Entscheidungsdatum
12.02.2020Norm
BFA-VG §22a Abs3Spruch
G314 2226755-1/10E
Schriftliche Ausfertigung des am 23.12.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde des XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit: Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung (Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH), gegen den Mandatsbescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX, Zl. XXXX, und gegen die Anhaltung in Schubhaft seit 16.12.2019 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:
A)
I. Der Beschwerde wird stattgegeben. Der Schubhaftbescheid und die Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft werden für rechtswidrig erklärt.
II. Es wird gemäß § 22a Abs 3 BFA-VG festgestellt, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft nicht vorliegen.
III. Der Bund (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen von EUR 737,60 (Schriftsatzaufwand) und EUR 922 (Verhandlungsaufwand), insgesamt daher EUR 1.659,60, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
IV. Der Antrag der Behörde auf Ersatz ihrer Aufwendungen wird abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer (BF) wurde am 16.12.2019 festgenommen und zunächst im Polizeianhaltezentrum Graz und ab 17.12.2019 im Anhaltezentrum Vordernberg (AHZ) angehalten.
Mit Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom XXXX, Zl. XXXX, wurde über ihn gemäß § 76 Abs 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung der Abschiebung angeordnet. Gleichzeitig wurde ausgesprochen, dass die Rechtsfolgen dieses Bescheids nach seiner "Entlassung aus der derzeitigen Haft" eintreten. Der Bescheid wird zusammengefasst damit begründet, dass der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 05.08.2011 abgewiesen und gegen ihn eine seit 11.06.2019 rechtskräftige und durchsetzbare Rückkehrentscheidung erlassen worden sei. Er habe keine familiären, wirtschaftlichen, beruflichen oder sonstigen Bindungen in Österreich oder einem anderen europäischen Staat. Er gehe keiner legalen Erwerbstätigkeit nach und habe keine ausreichenden Mittel, um seinen Unterhalt zu finanzieren. Er sei als Staatsangehöriger von Afghanistan identifiziert worden; ein Heimreisezertifikat (HRZ) sei ausgestellt worden. Die Fluchtgefahr wird mit der rechtskräftigen und durchsetzbaren Rückkehrentscheidung sowie damit begründet, dass der BF entgegen der seit 11.06.2019 bestehenden Verpflichtung nicht freiwillig ausgereist sei, die Frist für die freiwillige Ausreise, die mit 25.06.2019 verstrichen sei, nicht genutzt habe und nicht rückkehrwillig sei. Sein Verhalten zeige, dass er nicht gewillt sei, sich der geltenden Rechtsordnung zu unterwerfen. Er sei nicht vertrauenswürdig; es sei davon auszugehen, dass er auch in Zukunft nicht gewillt sein werde, die Rechtsvorschriften einzuhalten. Aus seiner Wohn- und Familiensituation, der fehlenden sonstigen Verankerung in Österreich sowie seinem bisherigen Verhalten könne auf ein beträchtliches Risiko des Untertauchens geschlossen werden. Das private Interesse des BF an der Schonung seiner persönlichen Freiheit wiege weniger schwer als das Interesse des Staates am reibungslosen Funktionieren der öffentlichen Verwaltung, zumal einem geordneten Fremdenwesen ein hoher Stellenwert im Hinblick auf die öffentliche Ordnung und das wirtschaftliche Wohl des Staates zukomme. Gelindere Mittel kämen aufgrund des hohen Risikos des Untertauchens nicht in Betracht; eine finanzielle Sicherheitsleistung scheitere schon an der Mittellosigkeit des BF. Aufgrund seines Gesundheitszustands sei von seiner Haftfähigkeit auszugehen. Die gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung der Schubhaft lägen somit vor; diese stünde in einem angemessenen Verhältnis zum Zweck der Maßnahme und sei im Interesse des öffentlichen Wohls dringend geboten.
In der Bescheidbegründung wird (offenbar irrtümlich) auch angegeben, dass der BF nigerianischer Staatsangehöriger sei und eine Rückkehr nach Nigeria nicht unzulässig in sein Privatleben eingreife.
