Entscheidungsdatum
23.01.2020Norm
BBG §40Spruch
W217 2224713-1/3E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Julia STIEFELMEYER als Vorsitzende und die Richterin Mag. Ulrike LECHNER, LL.M. sowie die fachkundige Laienrichterin Verena KNOGLER BA, MA als Beisitzerinnen über die Beschwerde von Herrn XXXX , geb. XXXX , vertreten durch Dr. Georg LUGERT, Rechtsanwalt, gegen den als Bescheid geltenden Behindertenpass des Bundesamtes für Soziales und Behindertenwesen, Landesstelle Niederösterreich, OB: XXXX , vom 03.09.2019, betreffend die Höhe der Festsetzung des Grades der Behinderung im Behindertenpass, beschlossen:
I.
In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen zurückverwiesen.
II.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1. Herr XXXX (in der Folge: BF) beantragte am 11.04.2019 einlangend die Ausstellung eines Behindertenpasses, die Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel" in diesen sowie die Ausstellung eines Parkausweises gemäß § 29b Straßenverkehrsordnung. Diesem Antrag wurde ein Konvolut an medizinischen Beweismitteln beigelegt. So legte er u.a. auch einen Befund des Universitätsklinikum XXXX für Orthopädie und orthopädische Chirurgie, Sportorthopädie und Rheumachirurgie vor.
2. In weiterer Folge wurde ein medizinisches Sachverständigengutachten auf Grundlage der durch den BF vorgelegten Befunde sowie einer am 05.07.2019 durchgeführten Begutachtung durch Dr. XXXX , Arzt für Allgemeinmedizin, Facharzt für Augenheilkunde, erstellt. In diesem Gutachten vom 08.07.2019 ist Folgendes ausgeführt:
"Anamnese:
2015 Atemnot, deshalb ist er zum Hausarzt gegangen. Wollte einen Asthma-Spray, der hat ein EKG gemacht, hat ihn gleich ins KH geschickt. Da wurde dann bald ein Schrittmacher implantiert. Jetzt funktioniert das wieder gut.
Asthma oder COPD seit vielen Jahren, Allergie auf Citrusfrüchte, da bekommt er Juckreiz.
KTEP bds. - 2014 und 2016, damit ist er sehr zufrieden. Da war er auch auf Rehab. Er fühlt sich aber schon etwas unsicher.
Kreuzschmerzen hat er auch immer wieder.
Darmkrebs 1993 mit Operation, keine Chemo erforderlich, 1997 Darmverschluss, nochmalige Operation. Keine Beschwerden mehr.
Schweres Heben und Tragen ist nicht mehr möglich, da geht ihm die Luft aus. Das ist sehr störend, da er einen großen Garten hat, um den er sich kümmern muss.
Jetzt war er 2 Monate am Meer - da ist es ihm mit der Luft viel bessergegangen. Da war er 2 Monate auf einem Campingplatz in Istrien, da war¿s viel besser, hat ihm gut gefallen. Nach dem Heimkommen ist es gleich wieder schlechter geworden.
Sonst fährt er gerne mit dem Wohnmobil in die Therme, sobald er merkt, dass es wieder irgendwo zwickt, das hilft gut für die Gelenksschmerzen.
