Entscheidungsdatum
02.12.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W222 2128074-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. OBREGON als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2016, Zl. XXXX nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am XXXX und XXXX zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
Der Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 24.08.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Am 04.05.2016 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einvernommen.
Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 idgF bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.), ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG idgF gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG idgF erlassen sowie festgestellt, dass gemäß § 52 Abs. 9 FPG seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für seine freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Mit Schriftsatz vom 08.06.2016 erstattete der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen diesen Bescheid.
Die gegenständliche Beschwerde und die bezugshabenden Verwaltungsakte wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 15.06.2016 vorgelegt.
Am 23.07.2018 langte ein Abschlussbericht der Landespolizeidirektion Niederösterreich wegen des Verdachts auf pornographische Darstellung Minderjähriger ein. Am 12.09.2018 und am 07.01.2019 wurden dazu die Verständigung von einer rechtskräftigen Verurteilung, der Protokollvermerk und die gekürzte Urteilsausfertigung übermittelt.
Das Bundesverwaltungsgericht führte in der gegenständlichen Rechtssache am XXXX und am XXXX jeweils eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Der ledige, volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Hazara an und bekennt sich zum moslemisch-schiitischen Glauben. Am 24.08.2015 stellte er den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz im österreichischen Bundesgebiet. Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Er wuchs im Iran auf, besuchte drei Jahre eine Koranschule und war als Hilfsarbeiter und KFZ-Wäscher tätig. Der Beschwerdeführer verfügt über keine familiären Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Die Eltern des Beschwerdeführers sind verstorben und sein älterer Bruder, namens XXXX , befindet sich seit rund acht Jahren rechtmäßig im österreichischen Bundesgebiet. Dem Bruder wurde mit Erkenntnis vom 24.04.2015, GZ. XXXX der Asylstatus zuerkannt.
Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan einer konkreten individuellen Verfolgung aufgrund der Vorfälle in Zusammenhang mit seinem Vater ausgesetzt. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist.
Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht dem Beschwerdeführer mangels effektiven Schutzes durch den afghanischen Staat nicht zur Verfügung.
Dem Beschwerdeführer droht wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara keine Verfolgung in Afghanistan.
Gegen den Beschwerdeführer scheint eine rechtskräftige Verurteilung vom XXXX mit einer bedingten Freiheitsstrafe von sechs Monaten und einer Probezeit von drei Jahren auf.
Zu in Blutfehden verwickelten Personen in Afghanistan wird Folgendes festgestellt:
Der Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen, der Paschtunwali zählt zu den sogenannten Stammesgesetzen. Es handelt sich um Normen und Werte, zur Anleitung der sozialen Interaktion in der paschtunischen Gesellschaft. Von großer Bedeutung ist das auf die "Verteidigung der eigenen Interessen" gerichtete Tura-Konzept. Danach lebt das männliche Individuum in einer ihm feindlich gesonnen Umwelt, die ihm jederzeit seine Lebensressourcen (Frauen, Land etc.) und seine Position innerhalb der Gesellschaft streitig machen will. Diese Umstände fordern ein aggressives und kriegerisches Verhalten vom Paschtunen, mit dem er alles verteidigt, "worauf er einen Anspruch zu machen glauben kann." Manifestiert wird dieses Weltbild insbesondere in der Forderung nach Badal. Badal bedeutet "Ausgleich" in der Form von "Vergeltung nach dem Prinzip, Aug um Aug, Zahn um Zahn, Leben um Leben". Bei Verlust eines verteidigungsfähigen Mannes einer Gruppe, muss "dem Aggressor ebenfalls eine Verminderung seiner Verteidigungsfähigkeit zugefügt werden, um das vorher bestehende Ausgangsstadium und Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen."
Zwar beinhaltet das Tura-Konzept auch die Forderung nach Nanawate, das als befriedendes Mittel eingesetzt wird. Doch fördert dieses nur nach erfolgtem Badal das Prestige des Paschtunen und Angebot und Annahme von Nanawate vor der Vergeltung gelten als Zeichen für Feigheit und Verteidigungsunfähigkeit und haben einen Ehrverlust zur Folge.
Zu den schweren Normverstößen (Terai) zählen insbesondere 1. Tötung oder versuchte Tötung eines Menschen, ob unverschuldet oder verschuldet, 2. Körperverletzung oder versuchte Körperverletzung, d. h. "jede dauerhafte und nicht dauerhafte Einschränkung eines Individuums in seiner körperlichen Funktionsfähigkeit" und 3. Ehrverletzung oder versuchte Ehrverletzung, d. h. "der durch Aktionen oder verbale Äußerungen dokumentierte Zweifel an der moralischen und ethischen Integrität des Individuums oder Gemeinwesens".