Gegen diesen Bescheid, die Anordnung der Schubhaft und die Anhaltung des BF in Schubhaft richtet sich die am 18.12.2019 beim Bundesverwaltungsgericht (BVwG) eingebrachte Beschwerde, mit der der BF die Durchführung einer mündlichen Verhandlung, die Aufhebung des Schubhaftbescheids sowie die Aussprüche, dass die Anordnung der Schubhaft und seine bisherige Anhaltung in Schubhaft rechtswidrig seien und dass die Voraussetzungen für die weitere Anhaltung nicht vorlägen, beantragt. Außerdem begehrt er den Ersatz der Aufwendungen und die Zulassung der Revision. Die Beschwerde wird im Wesentlichen damit begründet, dass der Schubhaftbescheid schon aufgrund der fehlenden Bezugnahme auf § 57 AVG im Spruch rechtswidrig sei, aber auch deshalb, weil der BF in Österreich unbescholten sei und nie Haftstrafe verbüßt habe, sodass der Ausspruch, wonach die Rechtsfolgen des Bescheids nach seiner Entlassung aus der derzeitigen Haft eintreten würden, falsch sei. Die (ausgehend von einer Anhaltung des BF in Strafhaft) auf einer falschen Rechtsgrundlage erlassene Schubhaft habe den durch die gesetzliche Determination geschaffenen Rechtsrahmen verlassen. Das Ermittlungsverfahren sei mangelhaft; die Behörde habe aktenwidrig festgestellt, dass der BF nigerianischer Staatsangehöriger sei und eine Rückkehr nach Nigeria nicht unzulässig in sein Privatleben eingreife. Dem Bescheid sei nicht zu entnehmen, auf welche der Kriterien des § 76 Abs 3 Z 1 bis 9 FPG das Vorliegen von Fluchtgefahr, die zu Unrecht angenommen worden sei, konkret gestützt werde. Es sei dem BF nicht möglich, Österreich legal zu verlassen. Er habe aktiv an der Erlangung eines HRZ mitgewirkt und die afghanische Delegation in Wien aufgesucht. Die bloße Nichtbefolgung eines Ausreisebefehls begründe für sich genommen keine Fluchtgefahr. Aus der Zulässigkeit einer Abschiebung könne nicht auf die Zulässigkeit der Schubhaft geschlossen werden. Die fehlende Ausreisewilligkeit rechtfertige die Anordnung der Schubhaft nicht; der Sicherungsbedarf müsse in weiteren Umständen begründet sein. Der BF sei für die Behörde greifbar und an seiner Wohnadresse gemeldet gewesen; er habe aufgrund seines jahrelangen Aufenthalts im Bundesgebiet hier ein umfangreiches soziales Netzwerk. Die Nichtanwendung eines gelinderen Mittels sei nicht nachvollziehbar, wobei insbesondere eine periodische Meldeverpflichtung und die Unterkunftnahme in bestimmten Räumlichkeiten in Betracht kämen.
Am 19.12.2019 übermittelte das BFA dem BVwG auftragsgemäß die Verwaltungsakten und erstattete eine Stellungnahme zur Schubhaftbeschwerde, in der deren Abweisung oder Zurückweisung, der Fortsetzungsausspruch nach § 22a BFA-VG sowie der Ersatz des Vorlage-, Schriftsatz- und gegebenenfalls auch des Verhandlungsaufwands begehrt werden. Im Vorlagebericht wies das BFA darauf hin, dass der gegen den BF am 15.07.2019 erlassene Festnahmeauftrag auf Ersuchen des Landeskriminalamts nicht vollzogen worden sei, weil ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des Suchtgifthandels geführt werde, in dem sich der BF "letztlich als des Suchtgifthandels Beschuldigter erweisen" werde. Seine Abschiebung sei für den 11.01.2020 geplant.
Das BVwG führte am 23.12.2019 eine mündliche Verhandlung durch, an der der (aus dem AHZ vorgeführte) BF, sein Rechtsvertreter, ein Dolmetscher für Paschtu sowie ein Vertreter des BFA teilnahmen. Nach Schluss der Verhandlung wurde das Erkenntnis mündlich verkündet.
