TE Vwgh Erkenntnis 2020/2/13 Ra 2019/19/0245

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.02.2020
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Index

E000 EU- Recht allgemein
E3L E19103000
19/05 Menschenrechte
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8 Abs1
EURallg
MRK Art2
MRK Art3
32013L0033 Aufnahme-RL Art21

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2019/19/0246Ra 2019/19/0247Ra 2019/19/0248Ra 2019/19/0249

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Lachmayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revisionen 1. des H D O O,

2. der R R K A, 3. des D A, 4. des M A und 5. des F A, alle in W, alle vertreten durch Mag. Franz Poganitsch, Rechtsanwalt in 9400 Wolfsberg, Am Weiher 11/3, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes vom 2. Mai 2019, G309 2175430- 1/11E (zu 1.), G309 2175421-1/10E (zu 2.), G309 2175423- 1/9E (zu 3.), G309 2175427-1/9E (zu 4.) und G309 2175425- 1/9E (zu 5.), betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien jeweils Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind irakische Staatsangehörige sunnitischen Glaubensbekenntnisses. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind Ehegatten, die Dritt- bis fünftrevisionswerbenden Parteien ihre minderjährigen Kinder im Alter von zwölf, neun und sechs Jahren. 2 Die revisionswerbenden Parteien beantragten am 12. Oktober 2015 internationalen Schutz und stützten sich dabei zusammengefasst auf eine Bedrohung und Verfolgung durch schiitische Milizen. Die Milizen hätten zudem den ältesten Sohn beim Verlassen der Schule entführen wollen.

3 Mit Bescheiden, jeweils vom 8. Oktober 2017, teilweise berichtigt am 12. Juli 2018, wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass die Abschiebung der revisionswerbenden Parteien in den Irak zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. 4 Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnissen vom 2. Mai 2019 - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revisionen gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig seien. Begründend führte es - auf das hier Wesentliche zusammengefasst - aus, dass die von den revisionswerbenden Parteien ins Treffen geführten Fluchtgründe nicht glaubhaft dargelegt werden hätten können. Der Erstrevisionswerber habe keine einzige konkrete Bedrohung gegen ihn glaubhaft machen können. Hinsichtlich des vorgebrachten Entführungsversuches des Drittrevisionswerbers ging das BVwG davon aus, dass es zwar tatsächlich einen Vorfall bei der Schule des Revisionswerbers gegeben habe, es jedoch nicht glaubhaft sei, dass sich dieser Entführungsversuch konkret gegen den Drittrevisionswerber bzw. die Familie des Erstrevisionswerbers gerichtet habe; vielmehr sei von einem Zufall auszugehen. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Erstrevisionswerber seinen Herkunftsstaat während des aufrechten Militärdienstes verlassen habe. Selbst für den Fall, dass der Erstrevisionswerber sich tatsächlich ohne Erlaubnis von seinem Dienstort entfernt habe, sei festzuhalten, dass aufgrund der Vielzahl an Desertionen nach dem Einmarsch des Islamischen Staates in den Irak nicht jeder Fall tatsächlich verfolgt worden sei bzw. dies zu einer strafrechtlichen Verfolgung geführt habe. Eine Verfolgung, Bestrafung und Hinrichtung sämtlicher Deserteure erscheine schon deshalb unwahrscheinlich. Die herangezogenen Quellen würden ferner verdeutlichen, dass angesichts der massenhaften Desertionen auch Bestrebungen für eine Amnestie vorhanden gewesen seien bzw. noch bestünden. In einer Gesamtbetrachtung ergebe sich, dass die revisionswerbenden Parteien ihren Heimatort Bagdad aufgrund der insgesamt schlechten Sicherheitslage verlassen hätten. Für eine konkrete Bedrohung durch schiitische Milizen fehle jeglicher Anhaltspunkt. Die revisionswerbenden Parteien hätten keine konkret gegen sie gerichteten Bedrohungen oder Vorfälle von Seiten schiitischer Milizen vorgebracht. Das BVwG verkenne im Hinblick auf die Sicherheitslage in der Provinz Bagdad nicht, dass Bagdad fast täglich Schauplatz von Anschlägen und Gewaltakten sei und ausweislich der statistischen Daten zu den unsicheren Provinzen gehöre. Der aktuellen Berichtslage folgend würden die Anschläge in Bagdad in erster Linie vom Islamischen Staat ausgehen und sich insbesondere gegen die schiitische Bevölkerung (schiitische Stadtviertel) und staatliche Sicherheitskräfte richten, wobei Anschläge auf Regierungsgebäude oder von Sicherheitskräften besetzte Checkpoints und auf Zivilisten verübt würden. Sunnitische Bewohner seien der Gefahr von Übergriffen durch schiitische Milizen ausgesetzt. Im Hinblick auf die Größe der Stadt seien sicherheitsrelevante Vorfälle immer noch selten. In Anbetracht der zu den Feststellungen zur Sicherheitslage im Irak dargestellten Gefahrendichte könne nicht erkannt werden, dass schon aufgrund der bloßen Präsenz der Revisionswerber, selbst unter Beachtung der besonderen Vulnerabilität von Kindern davon ausgegangen werden müsse, dass die revisionswerbenden Parteien wahrscheinlich das Opfer eines Anschlages werden würden. Es hätten sich in den Länderfeststellungen keine Quellen gefunden, wonach Sunniten bzw. sunnitische Araber in Bagdad generell und systematisch verfolgt werden würden, auch wenn in Einzelfällen Diskriminierungen bzw. Verfolgungen durch schiitische Milizen vorkommen würden. Risikoerhöhende Umstände im Hinblick auf die Person der beschwerdeführenden Parteien seien im Verfahren nicht substantiiert vorgebracht worden. Durch eine Rückführung in ihren Herkunftsstaat würden sie nicht in ihren Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK verletzt werden.

