Entscheidungsdatum
22.08.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W240 2161318-1/23E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Feichter über die Beschwerde von XXXX , StA. Afghanistan gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.05.2017, Zl. 1094850309-151770235, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.08.2019 zu Recht erkannt:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG
2005 idgF der Status eines Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine afghanische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Hazara, reiste mit ihrem minderjährigen Bruder (Beschwerdeführer zu W240 2161319-1) unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein. Sie stellte am 13.11.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der Erstbefragung am 13.11.2015 gab die Beschwerdeführerin an, sie sei ledig, sie sei mit ihrem Bruder, dem Beschwerdeführer zu W240 2161319-1, nach Österreich gelangt, außerdem lebe in Österreich noch eine Cousine samt Familie. Sie stamme aus Ghazni und die Ausreise aus Afghanistan sei illegal mithilfe der Unterstützung von Verwandten erfolgt. Als Fluchtgrund gab sie an, dass ein Kommandant sie mit dessen Sohn hätte verheiratet wollen. Sie sei jung und ihre Eltern hätten das nicht gewollt, daher sei sie mit ihrem Bruder geflüchtet.
Am 11.11.2016 wurde die Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) einvernommen.
2. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm.
§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG wurde der Beschwerdeführerin der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG bis zum 05.05.2018 erteilt.
3. Gegen Spruchpunkt I. des vorzitierten Bescheides wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. In der Beschwerde wurde insbesondere ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin aus Afghanistan geflüchtet sei, da sie und ihre Familie von einem Kommandanten mit dem Tod bedroht worden sei, weil der Kommandant die Beschwerdeführerin mit dessen Sohn hätte zwangsverheiraten wollen und die Familie der Beschwerdeführerin gegen die Heirat gewesen sei. Die Beschwerdeführerin würde in Afghanistan als alleinstehende westlich orientierte Frau Gefahr laufen, ermordet, zwangsverheiratet zu verwenden und anderen Bedrohungen ausgesetzt zu sein. Es wurde beantragt der Beschwerdeführerin den Asylstatus in Österreich zuzuerkennen.
4. Am 13.08.2019 fand vor dem BVwG eine mündliche Verhandlung statt, an welcher die Beschwerdeführerin sowie ihre Rechtsvertretung teilnahmen und neben der Beschwerdeführerin auch ihr Bruder einvernommen wurde.
Hinsichtlich der Beschwerdeführerin wurden insbesondere folgende Unterlagen vorgelegt:
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Deutschzertifikat im Niveau B2 sowie diverse Kursbesuchsbestätigungen und Zeugnisse
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Bestätigung vom August 2019, dass die Beschwerdeführerin am Projekt Bildungsweg 2019 teilnimmt, den Vorbereitungskurs in diversen Fächern mit Mai 2019 abgeschlossen habe, ab August an einem Vorbereitungskurs für Mathematik - Technik - Naturwissenschaften teilnehme und ab September 2019 eine Lehre bei der ÖBB im Bereich Elektrotechnik antrete
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Ausbildungsvertrag bei einer österreichischen allgemeinen Privatstiftung für berufliche Bildung
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Lohn/Gehaltsabrechnung für die Zeiträume Oktober und November 2018
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Fotografie der Eltern der Beschwerdeführerin mit einer iranischen Zeitschrift
Am Ende der Verhandlung vor dem BVwG, welche bis auf wenigen Ausnahmen durchgehend auf Deutsch erfolgen konnte, wurden aktuelle Berichte zur Situation in Afghanistan, insbesondere betreffend die Situation von (westlich orientierten) Frauen und Apostaten ins Verfahren eingebracht. Auf die Einräumung einer Frist zur Stellungnahme wurde verzichtet und in der Beschwerdeverhandlung eine mündliche Stellungsnahmen durch die Rechtsvertretung erstattet. Die ausgewiesene Vertretung führte insbesondere aus, dass die Beschwerdeführerin in der Zeit ihres Aufenthaltes in Österreich westliche Werte verinnerlicht habe. Sie sei von Anfang an bemüht gewesen, die deutsche Sprache zu erlernen und spreche bereits Deutsch auf Niveau B2. Ab September beginne sie eine Lehre als Elektrotechnikerin bei der ÖBB und wolle hinkünftig auch als Elektrotechnikerin arbeiten, um der afghanischen Gesellschaft zu zeigen, dass auch eine Frau so einer Arbeit nachgehen könne. Durch ihr heutiges Auftreten und durch ihre heutigen Aussagen in der Verhandlung habe die Beschwerdeführerin glaubhaft darlegen können, dass sie nunmehr ein eigenständiges, selbstbestimmtes und selbstbewusstes Leben führe. Diese Lebensführung sei Teil ihrer Identität geworden und sei sie keineswegs gewillt, dies aufzugeben und sich den Diskriminierungen und Unterdrückungen gegenüber einer Frau in Afghanistan wieder zu unterwerfen. Hinzu komme noch, dass die Beschwerdeführerin sich vom Islam abgewandt habe und nunmehr keine Religion habe. Sie halte sich an keine islamischen Riten mehr und sehe die "Menschheit als ihre Religion" [sic] an. Die Eltern der Beschwerdeführerin würden sich im Iran befinden und seien ebenfalls aus Afghanistan geflüchtet.
Laut aktuellem ZMR-Auszug lebt die Beschwerdeführerin seit November 2018 mit dem in der Verhandlung genannten männlichen afghanischen Staatsbürger, mit welchem sie eine Beziehung führt, im gemeinsamen Haushalt. Laut aktuellem GVS-Auszug bezieht die Beschwerdeführerin derzeit keine Leistungen aus der Grundversorgung.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Feststellungen zur Person der Beschwerdeführerin und ihren Fluchtgründen:
Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige von Afghanistan und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Sie war muslimische Schiiten in Afghanistan, fühlt sich jedoch nicht mehr dem Islam zugehörig und praktiziert ihren Glauben nicht mehr seit sie in Österreich ist. Ihre Muttersprache ist Dari. Weiters beherrscht sie Deutsch.
Die Beschwerdeführerin lebte bis zu ihrer Ausreise im Jahr 2015 in der Provinz Ghazni in Afghanistan. Als die Beschwerdeführerin 13-14 Jahre alt war, reiste sie zusammen mit ihrem Bruder (dem Beschwerdeführer zu W240 2161319-1) nach Österreich. In Österreich lebt auch eine Cousine von ihr, welche über einen Asylstatus verfügt, samt Familie. Ihre Eltern leben nunmehr im Iran.
Die Beschwerdeführerin besuchte im Herkunftsstaat bis zur siebten Klasse die Schule.
Die Beschwerdeführerin ist gesund und strafgerichtlich unbescholten.