Derzeitige Beschwerden:
siehe oben
Behandlung(en) / Medikamente / Hilfsmittel:
Co-Enac, Enac, Simvastatin, Bisocor, Thrombo ASS, ISMN
Seretide, Berodual
Sozialanamnese:
verwitwet, 1 Sohn
Pensionierter XXXX -Mitarbeiter (Stromkassier)
Zusammenfassung relevanter Befunde (inkl. Datumsangabe):
Befundbericht Herzschrittmacher des KH XXXX vom 12.09.2015:
AV Block II Mobitz
PM-Implantation
Entlassungsbericht der 3. Med. Abt. des KH XXXX vom 14.09.2015:
Pm Implant bei AV-Block III (Advisa DR MRI bei AV II Mobitz) am 12.9.2015
art. Hypertonie
Adipositas per magna
Ausschluss einer hämodynamsich wirksamen KHK 03/2010
CMP mit mittelgradig red. Pumpfunktion
OP:
Dickdarmkarzinom - Operat 1993 und 1993
KT EP
Schrittmacherkontrolle der 3. Med. Abt. des KH XXXX vom 14.09.2015:
unauffällige Kontrolle
Entlassungsbericht der Orthopädie des KH XXXX vom 18.11.2016:
Schwere, schmerzhafte, therapieresistente Varusgonarthrose rechts
KTEP rechts BPK (Femur Größe 5 rechts zementiert, Tibia Größe 6 rechts zementiert, Insert 7 mm Größe 5, All
Poly Patella 32 mm Größe 5 zementiert, laterales Release) am 14.11.2016
Untersuchungsbefund:
Allgemeinzustand:
normal
Ernährungszustand:
adipös
Größe: cm Gewicht: kg Blutdruck:
Klinischer Status - Fachstatus:
Haut: Rosiges Kolorit,
Sichtbare Schleimhäute: feucht, gut durchblutet
Kopf: Capilitium unauffällig
Augen: unauffällig
Gehör: unauffällig
Hals: Schilddrüse palpatorisch unauffällig, schluckverschieblich, keine Lymphknoten
palpabel
Thorax: symmetrisch,
Herz: normofrequent, Herztöne rein und arrhythmisch
Lunge: Vesikuläratmen, leise AG
Abdomen: über Thoraxniveau, weich, kein Druckschmerz, Leber und Milz nicht palpabel, Darmgeräusche unauffällig, blande Narbe
Nierenlager: nicht klopfdolent
Wirbelsäule:
Becken- und Schulterstand gerade
Halswirbelsäule: Nacken-Trapezius- Hartspann, Kinn-Jugulum-Abstand 2 QF, Rotation bds. 30°, Seitneigen bds. 30°
Brustwirbelsäule: Seitneigen bds. bis knapp über die Kniegelenke
Lendenwirbelsäule: nicht klopfdolent
Vorbeugen: FBA 15 cm bei durchgestreckten Kniegelenken, 0 bei gebeugten
Rückbeugen: 20°
Obere Extremitäten:
Schultergelenke: Arme vorhalten und seitlich 100°, Nacken- und Schürzengriff bds. möglich
Ellenbogengelenke: Beugung, Streckung und Unterarmdrehung unauffällig
Handgelenke und Finger: unauffällig, bis auf ein Streckdefizit des linken 5. Fingers, Grob- und Spitzgriff bds. durchführbar
Faustschluß bds. vollständig möglich, Kraftgrad 5 bds.
Untere Extremitäten:
Deutliche Knöchelödeme, Fußpulse gut palpabel, Beinlänge seitengleich
Hüftgelenke: bds. S 0-0-100, R 40-0-10
Kniegelenke: rechts S 0-0-90, links S 0-0-100, blande Narben, leichte Aufklappbarkeit
Sprunggelenke: bds. S 30-0-40,
Zehen- und Fersenstand bds. möglich
Kraftgrad 5 bds.
Gesamtmobilität - Gangbild:
Kommt alleine, selbst gehend mit normalen Schuhen ohne Gehhilfe zur Untersuchung.
Gangbild: unauffälliger, sicherer Gang
Belastungsdyspnoe bei schnellerem Gehen
Status Psychicus:
wach, voll orientiert, gut kontaktfähig, Stimmung und Affekt unauffällig, Antrieb normal, Ductus kohärent, Gedächtnis unauffällig, emotionale Kontrolle gut, soziale Funktionsfähigkeit gut
Ergebnis der durchgeführten Begutachtung:
Lfd. Nr.
Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden: Begründung der Positionsnummer und des Rahmensatzes:
Pos. Nr.
GdB %
1
Bipolare affektive Störung oberer Rahmensatz, da trotz umfassender Therapie noch keine ausreichende Stabilisierung AV-Block II-III° Wahl dieser Richtsatzposition bei Herzmuskelerkrankung mit Schrittmacherindikation, oberer Rahmensatz bei latenter Dekompensation.
05.02.01
40
2
Degenerative Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates Wahl dieser Richtsatzposition bei Knietotalendoprothese beidseits mit guter Funktion, rezidivierenden Kreuzschmerzen, unterer Rahmensatz bei relativ guten Bewegungsumfängen.
