TE Bvwg Erkenntnis 2019/10/24 W102 2203627-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 24.10.2019
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Entscheidungsdatum

24.10.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W102 2203627-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner ANDRÄ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Steiermark, vom 23.07.2018, Zl. XXXX - XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.11.2018 zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG

2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 09.06.2016 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

Im Rahmen der Erstbefragung am 10.06.2016 gab der Beschwerdeführer zum Fluchtgrund befragt im Wesentlichen an, er habe Afghanistan wegen des Krieges und der Unsicherheit verlassen. Außerdem habe es Grundstücksstreitigkeiten mit den Cousins väterlicherseits des Vaters gegeben. Sie hätten den Vater etwa sechs Monate zuvor ermordet.

In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 06.07.2018 führte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, die Cousins des Vaters hätten den Vater aufgefordert, ihnen sein Feld zu überlassen. Der Vater habe sich geweigert. Zwei oder drei Tage später hätten die Cousins ihn getötet. Der Beschwerdeführer sei zu der Zeit beim Onkel mütterlicherseits in Jalalabad gewesen. Dieser sei, nachdem er telefonisch informiert worden war, mit dem Beschwerdeführer gemeinsam ins Dorf gefahren und habe ihn eine Woche begleitet und unterstützt. Dann sei der Onkel nach Hause gefahren. Drei Tage später hätten die Feinde den Beschwerdeführer aufgefordert, die Papiere von den Grundstücken zu übergeben. Er habe Angst bekommen und dies seiner Mutter gesagt. Die Mutter habe den Onkel mütterlicherseits über die Lage informiert und ihn gebeten, den Beschwerdeführer nach Europa zu schicken. Der Onkel habe daraufhin die ganze Familie zu sich eingeladen. Der Onkel habe den Beschwerdeführer gefragt, ob er nach Europa gehen wolle, was der Beschwerdeführer unter der Bedingung, dass der Onkel die Verantwortung für die Familie übernehmen würde, bejahte.

Am 20.07.2018 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde ein, in der ausgeführt wird, dem Beschwerdeführer drohe wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie seines Vaters von Seiten der Feinde des Vaters Verfolgung wegen eines Grundstückskonfliktes. Die Feinde würden ihm auch unterstellen, dass er sich als Sohn des früheren Eigentümers gegen die Inbesitznahme des Grundstückes wehren werde. Eine solche "Grundbesitzauffassung" sei politisch im Sinne eines Einsatzes für ein geordnetes Zusammenleben der Menschen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe angesichts der Sicherheitslage und der angespannten Versorgungslage nicht.

2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 23.07.2018, zugestellt am 25.07.2018, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 24.07.2019 (Spruchpunkt III.). Begründend führte die belangte Behörde aus, die vom Beschwerdeführer geltend gemachten fluchtbegründenden Umstände seien nicht fähig, eine asylrelevante Bedrohung zu begründen. Es handle sich um eine private Auseinandersetzung ohne Zusammenhang zu einem in der GFK-Verfolgungsgrund. Die afghanischen Behörden seien bei strafrechtlich relevanten Verbrechen willens und fähig einzugreifen. Laghman sei relativ sicher, eine Rückkehr für den Beschwerdeführer als Minderjährigen ohne familiäres Netzwerk jedoch nicht zumutbar. Der Beschwerdeführer verfüge auch nicht über schulische Bildung oder Berufserfahrung und wäre daher ohne familiäres Netzwerk in Laghman nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Zu Mutter und Geschwistern beim Onkel mütterlicherseits in Jalalabad könne der Beschwerdeführer wegen der Sicherheitslage in Nangarhar und als besonders vulnerabler Minderjähriger in Verbindung mit seiner persönlichen Situation (keine Schulbildung, keine Berufserfahrung) nicht zurückzukehren.

3. Gegen Spruchpunkt I. des oben dargestellten Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.07.2018 richtet sich die am 10.08.2018 bei der belangten Behörde eingelangte Beschwerde, die inhaltliche Rechtswidrigkeit rügt. Der Beschwerdeführer werde im Sinne der GFK asylrelevant von Privatpersonen verfolgt, wobei staatlicher Schutz nicht bestehe und zwar wegen politischer Gesinnung sowie als Sohn seines getöteten Vaters. Eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe angesichts des gewährten subsidiären Schutzes nicht.

Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 03.11.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, sein bevollmächtigter Rechtsvertreter und eine Dolmetscherin für die Sprache Paschtu teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme.

Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen, er werde wegen des Grundstückskonfliktes seines Vaters asylrelevant verfolgt, im Wesentlichen aufrecht.

Mit Schreiben vom 01.08.2019 brachte das Bundesverwaltungsgericht aktuelle Länderberichte in das Verfahren ein und gab dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde die Gelegenheit zur Stellungnahme.

Am 08.08.2019 langte eine Stellungnahme des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl per E-Mail am Bundesverwaltungsgericht ein, in der sich Ausführungen zur Zumutbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative finden.

Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:

* Empfehlungsschreiben

* Teilnahmebestätigungen für Deutschkurse

* Bestätigung Fitness-Studio

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, geboren im Jahr XXXX und ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Paschtu.

Der Beschwerdeführer wurde in einem Dorf in der Provinz Laghman, Distrikt Qarghayi, geboren, wo er zunächst mit Eltern und Geschwistern im gemeinsamen Haushalt lebte. Der Vater arbeitete als Hilfsarbeiter auf Baustellen, die Mutter war Hausfrau. Die Familie besaß auch Tiere, um die sich auch der Beschwerdeführer kümmerte. Mit etwa zehn Jahren zog der Beschwerdeführer zum Onkel mütterlicherseits nach Jalalabad und besuchte seine Familie von dort aus regelmäßig im Herkunftsdorf.

Der Beschwerdeführer hat im Herkunftsstaat etwa zwei Monate eine Schule besucht und verfügt nicht über Berufserfahrung.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.

Der Vater des Beschwerdeführers ist verstorben. Die Mutter des Beschwerdeführers lebt mit den beiden jüngeren minderjährigen Brüdern und der jüngeren minderjährigen Schwester in Jalalabad beim Onkel mütterlicherseits, der sie auch versorgt. Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seiner Familie.

1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Der Vater des Beschwerdeführers wurde von seinen drei Cousins aufgefordert, ihnen die Grundstücke der Familie zu überlassen, was der Vater verweigerte. Daraufhin wurde der Vater des Beschwerdeführers von seinen Cousins getötet.

Der Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers, bei dem der Beschwerdeführer in diesem Zeitpunkt lebte, wurde von der Ermordung des Vaters noch am selben Tag telefonisch informiert und fuhr daraufhin mit dem Beschwerdeführer in dessen Herkunftsdorf.

Der Onkel blieb noch etwa eine Woche im Dorf, um den Beschwerdeführer zu unterstützen und kehrte dann nachhause zurück. In dieser Woche wurde er von den Cousins mehrmals zum Gehen aufgefordert.

Etwa eine Woche später wurde der Beschwerdeführer von den Cousins bedroht und aufgefordert, alle Papiere bezüglich der Grundstücke an sie zu übergeben.

Die Mutter des Beschwerdeführers rief daraufhin den Onkel an und bat ihn, den Beschwerdeführer nach Europa zu schicken. Der Onkel holte die ganze Familie zu sich nach Jalalabad und organisierte die Ausreise des Beschwerdeführers.

Im Fall der Rückkehr ins Herkunftsdorf drohen dem Beschwerdeführer Übergriffe durch die Cousins des Vaters bis hin zur Tötung, weil er nach paschtunischer Tradition als ältester Sohn des Vaters nun für die Verteidigung bzw. Rückerlangung des Familieneigentums und die Rache für den Mord am Vater zuständig ist. Dass die afghanischen Behörden den Beschwerdeführer vor diesen Übergriffen schützen werden, ist nicht zu erwarten.

Dem Beschwerdeführer wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.07.2018 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, weil eine Rückkehr nach Nangarhar aufgrund der Sicherheitslage nicht zumutbar ist. Eine Rückkehr ohne familiäres Netzwerk schloss die Behörde wegen der fehlenden schulischen Bildung, der fehlenden Berufserfahrung (außer im Hüten von Tieren) und der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers aus.

Der Beschwerdeführer ist nun volljährig. Der Beschwerdeführer verfügt weiterhin nicht über Schulbildung oder Berufserfahrung.