Die Beschwerdeführerin hält sich nicht an religiöse Riten und hat seit ihrer Einreise in Österreich keine Moschee besucht sowie ihr Kopftuch nicht mehr getragen. Sie hat eine sehr liberale Einstellung, auch besonders im Hinblick auf die Rechte von Frauen auf Bildung und Selbständigkeit. In Österreich nützt die Beschwerdeführerin jene Freiheit, die ihr bisher verwehrt blieb. Sie trägt modische Kleidung und kein Kopftuch und genießt es, ohne Begleitung unterwegs sein zu können. Sie hat seit dreieinhalb Jahren eine Beziehung mit einem afghanischen Staatsbürger, mit diesem lebt sie seit Ende des Jahres 2018 im gemeinsamen Haushalt in Österreich. Sie bezieht derzeit keine Leistungen aus der Grundversorgung, sondern erhält von ihrem Lebensgefährten derzeit finanzielle Unterstützung. Ihr Lebensgefährte unterstützt sie bei Einkäufen und im gemeinsamen Haushalt. Sie hat viele österreichische Freunde, beispielsweise Schulkollegen vom Gymnasium. Sie geht mit den Freunden einkaufen, schwimmen, fährt Fahrrad oder schaut sich Filme an. Sie ist Mitglied in einem Rackleton-Sportverein, mit diesem Sportverein trainiert sie wöchentlich und nimmt an Turnieren teil. Sie besucht einen Vorbereitungskurs für ihre Lehrstelle.
Die Beschwerdeführerin, welche bereits Deutschkurse bis zum Niveau B2 besucht hat und über derart gute Deutschkenntnisse verfügt, dass nahezu die gesamte Beschwerdeverhandlung auf Deutsch erfolgen konnte, bildet sich weiter und will als Elektrotechnikerin eine Ausbildung machen. Ihr Traumberuf ist Zahnärztin oder eine andere Ausbildung im Bereich "Technik".
Sie verfügt über ein Deutschzertifikat im Niveau B2 sowie diverse Kursbesuchsbestätigungen und Zeugnisse. Sie nimmt am Projekt Bildungsweg 2019 teil, hat den Vorbereitungskurs in diversen Fächern mit Mai 2019 abgeschlossen, nimmt ab August 2019 an einem Vorbereitungskurs für Mathematik - Technik - Naturwissenschaften teil und tritt ab September 2019 eine Lehre bei der ÖBB im Bereich Elektrotechnik an. Die Beschwerdeführerin verfügt über einen Ausbildungsvertrag bei einer österreichischen allgemeinen Privatstiftung für berufliche Bildung und konnte Lohn/Gehaltsabrechnung für die Zeiträume Oktober und November 2018 vorlegen. Die Beschwerdeführerin hat sich zudem vom Islam abgewandt und hat seit sie in Österreich ist keine Moschee besucht sowie ist keinen religiösen Riten nachgegangen.
Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich demnach um eine selbstbewusste und weltoffene junge Frau, deren persönliche Haltung über die Lebensverhältnisse und die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind, steht. Die Beschwerdeführerin ist zu der Überzeugung gelangt, dass Frauen und Männer gleichberechtigt gegenüberstehen und Aus- und Weiterbildung von Frauen insofern sehr wichtig sind. Die Lebensweise und Wertehaltungen der Beschwerdeführerin sind als "westlich", sohin an einem auf ein selbstbestimmtes Leben ausgerichteten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert, zu bezeichnen. Die Lebensumstände der Beschwerdeführerin in Afghanistan stehen mit jenen, welche sie sich aus freiem Willen zu gestalten wünscht bzw. bereits gestaltet hat, ganz offenkundig in unüberwindbarem Gegensatz. Die Beschwerdeführerin kann sich nicht vorstellen, ein Leben nach der konservativ-afghanischen Tradition zu führen.
Gründe, nach denen ein Ausschluss der Beschwerdeführerin hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat, sind im Verfahren nicht hervorgekommen.
Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Es ist nicht einfach die Situation der afghanischen Frau zu beschreiben. Seit dem Sturz des Talibanregimes im Jahr 2001, hat es Fortschritte in den Bereichen Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte gegeben. Wie weit der Fortschritt geht, ist auch Teil dieser Analyse. Die vorliegende Arbeit möchte Frauen als Akteurinnen beschreiben und dabei auf ihre Herausforderungen, Probleme, sowie Hindernisse aufmerksam machen. Es soll dabei auch auf die einfachen bzw. bescheidenen Fortschritte, die in den letzten Jahren erzielt werden konnten, eingegangen werden. Ein besonders wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang ist das EVAW-Gesetz, welches im Jahr 2009 durch ein Präsidialdekret verabschiedet wurde. Reaktionen sowie Umsetzung des Gesetzes in Afghanistan sollen näher beleuchtet werden. Gewalt hat viele Formen, so auch in Afghanistan. Es werden daher die geläufigsten Formen von Gewalt in Afghanistan beschrieben und deren Auswirkung erwähnt werden. Strafverfolgung spielt in Zusammenhang mit Gewalt, besonders in Afghanistan, eine wichtige Rolle. Frauen in Afghanistan kennen oftmals ihre Rechte nicht, sei es oftmals aufgrund mangelnden Bewusstseins oder gar Analphabetentums. In den letzten Jahren haben sich Rechtshilfeorganisation in verschiedenen Teilen des Landes gebildet, die sich nicht nur, aber unter anderem auch, auf die Rechte von Frauen spezialisiert haben. Mittlerweile existieren in Afghanistan Frauenhäuser, die zum Schutz von Frauen dienen. Wo diese existieren, wie deren Existenz in der afghanischen Gesellschaft wahrgenommen wird, sind ebenfalls Gegenstände dieser Analysen.
Gewalt gegen Frauen
Das Gesetz zur Eliminierung von Gewalt gegen Frauen (EVAW - law) und Kontroversen
Die Streitigkeiten in Bezug auf das Gesetz zur Eliminierung von Gewalt gegen Frauen (Elimination of Violence Against Women - EVAW) unterstreichen, was für ein Drahtseilakt die Verbesserung der rechtlichen Situation von Frauen in Afghanistan ist:
Verabschiedet im Jahr 2009, ist es das erste Gesetz, das Gewalt gegen Frauen kriminalisiert.1 Es definiert 22 Handlungen als Gewalt gegen Frauen, schlägt Strafen für die Täter vor und nimmt die Regierung in die Pflicht.2 Verboten werden unter anderem Kinderheirat, Zwangsheirat, Menschenhandel für den Zweck oder unter dem Vorwand der Heirat, die traditionelle Praxis des baads (Übergabe einer Frau oder eines Mädchens zur Streitschlichtung), erzwungene Selbstverbrennung und 17 weitere Gewalthandlungen, inklusive Vergewaltigung und physischer Misshandlung.3
