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41/02 Passrecht FremdenrechtNorm
AsylG 2005 §11Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am 18. September 2018 mündlich verkündete und am 13. November 2018 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W172 2133475-1/27E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: H M, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 1. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies den Antrag des Mitbeteiligten mit Bescheid vom 5. August 2016 sowohl hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich des Status eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).
3 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde, die er hinsichtlich Spruchpunkt I. des Bescheides in der mündlichen Verhandlung am 18. September 2018 zurückzog. 4 Mit Beschluss vom 18. September 2018 stellte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) das Verfahren über die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides wegen Zurückziehung der Beschwerde ein. Mit Erkenntnis vom selben Tag gab das BVwG der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. des Bescheides des BFA statt und erkannte dem Mitbeteiligten den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zu. Zudem erteilte es ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung und sprach aus, dass die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. 5 Begründend führte das BVwG - zusammengefasst und soweit für das gegenständliche Revisionsverfahren von Bedeutung - aus, der 1997 geborene Mitbeteiligte gehöre der Volksgruppe der Sadat und der schiitischen Glaubensrichtung an. Seine Familie stamme aus der Provinz Kunduz. Der Mitbeteiligte sei ledig; seine Muttersprache sei Dari, und er spreche Farsi. Er sei etwa bis zu seinem ersten Geburtstag in Afghanistan aufhältig gewesen und habe ab dann im Iran in Mashad gelebt. Der Mitbeteiligte habe fünf Jahre lang im Iran die Grundschule besucht und sei dort zuletzt als Bauarbeiter tätig gewesen. In Afghanistan würden keine weiteren Familienangehörigen leben. Weder er noch seine Familienangehörigen würden Vermögen aufweisen. In Österreich habe der Mitbeteiligte seinen Pflichtschulabschluss nachgeholt und die zweite Klasse einer Höheren Technischen Lehranstalt im Zweig Mechatronik besucht. Er habe in Österreich auch bereits (ehrenamtlich) gearbeitet.
6 Rechtlich erwog das BVwG zur Frage, ob der Mitbeteiligte die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfülle, zusammengefasst, dass die Herkunftsprovinz des Mitbeteiligten, Kunduz, eine Provinz mit volatiler Sicherheitslage und fehlender sicherer Erreichbarkeit sei, weshalb er dorthin nicht zurückkehren könne. Der Mitbeteiligte sei arbeitsfähig und verfüge über eine mehrjährige Grundschulbildung und geringfügige Berufserfahrung als Bauarbeiter, sodass die grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne. Es sei jedoch zu berücksichtigen, dass der Mitbeteiligte sein Leben fast ausschließlich im Iran verbracht habe. Er habe daher keinerlei Ortskenntnisse in Afghanistan. Zwar sei der Mitbeteiligte in einer afghanischen Familie aufgewachsen, er verfüge aber lediglich über geringe Kenntnisse der lokalen Gepflogenheiten. Der Mitbeteiligte wäre vorerst auf sich alleine gestellt und gezwungen, Wohnraum zu suchen, ohne über irgendwelche Kenntnisse der örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten zu verfügen. Auch von einer hinreichenden finanziellen Unterstützung durch seine Familie im Iran sei nicht auszugehen. Auf Grund seines im Ergebnis zur Gänze außerhalb Afghanistans verbrachten Lebens wäre er bei seiner Rückkehr als "Fremder im eigenen Land" exponiert und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - etwa bei der Arbeitssuche - diskriminiert. Weiters vertrete der Mitbeteiligte mittlerweile Auffassungen und führe eine Lebensweise, die als an westlichen Werten orientiert angesehen werden könne. Aus diesen Gründen stehe dem Mitbeteiligten nach ganzheitlicher Würdigung der festgestellten Gefährdungsaspekte keine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul, Mazar-e Sharif oder Herat offen. 7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision. In ihr wird zur Zulässigkeit und in der Sache vorgebracht, die Revision hänge von der Rechtsfrage ab, welcher Gefährdungsmaßstab in Fällen, in denen ein Fremder niemals in seinem Herkunftsstaat im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG 2005 gelebt habe, im Hinblick auf den Zielort der Rückführung heranzuziehen sei. Es stelle sich die Rechtsfrage, ob eine Rückkehr in dieser Konstellation unter dem Blickwinkel einer Verletzung des Art. 3 EMRK oder der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu beurteilen sei.
8 Weiters weiche das Erkenntnis des BVwG von den Leitlinien der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative ab. Die dabei vom BVwG angeführten Schwierigkeiten für "Iran-Rückkehrer" bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche würden jedoch nicht per se die Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative begründen. Dass eine Person im Iran geboren und aufgewachsen sei, mache für die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative keinen wesentlichen Unterschied, wenn die Person aufgrund ihrer Erziehung mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut sei. Dies habe der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach erkannt und sei auch einem näher genannten Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes zugrunde gelegen.
9 Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, hilfsweise die Abweisung der Amtsrevision beantragte.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Amtsrevision ist zulässig, sie ist auch begründet.
