Entscheidungsdatum
25.10.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W250 2128649-2/9E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Michael BIEDERMANN als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Edward W. DAIGNEAULT, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.06.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 31.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab er zu seinen Fluchtgründen befragt an, dass die Taliban und die IS gegen Hazara seien. Er habe nicht legal aus seiner Heimatstadt ausreisen können. Er könne nicht mehr in seinen Geburtsort zurückkehren und befürchte im Falle einer Rückkehr keine Arbeit zu finden. Nach Rückübersetzung der Niederschrift gab der Beschwerdeführer ergänzend an, dass seine Volksgruppe in Afghanistan immer unterdrückt worden sei. Die IS und die Taliban würden junge Hazara zur Teilnahme an Kämpfen gegen die Regierung zwingen. Zudem habe er weder die Schule besuchen noch einen Beruf erlernen können.
3. Am 19.05.2016 fand eine Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) statt. Zu seinen Fluchtgründen gab er im Wesentlichen an, dass die Sicherheitslage sehr schlecht sei und Hazara von den Taliban verfolgt werden würden. Zudem sei nun auch die IS in Afghanistan aktiv. Zudem sei eines Abends auf seinem Heimweg ein Auto an ihm vorbeigefahren, jemand habe die Hand durchs Fenster gestreckt und ihn zu Boden gestoßen. Er sei daraufhin in den Iran geflohen.
4. Mit Bescheid vom 26.05.2016 wies das Bundesamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt 1.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt 2.) ab und erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt 3.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt 4.).
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht habe und eine solche im Verfahren auch nicht hervorgekommen sei. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe.
5. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass er seine Heimat aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung von privater Seite und mangels Fähigkeit des Herkunftsstaates ihn vor diesen Übergriffen zu schützen, verlassen habe. Zudem brachte der Beschwerdeführer vor, dass die Situation in Afghanistan angespannt sei.
6. Mit Schreiben vom 15.06.2016 in Dari brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass in Afghanistan Krieg herrsche, sein Leben in Gefahr sei und der afghanische Staat nicht für seine Sicherheit sorgen könne. Zudem habe er immer die Wahrheit gesagt.
7. Mit Beschluss vom 04.05.2017 des Bundesverwaltungsgerichts wurde der Bescheid vom 26.05.2016 gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG behoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt zurückverwiesen. Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass es das Bundesamt verabsäumt habe ausreichend aktuelle Feststellungen zur Sicherheitslage, Rückkehrsituation und Erreichbarkeit der Provinz Ghazni zu treffen. Im Bescheid vom 26.05.2016 seien auch keine Feststellungen zur Sicherheitslage in der ursprünglichen Heimatregion des Beschwerdeführers getroffen worden. Es fehle daher an der wesentlichen Grundlage für die Beurteilung der Sicherheitslage (und Rückkehrsituation). Zudem habe das Bundesamt das Vorbringen des Beschwerdeführers, wonach die IS und die Taliban die jungen Hazara zum Kämpfen gegen die Regierung zwingen würden, völlig außer Acht gelassen.
8. Das Bundesamt vernahm den Beschwerdeführer am 22.06.2017 neuerlich ein. Der Beschwerdeführer gab betreffend seine Fluchtgründe an, dass jedes Jahr im ersten Monat die Kuchis, welche Taliban seien, in sein Heimatdorf gekommen seien. Die Kuchis hätten junge Leute zur Mitarbeit gezwungen. Leute die sich geweigert hätten mit den Taliban zusammenzuarbeiten, seien umgebracht worden. So seien zwei Personen vor den Augen des Beschwerdeführers erschossen worden. Die Taliban hätten den Beschwerdeführer mitnehmen wollen, jedoch habe der Busfahrer gesagt, dass er schnell einsteigen solle. Die Taliban seien daraufhin zum Vater des Beschwerdeführers gegangen und hätten diesem aufgetragen, den Beschwerdeführer zu ihnen zu schicken. Nach einigen Monaten sei der Beschwerdeführer mit dem Fahrrad unterwegs gewesen, als ein Auto an ihm vorbeigefahren sei und ihn aus dem offenen Autofenster umgestoßen habe. Die Leute seien aus dem Auto ausgestiegen und hätten den Beschwerdeführer mitnehmen wollen, dieser sei jedoch mit dem Fahrrad entkommen. Die Taliban hätten dem Beschwerdeführer nachgerufen und geschossen. Sie seien daraufhin wieder zum Vater des Beschwerdeführers gegangen, der dem Beschwerdeführer empfohlen habe auszureisen.
9. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 26.06.2017 wies das Bundesamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) ab und erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht habe und eine solche im Verfahren auch nicht hervorgekommen sei. Es drohe dem Beschwerdeführer auch keine Gefahr, die die Erteilung eines subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. So verfüge der Beschwerdeführer über einen Onkel mütterlicherseits in Kabul, von dem er Unterstützung erwarten könne. Der Beschwerdeführer verfüge in Österreich zudem über kein schützenswertes Privat- und Familienleben, das einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe, zumal der Beschwerdeführer nur über wenige Deutschkenntnisse verfüge und aufgrund der kurzen Zeit in Österreich keine besonderen privaten Beziehungen und Bindungen in Österreich habe.
10. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass die Einordnung des Beschwerdeführers als "unglaubwürdig" mangelhaft sei. Dem Beschwerdeführer sei aufgrund seiner zutreffenden Angst vor Zwangsrekrutierung der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen gewesen. Das Bundesamt habe richtig erkannt, dass ihm die Rückkehr ihn seine Heimatprovinz Ghazni nicht zumutbar sei. Das Bundesamt habe jedoch eine Fluchtalternative in Kabul angenommen, weil er dort einen Onkel mütterlicherseits habe. Der Beschwerdeführer habe zu diesem jedoch keinen Kontakt. Nach den Länderberichten sei es nicht realistisch anzunehmen, dass der Beschwerdeführer als alleinstehender Rückkehrer eine Unterkunft und Arbeit finde. Der Beschwerdeführer wäre daher mittellos und seien auch die Flüchtlingslager überfüllt, weshalb dem Beschwerdeführer jedenfalls der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen sei.
11. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 26.08.2019 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und im Beisein des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers sowie eines Vertreters des Bundesamtes eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.
12. Mit Schreiben vom 23.09.2019 wurde eine Bestätigung der Teilnahme des Beschwerdeführers an einem Kurs zum Nachholen des Pflichtschul-/Hauptschulabschlusses seit 16.09.2019 bis voraussichtlich Ende Mai 2020 vom 18.09.2019 vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an, bekennt sich zum schiitisch-muslimischen Glauben und spricht Dari als Muttersprache. Er ist ledig und hat keine Kinder (AS 5, 62, 213, 215; Protokoll vom 26.08.2019 - OZ 7, S. 6).
Der Beschwerdeführer wurde in der Provinz Ghazni, im Distrikt XXXX , im Dorf XXXX geboren und ist dort gemeinsam mit seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern (zwei Brüder und drei Schwestern) in einem Eigentumshaus aufgewachsen. Der Beschwerdeführer hat keine Schule besucht. Er hat in der Moschee und zuhause mit seiner Mutter gelernt (AS 5; OZ 7, S. 7). Die Familie des Beschwerdeführers besitzt mehrere Grundstücke, die von den Familienmitgliedern bewirtschaftet werden (AS 213; OZ 7, S. 7). Der Beschwerdeführer hat jahrelang seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen. Ca. seit seinem 13. Lebensjahr hat der Beschwerdeführer auch Hilfsarbeiten auf Baustellen als Fliesenleger, Bauarbeiter oder Steinarbeiten ausgeführt (AS 213; OZ 7, S. 7).
Der Beschwerdeführer reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen nach Österreich ein und stellte am 31.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz (AS 5 ff).