Das Strafgesetz des Landes, welches aus dem Jahr 1976 stammt, regelt Verbrechen wie Körperverletzung, Zwangsehen und Mord. Nichtsdestotrotz werden keine expliziten Referenzen in Bezug auf Gewalt innerhalb der Familie oder Kinderheirat gemacht. Zwar legt das afghanische Zivilgesetz das Mindestalter für Heirat mit 15 Jahren fest, jedoch sind im Strafgesetz keine Strafen für Zuwiderhandlung vorgesehen. Das Strafgesetz fasst außerdem Vergewaltigung mit einvernehmlichem Ehebruch zusammen, welches beide strafbare Handlungen sind. Deshalb würde ein separates Gesetz, im Speziellen über Gewalt gegen Frauen, ein starkes Signal bezüglich Straffreiheit für Misshandlungen gegen Frauen sein und würde die afghanische Regierung zwingen diese Angelegenheit ernster zu nehmen.4 Das EVAW-Gesetz repräsentiert daher einen großen Erfolg, zumal viele von ihm kriminalisierte Handlungen von einem Großteil der afghanischen Gesellschaft, einschließlich der Gesetzesvollzugsorgane, nicht als Verbrechen angesehen werden.5
Der politische Wille das Gesetz umzusetzen und demzufolge seine tatsächliche Anwendung ist jedoch begrenzt. Genauso wie seine allgemeine Bekanntheit, obwohl sich die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission (Afghanistan Independent Human Rights Commission - AIHRC), einzelne Gesetzesvollzugsorgane und die Zivilgesellschaft bemühen, diese zu steigern. Teile der Öffentlichkeit und religiöser Kreise erachten das Gesetz nämlich als unislamisch. Somit ist seine erfolgreiche und korrekte Umsetzung auch weiterhin mangelhaft.6 Laut Angaben von Human Rights Watch, ist die Umsetzung des Gesetzes durch die afghanische Regierung mangelhaft.7 Eine Erklärung von Frauenrechtsaktivistinnen dafür ist das Fehlen sozialer Legitimität.8 EVAW wurde nie vom afghanischen Parlament abgesegnet, sondern durch ein Präsidialdekret bewilligt. Laut Artikel 79 der Verfassung von 2004 ist das statthaft (ein Präsidialdekret ist rechtmäßig, außer es wird vom Parlament ausdrücklich abgelehnt).9 Auch viele andere Gesetze wurden bereits auf diesem Wege erlassen und sind weiterhin in Kraft.10
Aus der Hoffnung einiger AktivistInnen heraus, dem Gesetz breitere Anerkennung zu verleihen und seine Umsetzung zu erleichtern, wurden bereits im Herbst 2009 Versuche unternommen, eine entsprechende parlamentarische Akzeptanz zu erreichen.11 Aufgrund der kontroversen Reaktionen, speziell einflussreicher religiöser Führer,12 war die afghanische Frauenrechtsgemeinschaft danach jahrelang darüber uneinig, ob EVAW überhaupt dem Parlament zur Ratifizierung vorgelegt werden sollte. Die Mehrheit der AktivistInnen scheint mit dem Präsidialdekret nicht unzufrieden zu sein, da sie sich keine großen Chancen ausrechnen, das Gesetz in einer akzeptablen Form durch den parlamentarischen Ratifizierungsprozess zu bekommen.13
Beim letzten Versuch, im Mai 2013, beeinspruchten reaktionäre Elemente im Parlament auch tatsächlich mindestens acht Artikel dieses Gesetzes.14 Nach einer Reihe hetzerischer Kommentare konservativer Parlamentarier wurde die Diskussion schnell abgebrochen.15 Speziell das Verbot von Zwangs- und Kinderheirat, sowie der uneingeschränkte Zugang zu Gesundheitsversorgung, Bildung und Frauenhäusern, wurden von mehreren Mitgliedern des Parlaments als unislamisch betrachtet und eine Streichung dieser Bestimmungen beantragt.16 Nichtsdestotrotz wurde ein nationaler Aktionsplan für EVAW entworfen, der spezielle Schritte für die Umsetzung des Gesetzes, durch Bewusstseinsbildung, Präventions- und Schutzmaßnahmen vorsieht, darunter das Beobachten und Berichten von Gewalt gegen Frauen.17
Gewalt gegen Frauen in Afghanistan existiert in verschiedenen Formen.18 Das Thema selbst wird in der traditionellen afghanischen Gesellschaft als Tabu erachtet, trotzdem kommt es häufig vor.19 Die einzigen existierenden statistischen Schätzungen zur Häufigkeit von Gewalt gegen Frauen, leiten sich von einer landesweiten Befragung im Jahre 2008 ab, bei der 4.700 Frauen in 16 afghanischen Provinzen daran teilnahmen.20
In den ersten sechs Monaten des Jahres 2013 registrierte und sammelte die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission (AIHRC) Berichte zu physischer, sexueller, wirtschaftlicher, verbaler und psychologischer, sowie anderen Formen von Gewalt, die in Verbindung mit schädlichen traditionellen Praktiken und Gebräuchen stehen.21 In diesem Zeitraum wurden demnach 1.249 Fälle physischer Gewalt gegen Frauen registriert, im Jahr 2012 waren es noch 889 Fälle; dies ist ein Anstieg um 30,1%. Laut AIHRC könnte die Erhöhung auch auf eine Steigerung des öffentlichen Bewusstseins zurückzuführen sein. Nichtsdestotrotz geht AIHRC davon aus, dass die Dunkelziffer höher ist.22
(...)
Ferner suchen die meisten Frauen keinen rechtlichen Beistand, weil sie sich ihrer Rechte nicht bewusst sind und überdies Angst haben, selbst strafverfolgt zu werden oder zu ihren Familien bzw. dem Täter zurückgebracht zu werden.23
Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung
Ehrenmorde werden an Frauen von einem - typischerweise männlichen - Familien- oder Stammesmitglied verübt.24 Die Motive reichen von bloßen Gerüchten in Zusammenhang mit dem anderen Geschlecht, bis hin zu einer sexuellen Beziehung oder dem Weglaufen von zu Hause.25
In Afghanistan ist es eine verbreitete Annahme, dass Frauen den Ruf der Familie tragen. Die Männer spüren diesen sozialen Druck und nehmen sich daher das Recht Frauen zu kontrollieren, damit diese keine Schande über die Familie bringen. Frauen und Mädchen versuchen um jeden Preis Handlungen zu vermeiden, die Schande über Männer oder die Familie bringen könnten. Manche afghanische Stämme im Süden gehen sogar davon aus, dass Schande, die über eine Familie gebracht wurde, Schande über den gesamten Clan bringt.26
Die AIHRC gab im November 2013 bekannt, in den vorangegangen zwei Jahren 240 Ehrenmorde registriert zu haben.27 Eine viel höhere Dunkelziffer wird angenommen.28 RAWA (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan - Revolutionäre Vereinigung der Frauen Afghanistans) schätzt, dass 21% der Ehrenmorde vom Ehemann des Opfers begangen werden. In ungefähr 57% der Fälle waren die Mutter oder andere Verwandte des Ehemannes die Täter.29 Viele in Ehrenmorde verwickelte Personen bleiben unbekannt.30
"Ehre" ist im Falle von Vergewaltigung von zentraler Bedeutung. Im Kontext von Vergewaltigung schreibt die Gemeinschaft eher dem Opfer die Schande zu, als dem Täter. Selbst von der Justiz sehen sich die Opfer oft mit Strafverfolgung wegen des Vergehens des Zina (Ehebruch) konfrontiert.31 Das EVAW-Gesetz führte zum ersten Mal "Vergewaltigung" als kriminelles Vergehen im afghanischen Gesetz ein.32 Es bestraft Vergewaltigung mit "dauernder Haft", was weithin als lebenslange Haft interpretiert wird, obwohl das nicht in jedem Fall tatsächlich zutrifft. Sollte die Vergewaltigung mit dem Tod eines Opfers enden, sieht das Gesetz die Todesstrafe vor. Der Straftatbestand der Vergewaltigung beinhaltet nicht Vergewaltigung in der Ehe.33