Kommt es zu einem Normbruch, so wird dieser vom betroffenen Individuum festgestellt und die weitere Sanktionierung der Tat liegt in seiner Hand. Die Öffentlichkeit schreitet nicht in den Konflikt ein. Befriedungsversuche scheitern meist. Um ihre Ehre wiederherzustellen und sich nicht der Feigheit verdächtig zu machen, bevorzugen meist beide Parteien die Konfliktlösung durch Badal. Das Badal stellt eine legitime Reaktion dar, wenn es in seinem Ausmaß der Tat gleichgestellt ist. Das erreichte Badal bedeutet jedoch nicht immer das Ende des Konflikts. Eine Reaktion der Gegenpartei bricht zwar erneut mit der Norm, jedoch ist sie im Sinne des Rechts auf Blutrache legitim und wird auch vom Gemeinwesen anerkannt. Aus diesem Grund ist eine Eskalation der Konflikte nicht selten.
Das Paschtunwali führte zu einer Ordnung und bot die Existenzgarantie für die Paschtunen. Ein Teil dieses Kodex, mit modernen Rechtsnormen verwoben, könnte eine zukünftige afghanische Rechtsnorm bilden, die auch einfacher von der afghanischen Gesellschaft akzeptiert werden würde. Viele Elemente des Paschtunwali, z. B. die Jirgas, wurden vom afghanischen Staat übernommen. Als die Amerikaner nach dem 11. September 2001 auf der Suche nach einer Neustrukturierung Afghanistans waren, war es die Loya Jirga, die der Regierung Karzai ihre Legitimität gab.
Im Laufe der Zeit wurde das Paschtunwali überwiegend mündlich, teilweise auch schriftlich fixiert. Die zunächst für die Zusammenarbeit der Stämme und Sippen konzipierten Direktiven des Paschtunwali avancierten nicht nur zu Werten der Gemeinschaft, sondern nahmen auch regulative Funktionen ein. Gesetze wie Gastrecht, Asadi (Freiheit), Esteqlal oder Khpolwaki (Unabhängigkeit) sind in allen afghanischen Volksgruppen und Ethnien vorhanden, allerdings nicht unter dem Begriff Paschtunwali. Über ein straffes Stammesrecht verfügen jedoch nur Turkmenen und Paschtunen.
Die Blutrache ist ein Prinzip zur Sühnung von Verbrechen, indem Tötungen durch Tötungen gerächt werden. Innerhalb der Fehde, stellt die Blutrache die Ultima Ratio der Konfliktbewältigung dar. Der Ehrenmord bezeichnet die vorsätzliche Tötung bzw. Ermordung eines Menschen, durch die, aus der Sicht des Täters, die Ehre einer bestimmten Person oder einer Personengruppe oder des Getöteten vermeintlich wiederhergestellt werden soll. In der Praxis ist eine klare Unterscheidung oftmals nur schwer möglich, da in vielen Fällen ein Ehrenmord die Ursache für eine Blutrache sein kann. Bei der Blutrache straft die Familie des Opfers den Täter und seine Familie aus der Absicht heraus, die vermeintlich verlorene Familienehre wiederherzustellen. Motive und die Praxis der Blutrache sind eins zu eins auch in Afghanistan zu finden. Auch dort üben die Familie und Angehörigen bzw. der Stamm des Opfers - je nach der Schwere der Tat - Rache an dem Täter, seiner Familie bzw. seinen biologischen männlichen Verwandten oder - im Falle der Ausbreitung des Konfliktes auf die Stammesebene - an den Stammesangehörigen, was eine hohe Anzahl an Opfern fordern kann. Die Tat wird durch den Paschtunwali gerechtfertigt.
Der Staat und die Regierung in Afghanistan waren noch nie in der Lage, im ganzen Land die Selbstjustiz zu verhindern und die Täter zur Verantwortung zu ziehen, besonders nicht in den letzten drei Jahrzehnten, in denen im ganzen Land Kriegszustand herrschte. Durch die kriegerischen Auseinandersetzungen wurden zudem zahlreiche Schulen und Ausbildungszentren zerstört, dementsprechend ist das Bildungsniveau zurückgegangen.
Häufigste Auslöser von Konflikten, die in weiterer Folge Blutrache verursachen sind bei den Afghanen Sar (Kopf), Zan (Frau) und Zamin (Land). Sar (Kopf) umfasst Tötungsdelikte, Körperverletzungen und Verstöße gegen die Ehre des Individuums oder Gemeinwesens. Nach Tötungen beginnt die Blutrache. Der Täter wird von der Gegner-Familie getötet oder er flieht und verlässt die Ortschaft. Das trifft meist zu, wenn der Täter behördlich nicht festgenommen und gerichtlich verfolgt wird. Die Gründe und Umstände unter denen es zu Blutrache kommt, unterscheiden sich im gesamten Land kaum voneinander. In den paschtunischen Gebieten steht das Gewohnheitsrecht, bedingt durch die Stammesstruktur und deren Gepflogenheiten, meist an erster Stelle. Die Menschen wenden sich dort für gewöhnlich nur dann an den Staat, wenn alle gewohnheitsrechtlichen Bemühungen aussichtslos geblieben sind und ein Konflikt bereits jahrelang andauert. Unterschiede sind allerdings in der Frage nach dem Betroffenenkreis zu beobachten. In den paschtunischen Gebieten breitet sich der Kreis auf die männlichen Verwandten ersten Grades der auf- und absteigende Linie der männlichen Geschwister und deren männlicher Abkömmlinge, weiters auf Onkel und deren Söhne, Cousins und deren Söhne und sogar auf diejenigen, die dem Feind Schutz gewährt haben, aus. Dieselbe Verwandtschaftslinie ist auch bei der verfeindeten Partei betroffen. Das ist der Grund, warum sich Konflikte, die länger dauern, zunächst auf die Ebene des Dorfes und in weiterer Folge auf die Stammesebene ausbreiten.