Die Eltern des Beschwerdeführers sowie seine Geschwister leben nach wie vor im Heimatdorf des Beschwerdeführers (AS 214; OZ 7, S. 7 f). Der jüngere Bruder sowie die jüngste Schwester des Beschwerdeführers leben noch mit seinen Eltern im Eigentumshaus. Die zwei ältesten Schwestern des Beschwerdeführers sind verheiratet und Hausfrauen. Deren Ehemänner arbeiten in der Landwirtschaft für andere Personen (OZ 7, S. 8). Die Familie des Beschwerdeführers verfügt nach wie vor über Grundstücke im Heimatdorf des Beschwerdeführers, die von seinen Brüdern bewirtschaftet werden (AS 214; OZ 7, S. 8). Der Beschwerdeführer hat regelmäßig Kontakt zu seinen Eltern und seinem Bruder (AS 215; OZ 7, S. 8; 11).
Eine Tante des Beschwerdeführers väterlicherseits lebt in Herat und ist verheiratet (AS 214; OZ 7, S. 9). Er hat darüber hinaus einen Onkel mütterlicherseits sowie einen Onkel väterlicherseits im Iran in XXXX . Beide Onkel des Beschwerdeführers haben Kinder, die sich ebenfalls im Iran aufhalten. Der Onkel väterlicherseits des Beschwerdeführers arbeitet aufgrund von Schmerzen derzeit nicht; sein Onkel mütterlicherseits sammelt Restmüll, Metalle und Essensreste und verkauft diese. Der Beschwerdeführer hat Kontakt zu seinen Onkeln im Iran (OZ 4, S. 9).
Der Beschwerdeführer leidet an keinen schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheiten, er ist gesund und arbeitsfähig.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Das vom Beschwerdeführer ins Treffen geführte Verfolgungsvorbringen kann nicht festgestellt werden.
1.2.1. Der Beschwerdeführer wurde nicht von den Taliban bzw. Kuchi zur Zusammenarbeit aufgefordert. Der Beschwerdeführer hätte von den Taliban auch nicht als Tanzjunge ausgebeutet werden sollen. Die Taliban haben nicht den Vater des Beschwerdeführers zuhause aufgesucht. Es hat weder der Vorfall, wonach die Taliban den Beschwerdeführer mitnehmen wollten, er jedoch in den Bus eingestiegen sei, noch der Vorfall bei dem der Beschwerdeführer von einem vorbeifahrenden Auto niedergestoßen bzw. auf seinem Fahrrad umgestoßen worden sei, stattgefunden. Der Beschwerdeführer und seine Familie wurden nie von den Taliban bzw. den Kuchi mit dem Tod oder der Ausübung von psychischer oder physischer Gewalt bedroht.
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in seine körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität seitens der Taliban, den Kuchi oder durch andere Personen.
1.2.2. Darüber hinaus droht dem Beschwerdeführer keine konkrete und individuelle physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan wegen seiner ethnisch-religiösen Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara. Es kann nicht festgestellt werden, dass Angehörige der Religions-gemeinschaft der Schiiten oder der Volksgruppe der Hazara in Afghanistan allein aufgrund der Religions- oder Volksgruppenzugehörigkeit physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt sind.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:
Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz Ghazni ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.
Dem Beschwerdeführer ist es jedoch möglich und zumutbar sich in der Stadt Mazar-e Sharif anzusiedeln. Die Wohnraum- und Versorgungslage in Mazar-e Sharif ist zwar sehr angespannt, der Beschwerdeführer kann jedoch bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Mazar-e Sharif grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der Beschwerdeführer ist mit den Gepflogenheiten in Afghanistan vertraut und zudem anpassungsfähig. Er hat keine Sorgepflichten. Er kann zumindest anfänglich mit finanzieller Unterstützung seiner Familie rechnen und dann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen.
Es ist dem Beschwerdeführer möglich nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedelung in der Stadt Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
1.4. Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:
Der Beschwerdeführer ist seit seiner Antragsstellung am 31.12.2015 aufgrund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung in Österreich nach dem AsylG durchgehend rechtmäßig aufhältig.