Eine verbreitete Form von Gewalt in Verbindung mit einer traditionellen Praktik, ist die Zwangsverheiratung.34 Dies ist der Fall, wenn Frauen und Mädchen im Alter von 15 Jahren oder jünger ohne ihre Einwilligung (manchmal unter Anwendung von Drohungen oder Gewalt) heiraten müssen, mit dem Ziel, der Heirat entführt oder zum Zweck der informellen Streitschlichtung getauscht zu werden.35 In Afghanistan ist baad,36 eine traditionelle Praktik, die den erzwungenen Austausch von Frauen und Mädchen als Bräute zur Beendigung von Blutfehden, zur Schuldentilgung37 bzw. als Kompensation für kriminelle Handlungen oder persönliche Schädigung zum Nachteil einer anderen Partei oder Familie vorsieht.38 Auf diesem Weg können Familiendispute geregelt werden, die jedoch im Widerspruch zu den Bestimmungen des afghanischen Gesetzes und internationaler Menschenrechtsstandards stehen. Die Anwendung dieses Gesetzes würde darüber hinaus auch islamischen Rechtsprinzipien entgegenstehen,39 speziell wenn die Schlichtung die Praxis des baads beinhaltet.40
Besonders in ländlichen Gegenden werden weiterhin selbst Verbrechen, welche Gewalt gegen Frauen beinhalten, durch informelle Streitschlichtungsmechanismen geahndet. Und das mit Strafen, die wiederum nachteilig für Frauen sind.41 Als Konsequenz daraus können etwa Vergewaltigungsfälle durch den Austausch von Frauen beigelegt werden.42 Frauen und Mädchen, die durch baad verheiratet wurden, werden jedoch selten respektiert, da sie immer mit jenem männlichen Verwandten in Verbindung gebracht werden, für dessen Verbrechen sie ausgetauscht wurden.43
Badal ist eine andere Form der Zwangsverheiratung, in welcher der Austausch von Töchtern und Schwestern als Bräute zwischen Familien oder Stämmen stattfindet.44
Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen. Ein Mädchen, welches jünger als 16 Jahre ist, kann mit der Zustimmung ihres Vaters oder eines zuständigen Gerichtes heiraten. Die Vermählung von Mädchen unter 15 Jahren ist jedoch unzulässig.45 Nichtsdestotrotz ist Kinderheirat in Afghanistan weiterhin üblich.46
Gemäß Daten, welche von der zentralen afghanischen Statistikorganisation (CSO) und UNICEF zwischen 2000 und 2011 zusammengetragen wurden, sind 20% der afghanischen Frauen im Alter zwischen 15 und 19 Jahren bereits verheiratet,47 davon sind 15% bereits vor dem 15. Lebensjahr und 46% vor dem 18. Lebensjahr verheiratet. Bildung, Wohlstand und geographische Lage des Haushaltes, in welchem das Mädchen lebt, spielen eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit Kinderheirat.48 Junge Frauen ohne Bildung werden drei Mal häufiger unter 18 Jahren verheiratet, als solche, die über eine Hauptschul- oder höhere Bildung verfügen.49 Speziell in Zeiten von Krieg und großer Unsicherheit steigt der Prozentsatz der Frühverehelichungen, weil Eltern die Ehre ihrer Töchter gegen Bedrohungen wie Vergewaltigung oder mögliche Zwangsverheiratung mit aufständischen Kommandeuren schützen wollen.50
Nach dem EVAW Gesetz sind Personen, die eine Zwangsheirat oder Kinderheirat arrangieren, mit einer Haftstrafe von mindestens zwei Jahren zu bestrafen. Die Umsetzung ist aber weiterhin mangelhaft.51
In Afghanistan ist die Mobilität von Frauen ohne männliche Erlaubnis oder Begleitung durch soziale Traditionen eingeschränkt. Unbegleitete Frauen sind gemeinhin nicht gesellschaftlich akzeptiert.52
Als letzten Ausweg, in Reaktion auf gegen Frauen gerichtete Gewalt und traditionelle Praktiken, laufen Frauen entweder von zu Hause weg oder verbrennen sich in drastischen Fällen sogar selbst.53
"Weglaufen", "Moral-Verbrechen" und Zina
Frauen und Mädchen, die versuchen durch Weglaufen häuslicher Gewalt oder Zwangsverheiratung zu entkommen, werden oftmals eher als Kriminelle behandelt, denn als Opfer.54 Jedoch ist "Weglaufen" oder "Flucht von zu Hause" weder nach dem afghanischen Gesetz noch unter der Scharia ein Verbrechen.55
Nichtsdestotrotz werden gelegentlich afghanische Frauen und Mädchen für das unerlaubte Verlassen des Hauses durch die Familie und lokale Regierungsinstitutionen bestraft.56 Je nach lokaler Interpretation von "Weglaufen" als "Moral-Verbrechen", landen Frauen, die weggelaufen sind, oftmals im Gefängnis.57 Dies beinhaltet sogar Fälle, in denen Frauen, die vor ungesetzlichen Zwangsheiraten oder häuslicher Gewalt fliehen.58 "Moral-Verbrechen" sind vage definiert.59
In den Jahren 2010 und 2011 gab das afghanische Höchstgericht Stellungnahmen ab, dass "Weglaufen" als Vergehen behandelt werden solle, wenn die Frau zu einem Fremden flieht, anstatt zu einem Verwandten oder einem anderen legalen Vertrauten. Im Jahr 2010 argumentierte das Gericht, dass das Weglaufen von der Familie oder vom Ehemann zu Vergehen wie Ehebruch und Prostitution führen könnte, was gegen die Prinzipien der Scharia verstoße, und bestimmte daher, dass "Weglaufen" somit verboten und nach Ermessen zu bestrafen sei. Ferner forderte das Gericht Mädchen und Frauen auf, sich angesichts von Misshandlung eher an gerichtliche und andere staatliche Institutionen zu wenden, anstatt zu solchen eigenmächtigen Handlungen zu greifen.60
Obwohl vor kurzem mehrere hochrangige afghanischen Regierungsbeamte, auch aus Polizei und Justizministerium, öffentlich bestätigt haben, dass "Weglaufen" gemäß afghanischem Gesetz kein Verbrechen ist, müssen solche Aussagen erst in politische Maßnahmen münden.61
Im April des Jahres 2012 ordnete das Büro des Generalstaatsanwalts einen Stopp von Festnahmen und Verurteilungen wegen "Weglaufens" an, da es nach dem Gesetz kein Verbrechen ist.62 Manche Rechtsexperten haben angedeutet, dass sich zunehmend die Ansicht verbreitet, dass Frauen und Mädchen nicht wegen "Weglaufens" angeklagt werden sollten, was lediglich dazu geführt habe, dass sie nun wegen versuchter Zina (Ehebruch) angeklagt werden würden.63 Es existieren Berichte, dass Justizbeamte das Weglaufen mit der Absicht der versuchten Zina in Verbindung brachten, ohne die Umstände zu berücksichtigen, welche die Frau zum Verlassen ihres Heimes bewegten.64