02.02.02
30
3
Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) Wahl dieser Richtsatzposition bei chronisch obstruktiver Lungenerkrankung mit Notwendigkeit einer inhalativen Dauertherapie, unterer Rahmensatz bei fehlender Dokumentation einer schweren Lungenfunktionseinschränkung.
06.06.02
30
Gesamtgrad der Behinderung 50 v. H.
Begründung für den Gesamtgrad der Behinderung:
Die führende funktionelle Einschränkung wird durch die anderen funktionellen Einschränkungen um 1 Stufe erhöht bei nachteiliger wechselseitiger Beeinflussung.
Folgende beantragten bzw. in den zugrunde gelegten Unterlagen diagnostizierten Gesundheitsschädigungen erreichen keinen Grad der Behinderung:
Zustand nach Darmkrebs und Darmverschluss vor über 20 Jahren
Stellungnahme zu gesundheitlichen Änderungen im Vergleich zum Vorgutachten:
Begründung für die Änderung des Gesamtgrades der Behinderung:
X Dauerzustand
1. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Welche der festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen lassen das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie den sicheren Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu und warum?
Trotz der degenerativen Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates, der Herz- und Lungenerkrankung sind Mobilität und Belastbarkeit ausreichend, sind das Zurücklegen einer kurzen Wegstrecke, das Ein- und Aussteigen sowie der sichere Transport in einem öffentlichen Verkehrsmittel möglich und aus medizinischer Sicht zumutbar. Es liegen keine Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule, der oberen und unteren Extremitäten vor, welche die Mobilität erheblich und dauerhaft einschränken. Das Bewältigen einer Gehstrecke von 300 bis 400 Metern erscheint alleine ohne Unterbrechung, gegebenenfalls mit Hilfsmitteln möglich. Niveauunterschiede können überwunden werden, das sichere Ein- und Aussteigen ist möglich, das Erreichen von Haltegriffen und das Festhalten sind möglich, Kraft und Koordinationsvermögen erscheinen ausreichend. Art und Ausmaß allfälliger Schmerzzustände erscheinen nicht geeignet, das Erreichen und die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel unmöglich oder unzumutbar zu machen. Es kann keine Einschränkung der Herz- oder Lungenfunktion erkannt werden, die die Mobilität erheblich und dauerhaft einschränkt. Ein mobiles Sauerstoffgerät ist nicht erforderlich. Erhebliche Einschränkungen psychischer, neurologischer oder intellektueller Fähigkeiten, Funktionen liegt nicht vor. Die zumutbaren therapeutischen Optionen erscheinen nicht ausgeschöpft (Gewichtsrestriktion). Eine schwere anhaltende Erkrankung des Immunsystems liegt nicht vor. Eine hochgradige Sehbehinderung, Blindheit oder Taubblindheit liegt nicht vor.
2. Zumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel - Liegt eine schwere Erkrankung des Immunsystems vor?
nein"
3. Mit Schreiben vom 09.07.2019 wurde dem BF das Ergebnis der Beweisaufnahme zur Kenntnisnahme und allfälliger Stellungnahme binnen 2 Wochen übermittelt.
3.1. Hierzu brachte der BF vor, die Behauptung, er könne einen 1/2 Kilometer laufen, sei aus der Luft gegriffen. Er leide unter Asthma.
3.2. In seiner Stellungnahme vom 29.08.2019 führt Dr. XXXX aus:
"Antwort(en):
Nach nochmaliger Durchsicht aller vorliegenden Unterlagen ergibt sich keine Änderung der Einschätzung. Eine erhebliche und dauerhafte Einschränkung der Mobilität im Sinne der Zusatzeintragung Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel liegt nicht vor, wie auch in der ausführlichen Begründung im Gutachten nachgelesen werden kann."
4. Die belangte Behörde übermittelte in der Folge mit Schreiben vom 03.09.2019 einen unbefristet ausgestellten Behindertenpass mit der Zusatzeintragung "Der Inhaber des Passes ist Träger einer Prothese", welchem Bescheidcharakter zukommt, an den BF.