Die Sicherheitslage im Herkunftsstaat hat sich seit dem Beschwerdeführer subsidiärer Schutz zuerkannt wurde, nicht verbessert. Laghman - die Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers - gehört zu den volatilsten Provinzen des Herkunftsstaates. Die Sicherheitslage in Nangarhar hat sich verschlechtert.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers, seiner Staatsangehörigkeit und Herkunft, Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seinen Sprachkenntnissen sowie Lebensumstände und Lebenswandel bis zur Einreise nach Österreich ergeben sich aus seinen gleichbleibenden und plausiblen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, denen auch die belangte Behörde im Wesentlichen Glauben schenkte.

Die Feststellung zur Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem im Akt einliegenden aktuellen Strafregisterauszug.

Die Feststellungen zum Verbleib der Angehörigen des Beschwerdeführers ergeben sich aus dessen gleichbleibenden und plausiblen Angaben. Dass Kontakt besteht, hat der Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht bestätigt.

2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zum fluchtauslösenden Vorfall stützen sich im Wesentlichen auf die vom Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in seiner niederschriftlichen Einvernahme am 06.07.2018 und in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 06.11.2018 getroffenen Aussagen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer bereits in seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 10.06.2016 zum Fluchtgrund befragt angibt, dass der Vater wegen Grundstücksstreitigkeiten mit den Cousins väterlicherseits des Vaters ermordet worden sei.

Der Beschwerdeführer schildert insgesamt durchgehend, weitgehend stringent und im Kern gleichbleibend den festgestellten Ereignisablauf und erzählte seine Fluchtgeschichte auch vor der belangten Behörde - wie aus dem Einvernahmeprotokoll vom 06.07.2018 hervorgeht (Einvernahmeprotokoll S. 6-8, AS 99-103) - in flüssiger und selbstgeleiteter Erzählung. Er nennt von sich aus umfangreiche Details und Zusammenhänge, die sich zu einem konsistenten, umfassenden Bild der Gesamtsituation zusammenfügen und antwortet auf Nachfrage plausibel und nicht ausweichend. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht gab der Beschwerdeführer den festgestellten Ereignisablauf im Wesentlichen gleichbleibend wieder, wobei der erkennende Richter des Bundesverwaltungsgerichts auch aufgrund der lebendigen und emotionalen Schilderungen des Beschwerdeführers einen Eindruck persönlicher Glaubwürdigkeit vom Beschwerdeführer gewinnen konnte.

So schildert der vom Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 01.08.2019 in das Verfahren eingebrachte EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan: Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen von Dezember 2017, dass die Gewaltbereitschaft im Zusammenhang mit Grundstücksstreitigkeiten in Afghanistan hoch ist, wobei berichtet wird, dass etwa 25 % der Landstreitigkeiten Feindseligkeiten und Blutfehden nach sich ziehen. 70 % der schweren Gewaltverbrechen, wie beispielsweise Morde, seien auf Landstreitigkeiten zurückzuführen (Kapitel 6. Landstreitigkeiten, Unterkapitel 6.1 Gewaltbereitschaft, S. 82 f.). Weiter wird im eben zitierten Bericht konkret beschrieben, dass es zu Fällen kommt, wo Landstreitigkeiten in Gewalt umschlagen und eine Person ermordet wird, deren Tod gerächt werden müsse. Kleinere Vorfälle könnten schnell eskalieren, weil die Polizei untätig bleibe, wobei hieraus eine Blutfehde entstehen könne, allerdings nicht wegen des Landes selbst, sondern wegen Morden, zu denen es infolge der Auseinandersetzung komme. Die verschränkten Beweggründe könnten jedoch nur schwer entwirrt werden (Kapitel 7. Blutfehden und Rachemorde, Unterkapitel 7.4 Zusammenhänge mit dem in Afghanistan herrschenden Konflikt sowie mit Landstreitigkeiten, persönlichen Konflikten und anderen wechselseitig abhängigen Motiven, S. 96 ff.). Insbesondere Rivalitäten zwischen Cousins in paschtunischen Familien würden einen der Faktoren darstellen, der zur Eskalation von Blutfehden beitrage (Unterkapitel 7.1 Merkmale, S. 93 f.).