"Zina" ist der Begriff für Ehebruch und andere unerlaubte sexuelle Beziehungen und ist nach dem Strafgesetz eine Straftat. Polizei und Justizbeamte klagen Frauen oftmals wegen der Absicht zur Zina an bzw. verhaften sie auf Bitten der Familie wegen sozialer Vergehen wie Weglaufen, Widerstand gegen eine von der Familie getroffene Wahl des Ehemanns oder Flucht vor häuslicher Gewalt.65 Als Konsequenz verwenden die Familien eine Bezichtigung wegen "Zina" als Mittel, um Frauen aufzuspüren, welche von zuhause weggelaufen sind.66 Männliche Familienmitglieder können diese Anschuldigung (oder die Drohung damit), in dem Bewusstsein, dass ihr kriminelles Verhalten keine Konsequenzen hat, als Waffe verwenden. In solchen Fällen müssen Frauen medizinische Untersuchungen über sich ergehen lassen, die ihrem Ruf und ihrer Glaubwürdigkeit ernsthaft schaden, selbst wenn die Vorwürfe niemals bewiesen werden.67
Statistiken des afghanischen Innenministeriums besagen, dass die Anzahl der Frauen und Mädchen in Afghanistan, die wegen "Moral-Verbrechen" verhaftet wurden, von 400 im Oktober 2011, auf ca. 600 im Mai 2013 kletterte. Dies deutet einen Anstieg von 50% in eineinhalb Jahren.68
Nichtsdestotrotz haben die afghanische Regierung und ihre internationalen Partner seit 2012 Fortschritte gemacht, indem die fälschliche Verhaftung von Frauen und Mädchen aufgrund von "Moral-Verbrechen" thematisiert wurde. Hochrangige Regierungsvertreter haben sich, zumindest zur Illegalität der strafrechtlichen Verfolgung vom "Weglaufen" geäußert.69 Zum Beispiel verurteilten drei afghanische Funktionäre - einer von ihnen der Justizminister - die ungerechtfertigte Verhaftung von Frauen und Mädchen aufgrund einer Anklage des "Weglaufens".70 Hinzu kommt, dass spezialisierte Abteilungen Fortschritte in der Umsetzung des EVAW-Gesetzes gemacht haben. Es gibt einen geringen Anstieg in der Anzahl von Frauenhäusern und es scheint sich ein breiteres Bewusstsein in der Polizei zu formen, dass viele Fälle eher an Familiengerichte weitergeleitet werden sollten, statt an die Staatsanwaltschaft.71
Selbstmord und Selbstverbrennung
Als drastischen letzten Ausweg, um häuslicher Gewalt oder Zwangsheirat zu entfliehen, begehen manche Frauen Selbstmord.72
Das Ministerium für Frauenangelegenheiten berichtete von mehr als 171 Fällen von Selbstmord aufgrund von häuslicher Gewalt im Jahr 2012.73 Es wird von einer wesentlich höheren Dunkelziffer ausgegangen. Die meisten Selbstmorde bleiben unregistriert, da die Familien sie geheim halten. Selbstmord gilt im Islam immerhin als schwere Sünde. Durch die AIHRC wurden in den vier nördlichen Provinzen 36 Selbstmordversuche registriert, zehn Frauen überlebten.74 Berichte deuten an, dass in der besser entwickelten nördlichen Provinz Balkh Selbstmorde unter jungen Frauen häufiger werden. Eine Erklärung ist, dass Frauen in der Jugend gewisse Freiheiten genießen, was es umso schwerer macht, im Erwachsenenalter die noch immer existierenden Restriktionen, wie zum Beispiel die Zwangsheirat, zu akzeptieren.75 Eine ähnliche Erklärung ist, dass Frauen in Städten tendenziell gebildeter sind, besseren Zugang zu Medien haben und daher alternative Lebensstile kennen, die aber unerreichbar bleiben.76
Eine Form des Selbstmordes ist die Selbstverbrennung.77 Behandelnde Ärzte sagen, dass Dispute innerhalb der Familie, aber auch Armut, Zwangsheirat, Drogensucht und Kinderheirat die Hauptgründe hinter der Selbstverbrennungsentscheidung sind.78 Viele Frauen, die sich oftmals mit Heiz- oder Speiseöl angezündet hatten, weigern sich über die Hintergründe ihrer drastischen Tat zu sprechen.79
Während des Evaluierungszeitraumes, der ersten Jahreshälfte 2013, registrierte die AIHRC 34 Fälle von Selbstverbrennung durch Frauen in Afghanistan.80 Nach offiziellen Angaben wurden im Jahr 2011 im Westen Afghanistans 88 Fälle von weiblicher Selbstverbrennung registriert (insgesamt waren es 94 Personen). Im Jahre 2011 gab es die meisten Fälle in der westlichen Provinz Herat, nahe der iranischen Grenze, wo dies als eine gebräuchliche Methode des Selbstmordes beschrieben wird.81 Jedoch gab das Hauptkrankenhaus in Herat im September 2013 an, dass Fälle weiblicher Selbstverbrennung in der Provinz in den sechs Monaten davor stark abgenommen hätten. Der Spitalsleiter meinte, der Grund für diesen Rückgang sei eine erhöhte Wahrnehmung des Themas in der Öffentlichkeit, aufgrund von Kampagnen nationaler und internationaler NGOs zur Unterstützung der relevanten Regierungsorganisationen in der Stadt und in entlegenen Bezirken.82
Im Jahr 2011 startete die afghanische Regierung eine nationale Medienkampagne, um das wachsende Problem der Selbstverbrennungen zu thematisieren. Die Kampagne behandelte eine Reihe von Facetten des Themas Brandverletzungen, wie Unfälle, aber auch häusliche Gewalt und Misshandlung, die viele Fälle von versuchter Selbstverbrennung ausgelöst zu haben scheinen.83
Die französische Nichtregierungsorganisation HumaniTerra - welche seit dem Jahr 2002 in Afghanistan präsent ist - eröffnete im Jahr 2007 das Verbrennungszentrum Herat. Das Zentrum ist ein Ort der Präventivmedizin, der Behandlung und der posttraumatischen Nachbehandlung. Das Zentrum, das dem afghanischen Gesundheitsministerium untersteht, behandelt 700 Patienten jährlich. Im Jahr 2009 wurde es zu einem nationalen Trainingszentrum. Von 2008 bis 2011 wurde eine Selbstverbrennungs-Präventions-Kampagne durchgeführt.84 Eine zweite Phase dieser Kampagne war für 12 Kalendermonate in Herat City vorgesehen. Gemeinsam mit Voice of Women (VWO) schafft HumaniTerra International Bewusstsein in Bezug auf Selbstverbrennung und deren Konsequenzen unter SchülerInnen, Eltern und LehrerInnen an zwei Schulen, sowie bei den Menschen, die ins Regionalspital Herat, in das Verbrennungszentrum Herat und die Geburtsklinik Herat kommen.85 In Kabul hat das Istiqlal Spital eine eigene spezialisierte Abteilung für weibliche Verbrennungspatienten eröffnet.86
Strafverfolgung und Unterstützung durch das EVAW Gesetz
In Einklang mit dem EVAW-Gesetz, haben Frauen, welche Opfer von Gewalt wurden, das Recht, die Hilfe der Abteilung für Frauenangelegenheiten (Department of Women¿s Affairs - DoWA), der unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC), der Polizei oder des Büros der Staatanwaltschaft zu suchen. Je nach Wunsch der Frau vermitteln DOWA, AIHRC bzw. Justizministerium (Department of Huqooq) oder verweisen die Frauen an relevante Einrichtungen (z.B. Frauenhäuser).87 Diese Institutionen versuchen durch Mediation und Dialog eine Lösung zu finden.88
