TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/2 W119 2152791-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.12.2019
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Entscheidungsdatum

02.12.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W119 2152791-1/20E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, Diakonie Flüchtlingsdienst, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 20. 3. 2017, Zl 1051218400-150128535/BMI-BFA_STM_RD, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

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Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der zum Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährige Beschwerdeführer stellte am 3. 2. 2015 in Österreich einen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz.

Bei seiner am 5. 2. 2015 erfolgten Erstbefragung nach dem AsylG gab er an, in Quetta in Pakistan geboren zu sein und der Volksgruppe der Hazara anzugehören. Seine Eltern hätten mit Schneiderarbeiten ihren Lebensunterhalt verdient. Sein Vater sei seit 9 Monaten verschollen, seine Mutter, seine beiden Brüder und seine drei Schwestern würden in Pakistan leben. Im Jahr 2014 habe er sich in der Provinz Ghazni aufgehalten.

Seinen Fluchtgrund begründete er damit, dass in Pakistan Angehörige der Volksgruppe der Hazara verfolgt und getötet werden würden. Da das Leben für ihn und seine Familie sehr unsicher geworden sei, seien sein Vater und er vor 9 Monaten nach Afghanistan zurückgekehrt, weil sein Vater ihm gesagt habe, dass er dort ein Grundstück besitze. Der Großvater des Beschwerdeführers sei Jahre zuvor wegen bestehender Grundstücksstreitigkeiten von Feinden getötet worden. Sie hätten sich nur drei Tage in Hamda aufgehalten und danach nach Ghazni Stadt fahren wollen, als sein Vater und er entführt worden seien. Er selbst habe fliehen können. Aus Angst um sein Leben habe er mit Unterstützung seiner Familie Afghanistan und in weiterer Folge Pakistan verlassen.

Im Fall seiner Rückkehr befürchte er getötet zu werden.

Anlässlich der am 15. 6. 2016 durchgeführten niederschriftlichen Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) legte der Beschwerdeführer im Beisein seines gesetzlichen Vertreters zunächst Schulbesuchsbestätigungen, Teilnahmebestätigungen für Deutschkurse sowie eine Mitgliedschaftsbestätigung für einen Sportverein vor.

Der Beschwerdeführer führte weiters aus, nie in Afghanistan gelebt zu haben, sondern in Quetta geboren und dort aufgewachsen zu sein. Er habe vor zwei Jahren Pakistan verlassen. Vor zweieinhalb Jahren sei er nach Afghanistan gefahren, wo er sich drei Tage aufgehalten habe und sei danach wieder zurückgekehrt.

Er habe in Pakistan 7 Jahre die Schule besucht. In Afghanistan besitze er keine Familienangehörigen, seine gesamte Familie lebe in Quetta, sein Vater sei verschollen.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab er an, dass sein Großvater Grundstücke besessen habe. Andere Personen hätten diese Grundstücke an sich nehmen wollen und seinen Großvater auch getötet. Sein Vater sei aus diesem Grund nach Pakistan geflüchtet, weil er befürchtet habe, ebenfalls von diesen Personen getötet zu werden. Genaueres wisse er nicht, weil er zu diesem Zeitpunkt noch nicht geboren gewesen sei. Er habe Pakistan deshalb verlassen, weil Hazara in Pakistan misshandelt werden würden. Aus diesem Grund sei er mit seinem Vater vor zweieinhalb Jahren nach Afghanistan gefahren, um die Grundstücke zurückzufordern und dort wieder leben zu können. Dabei seien Leute in einem Auto erschienen, hätten ihn und seinen Vater in das Auto gezerrt und zu einem Haus gebracht. Sie seien an Händen und Füßen gefesselt worden. Sein Vater habe etwas Paschtu verstanden, sodass er gehört habe, dass er und der Beschwerdeführer am Abend getötet werden würden.

Mit Schreiben vom 28. 6. 2016 übermittelte der gesetzliche Vertreter des Beschwerdeführers eine Stellungnahme, in der darauf hingewiesen wurde, dass der Beschwerdeführer wegen seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Vaters von Seiten der Feinde des Großvaters/Vaters aktuell wegen eines historischen Grundstückskonfliktes und wegen der nunmehr zu erwartenden antizipativen bzw präventiven Gewaltaktionen von privater Seite verfolgt werde, wobei das afghanische Staatswesen aktuell nicht in der Lage sei, den Beschwerdeführer vor dieser Bedrohung zu schützen.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 20. 3. 2017, Zl 1051218400-150128535/BMI-BFA_STM_RD, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m.

§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m.

§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des

subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

Mit Verfahrensanordnung vom 21. 3. 2017 wurde dem Beschwerdeführer die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberaterin zur Seite gestellt.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsberater mit Schriftsatz vom 6. 4. 2017 Beschwerde. Darin wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer befürchte von den Feinden seines Großvaters gefunden und verfolgt zu werden. Er vermute, dass diese selbst Taliban seien oder über Verbindungen zu diesen verfügen würden. Der afghanische Staat sei nicht in der Lage bzw willens ihm Schutz vor der genannten Verfolgung zu gewähren. Die Taliban würden nämlich über die Möglichkeit verfügen, Personen durch formelle oder informelle Kommunikation aufzuspüren. Sie hätten zudem Schattenstrukturen in fast allen Provinzen und die Mittel Informationen über den Hintergrund einer Person zu erfahren.

Dem Bundesamt wurde vorgeworfen, dass die herangezogenen Länderberichte zumindest teilweise nicht mehr aktuell seien.

Am 30. 5. 2018 und am 15. 5. 2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der das Bundesamt als weitere Verfahrenspartei nicht teilnahm. Am 30. 5. 2018 legte der Beschwerdeführer zunächst das A2-Sprachzertifikat, einen Spielerpass eines Fußballvereines sowie Empfehlungsschreiben vor.