Aus den Länderinformationen geht somit klar hervor, dass der vom Beschwerdeführer geschilderte Ereignisablauf plausibel ist, wobei auch die vom Beschwerdeführer geäußerte Rückkehrbefürchtung, dass die Cousins in töten würden, wenn er wiederkäme, im Wesentlichen Deckung in den Länderberichten findet. So ist der Beschwerdeführer als ältester Sohn seines Vaters nunmehr nach diesem verpflichtet, einerseits das Familieneigentum zu verteidigen und andererseits als patrilinearer Nachkomme des Geschädigten nach dem Paschtunwali berechtigt und verpflichtet, Rache für den Mord an seinem Vater zu nehmen (Kapitel 7. Blutfehden und Rachemorde, Unterkapitel 7.1 Merkmale, S. 94).

Die ebenso vom Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 01.08.2019 in das Verfahren eingebrachte Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 7. Juni 2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde (in der Folge SFH-Schnellrecherche) berichtet gleichfalls - wie im Übrigen auch die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (in der Folge UNHCR-Richtlinien; Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Risikoprofile, Unterkapitel 14. In Blutfehden verwickelte Personen, S. 110 ff.) - von dieser paschtunischen Tradition der Blutfehde, die unter anderem im Fall von ungelösten Streitigkeiten wegen Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum ausgelöst werden können und zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen können.

Die SFH-Schnellrecherche berichtet weiter, dass mächtige Familien Vergeltung üben würden, während weniger mächtige und arme Familien in der Regel Verhandlungen und Versöhnung etc. akzeptieren, wobei Verhandlungen mit der Täterfamilie als Schwäche und als Zeichen ausgelegt würden, dass die Familie nicht stark genug sei, ihre Ehre zu verteidigen. Der Familienverband des Opfers habe eine kollektive Verantwortung, Vergeltung zu üben und die Ehre wiederherzustellen (S. 2). Insbesondere ergibt sich aus der SFH-Schnellrecherche auch, dass das Recht auf Rache und die Erwartung einer Vergeltung zentral für das nichtstaatliche Rechtssystem des Paschtunwali ist (S. 1). Demnach besteht den Länderberichten zufolge die Erwartung der Mörder des Vaters, dass der Beschwerdeführer Rache für den Tod des Vaters üben, sowie die auf das umstrittene Grundstück gerichtete Forderung der Familie gewaltsam durchsetzen werden. Vor dem Hintergrund dieser Berichtslage erscheint es somit plausibel, dass die Streitigkeiten mit den Cousins des Vaters neu entflammen, falls der Beschwerdeführer in sein Herkunftsdorf zurückkehrt. Entsprechende Feststellungen wurden folglich getroffen.