Der Beschwerdeführer hat an Deutschkursen für die Stufe A1 teilgenommen (Beilage ./I, ./J) und Deutschkurse auch im Zuge seiner Schulbesuche besucht(Beilage ./P; OZ 7, S. 10). Er hat keine Deutschprüfung abgelegt. Er verfügt über sehr gute Deutschkenntnisse (OZ 7, S. 10). Der Beschwerdeführer hat die Übergangsstufe an einer Bundeshandelsakademie und Bundeshandelsschule abgeschlossen (Beilage ./O). Er hat im Schuljahr 2018/19 als außerordentlicher Schüler die
5. Klasse eines Gymnasiums besucht (Beilage ./M und ./P) Er wurde für das Wintersemester 2019/2020 an einer Polytechnischen Schule zugelassen (OZ 18).
Der Beschwerdeführer hat an einem Werte- und Orientierungskurs (Beilage ./F), einem Workshop zu Geschlechterrollen und Geschlechterstereotypen (Beilage ./G), an der Veranstaltung XXXX (Beilage ./N) teilgenommen sowie einen Erste-Hilfe Grundkurs absolviert (Beilage ./R).
Der Beschwerdeführer lebt von der Grundversorgung. Er ist in Österreich nie legal einer beruflichen Tätigkeit nachgegangen. Der Beschwerdeführer hat keine gesicherte Einstellungszusage vorgelegt.
Er hat von Juni 2016 bis zumindest Februar 2017 immer wieder monatlich gemeinnützige Tätigkeiten für eine Gemeinde erbracht. Von Juli 2016 bis November 2016 hat er regelmäßig gemeinnützig auf einer Sportanlage mitgearbeitet (Beilage ./E und ./Q). Seit 18.05.2019 unterstützt der Beschwerdeführer ehrenamtlich einen Sozialmarkt (Beilage ./L). Er spielte Fußball in einer Hobbymannschaft in Österreich (Beilage ./D).
Der Beschwerdeführer hat keine Verwandten in Österreich. Er wird von seinen Lehrern, Bekannten und der Dorfgemeinschaft sehr geschätzt (Beilage ./A, ./B, ./H, ./J und ./K). Er konnte in Österreich auch freundschaftliche Kontakte knüpfen (OZ 7, S. 11), er verfügt jedoch über keine engen Bindungen.
Der Beschwerdeführer ist kein begünstigter Drittstaatsangehörige und es kommt ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet war nie geduldet. Er ist weder Zeuge oder Opfer von strafbaren Handlungen noch Opfer von Gewalt.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.5.1. Im Folgenden werden die wesentlichen Feststellungen aus dem vom Bundes-verwaltungsgericht herangezogenen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 04.06.2019, wiedergegeben:
Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (Länderinformationsblatt für Afghanistan vom 29.06.2018 mit Kurzinformation vom 04.06.2019 - LIB 04.06.2019, S.65).
Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019 (1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (LIB 04.06.2019, S.13).
Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (LIB 04.06.2019, S.13).
Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (LIB 04.06.2019, S.13 f).
Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst ca. 53,8% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9% der Distrikte sind umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (LIB 04.06.2019, S.23).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht. In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt. Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheits-operationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden; auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (LIB 04.06.2019, S.69).
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB 04.06.2019, S.69). Die Auflistung der high-profile Angriffe zeigt, dass die Anschläge in großen Städten, auch Kabul, hauptsächlich im Nahebereich von Einrichtungen mit Symbolcharakter (Moscheen, Tempel bzw. andere Anbetungsorte), auf Botschaften oder auf staatliche Einrichtungen stattfinden. Diese richten sich mehrheitlich gezielt gegen die Regierung, ausländische Regierungen und internationale Organisationen (LIB 04.06.2019, S.69 ff).
Provinz Ghazni
Ghazni ist eine der wichtigsten Zentralprovinzen Afghanistans. Ghazni ist die Provinz mit der zweithöchsten Bevölkerungszahl, die auf 1.270.3192 Bewohner/innen geschätzt wird. Hauptsächlich besteht die Bevölkerung aus großen Stämmen der Paschtunen sowie Tadschiken und Hazara; Mitglieder der Bayat, Sadat und Sikh sind auch dort vertreten, wenngleich die Vielzahl der Bevölkerung Paschtunen sind (LIB 04.06.2019, S.129).
