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E000 EU- Recht allgemeinNorm
AsylG 2005 §3 Abs1Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2019/18/0460Ra 2019/18/0461Ra 2019/18/0462Ra 2019/18/0463Ra 2019/18/0464Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision von
1. A W, 2. M N, 3. A N, 4. W N, 5. N N, und 6. K N, alle vertreten durch Mag. Julian Alen Motamedi, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Baumannstraße 9/12A, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Oktober 2019, 1. W123 2202538- 1/11E, 2. W123 2202531-1/11E, 3. W123 2202528-1/5E,
4. W123 2202535-1/5E, 5. W123 2202534-1/5E und 6. W123 2202530- 1/5E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet, zurückgewiesen. II. zu Recht erkannt:
Spruch
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Die revisionswerbenden Parteien sind alle afghanische Staatsangehörige, stammen aus der Provinz Takhar und sind Mitglieder einer Familie. Die Erstrevisionswerberin und der Zweitrevisionswerber sind Ehegatten und Eltern der minderjährigen dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien.
2 Die Erstrevisionswerberin sowie der Zweitrevisionswerber stellten am 11. September 2016 ihre Anträge auf internationalen Schutz, welche sie im Wesentlichen damit begründeten, dass der Zweitrevisionswerber aufgrund seiner Arbeit bei einer Flüchtlingsbehörde in Afghanistan, welche mit dem UNHCR kooperiere, von den Taliban bedroht worden sei.
3 Für die dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien wurden von den gesetzlichen Vertretern 11. September 2016 bzw. am 14. Juni 2018 Anträge auf internationalen Schutz gestellt. 4 Mit Bescheiden jeweils vom 20. bzw. 22. Juni 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge auf internationalen Schutz zur Gänze ab, erteilte den revisionswerbenden Parteien keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Zudem legte das BFA eine 14-tägige Frist für die freiwillige Ausreise fest.
5 In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde brachte die Erstrevisionswerberin ergänzend und unter näherer Ausführung vor, ihr drohe Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der "westlich orientierten" Frauen.
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerden nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
7 Begründend führte das BVwG insbesondere aus, dass die Erstrevisionswerberin, die sich erst seit drei Jahren in Österreich befinde und hinsichtlich ihrer Deutschkenntnisse über ein ÖSD-Zertifikat auf der Stufe A2 verfüge, keine Lebensweise angenommen habe, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle. Ihren gewöhnlichen Ablauf eines durchschnittlichen Tages in Österreich beschreibe sie damit, dass sie sich um ihre Kinder kümmere, privat Deutsch lerne und die Einkäufe erledige sowie bestimmten Freizeitaktivitäten nachgehe. Aktivitäten, die wesentlich über Kinderbetreuung, Haushalt, Einkaufen und Freizeitgestaltung hinausgingen, habe sie keine entfaltet. Weder habe sie ausreichend Initiativen unternommen, um sich weiterzubilden, noch habe sie den in der mündlichen Verhandlung geäußerten Berufswunsch als Friseurin bislang erkennbar verfolgt oder sei entgeltlich bzw. ehrenamtlich einer Tätigkeit in Österreich nachgegangen. Die Umstände ihres Alltagslebens in Österreich ließen damit nicht darauf schließen, dass sie eine selbstbestimmte Lebensführung und Geisteshaltung angenommen habe und dies ein wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden sei, die sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan in einer die dortigen sozialen Normen verletzenden Weise exponieren würde.
8 Dem Fluchtvorbringen des Zweitrevisionswerbers schenkte das BVwG keinen Glauben und wies den Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich Asyl schon deshalb ab.
9 Hinsichtlich subsidiären Schutz führte das BVwG aus: Da die Erstrevisionswerberin sowie der Zweitrevisionswerber junge, gesunde und arbeitsfähige Menschen seien, wobei zweiterer über eine zwölfjährige Schulausbildung, eine dreijährige Universitätsausbildung sowie mehrjährige Berufserfahrung verfüge, könnten die revisionswerbenden Parteien nach Kabul zurückkehren. Die Existenz der Familie sei durch die Erwerbsfähigkeit des Zweitrevisionswerbers abgesichert, wobei sie zudem mit Unterstützung durch die in Afghanistan lebende Familie rechnen könnten. Weiters stünde den revisionswerbenden Parteien eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat oder Mazar-e Sharif zur Verfügung.
10 Dagegen wendet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, in der zur Zulässigkeit zusammengefasst geltend gemacht wird, das BVwG habe sich im Rahmen der Beweiswürdigung nicht in der erforderlichen Art und Weise mit der westlichen Orientierung der Erstrevisionswerberin auseinandergesetzt. Weiters sei das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es die besondere Vulnerabilität der minderjährigen revisionswerbenden Parteien nicht berücksichtigt und die Interessenabwägung im Sinne des Art. 8 EMRK in einer unvertretbaren Weise vorgenommen habe.
11 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
13 Die Revision ist teilweise zulässig und begründet. 14 Zu Spruchpunkt I.:
15 Soweit sich die Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet, gelingt es ihr nicht, eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG darzulegen. Nach der ständigen hg. Rechtsprechung wirft eine im Einzelfall vorgenommene, nicht als grob fehlerhaft erkennbare Beweiswürdigung im Allgemeinen keine über den Einzelfall hinausgehende Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG auf (vgl. VwGH 17.12.2019, Ra 2019/18/0278, mwN).
16 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung vom Heimatstaat ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren. Es sind daher konkrete Feststellungen zur Lebensweise der Asylwerberin im Entscheidungszeitpunkt zu treffen und ist ihr diesbezügliches Vorbringen einer Prüfung zu unterziehen (vgl. VwGH 1.2.2019, Ra 2018/18/0544 bis 0547, mwN). 17 Nicht entscheidend ist, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat eine derartige Lebensweise gelebt hatte bzw. deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthalts in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste (vgl. etwa VwGH 1.2.2019, Ra 2018/18/0544, mwN).