Das BFA beantragte am 27.12.2019 die schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses.
Feststellungen:
Der BF ist Staatsangehöriger von Afghanistan (Seite 4 der Niederschrift OZ 5; Laissez-Passer-Dokument Seite 85 der Verwaltungsakten). Seine Muttersprache ist Paschtu (Seite 2 f der Niederschrift OZ 5). Bei ihm bestehen keine signifikanten gesundheitlichen Probleme; er ist uneingeschränkt haftfähig (Seite 3 der Niederschrift OZ 5).
Der BF reiste im August 2011 ohne gültiges Reisedokument und ohne Berechtigung zur Einreise nach oder zum Aufenthalt in Österreich in das Bundesgebiet ein (Seite 4 der Niederschrift OZ 5; Niederschrift Seite 229 der Verwaltungsakten; IZR-Auszug). Er beantragte am 05.08.2011 internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 16.09.2011 wies das Bundesasylamt diesen Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan ab und wies den BF aus dem österreichischen Bundesgebiet aus. Dagegen erhob er eine Beschwerde. Vor der Entscheidung darüber reiste er 2012 über Italien und Frankreich in das Vereinigte Königreich ein, wo er als Autowäscher arbeitete. 2016 wurde er von der Polizei aufgegriffen und aufgrund des in Österreich anhängigen Asylverfahrens aufgefordert, freiwillig hierher zurückzukehren. Dieser Aufforderung kam er nach und war ab 28.10.2016 wieder mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet. Das BVwG setzte daraufhin das zwischenzeitig eingestellte Asylverfahren fort und wies die Beschwerde des BF mit Erkenntnis vom 09.11.2018 hinsichtlich der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz als unbegründet ab. Gleichzeitig wurde das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das BFA zurückverwiesen. Das BFA erließ nach der Einvernahme des BF mit Bescheid vom XXXX.04.2019 gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt I.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt II.), erteilte keine Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt III.), erließ ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt IV.) und erkannte einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt V.). Der dagegen vom BF erhobenen Beschwerde gab das BVwG mit Erkenntnis vom 11.06.2019 nur insofern Folge, als die Spruchpunkte III., IV. und V. behoben und eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt wurde; im Übrigen wurde die Beschwerde als unbegründet abgewiesen. Die Behebung wurde unter anderem damit begründet, dass trotz des Aufenthalts des BF im Vereinigten Königreich zwischen 2012 und 2016 nicht davon auszugehen sei, dass er sich dem Verfahren erneut entziehen werde, zumal er sich seit 2 1/2 Jahren wieder in Österreich aufhalte. Eine von ihm ausgehende Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit sei nicht ersichtlich. Es liege keine Fluchtgefahr vor, weil er seit seiner Wiedereinreise durchgehend im Bundesgebiet gemeldet sei, wohin er freiwillig zurückgekehrt sei, und seiner Mitwirkungsverpflichtung nachgekommen sei (Seite 4 ff der Niederschrift OZ 5; Seite 2 des angefochtenen Bescheids; Schreiben der Dublin Unit UK vom 29.10.2016 samt Antwortschreiben des BFA vom 04.11.2016, Seite 87 ff der Verwaltungsakten; Bescheid vom 24.04.2019, Seite 97 ff der Verwaltungsakten; Niederschrift Seite 227 der Verwaltungsakten; Erkenntnisse des BVwG W222 1422101-1/18E und W278 1422101-2/3E).
Der BF war von XXXX.2016 bis XXXX.2019 durchgehend mit Hauptwohnsitz in XXXX gemeldet und an seiner Meldeadresse wohnhaft. Zuletzt wohnte er seit XXXX.2017 mit anderen afghanischen Staatsangehörigen in einer privat angemieteten Wohnung mit der Anschrift XXXX, wo er ein eigenes Zimmer hatte (ZMR-Auszug; Seite 5 ff der Niederschrift OZ 5; Niederschrift Seite 231 der Verwaltungsakten). Nach seiner Rückkehr aus dem Vereinigten Königreich bezog er von Anfang November 2016 bis Ende Dezember 2019 wieder Grundversorgungsleistungen (GVS-Betreuungsinformationssystem). Er ist strafgerichtlich unbescholten (Strafregister). Es kann nicht festgestellt werden, dass er in Suchtgiftkriminalität involviert ist oder dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts von Suchtgiftdelikten geführt wird (Seite 4 ff der Niederschrift OZ 5).