Ghazni ist eine der Schlüsselprovinz im Südosten, die die zentralen Provinzen inklusive der Hauptstadt Kabul mit anderen Provinzen im Süden und Westen verbindet (LIB 04.06.2019, S.129).
Die Provinz Ghazni zählt zu den relativ volatilen Provinzen im südöstlichen Teil des Landes; die Provinz selbst grenzt an unruhige Provinzen des Südens. Die Taliban und Aufständische anderer Gruppierungen sind in gewissen Distrikten aktiv. In der Provinz kommt es zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und Aufständischen (LIB 04.06.2019, S.130).
Wie in vielen Regionen in Südafghanistan, in denen die Paschtunen die Mehrheit stellen, konnten die Taliban in Ghazni nach dem Jahr 2001 an Einfluss gewinnen. Die harten Vorgehensweisen der Taliban - wie Schließungen von Schulen, der Stopp von Bauprojekten usw. - führten jedoch auch zu Gegenreaktionen. Die Sicherheitslage verbesserte sich, Schulen und Gesundheitskliniken öffneten wieder. Da diese Milizen, auch ALP (Afghan Local Police) genannt, der lokalen Gemeinschaft entstammen, genießen sie das Vertrauen der lokalen Menschen. Nichtsdestotrotz kommt es zu auch bei diesen Milizen zu Korruption und Missbrauch (LIB 04.06.2019, S.130).
Im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) (15.12.2017-15.2.2018) haben regierungsfeindliche Elemente auch weiterhin Druck auf die afghanischen Sicherheitskräfte ausgeübt, indem koordinierte Angriffe auf Kontrollpunkte der afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte unter anderem in der Provinz Ghazni verübt wurden (LIB 04.06.2019, S.130).
Im gesamten Jahr 2017 wurden 353 zivile Opfer in Ghazni (139 getötete Zivilisten und 214 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von IEDs und gezielten/willkürlichen Tötungen. Dies deutet einen Rückgang von 11% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (LIB 04.06.2019, S.131).
Sowohl das Haqqani-Netzwerk, als auch die Taliban sind in manchen Regionen der Provinz aktiv (LIB 04.06.2019, S.132).
Mazar-e Sharif:
Mazar-e Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh. Mazar-e Sharif liegt an der Autobahn zwischen Maimana und Pul-e-Khumri und ist gleichzeitig ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst (LIB 04.06.2019, S. 108 f).
In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen, durch den die Stadt sicher zu erreichen ist (LIB 04.06.2019, S. 109, 266).
Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften (LIB 04.06.2019, S. 109).
Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.382.155 geschätzt (LIB 04.06.2019, S. 109).
Religionsfreiheit
Etwa 99,7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84,7-89,7% Sunniten. Schätzungen zufolge, sind etwa 10-19% der Bevölkerung Schiiten. Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha'i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus (LIB 04.06.2019, S.309).
Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt (LIB 04.06.2019, S.311).
Schiiten
Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15% geschätzt. Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara. Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan leben einige schiitische Belutschen. Afghanische Schiiten und Hazara neigen dazu, weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein als ihre Glaubensbrüder im Iran (LIB 04.06.2019, S.312).
Obwohl einige schiitischen Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demographischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiere; auch vernachlässige die Regierung in mehrheitlich schiitischen Gebieten die Sicherheit. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen (LIB 04.06.2019, S.312).
Im Ulema-Rat, der nationalen Versammlung von Religionsgelehrten, die u. a. dem Präsidenten in der Festlegung neuer Gesetze und Rechtsprechung beisteht, beträgt die Quote der schiitischen Muslime ca. 30%. Des Weiteren tagen rechtliche, konstitutionelle und menschenrechtliche Kommissionen, welche aus Mitgliedern der sunnitischen und schiitischen Gemeinschaften bestehen und von der Regierung unterstützt werden, regelmäßig, um die interkonfessionelle Schlichtung zu fördern (LIB 04.06.2019, S.312).
Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS (LIB 04.06.2019, S.312 f).
Es wurde zwar eine steigende Anzahl von Angriffen gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige registriert, wovon ein Großteil der zivilen Opfer schiitische Muslime waren. Die Angriffe haben sich jedoch nicht ausschließlich gegen schiitische Muslime, sondern auch gegen sunnitische Moscheen und religiöse Führer gerichtet (LIB 04.06.2019, S.69 ff).
Angehörige der Schiiten sind in Afghanistan allein aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt.
Ethnische Minderheiten
In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34.1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.
Schätzungen zufolge, sind: 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen (LIB 04.06.2019, S.319).
Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet.". Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht: Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es werden keine bestimmten sozialen Gruppen ausgeschlossen. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen (LIB 04.06.2019, S.319 f).
Der Gleichheitsgrundsatz ist in der afghanischen Verfassung rechtlich verankert, wird allerdings in der gesellschaftlichen Praxis immer wieder konterkariert. Soziale Diskriminierung und Ausgrenzung anderer ethnischer Gruppen und Religionen im Alltag besteht fort und wird nicht zuverlässig durch staatliche Gegenmaßnahmen verhindert. Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (LIB 04.06.2019, S.320).
Hazara
Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden; andererseits gehören ethnische Hazara hauptsächlich dem schiitischen Islam an (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten (LIB 04.06.2019, S.321).
Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können (LIB 04.06.2019, S.322).
Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban- Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert (LIB 04.06.2019, S.322).
So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. In der afghanischen Gesellschaft existiert die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Mitglieder der Hazara-Ethnie beschweren sich über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. Die Arbeitsplatzanwerbung erfolgt hauptsächlich über persönliche Netzwerke; Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke (LIB 04.06.2019, S.322 f).
Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen (LIB 04.06.2019, S.323).
Angehörige der Hazara sind in Afghanistan allein aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit keiner psychischen und/oder physischen Gewalt ausgesetzt.
Medizinische Versorgung
Es gibt keine staatliche Krankenkasse und die privaten Anbieter sind überschaubar und teuer, somit für die einheimische Bevölkerung nicht erschwinglich. Eine begrenzte Zahl staatlich geförderter öffentlicher Krankenhäuser bieten kostenfreie medizinische Versorgung. Alle Staatsbürger haben Zugang zu medizinischer Versorgung und Medikamenten. Die Kosten für Medikamente in diesen Einrichtungen weichen vom lokalen Marktpreis ab. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e-Sharif, Herat und Kandahar. Medikamente sind auf jedem Markt in Afghanistan erwerblich, Preise variieren je nach Marke und Qualität des Produktes (LIB 04.06.2019, S.362 f).
Psychische Erkrankungen sind in öffentlichen und privaten Klinken grundsätzlich behandelbar. Die Behandlung in privaten Kliniken ist für Menschen mit durchschnittlichen Einkommen nicht leistbar. In öffentlichen Krankenhäusern müssen die Patienten nichts für ihre Aufnahme bezahlen. In Mazar-e Sharif gibt es ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. Zwar gibt es traditionelle Methoden bei denen psychisch Kranke in spirituellen Schreinen unmenschlich behandelt werden. Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung zu betreiben. Die Bundesregierung finanziert Projekte zur Verbesserung der Möglichkeiten psychiatrischer Behandlung und psychologischer Begleitung in Afghanistan. (LIB 04.06.2019, S.364 f).
Wirtschaft
Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut weiterhin zu (LIB 04.06.2019, S.358).
Für ca. ein Drittel der Bevölkerung ist die Landwirtschaft (inklusive Tiernutzung) die Haupteinnahmequelle. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können. Mehr als ein Drittel der männlichen Bevölkerung (34,3%) Afghanistans und mehr als die Hälfte der weiblichen Bevölkerung (51,1%) sind nicht in der Lage, eine passende Stelle zu finden (LIB 04.06.2019, S.358 f).