Fehlendes Wissen über ihre Rechte bzw. Analphabetentum schmälern den Zugang von Frauen zur Justiz.89 Eine Kultur des Nicht-Anzeige-Erstattens von Gewalt an Frauen ist in Afghanistan präsent und wird teilweise von sozialen Normen gefördert, die es den meisten afghanischen Frauen unmöglich machen, einen männlichen Polizisten anzusprechen.90 Dies führt zu ausbleibender Strafverfolgung und einer Kultur der Straflosigkeit.91
Während die Umsetzung des EVAW-Gesetzes mangelhaft ist, gibt es Berichte über Fälle erfolgreicher Strafverfolgung durch die VAW-Einheiten.92
Diese erste VAW-Einheit (Violence Against Women - VAW) wurde im Jahre 2010 durch die afghanische Generalstaatsanwaltschaft in Kooperation mit der internationalen Rechtsorganisation (International Development Law Organization - IDLO) initiiert und hat ihren Sitz im Büro der Generalstaatsanwaltschaft in Kabul.93 Die Staatanwälte dieser Einheit erhalten ein spezielles Training in Bezug auf Gender-Fragen. Innerhalb des ersten Jahres ihres Bestehens, verfolgte die Einheit ungefähr 300 Fälle, darunter Misshandlungs- und Vergewaltigungsfälle, und bis zum letzten Monat des ersten Jahres verdoppelte sich die Anzahl der Anklagen. Die Kabuler VAW-Einheit etablierte ein Netzwerk von Unterstützungsdiensten für Gewaltopfer. Diese bieten Hilfe bezüglich Unterkunft, Gesundheit und Bildung.94 Im April des Jahres 2011 wurde eine zweite VAW-Einheit im Berufungs-Büro der Staatsanwaltschaft der Provinz Herat angesiedelt.95
2012 wurden 1.352 Beschwerden wegen Verstößen gegen das EVAW-Gesetz an die VAW-Einheiten herangetragen. Dies deutet einen signifikanten Anstieg gegenüber den 500 registrierten Fällen im Jahr 2011 an. Die Provinzdirektionen für Frauenangelegenheiten orten darin eher eine gesteigerte Wahrnehmung des Themas Frauenrechte, als eine Zunahme der Gewalt gegen Frauen. Ein großer Teil dieser Beschwerden wurde durch Familien-Mediation gelöst. Die Kabuler VAW-Einheit brachte 38 Fälle vor Gericht und erlangte 28 Verurteilungen, die restlichen 10 Fälle endeten mit Freisprüchen.96
Landesweit sind 355 Ermittler der sogenannten "Female Response Unit" in 146 Büros aktiv. Diese sind zum Großteil mit Polizistinnen besetzt, die Gewalt und Verbrechen gegen Frauen, Kinder und Familien behandeln. Polizistinnen sind darauf trainiert Opfern häuslicher Gewalt zu helfen, jedoch, werden sie durch Vorschriften behindert, die verlangen, dass man warten muss, bis sich das Opfer von selbst meldet. Frauen in der afghanischen Polizei und in zivilen Positionen im Innenministerium bieten Vermittlung und Ressourcen zur zukünftigen Vermeidung von häuslicher Gewalt an.97
Frauenhäuser
Frauen auf der Suche nach Hilfe in Fällen von häuslicher Gewalt, müssen dies oft außerhalb ihres Heimes und ihrer Gemeinschaft tun. Laut UNICEF, gab es 2012 14 Frauenhäuser im Land. Etwa 40% ihrer Bewohnerinnen waren unter 18 Jahre alt.98
Laut Human Rights Watch (HRW) ist die Zahl der Frauenhäuser 2013 auf 18 angestiegen.99 Das USDOS (United States Department of States) zählt 21 formelle und informelle Frauenhäuser. Seit internationale Bemühungen zu einem Ausbau der Kapazitäten geführt haben, hat sich der Zugang für Frauen zu Frauenhäusern gesteigert. In Kabul wurde eine Zunahme der Vermittlungen an Frauenhäuser durch die Polizei registriert, was auf ein verbessertes Training und Bewusstseinsbildung der afghanischen Polizei hindeutet. Nichtsdestotrotz gibt es nicht genügend Frauenhäuser für den existierenden Bedarf.100 Manche der 34 Provinzen in Afghanistan haben kein einziges Frauenhaus, vor allem im konservativen Süden des Landes.101 Aufgrund des Platzmangels in Frauenhäusern, werden in manchen Fällen Frauen zu ihrer eigenen Sicherheit in Schutzgewahrsam genommen. Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, müssen in den Frauenhäusern bleiben, da "unbegleitete" Frauen gesellschaftlich nicht akzeptiert sind.102
Die Frauenhäuser sind gänzlich von der Finanzierung durch internationale Geber und Regierungen abhängig.103 Laut HRW hat die afghanische Regierung kein Interesse gezeigt, Frauenhäuser durch das Regierungsbudget zu finanzieren.104 Jedoch verlautbarte die afghanische Regierung im Jahr 2011, alle Frauenhäuser nationalisieren zu wollen und sie unter die Leitung des Ministeriums für Frauenangelegenheiten (MOWA) zu bringen. Menschenrechts-NGOs arbeiteten gemeinsam mit dem Ministerium, um die vorgeschlagene Nationalisierung zu stoppen. Durch eine endgültige Regelung über die Frauenhäuser, unterstehen diese dem MOWA, es erlaubt aber den NGOs, sie weiterhin zu betreiben.105
Gesellschaftliche Vorbehalte gegenüber Frauenhäusern existieren.106
Im Jahr 2012 stellte sogar der afghanische Justizminister Frauenhäuser mit "Häuser der Prostitution und Immoralität" gleich. Nach Protesten von Frauenrechtsgruppen,107 entschuldigte er sich später für seine Bemerkungen.108
Rechtshilfeorganisationen in Afghanistan
Es ist wichtig zu erwähnen, dass es für Frauen große Unterschiede in Bezug auf Ethnie, städtische/ländliche Lage, Bildungsgrad und wirtschaftlichen Status, beim Zugang zu Recht gibt. Es wird weitgehend davon ausgegangen, dass der Zugang zum formellen Rechtssystem in den städtischen Gegenden besser ist, obwohl es allgemein bekannt ist, dass Frauen einen verminderten Zugang sowohl zu formellen Gerichten als auch zu traditionellen Streitschlichtungsmechanismen haben.109 Nichtsdestotrotz existieren einige Organisationen, die von internationalen Gebern bzw. Geberländern finanziert werden, und auch Rechtshilfe, die von der afghanischen Regierung unterstützt wird.110
Die Legal Aid Organization of Afghanistan wurde im Jahr 2006 etabliert und bietet, unter anderem, kostenlose Familienrechtshilfe für Frauen zusätzlich zur strafrechtlichen Hilfe an.111 Im Jahr 1989 wurde innerhalb der Struktur des Obersten Gerichtshofes eine Rechtshilfeabteilung (Legal Aid Department) gegründet. Diese zielt darauf ab, die Rechte bedürftiger Verdächtiger kostenlos zu verteidigen und deren Zugang zum Recht zu sichern. Seit dem Jahr 2008 untersteht die Rechtshilfeabteilung dem Justizministerium (Ministry of Justice - MOJ).112 Sie ist in 24 Provinzen vertreten und das MOJ plant noch mehr Büros zu eröffnen.113