Zu seinen Angehörigen befragt, gab er an, dass er keine Kenntnis über den Aufenthaltsort seines Vaters besitze, seine Mutter, seine beiden Brüder und seine drei Schwestern würden hingegen in Quetta leben. Die Geschwister seiner Mutter würden sich ebenfalls dort aufhalten. Er selbst habe in Quetta sieben Jahre die Schule besucht, er sei aber keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Seine Mutter sei in Quetta als Schneiderin tätig.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab er an, dass sein Vater vor über 20 Jahren aus Afghanistan nach Pakistan geflüchtet sei, weil dessen Vater (Großvater des Beschwerdeführers) wegen Grundstückstreitigkeiten getötet worden sei. In Pakistan habe sich sein Vater ein neues Leben aufgebaut. In den Jahren 2012 bis 2014 habe sich die Situation für die Hazara in Quetta so verschlechtert, sodass sein Vater überlegt habe, nach Afghanistan zurückzukehren. Aus diesem Grund sei er mit seinem Vater dorthin gereist. Sie hätten die erste Nacht in Kandahar und die zweite in Ghazni jeweils in einem Hotel verbracht. Am dritten Tag seien sie in das Heimatdorf gefahren, wo sein Vater nach den Grundstücken gefragt habe und in wessen Besitz sich diese nunmehr befinden würden. Eine Person habe ihm einen Namen genannt, der jedoch nicht jener seines Großvaters gewesen sei. Sein Vater habe erklärt, dass, würden die Grundstücke mittlerweile jemanden anderen gehören, er nach Pakistan zurückkehre. Als sie vom Heimatdorf nach Ghazni unterwegs gewesen seien, seien sie von bewaffneten Personen angehalten worden. Es habe sich um Taliban gehandelt, weil sie lange Kleider getragen hätten und ihre Gesichter vermummt gewesen seien. Diese hätten zu seinem Vater gesagt, dass er der Sohn des XXXX sei. Sein Vater und er seien gefesselt und im Fahrzeug der Taliban mitgenommen worden. Danach seien sie in einer Hausruine eingesperrt worden. Da sein Vater Paschtu beherrsche, habe er vernommen, dass er und der Beschwerdeführer nach dem Nachtgebet getötet werden würden. Da die Fesseln des Beschwerdeführers locker gebunden gewesen seien, seien diese leicht zu öffnen gewesen. Er habe versucht seinen Vater zu befreien, was ihm nicht gelungen sei. Sein Vater habe ihm alleine zur Flucht geraten. Auf der Flucht habe es Schüsse auf ihn gegeben, er sei jedoch nicht getroffen worden. In einem Dorf hätten Verwandte seiner Mutter gelebt, die ihn nach Ghazni gebracht hätten. Von dort sei er nach Pakistan zurückgekehrt. Auf die Frage, warum sein Vater nach Afghanistan zurückgekehrt sei, obwohl er gewusst habe, dass sich das Grundstück in fremden Händen befinden würde, gab er an, dass sein Vater lediglich nach den Eigentümern der Grundstücke gefragt habe, was ihm zum Verhängnis geworden sei.

Mit Schriftsatz vom 26. 6. 2018 langte eine diesbezügliche Stellungnahme ein, in der darauf hingewiesen wurde, dass der Beschwerdeführer laut UNHCR zu einer Personengruppe gehöre, die durch regierungsfeindliche Kräfte besonders bedroht und mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mannigfaltiger Verfolgung ausgesetzt sei.

Am 15. 5. 2019 fand wegen der aktuell in das Verfahren einzuführenden Länderberichten eine weitere Verhandlung statt, in der der Beschwerdeführer ausführte, dass seine Angehörigen weiterhin in Quetta leben würden. Über den Aufenthaltsort seines Vaters habe er weiterhin keine Kenntnis. Im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan befürchte er ebenso wie sein Vater Probleme mit den nunmehrigen Grundstückbesitzern zu bekommen, weil sein Vater auch nach 20 Jahren in das Blickfeld derer geraten sei.

Zu den in das Verfahren eingeführten Länderberichten wurde der Rechtsberaterin eine zweiwöchige Frist gewährt.

Mit Schreiben vom 22. 5. 2019 wurde dazu Stellung bezogen und auf die extrem angespannte Lage in Afghanistan, insbesondere im Hinblick auf die Sicherheits- und Versorgungslage hingewiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an und wurde in Quetta in Pakistan geboren, wo er 7 Jahre die Schule besuchte. Der Vater des Beschwerdeführers stammt aus der Provinz Ghazni, in der der Großvater des Beschwerdeführers wegen Grundstückstreitigkeiten getötet worden war. Aufgrund dieses Umstandes flüchtete der Vater des Beschwerdeführers nach Pakistan. Seine Eltern hätten ihren Lebensunterhalt mit Schneiderarbeiten verdient. Als sich für ihn und seine Familie die Situation als Angehörige der Volksgruppe der Hazara verschlechterte, beschloss der Vater des Beschwerdeführers gemeinsam mit dem Beschwerdeführer in die Provinz Ghazni zu fahren, um dort nach den Grundstücken zu sehen, die im Besitz des Großvaters des Beschwerdeführers gewesen waren. Als sie in das Heimatdorf seines Vaters fuhren, wurde ihnen mitgeteilt, dass sich die Grundstücke im Besitz fremder Personen befinden. Der Vater des Beschwerdeführers gab sich damit zufrieden und wollte den Rückweg nach Pakistan antreten, als der Beschwerdeführer und sein Vater von Taliban in ein Auto gezerrt und in einer Hausruine festgehalten wurden. Dem Vater des Beschwerdeführers wurde dabei vorgeworfen, dass er der Sohn des getöteten XXXX ist. Der Vater des Beschwerdeführers, der auch Paschtu sprach, hörte von den Entführern, dass beide in der Nacht getötet werden sollten. Da die Stricke des Beschwerdeführers locker gebunden waren, gelang es ihm - nachdem ihm sein Vater zur Flucht geraten hatte - das Haus zu verlassen. Obwohl Schüsse in seine Richtung abgegeben wurden, blieb er unverletzt. Sein Vater ist seitdem verschollen.

Der Beschwerdeführer befürchtet im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan von den Gegnern seiner Familie, die seinen Großvater töteten und das Schicksal seines Vaters nach der von diesen Personen durchgeführten Entführung ungewiss ist, aufgrund einer antizipierten Blutrache ebenfalls getötet zu werden.

Der Beschwerdeführer besitzt in Afghanistan weder ein familiäres noch ein soziales Netzwerk.

Er ist strafrechtlich unbescholten.

Zur Situation in Afghanistan:

Situation in der Provinz Ghazni:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018 mit Aktualisierungen bis 19.10.2018:

Ghazni ist eine der wichtigsten Zentralprovinzen Afghanistans. Ghazni liegt 145 km südlich von Kabul Stadt entfernt und liegt an der Autobahn Kabul-Kandahar. Ghazni grenzt im Norden an die Provinzen (Maidan) Wardak und Bamyan, im Osten an Logar, Paktia und Paktika, im Süden an Zabul und im Westen an Uruzgan und Daikundi (UN-OCHA 4.2014; vgl. Pajhwok o.D.a). Laut dem afghanischen Statistikbüro (CSO) ist Ghazni die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl (Pajhwok o.D.a), die auf 1.270.3192 Bewohner/innen geschätzt wird (CSO 4.2017). Hauptsächlich besteht die Bevölkerung aus großen Stämmen der Paschtunen sowie Tadschiken und Hazara; Mitglieder der Bayat, Sadat und Sikh sind auch dort vertreten, wenngleich die Vielzahl der Bevölkerung Paschtunen sind (Pajhwok o. D.a).

Ghazni besteht aus den folgenden Distrikten: die Provinzhauptstadt Ghazni, sowie die Distrikte Andar, Muqur, Khugiani/Khugaini/Khogyani, Qara Bagh/Qarabagh, Gilan/Gelan/Gailan, Waghiz/Waghaz, Giro/Gairo, Deh Yak/Dehyak, Nawar/Nawur, Jaghori/Jaghuri, Malistan/Malestan, Rashidan, Ab Band/Abband, Khugiani, Nawa, Jaghato/Jaghato, Zankhan/Zanakhan, Ajeristan/Ajrestan und Khwaja Omari/Khwajaumari (Pajhwok o.D.a; vgl. UN OCHA 4.2014, GI o.D.). Ghazni ist eine der Schlüsselprovinz im Südosten, die die zentralen Provinzen inklusive der Hauptstadt Kabul mit anderen Provinzen im Süden und Westen verbindet (Khaama Press 2.7.2017; vgl. HoA 15.3.2016).