18 Nicht jede Änderung der Lebensführung einer Asylwerberin während ihres Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrecht erhalten werden könnte, führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes aber dazu, dass der Asylwerberin deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Asylwerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (vgl. VwGH 1.2.2019, Ra 2018/18/0544, mwN).
19 Im vorliegenden Fall hat das BVwG eine solche grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung der Erstrevisionswerberin, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck komme, die zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden sei und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte, verneint. Es hat dazu eine mündliche Verhandlung durchgeführt, in der es sich einen persönlichen Eindruck von der Erstrevisionswerberin machen konnte, und hat seine Erwägungen in einer nicht unvertretbaren Beweiswürdigung dargelegt. 20 Die Revision tritt zwar einzelnen Teilaspekten dieser Beweiswürdigung des BVwG entgegen und stellt deren Tragfähigkeit in Zweifel. Es gelingt ihr aber letztlich nicht aufzuzeigen, dass sich die Beweiswürdigung des BVwG auch bei Ausblendung dieser Teilaspekte als unvertretbar darstellen würde, weshalb die Revision, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet, zurückzuweisen war.
21 Zu Spruchpunkt II.:
22 Zulässig und berechtigt ist die Revision hingegen mit ihrem Vorbringen, das BVwG sei von der hg. Rechtsprechung insofern abgewichen, als es die besondere Vulnerabilität der minderjährigen revisionswerbenden Parteien nicht berücksichtigt habe. 23 Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung zur Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten führte das BVwG aus, die revisionswerbenden Parteien könnten nach Kabul zurückkehren, wo die Familie der Erstrevisionswerberin über ein Haus verfüge. Die Existenz der minderjährigen dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien sei bei Rückkehr im Familienverband durch die Erwerbsfähigkeit des Zweitrevisionswerbers gesichert, weshalb nicht zu befürchten sei, dass diese in eine existenzbedrohende bzw. wirtschaftlich ausweglose Lage geraten würden. Es würden keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien aufgrund der unter dem Aspekt der Minderjährigkeit zu beurteilenden Faktoren bei einer Rückkehr einem realen Risiko einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt seien. Auch wenn minderjährige Kinder als besonders vulnerable Personen gelten würden, bestünden im konkreten Fall intakte Familienverhältnisse und Verwandte in Afghanistan, welche die Gefährdung dieser als relativ gering erscheinen ließen.
24 Wenn das BVwG von einer möglichen Rückkehr in die Stadt Kabul ausgeht, verkennt es dabei zunächst, dass die revisionswerbenden Parteien - wie von ihm festgestellt - aus der Provinz Takhar stammen und es daher eine Ansiedelung in Kabul als zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative hätte prüfen müssen (vgl. zum Ganzen VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN). 25 Bei den revisionswerbenden Parteien handelt es sich um eine Familie mit vier minderjährigen Kindern und somit - in Hinblick auf die Minderjährigkeit der dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien - um eine besonders vulnerable und schutzbedürftige Personengruppe. Diese besondere Vulnerabilität ist bei der Beurteilung, ob den revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr in die Heimat eine Verletzung ihrer durch Art. 2 und 3 EMRK geschützten Rechte droht, im Speziellen zu berücksichtigen. Dies erfordert insbesondere eine konkrete Auseinandersetzung damit, welche Rückkehrsituation die revisionswerbenden Parteien - fallbezogen in Afghanistan - tatsächlich vorfinden (vgl. dazu etwa VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0336, mwN).
26 Nach der Judikatur der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts besteht die Verpflichtung, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der besonderen Vulnerabilität von Kindern, eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, die eine Familie mit minderjährigen Kindern bei einer Rückkehr zu erwarten hat, durchzuführen (vgl. VwGH 18.9.2019, Ra 2019/18/0038, mwN). 27 Mit der bloßen Annahme des BVwG, wonach die Gefährdung der dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien aufgrund der Existenz eines afghanischen Familienverbands relativ gering erscheine, wird das BVwG den Anforderungen der ständigen hg. Rechtsprechung nicht gerecht, weil es sich nicht ausreichend mit der Situation auseinandergesetzt hat, in welche die revisionswerbenden Parteien als sechsköpfige aufnahme- und versorgungsbedürftige Familie ohne festgestellten eigenen Besitz zurückkehren würden und warum die minderjährigen dritt- bis sechstrevisionswerbenden Parteien bei einer derartigen Rückkehrsituation nicht gefährdet wären. Der pauschale Verweis des BVwG auf die "Erwerbsfähigkeit ihres Vaters" und die "Absicherung im Familienverband durch die in Afghanistan lebenden Familienangehörigen" reicht angesichts der besonderen Vulnerabilität von vier minderjährigen Kindern (davon zwei im Kleinkindalter) nicht aus, um im Revisionsfall von einer sichergestellten Versorgung der Kinder auszugehen und deren Gefährdung auszuschließen.
28 Die getroffenen Feststellungen des BVwG vermögen daher schon deshalb nicht die rechtlichen Schlussfolgerungen des BVwG zur fehlenden Rückkehrgefährdung der Familie zu tragen. 29 Das angefochtene Erkenntnis war schon aus diesem Grund in Bezug auf die Abweisung der Beschwerde gegen die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden Spruchpunkte gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben. 30 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Da den revisionswerbenden Parteien die Verfahrenshilfe bewilligt worden ist, war das Begehren auf Ersatz der Eingabegebühr abzuweisen.
Wien, am 26. Februar 2020
Schlagworte
Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180459.L00Im RIS seit
16.04.2020Zuletzt aktualisiert am
16.04.2020