5 Gegen diese Erkenntnisse wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, welche zu ihrer Zulässigkeit - unter anderem und auf das Wesentlichste zusammengefasst - geltend macht, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen, indem es die nach der Rechtsprechung gebotene Auseinandersetzung mit den aktuellen Richtlinien des UNHCR hinsichtlich irakischer Staatsangehöriger sowie einer Stellungnahme der revisionswerbenden Parteien unterlassen habe. Andererseits seien bei den revisionswerbenden Parteien vorliegende persönliche Gefährdungsmomente, etwa die Tätigkeit des Erstrevisionswerbers als Soldat beim Militär in der Abteilung für Terrorismusbekämpfung, nicht entsprechend gewürdigt worden.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Erkenntnisses geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0221, mwN).

9 Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BVwG mit den angefochtenen Erkenntnissen in unvertretbarer Weise gegen die ihm obliegende Begründungspflicht verstoßen:

10 Im gegenständlichen Verfahren hat das BVwG festgestellt, dass der Revisionswerber nach dem Sturz Saddam Husseins als Soldat mit dem US-Militär zusammengearbeitet habe und am 25. Dezember 2014 ehrenvoll aus dieser Zusammenarbeit entlassen worden sei. Von 2009 bis Mai 2015 sei der Revisionswerber als Security-Mitarbeiter beim irakischen Staat tätig gewesen. Unter dem Abschnitt "Berufsgruppen & Menschen, die einer bestimmten Beschäftigung nachgehen" hat das BVwG festgestellt, dass Polizisten, Soldaten, Journalisten, Intellektuelle, Richter und Rechtsanwälte und alle Mitglieder des Sicherheitsapparats besonders gefährdet seien.

11 Zudem verweist die Revision zu Recht auf die "UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Republik Irak fliehen", welche hinsichtlich der Mitglieder der Irakischen Sicherheitskräfte, affiliierten Kräften und der Peschmerga von der Zugehörigkeit zu einem besonderen Risikoprofil ausgehen. Es bestünden Berichte über gezielte Angriffe gegenüber früheren Mitgliedern der irakischen Armee (vgl. zur Indizwirkung von UNHCR-Richtlinien VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533, mwN). 12 Im Revisionsfall hat sich das BVwG zwar mit den in Konnex zur Eigenschaft als Soldat relevierten Fluchtgründen befasst, es lässt aber gleichzeitig eine nähere Auseinandersetzung mit den einschlägigen Risikoprofilen vermissen.