Nach mehr als zwei Jahrzehnten ohne Mohnanbau in der Provinz Ghazni (seit 1995), wird nun wieder Mohn angebaut. Mit Stand November 2017 wurden 1.027 Hektar Mohn angebaut: Opium/Mohn wurde insbesondere im Distrikt Ajrestan angebaut, in dem die Sicherheitslage schwach ist (UNODC 11.2017).

Allgemeine Information zur Sicherheitslage Im Februar 2018 wurde verlautbart, dass die Provinz Ghazni zu den relativ volatilen Provinzen im südöstlichen Teil des Landes zählt; die Provinz selbst grenzt an unruhige Provinzen des Südens. Die Taliban und Aufständische anderer Gruppierungen sind in gewissen Distrikten aktiv (Khaama Press 1.2.2018; vgl. SD 1.2.2018). In der Provinz kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Aufständischen (Xinhua 18.3.2018).

Wie in vielen Regionen in Südafghanistan, in denen die Paschtunen die Mehrheit stellen, konnten die Taliban in Ghazni nach dem Jahr 2001 an Einfluss gewinnen. Die harten Vorgehensweisen der Taliban - wie Schließungen von Schulen, der Stopp von Bauprojekten usw. - führten jedoch auch zu Gegenreaktionen. So organisierten Dorfbewohner eines Dorfes im Distrikt Andar ihre eigenen Milizen, um die Aufständischen fernzuhalten - auch andere Distrikte in Ghazni folgten. Die Sicherheitslage verbesserte sich, Schulen und Gesundheitskliniken öffneten wieder. Da diese Milizen, auch ALP (Afghan Local Police) genannt, der lokalen Gemeinschaft entstammen, genießen sie das Vertrauen der lokalen Menschen. Nichtsdestotrotz kommt es zu auch bei diesen Milizen zu Korruption und Missbrauch (IWPR 15.1.2018).

Im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) (15.12.2017-15.2.2018) haben regierungsfeindliche Elemente auch weiterhin Druck auf die afghanischen Sicherheitskräfte ausgeübt, indem koordinierte Angriffe auf Kontrollpunkte der afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte unter anderem in der Provinz Ghazni verübt wurden (UNGASC 27.2.2018).

Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 163 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die folgende Darstellung der Staatendokumentation veranschaulicht werden sollen:

Die meisten im Jahr 2017 registrierten Anschläge fanden - in absteigender Reihenfolge - in den Provinzen Nangarhar, Faryab, Helmand, Kandahar, Farah, Ghazni, Uruzgan, Logar, Jawzjan, Paktika und Kabul statt (Pajhwok 14.1.2018).

Im gesamten Jahr 2017 wurden 353 zivile Opfer in Ghazni (139 getötete Zivilisten und 214 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von IEDs und gezielten/willkürlichen Tötungen. Dies deutet einen Rückgang von 11% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).

Militärische Operationen in Ghazni Miliärische Operationen werden in der Provinz Ghazni durchgeführt (Tolonews 17.3.2018; vgl. Xinhua 27.1.2018, ZNI 3.3.2018, Tolonews 5.2.2018, Tolonews 24.3.2018, MF 25.3.2018, Tolonews 5.12.2017; MF 18.3.2018, VoA 22.10.2017);

Aufständische werden getötet und festgenommen (Pajhwok 13.3.2018;

vgl. MF 25.3.2018, Tolonews 5.12.2017, MF 18.3.2018, VoA 22.10.2017). Luftangriffe werden ebenso durchgeführt (Khaama Press 1.2.2018), bei denen auch Taliban getötet werden (Khaama Press 1.2.2018; vgl. Pajhwok 12.3.2018).

Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften finden statt (AJ 11.6.2018; vgl. AJ 21.5.2018, VoA 22.10.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen in Ghazni Sowohl Das Haqqani-Netzwerk, als auch die Taliban sind in manchen Regionen der Provinz aktiv (VoA 10.1.2018). Sicherheitsbeamte sprechen von mehreren Gruppierungen, die in der Provinz aktiv sind, während die Taliban selbst behaupten, die einzige Gruppierung in der Provinz Ghazni zu sein (Pajhwok 1.7.2017).

Basierend auf geheimdienstlichen Informationen, bestritt das afghanische Innenministerium im Jänner 2018, dass der IS in der Provinz Ghazni aktiv sei (VoA 10.1.2018). Für den Zeitraum 1.1.15.7.2017 wurden IS-bezogene Vorfälle in der Provinz gemeldet - insbesondere an der Grenze zu Paktika. Zwischen 16.7.2017 - 31.1.2018 wurden hingegen keine Vorfälle registriert (ACLED 23.2.2018).

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34.1 Millionen Menschen (CIA Factbook 18.1.2018). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. CIA Factbook 18.1.2018). Schätzungen zufolge sind 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch-iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4% der Bevölkerung ausmachen (GIZ 1.2018; vgl. CIA Factbook 18.1.2018).

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet." (BFA Staatendokumentation 7.2016). Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (USDOS 20.4.2018).

Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert (AA 5.2018). Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.4.2018).

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung aus (CIA Factbook 18.1.2018; CRS 12.1.2015). Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden (BFA Staatendokumentation 7.2016); andererseits gehören ethnische Hazara hauptsäch dem schiitischen Islam an (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten) (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. AJ 27.6.2016, UNAMA 15.2.2018). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten (BFA Staatendokumentation 7.2016).

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können (BFA Staatendokumentation 7.2016).

Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben (BFA Staatendokumentation 7.2016). Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert (AA 5.2018; vgl. IaRBoC 20.4.2016); vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet (CRS 12.1.2015; vgl. GD 2.10.2017). Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht (BFA Staatendokumentation 7.2016). Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war, diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert (GD 2.10.2017).

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist; außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Einer Quelle zufolge existiert in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Einer weiteren Quelle zufolge beschweren sich Mitglieder der Hazara-Ethnie über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara; nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft (IaRBoC 20.4.2016). So berichtet eine weitere Quelle, dass Arbeitsplatzanwerbung hauptsächlich über persönliche Netzwerke erfolgt (IaRBoC 20.4.2016; vgl. BFA/EASO 1.2018); Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke (IaRBoC 20.4.2016).

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018); soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen (USDOS 20.4.2018).