Mit Bescheid des BFA vom 01.07.2019 wurde dem BF gemäß § 46 Abs 2a und 2b FPG aufgetragen, einen Interviewtermin zur Erlangung eines Ersatzreisedokuments am 12.07.2019 in Wien wahrzunehmen (Bescheid Seite 51 ff der Verwaltungsakten). Er leistete dieser Aufforderung Folge. Es kann nicht festgestellt werden, dass er bei dem Interviewtermin gegenüber einem Vertreter der afghanischen Delegation erklärte, er habe vor zu flüchten (Seite 8 der Niederschrift OZ 5).
Am 15.07.2019 wurde gegen den BF ein Festnahmeauftrag erlassen, weil geplant war, gegen ihn einen Auftrag zur Abschiebung zu erlassen (Festnahmeauftrag Seite 61 ff der Verwaltungsakten). Der Festnahmeauftrag wurde zunächst nicht vollzogen (Beschwerdevorlage Seite 77 ff de Verwaltungsakten; Seite 7 der Niederschrift OZ 5).
Am 18.07.2019 stellte die Botschaft von Afghanistan in Wien ein unbefristet gültiges Ersatzreisedokument ("Laissez-Passer") für die Rückreise des BF in seinen Herkunftsstaat aus (Laissez-Passer Seite 85 der Verwaltungsakten). Für den 11.01.2020 war eine begleitete Einzelabschiebung nach Afghanistan geplant (Seite 7 der Niederschrift OZ 5).
Der BF hat in Österreich Freunde, aber keine familiären oder beruflichen Anknüpfungen. Er hat keine eigenen finanziellen Mittel und bestritt seinen Unterhalt in Österreich stets mit Leistungen der staatlichen Grundversorgung (Seite 4 ff der Niederschrift OZ 5). Er ist nicht bereit, freiwillig nach Afghanistan zurückzukehren (Seite 6 der Niederschrift OZ 5).
Am 16.12.2019 suchte der BF von sich aus das BFA auf, weil er davon ausging, dass er dort vorsprechen sollte. Er wurde festgenommen und von 16.12.2019 bis 23.12.2019 in Schubhaft angehalten (Seite 5 ff der Niederschrift OZ 5; Anhaltedatei-Vollzugsverwaltung).
Beweiswürdigung:
Der Verfahrensgang ergibt sich aus dem unstrittigen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des Gerichtsakts des BVwG. Insoweit bestehen keine entscheidungswesentlichen Widersprüche.
Die Feststellungen basieren jeweils auf den in den Klammerzitaten angegebenen Beweismitteln. Name und Geburtsdatum des BF beruhen auf seinen konsistenten Angaben dazu sowie auf dem Laissez-Passer-Dokument. Die von ihm angegebene Muttersprache ist aufgrund seiner Herkunft plausibel, zumal keine Anhaltspunkte für Verständigungsprobleme mit den im Verfahren beigezogenen Dolmetschern für diese Sprache bestehen.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand des BF basieren auf seinen Angaben bei der Verhandlung vor dem BVwG. Es sind keine Hinweise auf signifikante Erkrankungen oder Einschränkungen seiner Haftfähigkeit aktenkundig.
Die Feststellungen zum Asylverfahren des BF werden anhand der dazu vorgelegten Aktenbestandteile und der Erkenntnisse des BVwG getroffen. In diesem Zusammenhang liegen keine relevanten Widersprüche vor, zumal die Angaben des BF in der Verhandlung am 23.12.2019 sowie die Eintragungen im Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) damit gut in Einklang gebracht werden können und bei der Verhandlung am 23.12.2019 keine Einwendungen gegen die Zusammenfassung (Seite 4 der Niederschrift OZ 5) erhoben wurden.