5. Gegen diesen Bescheid wurde vom BF fristgerecht Beschwerde erhoben. Darin führte er zunächst aus, er sei doppelter Prothesenträger in Form der beiden Kniegelenke. Durch seine Asthmaerkrankung sei er massiv geschädigt und beeinträchtigt. Seine künstlichen Kniegelenke würden naturgemäß ihre Probleme mit sich bringen, wobei sich die tatsächlichen Schwierigkeiten des BF mit den Kälteerscheinungen in der kalten Jahreszeit ergeben und von ihm auch in einem deutlich über dem gewöhnlichen Rahmen vorhandenen Ausmaß wahrgenommen würden. Von Herbst bis ins Frühjahr jeden Jahres leide er an ziehenden Muskelschmerzen im Kniebereich und würden diese mit zunehmendem Alter intensiver und auch schwieriger medizinisch zu behandeln. Dazu komme, dass der BF auch an starken Wadenkrämpfen leide, die nicht nur während des Gehens, sondern auch im Sitzen - ohne konkrete Anzeichen - auftreten würden und somit von ihm auch nicht frühzeitig erkannt werden könnten. Zurückzuführen seien diese - nach Ansicht des BF - auf seine Knieoperationen, da er vorher unter keinen derartigen Beschwerden gelitten habe. Wegen seiner Beschwerden müsse der BF regelmäßig auf Schmerzmittel und Magnesium zurückgreifen. In einem Zug ohne Probleme könne der BF lediglich eine Wegstrecke von maximal 50m ungehindert zurückzulegen, da bei ihm eine massive Einschränkung der Gehfähigkeit bestehe. Diese körperlichen Einschränkungen gingen in der Regel mit seinem schweren Asthmaleiden einher, wodurch auch die massive Atemnot leicht zu erklären sei und sohin von einer Überschneidung der Funktionsbeeinträchtigungen iSd BBG auszugehen sei. Darüber hinaus leide der BF an starken Rückenschmerzen, die insbesondere dann auftreten würden, wenn er eine Arbeitstätigkeit verrichte, die die Rückenmuskulatur in Anspruch nehme. So würden ihm wegen seiner Rückenprobleme Infusionen verabreicht und auch Schmerzpulver verschrieben werden. Weiters liege eine Untersuchung hinsichtlich einer Allergietestung vom 23.09.2019 vor, in der vor allem eine starke Gräser- und Getreideallergie, die eine Kreuzallergie darstelle, aber auch eine Hausstaubmilben-Allergie der Kategorie I ergeben habe. Der BF sei sohin von März bis Juni jeden Jahres hinsichtlich der Gräsersaison als auch ganzjährig hinsichtlich der Stauballergie massiv in seinen Lebensgepflogenheiten eingeschränkt. Auch ergebe sich aus dem Befund des Ersten XXXX Medizinischen Laborinstituts vom 24.09.2019, dass bei ihm eine polyklonale Hypergammaglobulinämie gegeben sei, die einerseits auf akuten und chronischen Infektionen - wie den vorhandenen Darmerkrankungen - und andererseits auf den Lebererkrankungen beruhe. In diesem Zusammenhang sei auszuführen, dass der BF vor etwa 20 Jahren Darmoperationen bedingt durch einen Darmkrebs sowie eines Darmverschlusses über sich ergehen habe lassen müssen, was eine drohende Inkontinenz zur Folge habe. Durch die schlafmedizinische Diagnostik vom 07.10.2019 sei bei ihm die Diagnose einer Schlafapnoe gestellt worden, welche durch die hochdosierte Schmerztherapie bedingt sei. Eine weitere Verabreichung von hochdosierten Schmerzmitteln sei daher nicht möglich, da sich hierdurch die Schlafapnoe verschlechtern würde, sodass davon auszugehen sei, dass die Schmerztherapie bereits ausgeschöpft sei. Die koronare Herzerkrankung sei bislang von der belangten Behörde gänzlich unberücksichtigt geblieben. Darüber hinaus würden die ständigen Hustenbeschwerden auch immer wieder zur kurzzeitigen Bewusstlosigkeit führen, die als solche wiederum für Stürze verantwortlich sei. Konkret sei offensichtlich in manchen Situationen ein starker Husten mit direkten Einflüssen auf das Nervensystem verbunden. Tatsächlich ereigneten sich diese Situationen sowohl im Stehen wie auch im Sitzen und würden zu Kopfüberstürzen nach vorne führen. Aus solchen Anlässen habe der BF abgesehen von Prellungen und Rissquetschwunden auch einen Nasenbeinbruch erlitten.