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert (Brookings 25.5.2017)

Auszug aus der ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan vom 02.09.2016, a-9737-V2, zur Lage der Hazara:

"In einem Update zur Sicherheitslage in Afghanistan vom September 2015 thematisiert die regierungsunabhängige Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) die Situation von Hazara und beschreibt Maßnahmen gegen Hazara wie folgt:

‚Diskriminierung gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten sind verbreitet und es kommt immer wieder zu Spannungen zwischen verschiedenen Ethnien, welche zu Todesopfern führen. Die Diskriminierung Angehöriger der Hazara äußert sich in Zwangsrekrutierungen, Zwangsarbeit, Festnahmen, physischem Missbrauch oder illegaler Besteuerung. Hazara wurden überdurchschnittlich oft zu Opfern gezielter Ermordungen.' (SFH, 13. September 2015, S. 18)

Der im April 2016 veröffentlichte Länderbericht des US-Außenministeriums (US Department of State, USDOS) zur Menschenrechtslage (Berichtsjahr: 2015) hält fest, dass Hazara von fortwährender, sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt und Inhaftierung betroffen seien. Laut NGOs seien Hazara-Mitglieder der Afghanischen Nationalen Sicherheitskräfte (ANSF) einem stärkeren Risiko ausgesetzt, in unsicheren Gebieten eingesetzt zu werden als Nicht-Hazara-Beamte. Aus mehreren Provinzen, darunter Ghazni, Zabul und Baghlan, seien eine Reihe von Entführungen von Hazara berichtet worden. Die Entführer hätten Berichten zufolge ihre Opfer erschossen, enthauptet, Lösegeld für sie verlangt oder sie freigelassen. Im Februar 2015 hätten Aufständische 31 Hazara-Männer aus einem Bus in der Provinz Zabul entführt und im Mai 2015 19 Geiseln und im November 2015 acht weitere freigelassen. Mit Stand November 2015 seien die übrigen vier Geiseln weiterhin vermisst gewesen. ...

Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) bemerkt in ihrem im Februar 2016 erschienenen Jahresbericht zum Jahr 2015, dass sie während des Jahres 2015 einen starken Anstieg bei Entführungen und Tötungen von Hazara-ZivilistInnen durch regierungsfeindliche Kräfte verzeichnet habe. So hätten regierungsfeindliche Kräfte zwischen 1. Jänner und 31. Dezember 2015 mindestens 146 Mitglieder der Hazara-Gemeinde bei insgesamt 20 verschiedenen Vorfällen getötet. Mit Ausnahme eines einzigen Vorfalls hätten sich alle in ethnisch gemischten Gebieten ereignet, die sowohl von Hazara als auch von Nicht-Hazara-Gemeinden besiedelt seien, und zwar in den Provinzen Ghazni, Balch, Sari Pul, Faryab, Uruzgan, Baghlan, Wardak, Jowzjan und Ghor. UNAMA habe die Freilassung von 118 der 146 entführten Hazara bestätigen können.

13 entführte Hazara seien von regierungsfeindlichen Kräften getötet worden, während zwei weitere in Geiselhaft verstorben seien. UNAMA habe den Verbleib der übrigen Geiseln nicht eruieren können. Die Motive für die Entführungen seien unter anderem Lösegelderpressung, Gefangenenaustausche, Verdacht der Mitgliedschaft bei den Afghanischen Nationalen Sicherheitskräften (ANSF) und Nichtbezahlung illegaler Steuern gewesen. In manchen Fällen seien die zugrundeliegenden Motive unbekannt gewesen. UNAMA führt folgende Beispiele für Entführungen und anschließende Tötungen von Hazara an:

Am 23. Februar 2015 seien im Bezirk Shajoy der Provinz Zabul 30 Hazara-Insassen zweier öffentlicher Busse, die von Herat nach Kabul unterwegs gewesen seien, von regierungsfeindlichen Gruppen entführt worden. Drei der Entführungsopfer seien während ihrer Gefangenschaft getötet worden, während zwei offenbar aufgrund von natürlichen Ursachen verstorben seien. Zwischen Mai und August 2015 seien die übrigen Geiseln freigelassen worden, nachdem es Berichten zufolge zu einem Austausch mit einer Gruppe von Häftlingen gekommen sei.

Am 13. Oktober 2015 hätten regierungsfeindliche Kräfte sieben Hazara-ZivilistInnen, darunter zwei Frauen, zwei Jungen und ein Mädchen, die sich auf der Autobahn zwischen Kabul und Kandahar auf dem Weg in den Distrikt Jaghuri (Provinz Ghazni) befunden hätten, entführt. Stammesälteste hätten sich vergeblich um deren Freilassung bemüht. Die Hazara seien im Distrikt Arghandab der Provinz Zabul festgehalten worden, bis Kämpfe zwischen rivalisierenden regierungsfeindlichen Gruppen, darunter auch der Gruppe, zu denen die Entführer gehört hätten, ausgebrochen seien. Im Zeitraum von 6. bis 8. November hätten die regierungsfeindlichen Kräfte allen sieben Hazara-ZivilistInnen, darunter auch den Kindern, die Kehlen durchgeschnitten. Dieser Vorfall habe Demonstrationen in der Stadt Kabul ausgelöst, bei denen mehr Schutz für die Hazara-Gemeinschaft gefordert worden sei. [...]

Das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (European Asylum Support Office, EASO), eine Agentur der Europäischen Union, die die praktische Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im Asylbereich fördern soll, nennt in einem Bericht zur Sicherheitslage in Afghanistan vom Jänner 2016 Beispiele von Sicherheitsvorfällen, die Hazara betreffen. Demnach seien im Februar 2015 bei zwei Vorfällen Mitglieder der Hazara Minderheit von maskierten bewaffneten Männern im Distrikt Kajran [Provinz Daykundi, Anm. ACCORD] in ihren Fahrzeugen gestoppt worden. Die Reisenden seien nach ihrem religiösen Glauben gefragt worden und 55 der Reisenden seien entführt und an unbekannte Orte gebracht worden. Laut offiziellen Quellen hätte es sich bei den Entführern um Taliban gehandelt, Augenzeugenberichte würden aber auf eine Beteiligung der Gruppe Islamischer Staat (IS) hindeuten. [...]

Die internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) erwähnt in ihrem World Report vom Jänner 2016, dass es im Jahr 2015 einen Anstieg von Entführungen und Geiselnahmen von ZivilistInnen durch aufständische Gruppen gegeben habe, darunter auch die zwei Vorfälle in der Provinz Zabul, nämlich die Entführung und Tötung von 7 ZivilistInnen am 9. November und die Entführung von 31 Businsassen am 23 Februar, von denen 19 wieder freigelassen worden seien. In beiden Fällen seien die Opfer offenbar wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit zu den Hazara ins Visier genommen worden.

[...]

Der in Prag ansässige, vom US-Kongress finanzierte Radiosender Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) berichtet im August 2015, dass vier Männer, die in der Woche zuvor entführt worden seien, im Distrikt Nawur der Provinz Ghazni erschossen aufgefunden worden seien. Bei drei der Toten handle es sich um Hazara, bei dem Vierten um einen Paschtunen. Bei einem weiteren Vorfall im August seien mindestens acht weitere Hazara auf dem Weg in die Stadt Ghazni entführt worden. Im Februar seien 30 Hazara in der Provinz Zabul, im Süden von Ghazni, entführt worden. 19 seien im Mai wieder freigelassen worden, zwei seien getötet worden, und neun seien noch als vermisst gemeldet. Im Juli seien 11 Hazara im Norden der Provinz Baghlan entführt worden. [...]