Die Wohnsitzmeldung des BF geht aus dem Zentralen Melderegister (ZMR) hervor. Obwohl der Behördenvertreter bei der Verhandlung am 23.12.2019 betonte, dass der BF im Juli 2019 bei mehreren Versuchen nicht an seiner Meldeadresse angetroffen worden sei, geht das Gericht davon aus, dass er sich regelmäßig dort aufhielt, zumal Abwesenheiten untertags von ihm schlüssig mit dem Besuch von Deutschkursen und ehrenamtlicher Tätigkeit erklärt werden konnten. Es gibt keine nachvollziehbaren Hinweise dafür, dass der BF nicht in der Mietwohnung, wo er seit 2017 mit Hauptwohnsitz gemeldet war, wohnhaft war, zumal dort offenbar Zustellungen an ihn vorgenommen werden konnten, z.B. die Zustellung des Mitwirkungsbescheids vom 01.07.2019, den er nach Auskunft des Behördenvertreters befolgte, zumal wenige Tage später das Laissez-Passer-Dokument für ihn ausgestellt wurde.
Der Behördenvertreter gab bei der Verhandlung am 23.12.2019 an, aus internen Behördendokumenten, die nicht vorgelegt werden könnten, würde hervorgehen, dass der BF bei dem Interviewtermin zur Erlangung eines Ersatzreisedokuments am 12.07.2019 gegenüber dem zuständigen Konsul von Fluchtplänen gesprochen habe, was der BF bestritt. Mangels entsprechender Unterlagen kann keine entsprechende Feststellung getroffen werden, zumal es nicht plausibel ist, dass der BF ein allfälliges Vorhaben, zu flüchten oder unterzutauchen, ausgerechnet gegenüber einem offiziellen Vertreter seines Herkunftsstaats bei dem Termin, bei dem es um die Ausstellung eines Reisedokuments für seine Rückführung ging, anspricht. Ohne Einsicht in die (offenbar vorhandenen) Dokumente über diesen Vorfall kann nicht beurteilt werden kann, ob der BF tatsächlich eine solche Äußerung getätigt hat oder allenfalls lediglich - wie auch vor dem BVwG - seine Ausreiseunwilligkeit dargetan hat. Wenn der Behördenvertreter darauf verweist, dass die Dokumente deshalb nicht vorgelegt würden, weil sie auch andere Personen als den BF beträfen, ist ihm entgegenzuhalten, dass es ausreichend gewesen wäre, die relevanten Teile vorzuweisen und den Rest der Dokumente nicht vorzulegen oder unkenntlich zu machen (siehe etwa § 298 Abs 2 ZPO zu einer möglichen Vorgangsweise).
Die Behörde behauptet in der Beschwerdevorlage, der BF sei Gegenstand polizeilicher Suchtgiftermittlungen. Beweismittel dafür, insbesondere entsprechende Unterlagen, fehlen. In der Verhandlung am 23.12.2019 berief sich der Behördenvertreter in diesem Zusammenhang auf einen internen Schriftverkehr des BFA mit dem Landeskriminalamt Steiermark (LKA), der jedoch nicht vorgelegt wurde. Das LKA habe aber keinen Einwand gegen die Abschiebung des BF, weil er für die Ermittlungen in Österreich nicht gebraucht werde. Aus diesen vagen, durch keine objektiven Beweisergebnisse untermauerten Angaben kann keine entsprechende Feststellung abgeleitet werden, zumal der laut Strafregister unbescholtene BF jede Involvierung in Suchtgiftaktivitäten bestritt. Es ist unklar, in welchem Stadium sich ein allfälliges Ermittlungsverfahren befindet, welcher konkrete Verdacht aus welchen Gründen gegen den BF besteht und ob er Beschuldigter oder allenfalls anderweitig von Ermittlungsmaßnahmen (z.B. einer Telefonüberwachung) Betroffener ist. Bei einer entsprechend begründeten Verdachtslage ist auch eine Zustimmung des LKA zur Abschiebung des BF nach Afghanistan während laufender Suchtgiftermittlungen schwer vorstellbar, zumal er dort für die Polizei nicht greifbar wäre und kaum Möglichkeiten für internationale Rechtshilfe bestehen.