Rechtshilfeorganisationen, die sich hauptsächlich auf Frauen konzentrieren:
* In Kabul wurde im März 2008 die kostenlose Rechtsberatung Justice For All Organization (JFAO), durch Richter, Anwälte und Staatsanwälte, gegründet. JFAO ist eine gemeinnützige, unpolitische Nichtregierungsorganisation, die darauf abzielt die Rechtsstaatlichkeit auszuweiten und den Zugang zu Justiz für marginalisierte Gruppen in Afghanistan, wie Frauen, Kinder und Häftlinge zu fördern. Zweigstellen existieren in Badakhshan, Balkh, Baghlan, Herat, Kunduz und Takhar.114
Andere NGOs, die Frauen Rechtshilfe anbieten, sind:
* The Institute of Destitute Accused (OIDA), Afghan Women Lawyers Organization (AWLO), Ahmad Aba Women's Association (AWE), Turkman Women Activists Rights Association (TWARA) and Badghis Social und Women Tailoring Association (BSWTA).115
Beispiele für andere allgemeine Rechtshilfeorganisationen sind:
* Da Qanoon Gushtunky - eine von der Regierung gegründete Koalition, die strafrechtliche Verteidigungsberatung in Logar anbietet und Büros für strafrechtliche Verteidigungsberatung in Maidan, Herat, Wardak und Jalalabad hat. Auch gibt es Büros in Kabul, Herat und Jalalabad, die aus 31 Anwälten bestehen und die ihre Dienstleistungen im Jahr 2007 in angrenzende Provinzen ausgeweitet haben;116
* Information Counseling and Legal Assistance (ICLA) - vom norwegischen Flüchtlingsrat (Norwegian Refugee Council - NRC) gegründet und ist seit dem Jahr 2003 in Afghanistan aktiv. Dieser umfasst sieben Außenstellen und Rechtshilfezentren (ICLAs) in Kabul, Maimana, Mazar, Kunduz, Jalalabad, Bamiyan und Herat. Etwa 85 Anwälte sind bei ICLA angestellt. Das NRC hat 2.375 Rechtsfälle und
3.200 Informationsfälle registriert, von denen je 750 bzw. 1.495 gelöst wurden. Ungefähr 20% der Fälle haben unter anderem mit Familien-, Finanz- und Wasserrechtsangelegenheiten zu tun.117
* The International Legal Aid Foundation-Afghanistan (ILF-A): eine landesweite Strafverteidigungsorganisation wurde im Jahr 2003 etabliert und hat seitdem kostenlose Strafverteidigungsdienstleistungen für arme Afghanen zur Verfügung gestellt. Sie wird als NGO angesehen. Die Organisation hat fünf Büros in Afghanistan: Balkh, Kabul, Helmand, Herat und Nangarhar.118
Conclusio
Ziel dieser Arbeit ist es, die Situation der afghanischen Frauen näher zu bringen und einen möglichst genauen Einblick in die Lage vor Ort zu geben. Nach mehr als drei Jahrzehnten Krieg und Instabilität hat die Rolle der Frau in der Gesellschaft bedeutsame Änderungen durchgemacht.
Das EVAW-Gesetz ist, trotz mangelhafter Umsetzung, ein wichtiges Instrument. In Einklang mit diesem haben Frauen das Recht, unterschiedliche Institutionen in Afghanistan, wie z.B. das DOWA oder der AIHRC, aufzusuchen. Diese Institutionen verweisen Frauen an relevante Institutionen, wie z.B. Frauenhäuser, welche wiederum versuchen durch Mediation und Dialog eine Lösung zu finden.
Wesentlich ist auch, dass es Berichte über Fälle erfolgreicher Strafverfolgung durch die VAW-Einheiten In Afghanistan gibt. Allein im Jahr 2012 wurden 1.352 Beschwerden gegen das EVAW-Gesetz an die VAW-Einheiten gerichtet. Dies wird auf eine gesteigerte Wahrnehmung des Themas Frauenrechte zurückgeführt. "Female Response Unit" in 146 Büros, die zum Großteil mit Polizistinnen besetzt sind, behandeln Gewalt und Verbrechen gegen Frauen und Kinder. Es kann also davon ausgegangen werden, dass auch in Zukunft durch die Beschäftigung von Frauen in der afghanischen Polizei und in anderen zivilen Positionen ein wichtiger Schritt zur Vermeidung von häuslicher Gewalt sein wird. Die aktuellen Entwicklungen im Bereich Frauen in der afghanischen Polizei, sowie Beschäftigung der afghanischen Frau ist allerdings Thema einer zusätzlichen Analyse.
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Wie sind die Kleidungs- und Kopftuchvorschriften in den drei Großstädten
Kabul, Mazar-e Sharif und Herat?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Englisch, Deutsch und Dari zahlreiche Informationen gefunden. Eine ausgewogene Auswahl wird entsprechend den Standards der Staatendokumentation im Folgenden zur Verfügung gestellt. Als allgemein bekannt vorausgesetzte Quellen werden in der Regel nicht näher beschrieben. Als weniger bekannt erkannte Quellen werden im Abschnitt "Einzelquellen" näher beschrieben. Es können im Internet zahlreiche Bildquellen zu den verschiedensten Formen afghanischer Frauenmode und Kleidung gefunden werden. Auch aus diesen wird im Folgenden zur Veranschaulichung eine Auswahl zur Verfügung gestellt.
Unter den Bildquellen befinden sich auch zwei Bilder aus der Online-Enzyklopädie Wikipedia. Wikipedia ist ein Projekt zum Aufbau einer Enzyklopädie aus freien Inhalten in über 280 Sprachen. Bei Wikipedia kann jeder Internetnutzer Artikel verfassen. Wikipedia gehört daher nicht zu den Standardquellen der Staatendokumentation. In diesem Fall wurde Wikipedia jedoch als Quelle verwendet, weil die besagten Bilder den Kleidungsstil junger afghanischer Frauen in urbanen Zentren besonders anschaulich darstellen.
Zusammenfassung:
Den nachfolgend zitierten Quellen (inklusive Bildquellen) ist zu entnehmen, dass Kleidungsund Kopftuchvorschriften in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat erheblich variieren. Dies gilt auch für die Erwartungen, die an Frauen bezüglich ihrer Bekleidung gestellt werden. Generell umfasst Frauenkleidung in Afghanistan ein breit gefächertes Spektrum, von moderner westlicher Kleidung, über farbenreiche volkstümliche Trachten, bis hin zur Burka und Vollverschleierung - diese unterscheiden sich je nach Bevölkerungsgruppe. Während Frauen in urbanen Zentren wie Kabul, Mazar-e Sharif und
Herat häufig den sogenannten "Manteau shalwar" tragen, d.h. Hosen und Mantel, mit verschieden Arten der Kopfbedeckung, bleiben konservativere Arten der Verschleierung, wie der Chador und die Burka (in Afghanistan chadri genannt) weiterhin, auch in urbanen Gebieten, vertreten. Es herrschen weiterhin Debatten über die angemessenste Art der
Bekleidung von Frauen, vor allem auch darüber was letztendlich eine richtige "islamische" Körper- oder Kopfbedeckung darstellt. Die Vorstellungen, wie Frauen sich in der Öffentlichkeit zeigen sollen bzw. dürfen unterscheiden sich oft erheblich, je nach der Herkunft, Geschlecht und Bildungsstand der Befragten (siehe die Umfrage der Asia Foundation, unter Einzelquellen).