Der von der belangten Behörde festgesetzte Grad der Behinderung in der Höhe von 50% entspreche sohin weder den Untersuchungsergebnissen noch den Vorgaben der Einschätzungsverordnung.
Unter einem legte der BF zwei aktuelle Befundberichte eines Facharztes für Lungenheilkunde bei.
6. Die Beschwerde wurde samt dem Bezug habenden Verwaltungsakt dem Bundesverwaltungsgericht am 24.10.2019 zur Entscheidung vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Gesetzliche Bestimmungen:
Gemäß § 6 des Bundesgesetzes über die Organisation des Bundesverwaltungsgerichtes (Bundesverwaltungsgerichtsgesetz - BVwGG) entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.
Gemäß § 45 Abs. 3 BBG hat in Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch einen Senat zu erfolgen. Gegenständlich liegt somit Senatszuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichts-verfahrensgesetz - VwGVG) geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
2. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt I.:
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden,
wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder
die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), § 28 VwGVG, Anm. 11.).
§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.
Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Ro 2014/03/0063, zur Auslegung des § 28 Abs. 3 2. Satz ausgeführt hat, wird eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht kommen, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (etwa im Sinn einer "Delegierung" der Entscheidung an das Verwaltungsgericht, vgl Holoubek, Kognitionsbefugnis, Beschwerdelegitimation und Beschwerdegegenstand, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, erster Instanz, 2013, Seite 127, Seite 137; siehe schon Merli, Die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte erster Instanz, in: Holoubek/Lang (Hrsg), Die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit erster Instanz, 2008, Seite 65, Seite 73 f).
Die im Beschwerdefall relevanten Bestimmungen des BBG, BGBl. Nr. 283/1990 idgF, ergänzt durch die VO BGBl. II Nr. 59/2014, lauten:
"§ 1. (2) Unter Behinderung im Sinne dieses Bundesgesetzes ist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden körperlichen, geistigen oder psychischen Funktionsbeeinträchtigung oder Beeinträchtigung der Sinnesfunktionen zu verstehen, die geeignet ist, die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu erschweren. Als nicht nur vorübergehend gilt ein Zeitraum von mehr als voraussichtlich sechs Monaten.
§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpass auszustellen, wenn
1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder
2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder
3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder
...
5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.
(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist.
§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3) oder ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn
1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder
2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder
3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt."
Maßgebend für die Entscheidung über den Antrag des BF auf Ausstellung eines Behindertenpasses ist die Feststellung der Art und des Ausmaßes des beim BF vorliegenden Gesundheitsschädigungen sowie in der Folge die Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung.
Dazu hat die belangte Behörde im angefochtenen Verfahren nur ansatzweise Ermittlungen geführt.
In dem von der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin, Facharzt für Augenheilkunde, wurde nach Durchführung einer persönlichen Untersuchung des BF am 05.07.2019 der Gesamtgrad der Behinderung unter Anführung der Leiden "AV-Block II-III°", "Degenerative Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates" sowie "Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD)" mit 50 v.H. eingeschätzt.
Trotz vorgelegter Befunde u.a. aus den Fachbereichen Lungenheilkunde sowie Orthopädie wurde lediglich ein medizinisches Gutachten durch einen Arzt für Allgemeinmedizin eingeholt.
Es besteht zwar kein Anspruch auf die Zuziehung von Sachverständigen eines bestimmten medizinischen Teilgebietes. Es kommt jedoch auf die Schlüssigkeit des eingeholten Gutachtens an. Gegenständlich ist die Begutachtung lediglich durch einen Arzt für Allgemeinmedizin erfolgt. Die vorgelegten Beweismittel enthalten konkrete Anhaltspunkte, dass jedenfalls die Einholung von Sachverständigengutachten der Fachrichtungen Lungenheilkunde sowie Orthopädie erforderlich sind, um eine vollständige und ausreichend qualifizierte Prüfung zu gewährleisten.