Die Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP) berichtet im September 2015, dass Bewaffnete im Distrikt Zari der größtenteils ruhigen Provinz Balch 13 männliche Hazara erschossen hätten, nachdem sie zwei Fahrzeuge aufgehalten und die Insassen gezwungen hätten, auszusteigen. [...]

Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL) berichtet im November 2015 über die Entführung von mindestens sieben Hazara durch die Taliban, nachdem es zu einem lokalen Streit um Schafe gekommen sei. Die Taliban hätten drei Busse in der Provinz Zabul aufgehalten und zunächst 17 Geiseln genommen und neun von ihnen wieder freigelassen. Ein örtlicher Taliban-Anführer habe die Entführungen mit der Begründung angeordnet, dass Hazara Schafe gestohlen hätten. [...]

In einer Pressemitteilung vom November 2015 schreibt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) über Proteste in der afghanischen Hauptstadt Kabul am 11. November 2015 aufgrund einer Reihe von ethnisch motivierten Tötungen.

Die Pressemitteilung berichtet über die Entführung und anschließende Tötung von sieben Hazara, darunter auch zwei Mädchen, am 9. November in der Provinz Zabul. Es habe sich keine Gruppe zu dem Anschlag bekannt.

Weiters wird beschrieben, dass sich die Sicherheitslage im Berichtsjahr 2015 in vielen Gebieten Afghanistans verschlechtert, die Gewalt gegen Zivilisten zugenommen habe und dass es zu internen Machtkämpfen zwischen rivalisierenden Fraktionen innerhalb der Taliban gekommen sei. HRW berichtet, dass eine der größten Splitterfraktionen der Taliban von Mullah Abdul Manan Niazi angeführt werde, welcher zur Zeit des Massakers an tausenden von Hazara in Mazar-e-Sharif 1998 Taliban-Gouverneur in der Provinz Balch gewesen sei. Diese Gruppe werde Berichten zufolge vom Islamischen Staat (IS) unterstützt und sei in dem Gebiet in der Provinz Zabul aktiv, in dem die sieben Hazara getötet worden seien.

Wenngleich alle Zivilisten in Konfliktgebieten gefährdet seien, würden die Tötungen in Zabul die besondere Gefährdung aufzeigen, mit denen Hazara konfrontiert seien. In den vergangenen zwei Jahren seien bei einer Reihe von Vorfällen Hazara-Buspassagiere von anderen Insassen ausgesondert und entführt und in manchen Fällen getötet worden. [...]

BBC Monitoring schreibt in der Zusammenfassung eines Berichts der in Pakistan ansässigen privaten Nachrichtenagentur Afghan Islamic Press News Agency im März 2016, dass in der nördlichen Provinz Sar-e Pol 11 Hazara entführt worden seien. Laut des Polizeichefs der Polizeizentrale von Sar-e Pol, seien die 11 Hazara aufgrund ihrer Ethnizität von den Taliban entführt worden. Es handle sich bei den Entführten um Zivilisten, die nicht für die Regierung arbeiten würden. Die Taliban hätten sich noch nicht zu dem Vorfall geäußert.

In der Vergangenheit seien einige ethnische Hazara in Zabol, Ghazi und anderen Provinzen entführt worden. Manche seien freigelassen, andere seien getötet worden. [...]

Im Juni 2016 berichtet die Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP), dass Bewaffnete im Bezirk Santscharak der Provinz Sar-e-Pul mindestens 17 reisende Hazara, bei denen es sich allesamt um Zivilisten, die nicht mit der Regierung in Verbindung gebracht werden könnten, handle, aus ihren zivilen Fahrzeugen gezerrt und in ein entlegenes Gebiet gebracht hätten, das sich unter Taliban-Kontrolle befinde. Laut dem ortsansässigen Gouverneur seien die Dorfältesten gebeten worden mit den Taliban über die Freilassung der Entführten zu verhandeln. [...]

Zwei Tage später berichtet Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE/RL), dass die 17 oben erwähnten, von den Taliban entführten Hazara freigelassen worden seien. Der Vorfall in der Provinz Sar-e-Pul sei Teil einer Serie von Angriffen auf zivile Fahrzeuge gewesen. Die Taliban hätten sich nicht zu dem Vorfall geäußert.

In den letzten Monaten habe es einen Anstieg der Gewalt gegen Hazara in Form einer Reihe von Entführungen und Tötungen gegeben. In einem der letzten Vorfälle hätten die Taliban 10 Busreisende getötet, viele davon seinen summarisch hingerichtet worden, und ein Dutzend andere seien im Norden der Provinz Kunduz entführt worden. Laut dem Provinz-Gouverneur hätten die Dorfältesten und die ortsansässigen Bewohner die sichere Befreiung der Geiseln, bei denen es sich um Zivilisten handelte, ausgehandelt. [...]

In einem Statement vom Juni 2016 äußert sich die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UN Assistance Mission in Afghanistan, UNAMA) besorgt über den Anstieg von Entführungen, Geiselnahmen sowie summarischen Hinrichtungen und berichtet von einer bewaffneten Entführung von 25 ZivilistInnen, bei denen es sich Berichten zufolge allesamt um Hazara gehandelt habe. Die Entführten seien in zwei Fahrzeugen im Bezirk Balkh Ab, der nördlichen Provinz Saripul (Sar-e-Pul), unterwegs gewesen. Während vier Frauen und ein älterer Herr wieder freigelassen worden seien, sei der Verbleib der 20 Anderen nicht bekannt. [...]

Im Juli 2016 beschreibt die deutsche Tageszeitung (Taz) einen Anschlag der Gruppe Islamischer Staat (IS) während einer Demonstration von Hazara in der Stadt Kabul, bei dem mindestens 80 Personen ums Leben gekommen seien:

‚Die Zahl der Todesopfer bei einem Anschlag auf friedliche Demonstranten in der afghanischen Hauptstadt Kabul ist auf mindestens 80 gestiegen. Außerdem seien bei dem Bombenanschlag am Samstag 231 Menschen verletzt worden, teilte das afghanische Innenministerium mit. Nach vorläufigen Informationen sei die Tat von drei Selbstmordattentätern begangen worden. ‚Der dritte Angreifer wurde von Sicherheitskräften niedergeschossen', hieß es weiter.

[...]

Tausende Angehörige der ethnischen Minderheit der Hazara hatten in der afghanischen Hauptstadt für den Bau einer Stromtrasse in der vernachlässigten Region Bamijan demonstriert, als inmitten der Menschenmenge mindestens ein Sprengsatz detonierte. Ein AFP-Fotograf sah am Tatort dutzende zum Teil völlig zerfetzte Leichen. Krankenwagen hatten Schwierigkeiten, zum Explosionsort zu gelangen, weil die Behörden Straßenkreuzungen blockiert hatten, um zu verhindern, dass die Demonstranten zum Präsidentenpalast marschieren.