In Norden, Nordosten sowie dem Zentrum des Landes, die von anderen afghanischen Volksgruppen besiedelt sind, ist der Betroffenenkreis auf den Vater, den Bruder und dessen Söhne sowie den Onkel und dessen Söhne beschränkt.
In Nord- und Zentralafghanistan fühlen sich die Menschen zur Selbstjustiz verpflichtet, wenn die Zentralregierung zu schwach ist, um den Menschen den notwendigen Schutz zu gewähren und ihre Rechte zu sichern. Somit kann eine Verpflichtung zur Blutrache entstehen. Der Gesellschaftsdruck ist ähnlich groß wie in den paschtunischen Gebieten. Die Pflicht zur Blutrache wird de facto von der Gemeinschaft vorgeschrieben. Gleiches gilt für den Nordosten. Um den Namen und die Ehre der Familie zu schützen, wird die Blutrache verübt und zwar als Pflicht. Es ist in dieser Provinz, die auch teilweise von Paschtunen besiedelt ist, und unter den Paschtunen zum großen Teil üblich, dass, wenn es dem Betroffenen in seinem Leben nicht gelingt, Rache zu nehmen, diese Verpflichtung an seine Kinder übertragen wird. Diese sind dann verpflichtet, die Rache, die der Vater zu Lebzeiten nicht nehmen konnte, auszuführen.
Zur Annahme einer Kompensationszahlung (Nek) ist die Opfer-Familie im Falle einer Tötung meist nur bereit, wenn sie zu schwach ist, um eine legitime Rache mit den daraus folgenden Reaktionen der gegnerischen Gruppe durchzufechten, denn nur dann wäre die Annahme der Zahlung ohne Prestigeverlust möglich. Auch die Täter-Familie wird in der Regel das Zahlen eines Nek weit von sich weisen, um nicht in den Verdacht der Feigheit zu kommen und mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, Angst vor der Badal-Reaktion der Gegner zu haben. Nur im Falle eines offensichtlichen und eindeutigen Unglücksfalles kann Zahlung und Annahme eines Nek auf eine Ersttötung ohne Prestigeverlust für beiden Seiten erfolgen.
Zwischen der letzten Aktion innerhalb der Auseinandersetzung und Konfliktbeilegung vergehen in der Regel mehrere Jahre, denn die Parteien warten auf den richtigen Moment und zeigen meist keine Eile. Nach der Ausübung des Racheaktes, durch den die Ehre wiederhergestellt wird, ist es möglich, dass die Familie wieder an den Geburtsort bzw. Hauptwohnsitz zurückkehrt. Wenn sie aber weiterhin nicht in der Lage ist, neben dem mächtigen Feind zu leben, wird sie die Gegend für immer verlassen. In den Städten wenden sich die Familien auch an die staatlichen Behörden. Wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden, kommt zum Schutz der Familienehre wieder Selbstjustiz in Betracht.
Vor dem Krieg war es dem Staat möglich, sich in diese Konflikte einzumischen und somit die Kämpfe einzudämmen. Nachdem die jeweiligen Zentralregierungen in den letzten drei Jahrzehnten jedoch nicht in der Lage waren, das ganze Land unter ihre Kontrolle zu bringen, sowie aufgrund des andauernden Kriegszustandes und einer nicht funktionierenden Staatsgewalt, kommt es immer öfter zu Fällen von Selbstjustiz und die regionalen Machthaber bzw. Kommandanten haben das Sagen.
Quelle: Gutachten zu Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan, Mag.a Zerka Malyar, 27.07.2009
Ehre und Vergeltung bei Ehrverletzungen (badal) spielen eine zentrale Rolle im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali). In den Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 weist UNHCR mit Bezug auf verschiedene Quellen darauf hin, dass Vergeltung durch Blutrache auf einem traditionellen Verständnis von Verhalten und Ehre beruht. Eine Blutfehde besteht zwischen zwei Familien, wobei Mitglieder der einen Familie solche der anderen zur Vergeltung einer Tat töten. Die Blutrache sei hauptsächlich eine paschtunische Tradition und im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) verankert, werde aber auch von anderen ethnischen Gruppen praktiziert. Auslöser einer Blutfehde könne ein Mord oder eine ungelöste Streitigkeit sein.