12 Das BVwG ging im Revisionsfall davon aus, dass die Herkunftsprovinz des Mitbeteiligten Kunduz sei. Diesen Erwägungen trat die Revision nicht entgegen. Aus diesem Grund kommt es auf die Beantwortung der in der Revision aufgeworfenen Rechtsfrage, welcher Gefährdungsmaßstab in Fällen, in denen ein Fremder nie im Herkunftsstaat gelebt habe, im Hinblick auf den Zielort der Rückführung heranzuziehen sei, nicht an.
13 Im gegenständlichen Fall ist strittig, ob dem Mitbeteiligten in den afghanischen Großstädten, insbesondere Mazare Sharif oder Herat, eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 11 Abs. 1 AsylG 2005 zur Verfügung steht, die eine Zuerkennung von subsidiärem Schutz nicht rechtfertigt.
14 Um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können, reicht es nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).
15 Es entspricht der - auch vor dem Hintergrund von Berichten von EASO und UNHCR ergangenen - Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass allein die Tatsache, dass ein Asylwerber in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Kontakte verfüge, die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative nicht hindere, und zwar selbst dann, wenn er nicht in Afghanistan geboren wurde, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan hat, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen ist (vgl. jeweils mwN VwGH 30.12.2019, Ra 2019/18/0241, sowie 12.12.2019, Ra 2019/01/0243, Rn. 15). 16 Im vorliegenden Fall hat das BVwG zwar eine einzelfallbezogene Abwägung der für und gegen das Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative sprechenden Gründe vorgenommen, dabei aber wesentliche Umstände außer Acht gelassen bzw. mangelhaft begründet:
17 Vorauszuschicken ist, dass das BVwG im angefochtenen Erkenntnis ausdrücklich davon ausgeht, dass der Mitbeteiligte arbeitsfähig sei und seine grundsätzliche Teilnahmemöglichkeit am Erwerbsleben vorausgesetzt werden könne, zumal er über eine mehrjährige Grundschulbildung sowie geringfügige Berufserfahrung als Bauarbeiter verfüge. Dennoch gelangte das BVwG zur Annahme der Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative, wobei es sich insbesondere auf fehlende Ortskenntnisse sowie geringe Kenntnisse der lokalen Gepflogenheiten seitens des Mitbeteiligten stützte.
18 Dazu ist jedoch festzuhalten, dass sich dem Erkenntnis keine nachvollziehbare Begründung für die Annahme, der Mitbeteiligte sei mit den in Afghanistan herrschenden Gepflogenheiten nur gering vertraut, entnehmen lässt. Mit dem Umstand, dass der Mitbeteiligte nach seinem Vorbringen im Verband seiner afghanischen Großfamilie - nämlich seinen Großeltern, Tanten und Onkeln - aufgewachsen und sozialisiert wurde, setzte sich das BVwG in diesem Zusammenhang nur unzureichend auseinander. 19 Darauf, dass der Mitbeteiligte über keine detaillierten Ortskenntnisse betreffend die afghanischen Großstädte verfügt, kommt es hingegen nicht an; insoweit unterscheidet sich seine Situation nämlich nicht maßgeblich von jener, in der sich afghanische Staatsangehörige befinden, die sich Zeit ihres Lebens in anderen Teilen Afghanistans aufgehalten haben und solche Kenntnisse gleichfalls nicht aufweisen (vgl. in diesem Sinne VwGH 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, Rn. 55).
20 Sofern das BVwG bei der Prüfung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative erwog, der Mitbeteiligte sei als "Fremder im eigenen Land" bei der Arbeitssuche "diskriminiert", ist auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinzuweisen, wonach eine schwierige Lebenssituation, insbesondere bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht, die ein Fremder im Fall der Rückkehr in sein Heimatland vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen (vgl. VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN; 17.9.2019, Ra 2019/14/0160, Rn. 38; 12.12.2019, Ra 2019/01/0243, Rn. 12).
21 Darüber hinaus ließ das BVwG bei seiner Beurteilung der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative den Pflichtschulabschluss und die weiterführende Ausbildung des Mitbeteiligten an der Höheren Technischen Lehranstalt im Zweig Mechatronik sowie seine in Österreich zusätzlich erlangten beruflichen Erfahrungen außer Betracht, obwohl alle persönlichen Umstände des Mitbeteiligten im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG zu berücksichtigen gewesen wären. Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass bei Vermeidung dieses Verfahrensmangels ein anderes Ergebnis erzielt worden wäre, hat das BVwG das angefochtene Erkenntnis auch dahingehend mit einem wesentlichen Verfahrensmangel belastet (vgl. VwGH 18.11.2019, Ra 2019/18/0292).
22 Hinsichtlich des vom BVwG zusätzlich herangezogenen Arguments, der Mitbeteiligte könne als an westlichen Werten orientiert bezeichnet werden, ist schließlich auszuführen, dass das BVwG mit diesem Umstand auch nicht nachvollziehbar begründete, dass dem Mitbeteiligten bereits dadurch die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative unzumutbar wäre. 23 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. 24 Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten kein Ersatz seiner Aufwendungen für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen.
Wien, am 26. Februar 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019180017.L00Im RIS seit
16.04.2020Zuletzt aktualisiert am
16.04.2020