Einzelquellen:
Gemäß dem folgenden Auszug aus dem "Operational Cultural Awareness Training" der University of West Florida (ein Handbuch zur "kulturellen Bewusstseinsbildung" für militärische Einsätze), das für das US-amerikanische Militär zur Verfügung gestellt wird, kann Frauenbekleidung in Afghanistan das volle Spektrum von moderner Kleidung, über farbenreiche Volkstrachten bis zur Burka durchlaufen. Moderne Kleidung, wie das sogenannte "Mantau chalvar" (französisch "manteau", d.h. "Mantel" und persisch "shalvar", d.h. "Hose") ist häufiger in urbanen Gebieten zu finden, besonders in den Gebieten, die von dem Einfluss der Taliban befreit worden sind. "Mantau chalvar" ist ein langer Mantel, der über einer Hose getragen wird und besonders bei Frauen in der Hauptstadt Kabul beliebt ist, die relativ frei über ihre Kleidung entscheiden können. "Mantau chalvar" wird immer zusammen mit einem Kopftuch (hijab) getragen, das fest unter dem Kinn zusammengebunden wird. Manche Frauen tragen einen chador namaz (oder chadori)-ein langes, ausschweifendes Kleidungsstück, das den Kopf und Körper komplett bis zu den Knöcheln bedeckt. Das Gesicht kann frei liegen oder bedeckt sein, bis auf die Augen. Das ist die beliebteste Alternative zur extremeren Burka, die unter der Talibanherrschaft obligatorisch war.
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Laut dem folgenden Artikel des Institute for War and Peace Reporting, eines in London ansässigen Netzwerkes zur Förderung freier Medien, steht die Burka weiterhin im Zentrum vieler Debatten, auch in Städten, wo viele afghanische Frauen mit traditionellen Erwartungen bezgl. ihrer Kleidung zu kämpfen haben. Obwohl Frauen seit dem Fall des Taliban-Regimes in 2001 eine größere Rolle im öffentlichen Leben übernommen haben, ist die Burka weiterhin in vielen Teilen des Landes verbreitet. Dabei wird die Burka von vielen als "importiertes" Phänomen gesehen. Selbst Historiker bestätigen, dass die Burka erst relativ "jung" in Afghanistan verwurzelt ist. So ist sie erst vor hundert Jahren aus Indien nach Afghanistan gekommen. Viele afghanische Frauen geben jedoch an, dass das Tragen der Burka ihnen ein Gefühl von Sicherheit bietet, vor allem vor männlicher Belästigung. Ein im Artikel zitierter Verkäufer von Burkas aus Herat erklärt jedoch, dass - seiner Erfahrung nach - Frauen die Burka nicht aus ihrem eigenen Willen tragen, sondern von männlichen Verwandten, wie dem Ehemann oder Schwiegervater, dazu gezwungen werden. Was genau die "angemesse" Form von sittsamer Kleidung für Frauen sei wird vielmehr von islamischen Rechtsgelehrten seit Jahrhunderten debattiert. Maulawi Sayed Husain Husaini, zum Beispiel, erklärt, dass aus den religiösen Texten selbst nicht hervorgeht, das die Burka als ultimative Form des "hijabs" zu verstehen sei [Anmerkung der Staatendokumentation: im Qur'an wird der Begriff "hijab" zwar erwähnt, wie dieser jedoch zu verstehen sei ist seit jeher Gegenstand lebhafter Debatten unter Religionsgelehrten. Wörtlich bedeutet "hijab" nur "Bedeckung", was genau bedeckt werden muss ist Gegenstand von Interpretation und Diskussion]
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Der jährliche Bericht zu Afghanistan der Asia Foundation - einer internationalen Entwicklungs-NGO mit Sitz in San Francisco - beinhaltet auch eine Umfrage zum Thema Verschleierung und angemessener Kleidung von Frauen in der Öffentlichkeit. Im Jahr 2016 wurden 12,658 AfghanInnen zu verschieden Möglichkeiten der Kopf- und Körperbedeckung befragt. Nur 1.1% der Befragten fanden, dass es für eine Frau angemessen sei sich völlig unverschleiert in der Öffentlichkeit zu zeigen. Dagegen fanden 38% der befragten Männer und 30% der befragten Frauen, dass die Burka die angemessensten Form der Körperbedeckung für Frauen in der Öffentlichkeit sei. In den Antworten war jedoch eine starkes Gefälle in der Präferenz der Burka bei Befragten aus ländlichen und städtischen Gebieten zu verorten. Während 38,5% der Befragen aus ländlichen Gegenden die Burka bevorzugten, taten dies nur 20,3% der Befragten aus Städten. Ethnische Zugehörigkeit, sowie Bildung spielten ebenfalls eine erhebliche Rolle in der Bevorzugung und Akzeptanz der jeweiligen Kopf- bzw. Körperbedeckung. So bevorzugen Pashtunen die Burka, während Hazara zu weniger strengen Formen der Kopfbedeckung tendierten. Einige Graphiken des Berichts werden nachfolgend angezeigt.
Wie gestaltet sich das Alltagsleben für Frauen in den genannten Städten?
Quellenlage/Quellenbeschreibung:
In öffentlich zugänglichen Quellen wurden im Rahmen der zeitlich begrenzten Recherche auf Englisch, Deutsch und Dari einige Informationen gefunden. Eine ausgewogene Auswahl wird entsprechend den Standards der Staatendokumentation im Folgenden zur Verfügung gestellt.
Zur generellen Übersicht wird ein Auszug zum Thema Frauen und geschlechstspezifischer Diskriminierung aus dem asyl- und abschiebungsrelevanten Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes zur Verfügung gestellt. Dieser ist nicht öffentlich zugänglich, liegt aber der Staatendokumentation vor.
Weiters wird auf die Ausführungen des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Afghanistan, insbesondere Abschnitt 17.1 "Frauen" hingewiesen. Dieser enthält Informationen zu Fragen der Bildung, Berufstätigkeit, sowie Rechtslage von Frauen. Da das Thema "Alltagsleben" in Städten wie Kabul, Mazar-e Sharif und Herat sehr gen erell ist, können im folgenden nur einige einführende Aspekte hervorgehoben werden. Die Themen Arbeitsmöglichkeiten und Freizeitgestaltung werden in Frage 3 beantwortet. Medizinische Leistungen werden in Frage 4 behandelt.
Zusammenfassung:
Den nachfolgend zitierten Quellen ist zu entnehmen, dass die konkrete Situation von Frauen in Afghanistan erheblich von Faktoren wie Herkunft, Familie, Bildungsstand, finanzieller Situation und Religiosität abhängig ist. Obwohl sich die Lage afghanischer Frauen in den letzten Jahren erheblich verbessert hat, kämpfen viele weiterhin mit Diskriminierung auf einer Vielzahl von Ebenen - rechtlich, beruflich, politisch und sozial. Gewalt gegen Frauen bleibt weiterhin ein ernsthaftes Problem. Frauen im Berufsleben und in der Öffentlichkeit müssen oft gegen Belästigung und Schikane kämpfen, und sehen sich oft Drohungen ausgesetzt.
Einzelquellen:
Das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland zeichnet in seinem jährlichen Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan 2016 das folgende generelle Bild:
Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft erheblich verbessert hat, bleibt die vollumfängliche Realisierung ihrer Rechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft schwierig. Die konkrete Situation von Frauen unterscheidet sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark. Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte von Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Bewegungsfreiheit. Die politische Partizipation von Frauen ist in ihren Grundstrukturen rechtlich verankert und hat sich auf diesem Wege deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; von diesem Drittel des Oberhauses sind gemäß Verfassung 50 Prozent für Frauen bestimmt. Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Die von Präsident Ghani indossierten Wahlreformen sehen zudem Frauenquoten von 25 Prozent für Provinz- und Distriktratswahlen vor; zudem sind mindestens zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Independent Election Commission) für