Zur beweiswürdigenden Anmerkung der belangten Behörde, die Familie sei wegen der Ermordung des Vaters nicht zur Polizei gegangen und stehe doch fest, dass die afghanischen Sicherheitsbehörden willens und fähig seien, bei strafrechtlich relevanten Verbrechen einzugreifen, ist auf die Berichte zur Lage im Herkunftsstaat hinzuweisen, deren Berücksichtigung die belangte Behörde bei ihrer Würdigung des Fluchtvorbringens gänzlich unterlassen hat. Insbesondere lieferte der Beschwerdeführer auch einen Hinweis auf die diesbezügliche Lage, wenn er in der niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde zur Begründung, warum niemand zur Polizei gegangen sei, den Rat seines Onkels referiert, dass dies nichts bringen würde (Einvernahmeprotkoll S. 8, AS 103). Dieser erweist sich - abgesehen davon, dass es lebensnah erscheint, dass der damals 15-jährige Beschwerdeführer dem Rat seines Onkels in diesem Fall einfach folgt - vor dem Hintergrund der vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Länderberichte als zutreffend. Aus der SFH-Schnellrecherche lässt sich entnehmen, dass Urheber von Menschenrechtsverletzungen allgemein kaum bestraft werden sowie von einer hohen Betroffenheit aller polizeilichen und justiziellen Ebenen von Korruption (S. 6). Diese Darstellung findet im Übrigen auch im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Stand 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 04.06.2019 (in der Folge: Länderinformationsblatt), Bestätigung (Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen und Kapitel 10. Allgemeine Menschenrechtslage). Zum konkreten Schutz vor Blutrache lässt sich der SFH-Schnellrecherche entnehmen, dass es sogar zusätzlich zum grundsätzlichen Problem, dass bedingt durch die verbreitete Korruption der Zugang zu staatlichem Schutz von finanziellen Mitteln und dem Einfluss der betroffenen Familie abhängt, es sogar möglich sei, dass Richter und Polizeiangehörige Blutrache als legitime weil traditionelle Vorgehensweise betrachten (S. 6-7). Auch berichtet der EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan: Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen von Dezember 2017 zur Beilegung von Landstreitigkeiten, dass diese auf Grundlage von formellen und informellen (gewohnheitsrechtlichen) Mechanismen oder im Zusammenwirken beider erfolge. Zum Zugang zu diesen Mechanismen lässt sich dem Bericht entnehmen, dass die meisten Afghanen keinen Zugang zu Mechanismen für die Beilegung von Landstreitigkeiten hätten, wobei betont wird, dass der Zugang vom sozialen Status abhänge (Unterkapitel 6.4.4 Zugang zu Mechanismen für die Beilegung von Landstreitigkeiten, S. 91). Insbesondere wird auch berichtet, dass im Fall einer Blutfehde die Bestrafung des Mörders durch den Staat die Familie nicht der Verpflichtung enthebt, Rache zu üben, sofern keine Beilegung erzielt wird. Das staatliche Justizsystem sei bedingt durch seine Schwäche unfähig, solche Konflikte beizulegen und mit dafür verantwortlich, dass diese weitergeführt werden (Kapitel 7. Blutfehden und Rachemorde, Unterkapitel 7.7.3 Strafrechtliche Verfolgung durch den Staat, S. 102). Folglich wurde auch festgestellt, dass nicht zu erwarten ist, dass die afghanischen Behörden den Beschwerdeführer vor diesen Übergriffen schützen werden.

Zusätzlich ist anzumerken, dass die belangte Behörde den Schilderungen des Beschwerdeführers in ihrer Beweiswürdigung nicht die Glaubhaftigkeit abspricht, sondern viel mehr (disloziert und in Verkennung der Rechtslage, wie in der rechtlichen Beurteilung noch erläutert werden wird) ausführt, dass lediglich eine Bedrohung durch Privatpersonen vorgebracht worden und ein Zusammenhang mit einem GFK-Verfolgungsgrund nicht ersichtlich sei.

Die Feststellungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten an den Beschwerdeführer ergeben sich aus dem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.07.2018, AS 137-211).

Die Feststellung zur nunmehrigen Volljährigkeit gründet auf dem Geburtsdatum des Beschwerdeführers. Dass der Beschwerdeführer seit ihm am 23.07.2018 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, Schulbildung oder Berufserfahrung erlangt hätte, ist im Lauf des Verfahrens nicht hervorgekommen. So brachte er lediglich Deutschkursbestätigungen in Vorlage.

Die Feststellung, dass sich die Sicherheitslage im Herkunftsstaat nicht verbessert hat, beruht im Wesentlichen auf dem Länderinformationsblatt, wobei anzumerken ist, dass die von der belangten Behörde herangezogene Gesamtaktualisierung mit Stand 29.06.2018 dieselbe ist, die auch das Bundesverwaltungsgericht (nebst aktuellen Kurzinformationen) im Verfahren herangezogen hat. Die Feststellung, dass Laghman zu den volatilsten Provinzen des Herkunftsstaates zählt, ergibt sich aus der vom Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 01.08.2019 in das Verfahren eingebrachten EASO Country Guidance: Afghanistan von Juni 2019 (in der Folge: EASO Country Guidance), die die Provinz Laghman zu den besonders unsicheren Provinzen zählt, wo die willkürliche Gewalt ein hohes Level erreicht (Abschnitt Common analysis:

Afghanistan, Kapitel III. Subsidiary protection, Unterkapitel Article 15(b) QD, Buchstabe c. Indiscriminate violence, S. 82 ff; siehe insbesondere Übersichtskarte, S. 89 und Abschnitt Laghman, S. 107-108). Hier wird auch nicht von einer Besserung der Sicherheitslage berichtet, wobei sich eine solche auch nicht aus den dem Länderinformationsblatt seit der Entscheidung der belangten Behörde angefügten Kurzinformationen ergibt. Gleiches gilt im Wesentlichen für die Provinz Nangahar (siehe hierfür auch Abschnitt Nangarhar, S. 108-109), wobei Nangahar als unsicherste Provinz Afghanistan eingestuft wird (Übersichtskarte, S. 89). Insbesondere ergibt sich, dass sich die Zahl der zivilen Opfer von 2017 (das Länderinformationsblatt berichtet von 862 zivilen Opfern, Kapitel 3. Sicherheitslage, Unterkapitel 3.22. Nangarhar) bis 2018 (die EASO Country Guidance berichtet von 1815 zivilen Opfern) mehr als verdoppelt hat. Der vom Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom 01.08.2019 in das Verfahren eingebrachte EASO COI Report:

Afghanistan. Security situation von Juni 2019 berichtet von einer Steigerung um 111 % im Vergleich zu 2017 (2. Regional description of the security situation in Afghanistan, Unterkapitel 2.23. Nangarhar, S. 211 ff., siehe insbesondere S. 215). Folglich wurde festgestellt, dass sich die Sicherheitslage in Nangarhar verschlechtert hat.

Zur Plausibilität und Seriosität der herangezogenen Länderinformationen zur Lage im Herkunftsstaat ist auszuführen, dass die im Länderinformationsblatt zitierten Unterlagen von angesehen Einrichtungen stammen. Es ist auch darauf hinzuweisen, dass die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nach § 5 Abs. 2 BFA-VG verpflichtet ist, gesammelte Tatsachen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten und in allgemeiner Form zu dokumentieren. Auch das European Asylum Support Office (EASO) ist nach Art. 4 lit. a Verordnung (EU) Nr. 439/2010 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Mai 2010 zur Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen bei seiner Berichterstattung über Herkunftsländer zur transparent und unparteiisch erfolgende Sammlung von relevanten, zuverlässigen, genauen und aktuellen Informationen verpflichtet. Damit durchlaufen die länderkundlichen Informationen, die diese Einrichtungen zur Verfügung stellen, einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat. Den UNHCR-Richtlinien ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken ("Indizwirkung"), wobei diese Verpflichtung ihr Fundament auch im einschlägigen Unionsrecht findet (Art. 10 Abs. 3 lit. b der Richtlinie 2013/32/EU [Verfahrensrichtlinie] und Art. 8 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU [Statusrichtlinie]; VwGH 07.06.2019, Ra 2019/14/0114) und auch EASO in den vom Verwaltungsgerichtshof zitierten Normen durch explizite Nennung als Quelle für Herkunftslandinformationen besonders hervorgehoben wird. Das Bundesverwaltungsgericht stützt sich daher auf die angeführten Länderberichte, wobei eine beweiswürdigende Auseinandersetzung im Detail oben erfolgt ist.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zum Vorbringen einer asylrechtlich relevanten Verfolgung der Beschwerdeführer wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie des Vaters

Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht, dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG gesetzt hat.

Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht einer Person, wenn sie sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb des Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichthofes ist für den Flüchtlingsbegriff der GFK entscheidend, ob glaubhaft ist, dass den Fremden in ihrem Herkunftsstaat Verfolgung droht. Dies ist dann der Fall, wenn sich eine mit Vernunft begabte Person in der konkreten Situation der Asylwerber unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat fürchten würde (VwGH 24.06.2010, 2007/01/1199).

"Verfolgung" im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs als ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt "Verfolgung" als jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie, worunter - unter anderem - Handlungen fallen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 MRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 MRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 MRK niedergelegte Verbot der Folter (zuletzt VwGH 31.07.2018 mwN).

Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierung ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010 mwN).

Der VwGH hat in seiner Rechtsprechung den Familienverband als "soziale Gruppe" gemäß Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anerkannt. Verfolgung kann daher schon dann Asylrelevanz zukommen, wenn ihr Grund in der bloßen Angehörigeneigenschaft des Asylwerbers, somit in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe iSd Art. 1 Z 2 GFK, etwa jener der Familie liegt (Vgl. VwGH vom 13.11.2014, Ra 2014/18/0011 mwN).