Gemäß einem in den UNHCR-Richtlinien zitierten Landinfo-Bericht vom 1. November 2011, der sich auf eine Publikation von Thomas Barfield, Anthropologe mit Schwerpunkt Afghanistan an der Boston University, aus dem Jahr 2003 beruft, ist Vergeltung (badal) bei verletzter Ehre eine zentrale Institution des Paschtunwali. Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network in Kabul, gab am 23. Februar 2017 gegenüber dem Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) an, bei badal handele es sich um einen Austausch zwischen zwei Familien infolge einer Ehrverletzung. Das Prinzip des badal entspreche dem qesas/quisas-Prinzip der Scharia. Laut einem Bericht der Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) vom Januar 2016 steht der Begriff badal für Austausch und kann sich beispielsweise auch auf den Austausch von zwei Frauen zwischen zwei Familien beziehen, indem eine Tochter aus jeder Familie mit einem Mann aus der jeweils anderen Familie verheiratet wird.
Das Recht auf Rache und die Erwartung einer Vergeltung ist gemäß dem Landinfo-Bericht zentral für das nichtstaatliche Rechtssystem des Paschtunwali. Die Verantwortung für die Bestrafung von immoralischem Verhalten wie Diebstahl, Vergewaltigung oder Mord liege nicht bei der Gemeinschaft, sondern beim Opfer, und Rache sei eine akzeptable Reaktion. Die Grenzen der Legitimität der Rache würden durch lokale Traditionen, die öffentliche Meinung und den Paschtunwali bestimmt. Wird keine Rache ausgeübt, könne dies als moralische Schwäche ausgelegt werden, die auf ganze Familienverbände bezogen werden könne. Sowohl das Anzeigen eines Mordes bei den staatlichen Behörden als auch Verhandlungen über finanzielle Entschädigung mit der Täterfamilie können als Schwäche und als Zeichen ausgelegt werden, dass die Familie nicht stark genug ist, ihre Ehre zu verteidigen. Der Familienverband des Opfers habe eine kollektive Verantwortung, Vergeltung zu üben und die Ehre wiederherzustellen. Laut Angaben eines Vertreters der Peace Training & Research Organization (PTRO) in Kabul gegenüber der SFH vom 1. Juni 2017 ist die Ausübung von Vergeltung auch ein Signal an andere, dass die betroffene Familie stark ist und sich verteidigen kann. Dies gelte unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.
Quelle: Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 07.06.2017 zu Afghanistan betreffend Blutrache und Blutfehde
Blutrache wird überall in Afghanistan sowie von und zwischen allen Volksgruppen praktiziert. Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network in Kabul, gab gegenüber der SFH am 30. Mai 2017 Folgendes an: Blutrache sei in Afghanistan kein ausschließlich ländliches Phänomen, sondern überall und auch zwischen allen Ethnien möglich. Die kriegsbedingten großen Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte hätten dazu beigetragen, dass Gebräuche wie Blutrache auch in den Städten praktiziert würden. Noah Coburn, Anthropologe mit Schwerpunkt Afghanistan am Bennington College, bestätigte am 31. Mai 2017 gegenüber der SFH, dass Blutrache in Afghanistan sowohl auf dem Land als auch in den Städten einschließlich Kabul verbreitet ist und zwischen verschiedenen Ethnien, beispielsweise einer paschtunischen und einer tadschikischen Familie, vorkommen kann. Gemäß Angaben von Thomas Barfield vom 30. Mai 2017 gegenüber der SFH ist Blutrache in ländlichen Gebieten eher üblich, kann jedoch wegen der großen Zahl der vom Land zugewanderten Stadtbewohner auch in Städten vorkommen. Die ethnische Zugehörigkeit spiele bezüglich Blutrache keine zentrale Rolle, und sie könne daher auch zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen ausgeübt werden. In solchen Fällen könne eine Beilegung jedoch schwieriger sein als in Fällen von Blutrache zwischen Angehörigen derselben ethnischen Gruppe, da es weniger Ansatzpunkte für eine Mediation gebe. Gemäß PTRO (1. Juni 2017) ist Blutrache sowohl in den Städten wie auch auf dem Land üblich. Mächtige Familien übten bei einer Ehrverletzung normalerweise Vergeltung, während weniger mächtige und arme Familien in der Regel Verhandlungen und eine Versöhnung durch Älteste oder eine Bestrafung durch die Regierung akzeptierten.
