fluchtgründe gemacht. Weiters wurde hervorgehoben, dass der BF mittlerweile einer geregelten Erwerbstätigkeit nachgehe, eine längerdauernde Beziehung zu einer österreichischen Staatsbürgerin führe, seit über 15 Jahren in Österreich wohne und hier die Pflichtschule absolviert habe. Die Beweiswürdigung des Bundesamtes zur Gefährdungsprognose hinsichtlich der Aberkennung des Status des Asylberechtigten sowie zu den Voraussetzungen für die Erteilung eines Einreiseverbotes würden sich hingegen ausschließlich auf den Verweis auf die Verurteilungen des BF beschränken.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation, der tschetschenischen Volksgruppe zugehörig und Moslem. Der (damals minderjährige, heute volljährige) BF reiste gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern im November 2004 nach Österreich, wo für ihn am 20.11.2003 ein Asylerstreckungsantrag gestellt wurde. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 06.04.2004, Zl. 03 35.952-BAT, wurde seinem Antrag stattgegeben und ihm gemäß § 11 Abs. 1 AsylG 1997 durch Erstreckung in Österreich Asyl gewährt und gemäß § 12 AsylG 1997 festgestellt, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.
Der BF wurde im Bundesgebiet seit 2014 insgesamt dreimal rechtskräftig u.a. wegen des Verbrechens des Raubes verurteilt. Zuletzt wurde der BF mit Urteil eines Landesgerichts vom XXXX 2017, Zl. XXXX , wegen des Verbrechens des schweren Raubes nach §§ 142 Abs. 1, 143 Abs. 1 2. Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt.
Der BF befand sich von 01.04.2015 bis XXXX 2015 sowie von 19.12.2016 bis 18.06.2019 in einer Justizanstalt.
Die Muttersprache des BF ist Tschetschenisch, er verfügt jedoch über gute Deutschkenntnisse.
Der BF ist gesund und arbeitsfähig. Er besuchte in Österreich 4 Jahre die Volksschule, 4 Jahre die Hauptschule und 1 Jahr die Polytechnische Schule, danach absolvierte der BF berufsorientierende Kurse beim AMS. Seit Oktober 2019 ist er als Hilfskraft in einem Gastronomiebetrieb beschäftigt, zuvor ging der BF während seines Aufenthalts in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nach.
Der BF ist ledig und hat keine Kinder. Er befindet sich seit ca. einem Jahr in einer Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin, ein gemeinsamer Haushalt wurde bis dato nicht behauptet.
In Österreich leben die Eltern des BF, seine Geschwister, fünf Onkel und eine Großmutter. Der BF lebte zuletzt bei einem Onkel.
Der BF verfügt in Tschetschenien über familiäre Anknüpfungspunkte in Form zweier Tanten samt deren Familien und eines Großonkels.
1.2. Die Umstände, auf Grund deren der Vater des BF als Flüchtling anerkannt worden ist, bestehen nicht mehr. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF oder sein Vater nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffe ausgesetzt sind. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass sie konkret Gefahr liefen, im Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.
Es konnte ferner nicht festgestellt werden, dass der BF im Falle seiner Rückkehr in die Russische Föderation in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde und ihm die notdürftigste Lebensgrundlage entzogen wäre. Die Verwandten des BF in der Russischen Föderation könnten ihm nach einer Rückkehr im Bedarfsfall anfänglich unterstützen.
Es ist dem BF möglich und zumutbar, sich in der Russischen Föderation auch außerhalb der Teilrepublik Tschetschenien und des Föderationskreises Nordkaukasus niederzulassen und sich dort anzumelden. Die wirtschaftlich stärkeren Metropolen und Regionen in Russland bieten trotz der derzeitigen Wirtschaftskrise bei vorhandener Arbeitswilligkeit entsprechende Chancen auch für russische Staatsangehörige aus den Kaukasusrepubliken.
Der BF hat Zugang zu Sozialbeihilfen, Krankenversicherung und medizinischer Versorgung.
1.3. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen:
Politische Lage
Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 29.7.2019, vgl. GIZ 8.2019c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 8.2019a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 8.2019a). Wladimir Putin ist im März 2018 bei der Präsidentschaftswahl mit 76,7% im Amt bestätigt worden (Standard.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl stärkster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018, vgl. FH 4.2.2019). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).
Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Zweikammerparlament, bestehend aus Staatsduma und Föderationsrat, ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Sieben-Prozent-Klausel. Wichtige Parteien sind: die Regierungspartei Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern; die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern , die die Nachfolgepartei der früheren KP ist; die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist; die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern; die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern; die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 5.2019a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 14.2.2019b). Die sogenannte Systemopposition stellt die etablierten Machtverhältnisse nicht in Frage und übt nur moderate Kritik am Kreml (SWP 11.2018). Die Nicht-Systemopposition unterstützt zwar die parlamentarische Demokratie als Organisationsform der Politik, nimmt aber nicht an Wahlen teil, da ihnen die Teilnahme wegen der restriktiven Regeln oder vermeintlicher Formalfehler versagt wird (Dekoder 24.5.2016).
Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Annexion der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 8.2019a, vgl. AA 14.2.2019b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 8.2019a).
Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 8.2019a).
Bei den Regionalwahlen am 8.9.2019 in Russland hat die Regierungspartei Einiges Russland laut Angaben der Wahlleitung in den meisten Regionen ihre Mehrheit verteidigt. Im umkämpften Moskauer Stadtrat verlor sie allerdings viele Mandate (Zeit Online 9.9.2019). Hier stellt die Partei künftig nur noch 25 von 45 Vertretern, zuvor waren es 38. Die Kommunisten, die bisher fünf Stadträte stellten, bekommen 13 Sitze. Die liberale Jabloko-Partei bekommt vier und die linksgerichtete Partei Gerechtes Russland drei Sitze (ORF 18.9.2019). Die beiden letzten waren bisher nicht im Moskauer Stadtrat vertreten. Zuvor sind zahlreiche Oppositionskandidaten von der Wahl ausgeschlossen worden, was zu Protesten geführt hat (Zeit Online 9.9.2019), bei denen mehr als 1000 Demonstranten festgenommen wurden (Kleine Zeitung 28.7.2019). Viele von den Oppositionskandidaten haben zu einer "smarten Abstimmung" aufgerufen. Die Bürgerinnen sollten alles wählen - nur nicht die Kandidaten der Regierungspartei. Bei den für die russische Regierung besonders wichtigen Gouverneurswahlen gewannen die Kandidaten der Regierungspartei überall. Umfragen hatten der Partei wegen der Unzufriedenheit über die wirtschaftliche Lage im Land teils massive Verluste vorhergesagt (Zeit Online 9.9.2019).
Quellen:
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CIA - Central Intelligence Agency (29.7.2019): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 6.8.2019
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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 6.8.2019
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FH - Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 6.8.2019
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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 5.9.2019
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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 5.9.2019
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Kleine Zeitung (28.7.2019): Mehr als 1.300 Festnahmen bei Kundgebung in Moskau,
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https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 6.8.2019
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Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 6.8.2019
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Zeit Online (9.9.2019): Russische Regierungspartei gewinnt Regionalwahlen,
https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-09/russland-kreml-partei-sieg-regionalwahlen-moskau, Zugriff 24.9.2019
Tschetschenien
Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2019 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 24.1.2019), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 Tschetschenen außerhalb der Region leben - eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handelt es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens. Diese entstanden bereits vor über einem Jahrhundert , teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum. Was die Anzahl von Tschetschenen in anderen russischen Landesteilen anbelangt, ist es aufgrund der öffentlichen Datenlage schwierig, verlässliche Aussagen zu treffen (ÖB Moskau 12.2018). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik. Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen zu sein (Rüdisser 11.2012).
In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen. Auch im Vorfeld der Wahlen hatte Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml. Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen (ÖB Moskau 12.2018, vgl. AA 13.2.2019). Um die Kontrolle über die Republik zu behalten, wendet Kadyrow unterschiedliche Formen der Gewalt an, wie z. B. Entführungen, Folter und außergerichtliche Tötungen (FH 4.2.2019, vgl. AA 13.2.2019).
Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute "föderale Machtvertikale" dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür
des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (13.2.2019): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/1458482/4598_1551701623_auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-russischen-foederation-stand-dezember-2018-13-02-2019.pdf, Zugriff 6.8.2019
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FH - Freedom House (4.2.2019): Jahresbericht zu politischen Rechten und bürgerlichen Freiheiten im Jahr 2018 - Russland, https://www.ecoi.net/de/dokument/2002603.html, Zugriff 6.8.2019
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GKS - Staatliches Statistikamt (24.1.2019): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2019,
https://www.ppn2018.ru/novosti/naselenie-rossii-sokratilos-vpervye-za-10-let.html, Zugriff 6.8.2019
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ÖB Moskau (12.2018): Asylländerbericht Russische Föderation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001768/RUSS_%C3%96B_Bericht_2018_12.pdf, Zugriff 6.8.2019
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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,
http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 6.8.2019
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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 6.8.2019
Sicherheitslage
Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 3.9.2019a, vgl. BMeiA 3.9.2019, GIZ 8.2019d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 3.9.2019).
Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Die gewaltsamen Zwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).
Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sog. IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (3.9.2019a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,
https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 3.9.2019
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BmeiA (3.9.2019): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 3.9.2019
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Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,
https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018
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EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (3.9.2019): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 3.9.2019
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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (8.2019d): Russland, Alltag,
https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 3.9.2019
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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 3.9.2019
Nordkaukasus
Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 13.2.2019). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).
Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sog. IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Nowaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine ‚Provinz Kaukasus', als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus-Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak, haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sog. IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt hat. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des sog. IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sog. IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2018). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018). 2018 erzielten die Strafverfolgungsbehörden maßgebliche Erfolge, die Anzahl terroristisch motivierter Verbrechen wurde mehr als halbiert. Sechs Terroranschläge wurden verhindert und insgesamt 50 Terroristen getötet. In den vergangenen Jahren hat sich die Hauptkonfliktzone von Tschetschenien in die Nachbarrepublik Dagestan verlagert, die nunmehr als gewaltreichste Republik im Nordkaukasus gilt, mit der vergleichsweise höchsten Anzahl an extremistischen Kämpfern. Die Art des Aufstands hat sich jedoch geändert: aus großen kampferprobten Gruppierungen wurden kleinere, im Verborgenen agierende Gruppen (ÖB Moskau 12.2018).
Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2018).
Im Jahr 2018 sank die Gesamtzahl der Opfer des bewaffneten Konflikts im Nordkaukasus gegenüber 2017 um 38,3%, und zwar von 175 auf 108 Personen. Von allen Regionen des Föderationskreis Nordkaukasus hatte Dagestan im vergangenen Jahr die größte Zahl der Toten und Verwundeten zu verzeichnen; Tschetschenien belegte den zweiten Platz. Im gesamten Nordkaukasus sind von Jänner bis Juni 2019 mindestens 31 Menschen dem Konflikt zum Opfer gefallen. Das ist fast die Hälfte gegenüber dem ersten Halbjahr 2018, als es mindestens 63 Opfer waren. In der ersten Jahreshälfte 2019 umfasste die Zahl der Konfliktopfer 23 Tote und acht Verletzte. Zu den Opfern gehören 22 mutmaßliche Aufständische und eine Exekutivkraft. Verwundet wurden sieben Exekutivkräfte und ein Zivilist. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 lag Kabardino-Balkarien mit der Zahl der erfassten Opfer, neun Tote und ein Verletzter, an der Spitze. Als nächstes folgt Dagestan mit mindestens neun Toten, danach Tschetschenien mit zwei getöteten Personen und vier Verletzten. In Inguschetien wurde eine Person getötet und drei verletzt; im Gebiet Stawropol wurden zwei Personen getötet. Dagestan ist führend in der Anzahl der bewaffneten Vorfälle - mindestens vier bewaffnete Zusammenstöße fanden in dieser Republik in den ersten sechs Monaten des Jahres 2019 statt. Im gleichen Zeitraum wurden in Kabardino-Balkarien drei bewaffnete Vorfälle registriert, zwei in Tschetschenien, einer in Inguschetien und im Gebiet Stawropol. Seit Anfang dieses Jahres gab es in Karatschai-Tscherkessien und in Nordossetien keine Konflik