Das eingeholte allgemeinmedizinische Sachverständigengutachten ist im Hinblick darauf, dass der BF bereits im Antrag jedenfalls auch orthopädische Leidenszustände durch Vorlage von medizinischen Beweismitteln vorgebracht hat, mangels Fachkenntnis nicht ausreichend zur qualifizierten Beurteilung des Gesamtleidenszustandes.
Die seitens des Entscheidungsorganes erforderliche Überprüfung im Rahmen der freien Beweiswürdigung ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Der eingeholte medizinische Sachverständigenbeweis vermag die verwaltungsbehördliche Entscheidung nicht zu tragen.
Ein Gutachten bzw. eine medizinische Stellungnahme, welche Ausführungen darüber vermissen lässt, aus welchen Gründen der ärztliche Sachverständige zu einer Beurteilung gelangt ist, stellt keine taugliche Grundlage für die von der belangten Behörde zu treffende Entscheidung dar (VwGH 20.03.2001, 2000/11/0321).
Es ist nicht nachvollziehbar, warum die belangte Behörde darauf verzichtet hat, das Ermittlungsverfahren dahingehend zu erweitern, jedenfalls auch Gutachten der Fachrichtungen Lungenheilkunde sowie Orthopädie einzuholen.
Aus den dargelegten Gründen ist davon auszugehen, dass die belangte Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhaltes unterlassen hat und sich der vorliegende Sachverhalt zur Beurteilung des Grades der Behinderung als so mangelhaft erweist, dass weitere Ermittlungen bzw. konkretere Sachverhaltsfeststellungen erforderlich erscheinen.
Das Verwaltungsgericht hat im Falle einer Zurückverweisung darzulegen, welche notwendigen Ermittlungen die Verwaltungsbehörde unterlassen hat (Ra 2014/20/0146 vom 20.05.2015).
Im fortgesetzten Verfahren wird die belangte Behörde medizinische Sachverständigengutachten der Fachrichtungen Lungenheilkunde sowie Orthopädie - auf Basis fachärztlicher Untersuchungen - einzuholen und diese mit dem allgemeinmedizinischen Gutachten vom 08.07.2019 zusammenzufassen haben, wobei die Ergebnisse unter Einbeziehung des Beschwerdevorbringens bei der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen sind.
Von den Ergebnissen des weiteren Ermittlungsverfahrens wird der BF mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme in Wahrung des Parteiengehörs in Kenntnis zu setzen sein.
Eine Nachholung des durchzuführenden Ermittlungsverfahrens durch das Bundesverwaltungsgericht kann - im Lichte der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 28 VwGVG - nicht im Sinne des Gesetzes liegen.
Die unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht läge angesichts des gegenständlichen gravierend mangelhaft geführten verwaltungsbehördlichen Ermittlungsverfahrens nicht im Interesse der Raschheit und wäre auch nicht mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden. Zu berücksichtigen ist auch der mit dem verwaltungsgerichtlichen Mehrparteienverfahren verbundene erhöhte Aufwand.
Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwGVG sind somit im gegenständlichen Beschwerdefall nicht gegeben.
Da der maßgebliche Sachverhalt im Fall des BF noch nicht feststeht und vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht rascher und kostengünstiger festgestellt werden kann, war in Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen der angefochtene Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die belangte Behörde zurückzuverweisen.
Zu Spruchpunkt II:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.
In den rechtlichen Ausführungen zu Punkt I.) wurde ausführlich unter Bezugnahme auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ausgeführt, dass im Verfahren vor der belangten Behörde gravierende Ermittlungslücken bestehen sowie die Judikatur zu den Anforderungen an ein Sachverständigengutachten für die behördliche Beurteilung der Frage der Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel im Lichte von § 42 Abs. 1 BBG dargestellt. Zur Anwendung des § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG wurde auf die aktuelle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063) Bezug genommen.
Schlagworte
Ermittlungspflicht, Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:W217.2224713.1.00Zuletzt aktualisiert am
07.04.2020