Der Verwaltungsgerichtshof bejaht in seiner ständigen Rechtsprechung grundsätzlich die Asylrelevanz einer Verfolgung wegen Blutrache unter dem GFK-Anknüpfungspunkt der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der "von Blutrache bedrohten Angehörigen der Großfamilie", sofern sich die Verfolgungshandlungen gegen Personen richten, die in die Rache gegen den unmittelbar Betroffenen bloß aufgrund ihrer familiären Verbindungen zu diesem einbezogen werden (Vgl. etwa VwGH 13.11.2014, Ra 2014/18/0011).

Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt drohen dem Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr ins Herkunftsdorf Übergriffe durch die Cousins des Vaters bis hin zur Tötung, weil er nach paschtunischer Tradition als ältester Sohn des Vaters nun für die Verteidigung bzw. Rückerlangung des Familieneigentums und die Rache für den Mord am Vater zuständig ist. Damit knüpft die vom Beschwerdeführer glaubhaft gemacht Bedrohung klar daran an, dass der Beschwerdeführer Familienmitglied der Familie des Vaters ist, weswegen der Beschwerdeführer asylrelevante Verfolgung im Sinne der oben zitierten Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter dem GFK-Anknüpfungspunkt der sozialen Gruppe der Familie durch Privatpersonen glaubhaft machen.

Ebenso festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt wurde, dass nicht zu erwarten ist, dass die afghanischen Behörden den Beschwerdeführer vor diesen Übergriffen schützen werden. Bedingt dadurch, dass dem Beschwerdeführer demnach staatlicher Schutz vor der im drohenden von Privatpersonen ausgehenden Verfolgung nicht gewährt wird, ist die Asylrelevanz der glaubhaft gemachten Verfolgung im Sinne der oben zitierten Judikatur zu bejahen.

3.2. Zum Nichtvorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative

Nach § 3 Abs. 3 Z 1 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht.

Gemäß § 11 Abs. 1 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen, wenn Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder von sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann.

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kann die Asylrelevanz einer befürchteten Verfolgung durch das Bundesverwaltungsgericht nicht mit dem Hinweis auf das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative verneint werden, wenn dem betreffenden Asylwerber (auch im Hinblick auf das in Betracht kommende Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative) bereits von der belangten Behörde subsidiärer Schutz erteilt worden ist, weil § 11 AsylG die Annahme einer inländischen Fluchtalternative nur erlaubt, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht gegeben sind (VwGH 23.11.2016, Ra 2016/18/0054). Die materielle Rechtskraft des vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zuerkannten des Status des subsidiär Schutzberechtigten steht allerdings der Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative durch das Bundesverwaltungsgericht nicht entgegen, wenn sich seit der Entscheidung der belangten Behörde der Sachverhalt oder die Rechtsvorschriften wesentlich geändert haben, weswegen von einer nachträglichen Änderung der Sache ("nova producta") ausgehen ist (zuletzt VwGH 28.02.2017, Ra 2016/01/0206 mwN).

Dem Beschwerdeführer wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.07.2018 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt, wobei die Behörde dies mit der volatilen Sicherheitslage, dem fehlenden familiären Netzwerk (außerhalb von Nangarhar), der fehlenden schulischen Bildung, der fehlenden Berufserfahrung und der Minderjährigkeit. Ein Vergleich mit der ebenso festgestellten gegenwärtigen Situation des Beschwerdeführers erhellt, dass der Beschwerdeführer abgesehen von den in Dschalalabad aufhältigen Angehörigen nicht über ein familiäres Netzwerk im Herkunftsstaat verfügt und zwischenzeitig auch keine schulische Bildung und keine Berufserfahrung erlangt hat. Der Beschwerdeführer ist nunmehr allerdings volljährig, wobei der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten 17 Jahre und nunmehr 18 Jahre alt ist.

Im Zusammenhang mit der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 9 Abs. 1 Z 1 2. Fall AsylG - wo ebenso auf eine wesentliche Sachverhaltsänderung abzustellen ist - hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass es bei der Frage, ob sich die Umstände so wesentlich und nicht nur vorübergehend verändert haben, nicht allein auf den Eintritt eines einzelnen Ereignisses ankommt. Es komme auf unterschiedliche Entwicklungen von Ereignissen, die sowohl die Person des Fremden als auch in der in seinem Heimatland gegeben Situation gelegen sind, an. Auch einen im Lauf des fortschreitenden Lebensalters maßgeblichen Gewinn an Erfahrungen in diversen Lebensbereichen erachtet der Verwaltungsgerichtshof grundsätzlich als maßgebliche Änderung, wobei er jedoch gerade nicht bloß auf das Kriterium der nicht mehr vorliegenden Minderjährigkeit Bezug nimmt (VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153).