Keine festen Regeln wie beispielsweise Mindestalter; Blutrache kann auch nach Jahren oder Jahrzehnten ausgeübt werden. Laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) zielt eine Blutrache hauptsächlich auf diejenige Person ab, die einer Tat wie beispielsweise eines Mordes bezichtigt wird, unabhängig von ihrem Alter. Unter bestimmten Bedingungen könne gemäß dem Landinfo-Bericht aber auch die Tötung des Bruders des Täters oder eines anderen Verwandten der väterlichen Linie eine Alternative darstellen. Thomas Ruttig (30. Mai 2017) gab an, es gebe keine klaren Regeln für die Ausübung von Blutrache, wie beispielsweise ein Mindestalter, ab dem eine Person Ziel einer Blutrache werden könne. Wenn eine Familie Rache üben wolle, würde sie nach einer Gelegenheit dafür suchen. Gemäß Noah Coburn (31. Mai 2017) kann ein männliches Familienmitglied im frühen Teenageralter Ziel einer Blutrache werden, möglicherweise aber auch bereits im Alter von neun oder zehn Jahren. Eine Blutfehde kann gemäß Thomas Ruttig und Thomas Barfield (30. Mai 2017) auch nach Jahren oder Jahrzehnten einsetzen oder Jahre oder Jahrzehnte dauern. Laut UNHCR (19. April 2016) kann eine Blutrache auch in solchen Fällen erst Jahre oder Jahrzehnte nach der ursprünglichen Tat einsetzen, wenn sich eine Opferfamilie nicht sofort in der Lage fühlt, Rache auszuüben. Landinfo zitiert unter Berufung auf Barfield (2003) ein paschtunisches Sprichwort, das die geringe Bedeutung der Zeit in diesem Zusammenhang ausdrückt: "Ein Mann übte nach hundert Jahren Rache, bedauerte jedoch, übereilt gehandelt zu haben".
Staatliche Prozesse und traditionelle Bräuche wie Blutrache laufen unabhängig voneinander ab; ein Urteil eines staatlichen Gerichts beendet eine Blutrache nicht. Bei staatlichen Prozessen und traditionellen Bräuchen wie der Blutrache handelt es sich gemäß Angaben von Thomas Ruttig (30. Mai 2017) um "zwei völlig verschiedene Welten". Laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) hat Blutrache keinen Zusammenhang mit formalen rechtlichen Abläufen, sondern ist illegal. Ein Freispruch durch ein Gericht kann gemäß Angaben von Thomas Barfield und Noah Coburn eine Blutrache nicht beenden. Für eine Tat inhaftierte Personen bleiben laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) daher über die Inhaftierung hinaus Ziel einer Blutrache, da es nach ihrer Freilassung möglich sei, sie anzugreifen. Eine Blutrache könne durch die Tötung einer Person beendet werden, wobei eine solche Tötung andererseits auch einen neuen Racheakt der Gegenseite auslösen könne. Üblicherweise ende eine Blutrache, wenn beide Seiten einer förmlichen Beendigung durch einen Versöhnungsprozess zustimmten, bei dem Blutgeld gezahlt würde. Gemäß UNHCR (19. April 2016) können Akte der Blutrache auch dann ausgeübt werden, wenn ein Täter bereits im Rahmen des staatlichen Rechtssystems bestraft wurde. Laut Landinfo (1. November 2011) schließt eine Entscheidung im Rechtssystem der Regierung das Risiko einer gewaltsamen Vergeltung nicht notwendigerweise aus. Von der Opferfamilie könne immer noch erwartet werden, dass sie den Mörder nach seiner Entlassung tötet, außer die Fehde sei beigelegt worden. Eine lokale Gemeinschaft betrachte eine Tötung aus Rache, die durch die Tradition legitimiert ist, nicht als ein Verbrechen.
Schutz durch den Staat: Weit verbreitete Straflosigkeit und Korruption bei den Behörden; Bürgerinnen und Bürger misstrauen der Polizei und fürchten sie. Gemäß den UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 ergeben sich Afghanistans schwache rechtsstaatliche Strukturen unter anderem aus der sehr weit verbreiteten Korruption und einer Kultur der Straflosigkeit. Urheber von Menschenrechtsverletzungen werden kaum bestraft, und Angehörige von staatlichen Institutionen wie der afghanischen nationalen und der afghanischen lokalen Polizei begehen selbst Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür verurteilt zu werden. Staatliche Behörden und Institutionen einschließlich Polizei und Justiz sind auf allen Ebenen von Korruption betroffen. Ein Bericht des Congressional Research Service vom 19. Mai 2017 hebt hervor, dass der Zustand der afghanischen nationalen Polizei von unabhängiger Seite negativ beurteilt wird. Die Korruption habe ein solches Ausmaß erreicht, dass Bürgerinnen und Bürger der Polizei misstrauen und sie fürchten. Unter anderem sei diese auch oft in lokale Streitigkeiten verwickelt.