Zu der Tat bekannte sich die Dschihadistenorganisation Islamischer Staat (IS). Die radikalislamischen Taliban, die derzeit ihre Sommeroffensive gegen die afghanischen Sicherheitsbehörden führen, wiesen jegliche Beteiligung an dem Anschlag zurück." (Taz, 23. Juli 2016)

In einem weiteren Artikel vom Juli 2016, geht die Taz auf die Motive für den oben beschriebenen Anschlag ein:

‚Der IS-Anschlag auf die Friedensdemo in Kabul mit mindestens 80 Toten hatte militärisch keinen Sinn. Ziel war eine schiitische Minderheit.

Es gibt kaum Zweifel daran, dass der schwere Anschlag am Sonnabend in Kabul vom örtlichen Ableger des Islamischen Staates (IS) durchgeführt worden ist. Die Handschrift des Anschlags spricht eindeutig dafür: Es ist ein skrupelloser Akt ohne jeglichen militärischen Sinn: gegen den friedlichen, von Zivilisten getragenen Protest der schiitischen Hazara-Minderheit und gegen die schiitische Minderheit insgesamt gerichtet, die vom IS und seinen Geistesgenossen nicht als ‚richtige' Muslime angesehen werden.'

(Taz, 25. Juli 2016)

[...]"

Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme des Ländersachverständigen Dr. RASULY vom 17.02.2016 zur Lage der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan im Verfahren betreffend einen anderen Asylwerber vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Zl. W119 2102332-1 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

"[...]

Die Lage der Hazara seit dem Sturz des Taliban-Regimes Ende 2001:

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes wurde Ende 2001 in einer Konferenz in Bonn festgelegt, dass alle Ethnien Afghanistans, einschließlich der Hazara, an der staatlichen Macht beteiligt werden müssen. So haben die Hazara und andere schiitische Gruppen seit Ende 2001 im afghanischen Staat einen stellvertretenden Staatspräsidenten, fünf Ministerposten und jeweils einen stellvertretenden Minister im Staatssicherheits-, Verteidigungs- und Innenministerium. Außerdem haben sie mehrere Schlüsselpräsidien in diesen Ministerien. Der stellvertretende Armee-Chef ist derzeit ein Hazara namens General Morad Ali Morad. General Morad hat weitgehende Befehlsbefugnisse und befehligt derzeit in verschiedenen Provinzen wie Kunduz, Baghlan oder Helmand die Operationen gegen die Taliban. Die Hazara-Parteien, allen voran die Hezb-e Wahdat, kontrollieren derzeit die Hauptsiedlungsgebiete der Hazara im Rahmen der staatlichen Authorität.

Diese Gebiete sind: Bamiyan, Daykundi, die Distrikte Jaghuri, Malistan, Nawur, Jaghatu, Teile von Qarabagh usw. in der Provinz Ghazni, die Hazara-Wohnbezirke in Mazar-e Sharif und einige Distrikte der Provinzen Samangan, wie Dara-e Suf, Hazara-Siedlungsgebiete in der Provinz Sara-e Pul und in der Provinz Balkh, sowie die von Hazara bewohnten Distrikte und Dörfer in der Provinz Maidan Wardak, v.a. Hessa-i-Awal-i Behsud, Behsud-i Markazi und Daymirdad. Die Hazara sind in Kabul im politisch-kulturellen Leben und im Bildungs- und Wirtschaftsbereich maßgebend vertreten. Sie betreiben mehrere Fernsehsendungen und haben dutzende Privatuniversitäten und Institute im Land. Sie stellen in den staatlichen Universitäten im Verhältnis zu ihrer Anzahl mehr Studenten als jede andere Ethnie des Landes, weil sie durch ihre leidgeprüfte Geschichte die derzeitigen Möglichkeiten besser wahrnehmen.

Die Hazara und andere Schiiten haben in Großstädten wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat eigene islamische Bildungseinrichtungen für die schiitische Islam-Lehre. Diese werden vom Iran finanziert und mit Lehrkräften unterstützt. Die Hazara als Schiiten dürfen zum ersten Mal in der Geschichte Afghanistans seit dem Sturz des Taliban-Regimes ungestört und in vollem Umfang schiitische Rituale, wie den wichtigsten Feiertag Ashura, den Gedenktag an den Märtyrertod Imam Husain, mit Prozessionen auch in den nicht schiitischen Bezirken in Kabul und Mazar-e Sharif und in anderen Städten zelebrieren, ohne von den Sunniten gestört und lächerlich gemacht zu werden. Früher haben sie nur in ihren Moscheen unter sich gefeiert. Ca. ein Drittel der Parlamentsabgeordneten in Kabul sind Hazara bzw. Schiiten und sind mit den sunnitischen Abgeordneten gleichberechtigt am politischen Prozess beteiligt. Somit sind die Hazara an der Staatsgewalt maßgebend beteiligt. Sie waren bis zum Sturz des Taliban-Regimes im Jahre 2001 in diesem Ausmaß in Afghanistan nie an der staatlichen Macht beteiligt.

Sie sind nicht nur an der Zentralgewalt beteiligt, sondern sie stellen auch die Gouverneure und die Sicherheitskommandanten in den Provinzen Bamiyan, Daikundi und in allen anderen hauptsächlich von den Hazara bewohnten Distrikten in Ghazni und in Maidan Wardak. Alle bedeutenden Distrikte wie Jaghuri, Malistan, Jaghatu, Nawur und Teile von Qarabagh in Ghazni werden von den Kommandanten der Hezb-e Wahdat behördlich verwaltet. Auch in Maidan Wardak werden die Hauptsiedlungsgebiete von Hazara, wie Hisa-i-Awal-i Behsud, Behsud-e Markazi und Day Mirdad, von den Kommandanten der Hezb-e Wahdat kontrolliert und verwaltet. Mit ihrer neuen Stellung, ihrer Widerstandsfähigkeit und ihren Möglichkeiten befinden sich die Hazara in Afghanistan seit Ende 2001 nicht mehr in einer Opferrolle. Sie sind im Stande, sich kollektiv mit ihren Möglichkeiten im Rahmen des Staates zu verteidigen. Allerdings kommt es vor, dass immer wieder Taliban auf den Hauptstraßen zwischen den Provinzen im Süden, Westen und auf dem Weg nach Maidan Wardak und Bamiyan Reisebusse anhalten und bestimmte Reisende mitnehmen. Die meisten dieser Geiseln auf diesen Strecken sind Hazara. In den Jahren 2013 bis 2015 ist es mehrere Male vorgekommen, dass auf dieser Strecke Hazara aus den Reisebussen gezerrt und mitgenommen worden sind. Einige von ihnen wurden freigelassen, Dutzende wurden getötet. Diese Aktionen der Taliban richten sich nicht nur gegen die Hazara, sondern die Taliban töten und entführen auch Paschtunen, Usbeken und Tadschiken. Bei jeder dieser Aktionen erwecken die Taliban den Anschein, als wäre sie nur gegen die jeweilige Volksgruppe, deren Mitglieder sie gerade entführt und getötet haben, gerichtet. Die Hauptroute von Kabul über den Salang-Pass nach Norden, Baghlan - Mazar-e Sharif - Kunduz, wird hauptsächlich von Paschtunen, Tadschiken und Usbeken befahren. Die Strecke zwischen Baghlan und Kunduz ist sehr gefährlich und die Reisenden versuchen, bis 14 Uhr die Strecke Baghlan nach Kunduz zu passieren, weil nachmittags die Taliban die Route immer wieder kurzfristig unter ihre Kontrolle bringen. Sie zerren willkürlich Personen aus Reisebussen und Taxis und nehmen sie als Geiseln mit. Einige dieser Personen werden von den Taliban später getötet. Dies sind großteils Tadschiken und Usbeken. Die meisten von den Taliban kontrollierten Gebiete in Afghanistan werden von Usbeken, Paschtunen und Tadschiken bewohnt. In diesen Gebieten werden die Menschen willkürlich bestraft und Personen, die einmal für die Regierung gearbeitet haben, geraten unter die Verfolgung und Unterdrückung der Taliban. Die Provinzen und Distrikte, wo hauptsächlich die Hazara wohnen, werden von diesen kontrolliert. Sie haben bis jetzt ihre Siedlungsgebiete soweit geschützt, dass die Taliban dort nicht eindringen konnten. Aber Distrikte wie Gisab in Uruzgan und Nirkh in Maidan Wardak, die auch von Paschtunen bewohnt werden, sowie einige Dörfer, die in den mehrheitlich von Paschtunen oder Usbeken bewohnten Gebieten liegen, werden nicht von den Hazara-Parteien kontrolliert. Manche dieser Gebiete werden immer wieder von den Taliban kurzfristig kontrolliert.