13 Für das fortgesetzte Verfahren ist darauf hinzuweisen, dass in Hinblick auf die Nicht-Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten die Rechtsansicht des BVwG, subsidiärer Schutz komme entgegen dem Wortlaut des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 und der dazu ergangenen ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei realer Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und/oder 3 EMRK ohne Zutun eines Akteurs nicht in Betracht, sich als unzutreffend erweist. Diesbezüglich ist gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Ausführungen im hg. Erkenntnis vom 21. Mai 2019, Ro 2019/19/0006, zu verweisen, in dem mit ausführlicher Begründung dargestellt wurde, dass und warum der Verwaltungsgerichtshof an seiner bisherigen Rechtsprechung festhält.

14 Ausgehend davon hätte bereits im Rahmen der Prüfung des Anspruches der revisionswerbenden Parteien auf subsidiären Schutz darauf Bedacht genommen werden müssen, ob ihnen bei Rückkehr in den Herkunftsstaat eine reale Gefahr der Verletzung ihrer durch Art. 2 und/oder Art. 3 EMRK geschützten Rechte drohen würde, und zwar auch dann, wenn diese Gefahren nicht auf das Verhalten eines Akteurs zurückzuführen sind oder die Bedrohungen in einem bewaffneten Konflikt verursacht werden. Diese Prüfung hat das BVwG zu Unrecht unterlassen und seine Erkenntnisse dadurch mit (vorrangig wahrzunehmender) Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet.

15 Darüber hinaus hat das BVwG auch hier die individuellen Umstände der revisionswerbenden Parteien, wie die (ehemalige) Tätigkeit des Erstrevisionswerbers sowie den Umstand, dass es sich um eine Familie mit drei minderjährigen Kindern handelt, nicht ausreichend berücksichtigt. Demgegenüber besteht nach der Judikatur der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts die Verpflichtung, insbesondere unter dem Gesichtspunkt der besonderen Vulnerabilität von Kindern, eine ganzheitliche Bewertung der möglichen Gefahren, die eine Familie mit minderjährigen Kindern bei einer Rückkehr zu erwarten hat, durchzuführen (vgl. VwGH 4.10.2018, Ra 2018/18/0229 bis 0232, mwN, 19.6.2019, Ra 2019/18/0084 bis 0093; 18.9.2019, Ra 2019/18/0038; VfGH 23.9.2019, E 2050/2019 ua, mwN).

16 Diesen Anforderungen werden die angefochtenen Erkenntnisse mit dem bloß pauschalen und nicht näher präzisierten Verweis auf eine Beachtung der besonderen Vulnerabilität von Kindern, nicht gerecht: Insbesondere unternimmt das BVwG keine nähere Auseinandersetzung mit der Frage, welche konkrete Rückkehrsituation die Familie mit ihren Kindern vorfände. Mithin wird weder auf die Minderjährigkeit der Dritt- bis Fünftrevisionswerber argumentativ eingegangen, noch der Umstand, dass der Erstrevisionswerber den Feststellungen zufolge als Soldat gearbeitet, im Jahr 2014 aus der Zusammenarbeit mit dem US-Militär ehrenvoll entlassen und sodann als Security-Mitarbeiter beim irakischen Staat gearbeitet hat, berücksichtigt. In seinen Länderfeststellungen trifft das BVwG zwar Feststellungen zur Situation von Kindern allgemein und zur Versorgungslage, allerdings nicht zur Situation von Kindern in Bagdad. In seiner rechtlichen Beurteilung geht das BVwG auf diese Berichte nicht weiter ein. Damit entsprechen die angefochtenen Erkenntnisse hinsichtlich der Begründungspflicht von Entscheidungen des Verwaltungsgerichts auch in diesem Punkt nicht den Anforderungen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes. Diesem Verfahrensfehler kann auch die Relevanz nicht abgesprochen werden, weil nach den getroffenen Feststellungen Kinder Opfer der kriegerischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre waren und sind und nach den UNHCR-Richtlinien in überproportionaler Weise von der schwierigen humanitären Lage betroffen sind; dass die diesbezügliche Situation speziell in Bagdad anders gelagert wäre, ergibt sich aus den Feststellungen nicht.

17 Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher wegen prävalierender Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

18 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 20

14.

Wien, am 13. Februar 2020

Schlagworte

Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190245.L00

Im RIS seit

07.04.2020

Zuletzt aktualisiert am

07.04.2020
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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