Quelle: Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network in Kabul betreffend Blutrache in Afghanistan vom 30. Mai 2017
USDOS (3. März 2017) berichtet ebenfalls von Korruption bei staatlichen Behörden, die straflos bleibt. Durch Zahlung von Bestechungsgeldern würden Gefängnisstrafen reduziert, Untersuchungen abgebrochen oder Anklagen zurückgenommen. Polizeiangehörige verlangten Bestechungsgelder für Entlassungen aus dem Gefängnis oder Vermeidung von Festnahmen. Ein Vertreter der Peace Training & Research Organization (PTRO) in Kabul gab am 1. Juni 2017 gegenüber der SFH ebenfalls an, dass Gerichten in Afghanistan kein Vertrauen geschenkt würde. Durch Bestechung könnten sie nämlich dazu gebracht werden, die Dauer von Gefängnisstrafen zu verkürzen oder die Art der Bestrafung zu ändern.
Staatliche Institutionen bieten kaum Schutz vor Blutrache; Zugang zu staatlichem Schutz hängt von finanziellen Mitteln und vom Einfluss der betroffenen Familie ab. Staatliche Gerichte und die Polizei in Afghanistan können gemäß Thomas Ruttig (30. Mai 2017) wegen der oben beschriebenen weit verbreiteten Straflosigkeit und Korruption eine Blutrache nicht verhindern oder beenden und seien oft auch nicht willens, dies zu tun. Es sei sogar möglich, dass auch Richter und Polizeiangehörige "eine Blutrache als ein legitimes - weil "traditionelles" - Vorgehen betrachteten". Noah Coburn gab am 31. Mai 2017 gegenüber der SFH an, der Zugang zu staatlichem Schutz hänge von den finanziellen Mitteln und dem Einfluss der betroffenen Familie ab. Wenn die Familie für genügend bedeutend erachtet würde oder ausreichende Bestechungsgelder zahlen könne, könnten die Behörden sich unter Umständen für den Fall interessieren. Generell könne die Polizei von einer Blutrache betroffene Personen jedoch nicht wirksam schützen.
Schließlich wird in den UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2019 Folgendes zu in Blutfehden verwickelten Personen festgehalten: Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat.
Im Lichte der oben beschriebenen Überlegungen ist UNHCR der Ansicht, dass - abhängig von den jeweiligen Umständen des Falles - für Personen, die in Blutfehden verwickelt sind, ein Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz aufgrund einer begründeten Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder aus anderen relevanten Konventionsgründen, in Verbindung mit einer allgemeinen Unfähigkeit des Staates, Schutz vor einer solchen Verfolgung zu bieten, bestehen kann. Bei Anträgen von in Blutfehden verwickelten Personen können sich jedoch mögliche Ausschlusserwägungen ergeben. Je nach den Umständen des Einzelfalls kann auch für Familienangehörige, Partner oder von an Blutfehden Beteiligten abhängige Personen ebenfalls aufgrund ihrer Verbindung mit der gefährdeten Person ein Bedarf an internationalem Schutz bestehen.
Quelle: UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan vom 30.08.2018 (dt. Version S. 110 ff)
2. Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers sowie zu seinen Lebensumständen im Heimatland Afghanistan und im Iran ergeben sich aus seinem Vorbringen vor der Verwaltungsbehörde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die Feststellungen zum Verfahrensgang wurden dem Verwaltungsakt und dem Gerichtsakt entnommen.
Soweit der Beschwerdeführer Umstände vorbringt, wonach eine konkrete Gefährdung betreffend seine Person in Afghanistan bestünde, ist das Vorbringen aufgrund folgender Erwägungen als glaubhaft zu qualifizieren:
Der Beschwerdeführer vermochte seine Fluchtgründe von Beginn an gleichbleibend, sowie in Übereinstimmung mit den damaligen Angaben seines Bruders XXXX , dem mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 24.04.2015, GZ. XXXX aus selbigem Grund der Asylstatus zuerkannt wurde, zu schildern. Der Beschwerdeführer konnte die Tötung seines Vaters und seines Bruders im Zusammenhang mit dem vom Vater verursachten Autounfall und hiebei getöteten Motorradfahrer und eine daraus resultierende Gefahr weiterer Vergeltungsmaßnahmen durch dessen Familie aus Sicht des erkennenden Gerichts glaubhaft darlegen. Die Glaubhaftmachung gelang vor allem in den beiden mündlichen Verhandlungen. Der Beschwerdeführer konnte auf die gestellten Fragen zum fluchtauslösenden Ereignis und zur Bedrohungsgefahr in Afghanistan schlüssig nachvollziehbare Antworten tätigen. Im Einklang zu seiner Schilderung standen dabei seine Mimik und Gestik. Sofern die belangte Behörde die Unglaubwürdigkeit des Vorbringens vor allem darauf aufbaut, dass es dem Fluchtvortrag an Details mangle, so muss festgehalten werden, dass der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt des fluchtauslösenden Ereignisses noch nicht geboren war und den Grund des Verlassens der Heimat in den Iran von der Mutter erfahren hatte. Daraus unwahre Angaben zu vermuten, erscheint aus Sicht des erkennenden Gerichts nicht gerechtfertigt.