Die Taliban sind Anhänger der arabischen Fundamentalisten, allen voran Saudis, die gegen den Iran und damit gegen die Schiiten eingestellt sind. Daher kommt es immer wieder vor, dass die Taliban ihre Opfer, wenn sie Schiiten sind, zur Schau stellen. Aber sie bringen mehr Paschtunen und Usbeken um, deren Gebiete sie leicht unter ihre Kontrolle bringen können. In diesen Gebieten kommt es häufig vor, dass die Taliban willkürlich Menschen verfolgen, töten und die Jugendlichen, wenn sie benötigt werden, rekrutieren. Eine Zwangsrekrutierung seitens der Taliban ist dort möglich, wo sie vorherrschen.

Diese Gebiete liegen in den von Paschtunen und Usbeken bewohnten Provinzen, wie Nangarhar, Kandahar, Kunar, Kunduz, Faryab, Helmand usw. Wenn die Jugendlichen sich nicht dort befinden oder sich der Zwangsrekrutierung der Taliban entziehen und in Großstädte oder ins Ausland flüchten, werden sie von den Taliban nicht weitergesucht. Allerdings können diese Jugendlichen nicht mehr in ihre Heimatregion zurückkehren, wenn die Taliban weiterhin dort vorherrschend sind. Zwangsrekrutierung ist nicht weit verbreitet, weil viele Jugendliche aus Gründen der Arbeitslosigkeit und ethnischer Solidarität sich den Taliban anschließen. Auch gibt es Regionen, deren Bevölkerung aus Gründen des Paschtunwali - dem Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen - es in "Krisenzeiten" für notwendig erachtet, den Taliban freiwillig Soldaten bereitzustellen. Die meisten Opfer der Taliban sind von 2013 bis Februar 2016 in den von Paschtunen bewohnten Provinzen Kandahar, Nangarhar, Kunar, Helmand, Logar, Wardak und in den Provinzen Kunduz, Faryab, Baghlan und Badakhshan zu verzeichnen, wo hauptsächlich Usbeken, Tadschiken und Paschtunen wohnen. Die Taliban haben im Oktober 2015 die Stadt Kunduz eingenommen und in wenigen Tagen den UNO-Berichten zufolge mehr als 800 Menschen getötet. Die getöteten Zivilisten waren Tadschiken und Usbeken. Derzeit werden die meisten Distrikte von Nangarhar von den Taliban kontrolliert und von ihnen werden immer wieder Massaker an der Zivilbevölkerung verübt. [...]"

Auszug aus der gutachterlichen Stellungnahme der Ländersachverständigen ASEF vom 15.09.2017 zur Situation von Rückkehrern aus dem Iran und aus Pakistan (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

"[...]

Berichten der internationalen Hilfsorganisationen zufolge leben geschätzte drei Millionen afghanische Flüchtlinge in Pakistan sowie zirka 2,5 Millionen im Iran. Darunter befinden sich viele im Exil geborene Afghanen der zweiten und dritten Generation.

Besonders im Iran sind afghanische Staatsangehörige nicht erwünscht, wo sie sehr benachteiligt sind und kaum über eine Perspektive verfügen. Bereits seit November 2013 schickt der Iran tausende Afghanen zum Kampf gegen die IS nach Syrien. Im Gegenzug verspricht die iranische Regierung afghanischen Flüchtlingen das Bleiberecht im Iran oder finanzielle Anreize. Einigen Afghanen soll aber auch mit der Abschiebung gedroht worden sein, falls sie sich weigern sollten, nach Syrien zu gehen. Am 2. Mai 2016 verabschiedete das Teheraner Parlament ein Gesetz, wonach im Falle eines Todes die Angehörigen der afghanischen Kämpfer die iranische Staatsbürgerschaft erhalten. Damit bestätigte die iranische Regierung erstmals die Existenz ausländischer Söldner.

Zur Situation von Rückkehrern in Afghanistan:

Afghanische Rückkehrer geraten beim Wiederaufbau einer Lebensgrundlage in Afghanistan in gravierende Schwierigkeiten. Diese verfügen über eine unzureichende Existenzgrundlage sowie einen schlechten Zugang zu Lebensmitteln und Unterkunft. Außerdem erschwert die prekäre Sicherheitslage die Rückkehr der meisten in ihre Heimatregionen. Es wird berichtet, dass viele Rückkehrende ihre Dörfer innerhalb von zwei Jahren erneut verlassen müssen und in die Städte ausweichen, insbesondere nach Kabul, wo es ihnen nach der Rückkehr auch wirtschaftlich schlechter geht als im Exilland.