Ein solcher maßgeblicher Lebenserfahrungsgewinn ist gegenständlich jedoch im Vergleich zum Zeitpunkt der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten noch nicht erkennbar. So ist der Beschwerdeführer lediglich ein Jahr älter und konnte seither weder Berufserfahrung sammeln, noch sein Bildungs- und Ausbildungsniveau verbessern. Eine maßgebliche Sachverhaltsänderung ist folglich - angesichts der unveränderten Sicherheitslage - nicht ersichtlich. Damit steht die materielle Rechtskraft des vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zuerkannten Status des subsidiär Schutzberechtigten der Annahme einer innerstaatliche Fluchtalternative durch das Bundesverwaltungsgericht entgegen.

3.3. Zum Nichtvorliegen eines Asylausschlussgrundes

Nach § 3 Abs. 2 Z 2 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn der Fremde einen Asylausschlussgrund nach § 6 AsylG gesetzt hat. Dass der Beschwerdeführer einen Asylausschlussgrund gemäß § 6 Abs. 1 Z 1 bis 4 AsylG gesetzt hat, ist im Verfahren nicht hervorgekommen.

3.4. Zur Anwendbarkeit des § 3 Abs. 4 AsylG

Zu Anwendbarkeit des § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 ist anzumerken, dass die Bestimmung nach § 75 Abs. 24 AsylG auf Fremde, die einen Antrag auf internationalen Schutz vor dem 15.11.2015 gestellt haben, nicht anzuwenden ist. Nachdem der Beschwerdeführer seinen Antrag auf internationalen Schutz am 09.06.2016 gestellt hat, kommt daher § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 zur Anwendung.

Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes wird das Einreise- und Aufenthaltsrecht des Asylberechtigten unmittelbar kraft Gesetzes bestimmt. Die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter hat somit nach den gesetzlichen Bestimmungen nicht zu erfolgen. Auch gemäß § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 kommt dem Asylberechtigten eine entsprechende Aufenthaltsberechtigung zu, ohne dass eine darüberhinausgehende Erteilung dieser Berechtigung vorzunehmen wäre (VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373).

Dem Beschwerdeführer war daher spruchgemäß nach § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt. Ihm kommt damit unmittelbar kraft Gesetzes (VwGH 03.05.2018, Ra 2017/19/0373) eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu, die (vorerst) für drei Jahre gilt.

4. Unzulässigkeit der Revision:

Die Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 vorliegt. Das Bundesverwaltungsgericht folgt bei der Beurteilung der Asylrelevanz des Fluchtvorbringens des Beschwerdeführers der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Themenkomplex der Familie als "soziale Gruppe" iSd GFK sowie der Blutrache (VwGH vom 13.11.2014, Ra 2014/18/0011). Auch dazu, dass es ausgeschlossen ist, einen Antragsteller hinsichtlich des Status des Asylberechtigten zu verweisen, wenn ihm zuvor schon subsidiärer Schutz zuerkannt wurde und eine wesentliche Sachverhaltsänderung seither nicht eingetreten ist, liegt klare Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor (VwGH 23.11.2016, Ra 2016/18/0054 und VwGH 28.02.2017, Ra 2016/01/0206) der das Bundesverwaltungsgericht gegenständlich folgt. Zur Frage, ob allein in der nicht mehr vorliegenden Minderjährigkeit eine maßgebliche Sachverhaltsänderung liegt, konnte sich das Bundesverwaltungsgericht an der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 9 Abs. 1 Z 1 2. Fall AsylG orientieren (VwGH 27.05.2019, Ra 2019/14/0153). Ansonsten waren beweiswürdigende Erwägungen maßgeblich.

Schlagworte

asylrechtlich relevante Verfolgung, befristete
Aufenthaltsberechtigung, private Verfolgung, Schutzunfähigkeit,
soziale Gruppe, wohlbegründete Furcht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W102.2203627.1.00

Zuletzt aktualisiert am

30.03.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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