Zuzustimmen sind den Ausführungen der ausgewiesenen Vertretung des Beschwerdeführers zur Situation der Blutrache in Afghanistan. Unter Zugrundelegung der eingeholten spezifischen Länderberichte wird Blutrache überall in Afghanistan sowie von und zwischen allen Volksgruppen praktiziert. Ein Urteil eines staatlichen Gerichts beendet eine Blutrache nicht. Sie endet üblicherweise erst, wenn beide Seiten einer förmlichen Beendigung durch einen Versöhnungsprozess zustimmen. So erscheint es nicht ausgeschlossen, dass selbst nach der Tötung von zwei Familienangehörigen, weitere Familienangehörige - wie der Beschwerdeführer selbst - einer Gefahr in Afghanistan ausgesetzt sind.
Der Beschwerdeführer hat insgesamt glaubhaft vorgebracht, dass ihm in seinem Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch die Familienmitglieder des getöteten Motorradfahrers droht. Selbst wenn in gegenständlicher Angelegenheit die Verfolgungsgefahr durch nichtstaatliche Akteure hervorgerufen wird, so ist gemäß den Länderberichten davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer vor dieser Bedrohung nicht ausreichend geschützt werden kann. Die Inanspruchnahme des Schutzes durch den afghanischen Staat vor jener konkreten Bedrohung ist angesichts der ineffizienten Schutzmechanismen des afghanischen Staates sowie der instabilen Sicherheitslage nicht sehr wahrscheinlich. Dieser Umstand wird in gegenständlicher Angelegenheit auch dadurch deutlich, da bereits der Vater und ein Bruder des Beschwerdeführers außerhalb der Heimatregion in Afghanistan ausfindig gemacht werden konnten und getötet wurden.
Sofern in der Beschwerdeschrift ergänzend und pauschal auf eine Gruppenverfolgung der Hazara in Afghanistan abgestellt wird, so kann daraus keine individuell und konkret den Beschwerdeführer drohende Verfolgung abgeleitet werden. Auch der Verwaltungsgerichtshof nahm in den letzten Jahren keine Gruppenverfolgung der Hazara irgendwo in Afghanistan an, zum Unterschied zur Region Quetta in Pakistan (VwGH 17.12.2015, Ra 2015/20/0048; VwGH 28.03.2019, Ra 2018/14/0428).
Die Länderfeststellungen gründen auf den jeweils angeführten Länderberichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht für das Bundesverwaltungsgericht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in Afghanistan zugrunde gelegt werden konnten.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 9 Abs. 2 FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, und § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Entscheidungen (Bescheide) des BFA. Somit ist das Bundesverwaltungsgericht für die Entscheidung zuständig.
Gemäß § 75 Abs. 17 AsylG 2005 sind alle mit Ablauf des 31.12.2013 beim Bundesasylamt anhängigen Verfahren ab 01.01.2014 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) zu Ende zu führen.
Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Da in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen ist, obliegt in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr 33/2013 idgF, geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß §§ 16 Abs. 6 und 18 Abs. 7 BFA-VG sind die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anwendbar.
Zu A)
Zu Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht wegen Drittstaatsicherheit oder Zuständigkeit eines anderen Staates zurückzuweisen ist, der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention droht. Der Antrag auf internationalen Schutz ist gem. § 3 Abs. 3 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative offen steht (Ziffer 1) oder der Fremde einen Asylausschlussgrund gesetzt hat (Ziffer 2).
Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) definiert, dass als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens anzusehen ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist die "begründete Furcht vor Verfolgung". Die begründete Furcht vor Verfolgung liegt dann vor, wenn objektiver Weise eine Person in der individuellen Situation des Asylwerbers Grund hat, eine Verfolgung zu fürchten. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. z. B. VwGH vom 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; vom 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; vom 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde.
Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH vom 09.09.1993, Zl. 93/01/0284; vom 15.03.2001, Zl. 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Ein in seiner Intensität asylrelevanter Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Einzelnen führt daher nur dann zur Flüchtlingseigenschaft, wenn er an einen in Artikel 1 Abschnitt A Ziffer 2 der GFK festgelegten Grund, nämlich die Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung anknüpft. Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn die Asylentscheidung erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH vom 09.03.1999, Zl. 98/01/0318 und vom 19.10.2000, Zl. 98/20/0233).