Es darf nicht ungesagt bleiben, dass Rückkehrer bei ihrer Ankunft in Afghanistan nach einer Abwesenheit bemerken, dass sie weitgehend von den Verwandtschafts-, Geschäfts- und Patronage-Beziehungen - falls überhaupt vorhanden - ausgeschlossen werden. Damit ist gemeint, dass es für Rückkehrer besonders schwierig ist, sich ohne etwaige Verwandte oder Freunde zu Recht zu finden und Zugang zu Arbeitsstätten zu bekommen. Ihnen fehlt somit jeglicher Zugang zu nützlichen Ressourcen. Nach ihrer Rückkehr nach Afghanistan gelten sie als Fremde im eigenen Land. Darüber hinaus müssen die meisten Jugendlichen, die aus dem Iran und Pakistan zurückkehren bzw. abgeschoben werden und über keine Fachausbildung verfügen, mit dem Problem der Arbeitslosigkeit kämpfen. Auf Grund der unsicheren Lage fühlen sich viele Unternehmer dazu gezwungen, ihre Firmen zu schließen. Dies führt ebenfalls zu einer schwierigen Situation am Arbeitsmarkt. Daraus ergibt sich, dass tausende junge Menschen derzeit auf dem Weg sind, außerhalb von Afghanistan Möglichkeiten nach wirtschaftlichem Überleben zu suchen. Jene Rückkehrer, die im Land verbleiben, geraten oft in die Drogenszene und leben zum Teil in Parkanlagen und in nicht bewohnbaren Häusern. Auf Grund dieser Umstände ist die Kriminalitätsrate, vor allem unter jungen Menschen, stark gestiegen. Diese Situation der jungen Rückkehrer hat dazu geführt, dass die afghanische Regierung vor allem die Nachbarländer gebeten hat, afghanische Flüchtlinge nicht abzuschieben.

Wenn Rückkehrer über kein soziales Netzwerk verfügen und auch keine finanzielle Unterstützung zugesichert bekommen, sind sie gezwungen, in Zelten zu leben und haben zudem nur geringen Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser. Die Situation ist insbesondere für junge afghanische Rückkehrer hart, zumal die afghanische Regierung nicht über die nötigen Ressourcen verfügt, um diese beim Aufbau einer Existenzgrundlage zu unterstützen. Viele Afghanen haben Afghanistan aufgrund des langjährigen Krieges verlassen, können aber, obwohl es in manchen Gebieten wieder sicher ist, wegen der wirtschaftlichen Lage nicht mehr dorthin zurückkehren.

Rückkehrer aus dem Iran berichten über soziale Ablehnung durch jene Afghanen, die während der Konfliktjahre in Afghanistan geblieben sind. Oftmals werden Rückkehrer als ‚Eindringlinge' oder ‚Fremde' angesehen. Im Großen und Ganzen gibt es eine generelle negative Einstellung gegenüber Rückkehrern, denen von den in Afghanistan verbliebenen Personen vorgeworfen wird, dem Krieg entflohen zu sein und das Land und die Bevölkerung im Stich gelassen zu haben und selbst ein wohlhabendes Leben im Ausland geführt zu haben. Vor allem Flüchtlinge zweiter Generation erleben Diskriminierung aus ethnischen, religiösen und politischen Gründen intensiver als die der ersten Generation.

Die Tatsache, dass die Mehrheit der im Iran geborenen Afghanen, vor allem die Dari- bzw. Farsi-sprechenden sunnitischen Tadschiken und schiitischen Hazara, durch ihren Schulbesuch oder durch die Ausübung eines Berufes im Iran die iranische Kultur und Lebensweise angenommen haben, erschwert die Rückführung dieser in die afghanische Gesellschaft. Für viele ist auch die Vorstellung, in ländliche Gebiete Afghanistans zurückzukehren, die meist nur ein sehr grundlegendes Maß an Infrastruktur, sozialen Diensten und Beschäftigungsmöglichkeiten bieten, beängstigend.

Die afghanische Bevölkerung betrachtet Rückkehrer aus dem Iran mit Argwohn und ist der Meinung, dass diese die Identität Afghanistans ändern und das Land ‚iranischer' machen. Sie werden auch oft als ‚falsche' Afghanen bezeichnet. Dieser Umstand führt oft zu Spannungen zwischen den Rückkehrern und jenen, die während der Kriegsjahre in Afghanistan verblieben sind. Rückkehrer berichten auch über ein unfreundliches Verhalten der Afghanen im Land und dass die afghanische Gesellschaft eine negative Wahrnehmung von Rückkehrern aus dem Iran habe. Auch werden solche Rückkehrer als kulturell nicht authentisch und politisch verdächtig angesehen. Die Aussprache, nämlich der iranische Akzent der Rückkehrer, führt zur sozialen Ausgrenzung, dem zufolge sie mit Diskriminierung und Erniedrigung seitens einiger staatlicher Einrichtungen, darunter auch Bildungseinrichtungen, konfrontiert sind. Ohne Beziehungen zu dort wohnhaften und mit der dortigen Gesellschaft vertrauten Personen ist es nahezu unmöglich, in Afghanistan Arbeit zu finden. Ihnen wird unter anderem auch vorgeworfen, dass sie zurückgekehrt seien, um von der sich teilweise stabilisierten Lage im Land zu profitieren.

Die afghanische Regierung hat im Jahr 2001 ein Dekret erlassen, welches die Diskriminierung von Rückkehrern verbietet. Trotz dieses Dekrets werden Rückkehrer aus dem Iran von der Bevölkerung und der Regierung diskriminiert und schikaniert. Am schwierigsten erweist sich die Situation für jene, die nicht in ihre Heimatdörfer zurückkehren wollen, vor allem aus Sicherheitsgründen oder wegen fehlender familiärer Anknüpfungspunkte. Diese Rückkehrer sind besonders verwundbar. Als Fremde im eigenen Land fehlen ihnen die wichtigen Netzwerke, die sie in der afghanischen Stammesgesellschaft brauchen. Eine Unterkunft oder eine Verdienstmöglichkeit zu finden, ist ohne solche Beziehungen viel schwieriger.

[...]"

Blutrache und Blutfehde

Ehre und Vergeltung bei Ehrverletzungen (badal) spielen eine zentrale Rolle im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali)

In den Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 weist UNHCR mit Bezug auf verschiedene Quellen darauf hin, dass Vergeltung durch Blutrache auf einem traditionellen Verständnis von Verhalten und Ehre beruht. Eine Blutfehde besteht zwischen zwei Familien, wobei Mitglieder der einen Familie solche der anderen zur Vergeltung einer Tat töten. Die Blutrache sei hauptsächlich eine paschtunische Tradition und im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) verankert, werde aber auch von anderen ethnischen Gruppen praktiziert. Auslöser einer Blutfehde könne ein Mord oder eine ungelöste Streitigkeit sein.

Gemäß einem in den UNHCR-Richtlinien zitierten Landinfo-Bericht vom 1. November 2011, der sich auf eine Publikation von Thomas Barfield, Anthropologe mit Schwerpunkt Afghanistan an der Boston University, aus dem Jahr 2003 beruft, ist Vergeltung (badal) bei verletzter Ehre eine zentrale Institution des Paschtunwali. Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network in Kabul, gab am 23. Februar 2017 gegenüber dem Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) an, bei badal handle es sich um einen Austausch zwischen zwei Familien infolge einer Ehrverletzung. Das Prinzip des badal entspreche dem gesas/gu/sas-Prinzip der Scharia. Laut einem Bericht der Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) vom Januar 2016 steht der Begriff badal für Austausch und kann sich beispielsweise auch auf den Austausch von zwei Frauen zwischen zwei Familien beziehen, indem

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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