Laut Beschwerdevorlage sei der Festnahmeauftrag vom 15.07.2019 zunächst auf Ersuchen des LKA nicht vollzogen worden. In der Verhandlung erklärte der Behördenvertreter, der Festnahmeauftrag sei zunächst nicht vollzogen worden, weil der BF nicht an seiner Meldeadresse angetroffen worden sei; weitere Nachschauen seien dann aufgrund von Anordnungen des LKA unterblieben. Auch dazu wurden keine Unterlagen (z.B. Polizeiberichte über erfolglose Vollzugsversuche oder der Schriftverkehr mit dem LKA, aus dem das Ersuchen um Unterlassung des Vollzugs des Festnahmeauftrags hervorgeht) vorgelegt, sodass der Grund dafür, dass der Festnahmeauftrag zunächst nicht vollzogen wurde, nicht mit der gebotenen Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann.
Der BF gab an, er habe am 16.12.2019 das BFA aufgesucht, weil er eine Hinterlegungsanzeige ("gelber Zettel von der Post") erhalten habe und ihm gesagt worden sei, er solle das BFA aufsuchen. Der Behördenvertreter konnte nicht angeben, ob der BF zum BFA geladen worden sei, sodass letztlich nicht geklärt werden konnte, aus welchem Grund der BF am 16.12.2019 zum BFA kam. Es ist aber jedenfalls davon auszugehen, dass er die Behörde in der subjektiven Annahme aufsuchte, er solle dort vorsprechen.
Rechtliche Beurteilung
Schubhaft darf gemäß § 76 Abs 2 FPG nur angeordnet werden, wenn Fluchtgefahr vorliegt. Nach der Legaldefinition des § 76 Abs 3 FPG liegt Fluchtgefahr dann vor, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sich der Fremde dem Verfahren oder der Abschiebung entziehen oder die Abschiebung wesentlich erschweren wird. Dabei handelt es sich um eine Abwägungsentscheidung, bei der insbesondere zu berücksichtigen ist, ob der Fremde an dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitwirkt oder die Rückkehr oder Abschiebung umgeht oder behindert (Z 1); ob er eine Verpflichtung gemäß § 46 Abs 2 oder 2a FPG verletzt hat, insbesondere, wenn ihm diese Verpflichtung mit Bescheid gemäß § 46 Abs 2b FPG auferlegt worden ist, er diesem Bescheid nicht Folge geleistet hat und deshalb gegen ihn Zwangsstrafen angeordnet worden sind (Z 1a); ob er entgegen einem aufrechten Einreiseverbot, einem aufrechten Aufenthaltsverbot oder während einer aufrechten Anordnung zur Außerlandesbringung neuerlich in das Bundesgebiet eingereist ist (Z 2); ob eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme besteht oder er sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme oder über einen Antrag auf internationalen Schutz bereits entzogen hat (Z 3); ob der faktische Abschiebeschutz bei einem Folgeantrag aufgehoben wurde oder ihm nicht zukommt (Z 4); ob gegen ihn zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, insbesondere, wenn er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Schubhaft befand oder aufgrund § 34 Abs 3 Z 1 bis 3 BFA-VG angehalten wurde (Z 5); ob anzunehmen ist, dass ein anderer Mitgliedstaat nach der Dublin-Verordnung zuständig ist (Z 6); ob der Fremde seiner Verpflichtung aus dem gelinderen Mittel nicht nachkommt (Z 7); ob Auflagen, Mitwirkungspflichten, Gebietsbeschränkungen, Meldeverpflichtungen oder Anordnungen der Unterkunftnahme verletzt wurden, insbesondere bei Vorliegen einer aktuell oder zum Zeitpunkt der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme (Z 8) sowie der Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes (Z 9).
Im Schubhaftbescheid vom 16.12.2019 wurde das Vorliegen einer Fluchtgefahr iSd § 76 Abs 3 FPG beim BF nicht nachvollziehbar begründet.