Bei der Beurteilung, ob die Furcht "wohlbegründet" ist, kommt es nicht auf den subjektiven Angstzustand des Asylwerbers an, sondern es ist vielmehr zu prüfen, ob die Furcht objektiv nachvollziehbar ist, ob also die normative Maßfigur in derselben Situation wie der Asylwerber ebenfalls Furcht empfinden würde. Das UNHCR-Handbuch spricht davon, dass nicht nur die seelische Verfassung der entsprechenden Person über ihre Flüchtlingseigenschaft entscheidet, sondern dass diese seelische Verfassung durch objektive Tatsachen begründet sein muss. Dies wird regelmäßig dann der Fall sein, wenn die Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit droht, wenn substantielle Gründe für das Vorliegen der Gefahr sprechen. Erst dann kann vom Bestehen einer "Verfolgungsgefahr" ausgegangen werden (vgl. Frank/Anerinhof/Filzwieser, AsylG 2005, Asylgesetz 2005 idF Asylgerichtshofgesetz 2008, 5. Auflage, K7 und K8 zu § 3 AsylG; Seite 66). In diesem Sinne ergibt sich auch aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, dass eine "Verfolgungsgefahr" dann anzunehmen ist, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. VwGH vom 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; vom 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Die Verfolgung muss konkret dem Asylwerber drohen - nicht etwa einem Verwandten oder Bekannten. Nur wenn auch diesbezüglich die erforderliche Wahrscheinlichkeit vorliegt, ist die Furcht objektiv begründet (vgl. Frank/Anerinhof/Filzwieser, AsylG 2005, Asylgesetz 2005 idF Asylgerichtshofgesetz 2008, 5. Auflage, K13 zu § 3 AsylG; Seite 67). Damit die Verfolgung asylrelevant ist, muss sie in einem kausalen Zusammenhang zu einem Konventionsgrund (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) stehen, wobei der Konventionsgrund ein wesentlicher Faktor für die Verfolgung sein, jedoch nicht als einziger oder beherrschender Faktor vorliegen muss (vgl. dazu Putzer - Rohrböck, Asylrecht, Leitfaden zur neuen Rechtslage nach dem AsylG 2005, Wien 2007, Rz 72).
Aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens und des festgestellten Sachverhaltes ergibt sich, dass die behauptete Furcht des Beschwerdeführers, in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit aus den in der GFK genannten Gründen verfolgt zu werden, objektiv nachvollziehbar ist. Dem Beschwerdeführer droht bei seiner Rückkehr nach Afghanistan, wie festgestellt, von der Familie des von seinem Vater getöteten Motorradfahrers mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung und liefe somit Gefahr, als Mitglied der sozialen Gruppe der Familie seines Vaters, Opfer einer Blutrache zu werden. Die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund ist somit gegeben. (Siehe zum Thema Blutrache etwa VwGH 15.12.2010, Zl. 2007/19/0265; 21.3.2007; Zlen. 2006/19/0083 bis 0085; 7.10.2008, Zl. 2006/19/0706; 17.9.2003, Zl. 2000/20/0137; 26.2.2003, Zl. 2000/20/0517).
Irrelevant ist hiebei, ob diese Verfolgung vom Staat oder von Privaten ausgeht. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt nämlich einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierungen ausgehenden Verfolgung dann Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintan zu halten. Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite aus den in der GFK genannten Gründen Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (VwGH 6.7.2011, Zl. 2008/19/0994; 13.11.2008, Zl. 2006/01/0191, mwN).
Der afghanische Staat ist, wie festgestellt, nicht in der Lage, den Beschwerdeführer vor Verfolgungshandlungen Privater effektiv zu schützen. Obwohl die dem Beschwerdeführer drohende Verfolgung von Privaten ausgeht, liegt hier somit eine dem Staat zuzurechnende Verfolgungshandlung vor.
In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist nicht auszuschließen, dass dem Beschwerdeführer bei Rückkehr in seinen Heimatstaat auch Verfolgung drohen könnte, weil die Verwandten des getöteten Motorradfahrers auf Grund der Tötung des Vaters und Bruders des Beschwerdeführers nun vom Beschwerdeführer seinerseits "Blutrache-Handlungen" erwarten und versuchen könnten, diesen zuvorzukommen, indem sie dem Beschwerdeführer Gewalt antun (vgl VwGH vom 7.10.2008, Zl 2006/19/0706, oder 15.12.2010 zu Zl 2007/19/0265).
Eine innerstaatliche Fluchtalternative kommt für den Beschwerdeführer nicht in Betracht, weil dieser voraussichtlich im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan im Wesentlichen der gleichen Verfolgungsgefahr ausgesetzt wäre, zumal der Vater und der Bruder auch in der Hauptstadt Kabul gefunden und getötet wurden. Ein Sich-Verstecken-Wollen des Beschwerdeführers vor seinen Verfolgern im Herkunftsstaat würde außerdem keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative darstellen (VfGH 23.01. 1991, 95/20/0303).
Anhand der zusammengetragenen Ermittlungen ist davon auszugehen, dass sich der Beschwerdeführer aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Vaters außerhalb Afghanistans befindet und dass auch keiner der in Art. 1 Abschnitt C oder F der GFK genannten Endigungs- oder Ausschlussgründe vorliegt.
Dem BF war somit gemäß § 3 Abs 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen.
Gemäß § 3 Abs 5 AsylG war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Das Bundesverwaltungsgericht kann sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen.
Schlagworte
asylrechtlich relevante Verfolgung, Blutrache, gesamtesEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:W222.2128074.1.00Zuletzt aktualisiert am
07.04.2020