Die Anordnung der Schubhaft und die Anhaltung des BF sind insbesondere deshalb nicht rechtmäßig, weil anzunehmen ist, dass der Zweck der Schubhaft durch ein gelinderes Mittel iSd § 77 FPG erreicht werden kann. Der BF war bis zu seiner Festnahme mit Hauptwohnsitz in seiner Mietwohnung in XXXX gemeldet. Er hat dem Bescheid gemäß § 46 Abs 2a und 2b FPG Folge geleistet und den Interviewtermin am 12.07.2019 wahrgenommen. Auch am 16.12.2019 hat er freiwillig und von sich aus das BFA aufgesucht. Es ist daher - auch unter Berücksichtigung der Ausreise während des Asylverfahrens vor mehreren Jahren - nicht davon auszugehen, dass eine Fluchtgefahr besteht, der nicht durch die Anordnung, in vom BFA bestimmten Räumen Unterkunft zu nehmen und sich in periodischen Abständen bei einer Dienststelle einer Landespolizeidirektion zu melden, begegnet werden kann, und zwar auch wenn man berücksichtigt, dass die Abschiebung des BF zeitnah bevorsteht und er im Bundesgebiet weder familiär noch sozial verankert ist.
Der BF hat sich zwar zwischen 2012 und 2016 dem Verfahren über seinen Antrag auf internationalen Schutz entzogen; da er aber nach einer Aufforderung der dortigen Behörden freiwillig aus dem Vereinigten Königreich in das Bundesgebiet zurückkehrte und sich in der Folge mehr als drei Jahre lang durchgehend hier aufhielt, wobei er melderechtliche Vorschriften einhielt, begründet dies aktuell keine Fluchtgefahr. Er verfügte bei seiner Festnahme auch über einen gesicherten Wohnsitz. Der Umstand, dass er die Frist für eine freiwillige Ausreise nicht nutzte, und seine mangelnde Ausreisewilligkeit sind für sich genommen noch kein Grund, die Anhaltung in Schubhaft anzuordnen.
Aussagekräftige Beweismittel dafür, dass der BF Straftaten begangen haben könnte, in Suchtgifthandel involviert sei oder gegenüber der afghanischen Delegation von Fluchtplänen gesprochen haben soll, liegen nicht vor, sodass keine entsprechenden Feststellungen getroffen wurden und die Fluchtgefahr nicht damit begründet werden kann.
Bezeichnend ist, dass das BFA weder bei der Anordnung der Schubhaft noch bei der Beschwerdevorlage auf die Ausführungen des BVwG im Erkenntnis vom 11.06.2019, W278 1422101-2/3E zum Fehlen einer Fluchtgefahr (siehe insbesondere Seiten 15 und 16 des Erkenntnisses) einging, obwohl sich der Sachverhalt seither nicht entscheidungswesentlich geändert hatte (der BF war bei seiner Festnahme nach wie vor in XXXX an seiner Meldeadresse wohnhaft und kam seinen Mitwirkungspflichten nach).
Mangels einer (nicht durch ein gelinderes Mittel iSd § 77 FPG abwendbaren) Fluchtgefahr waren die Anordnung der Schubhaft und die Anhaltung des BF ab 16.12.2019 rechtwidrig. Am 23.12.2019 lagen die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft nicht vor.
Gemäß § 22a Abs 1a BFA-VG iVm § 35 VwGVG hat die Behörde dem vollständig obsiegenden BF antragsgemäß den Schriftsatz- und den Verhandlungsaufwand in der Höhe der geforderten Pauschalbeträge gemäß § 1 VwG-AufwErsV zu ersetzen. Die Behörde als unterlegene Partei hat dagegen keinen Anspruch auf Ersatz ihrer Aufwendungen, sodass der darauf gerichtete Antrag abzuweisen ist.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil das BVwG keine Rechtsfrage von der über den Einzelfall hinausgehenden, grundsätzlichen Bedeutung iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen hatte.
Schlagworte
Rechtswidrigkeit, Schubhaft, Schubhaftbeschwerde, Wegfall der GründeEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2226755.1.00Zuletzt aktualisiert am
07.04.2020