Rückkehrer:
Im Jahr 2017 kehrten sowohl freiwillig, als auch zwangsweise insgesamt 98.191 Personen aus Pakistan und 462.361 Personen aus Iran zurück. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück (LIB 04.06.2019, S.371).
Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung, wo Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden können (LIB 04.06.2019, S.372 f).
IOM, IRARA, ACE und AKAH bieten Unterstützung und nachhaltige Begleitung bei der Reintegration einschließlich Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung oder Schulungen an. NRC bietet Rückkehrer/innen aus Pakistan, Iran und anderen Ländern Unterkunft sowie Haushaltsgegenstände und Informationen zur Sicherheit an und hilft bei Grundstücksstreitigkeiten. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) unterstützt Rückkehrer/innen dabei, ihre Familien zu finden (LIB 04.06.2019, S.373 f).
Psychologische Unterstützung von Rückkehrer/innen wird über die Organisation IPSO betrieben - alle Leistungen sind kostenfrei. Diejenigen, die es benötigen und in abgelegene Provinzen zurückkehren, erhalten bis zu fünf Skype-Sitzungen von IPSO. Für psychologische Unterstützung könnte auch ein Krankenhaus aufgesucht werden; möglicherweise mangelt es diesen aber an Kapazitäten (LIB 04.06.2019, S.374).
Die Großfamilie ist die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Nur sehr wenige Afghanen in Europa verlieren den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Dennoch haben alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen (LIB 04.06.2019, S.375 f).
Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB 04.06.2019, S.376).
Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB 04.06.2019, S.376).
Es kann nicht festgestellt werden, dass Rückkehrer allein aufgrund ihres Aufenthaltes in Europa in Afghanistan psychischer oder physischer Gewalt ausgesetzt sind.
1.5.3. Auszug aus dem EASO-Bericht betreffend Strategien der Aufständischen: Einschüchterung und gezielte Gewalt gegen Afghanen aus Dezember 2012 (Fußnoten entfernt):
"[...] 1.1.2 Illegale Kontrollpunkte
Der UNAMA zufolge richten die Aufständischen in den Gebieten, in denen sie aktiv sind oder die sie kontrollieren, mobile oder ständige Kontrollpunkte ein und setzen damit Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch. An diesen Kontrollpunkten halten sie Fahrzeuge an, verhören die Insassen, konfiszieren Eigentum, treiben Steuern ein und suchen nach Beweisen für Kontakte zur Regierung oder zu den IMF (indem sie z. B. Mobiltelefone überprüfen). Zivilpersonen beklagen sich über Schikanen an diesen Kontrollpunkten. Das ANSO berichtete in den Jahren 2011 und 2012 über verschiedene Beispiele.
1.1.3 Eintreibung von Steuern
Die UNAMA berichtete, dass Aufständische in den von ihnen teilweise oder vollständig kontrollierten Gebieten Steuern eintreiben. Sie haben Kontrollpunkte eingerichtet, an denen die Reisenden Steuern entrichten müssen. Sie haben die Erhebung der ushr und der zakat (religiöse islamische Steuern) eingeführt und stützen sich dabei sehr häufig auf den örtlichen Imam, der dann als Mittelsmann für die Taliban fungiert. In Gebieten, in denen Opium angebaut wird, verlangen sie die Zahlung der ushr auf die Opiumernte.
Giustozzi und Reuter zufolge dienen diese Steuern einem doppelten Zweck: Einkommen für die Taliban zu generieren und der Bevölkerung zu demonstrieren, dass die Taliban die legitimen Machthaber sind und Kontrolle ausüben. Das ANSO berichtete über Aufständische, die in ein Gebiet kamen und von der örtlichen Bevölkerung religiöse Steuern verlangten, um sie einzuschüchtern (z. B. in Samangan und Balch).
Nach Angaben Giustozzis waren die Taliban sogar in der Lage, ihre Steuern in von der Regierung kontrollierten Gebieten einzutreiben. Häufig wurden die Dorfbewohner aufgefordert, außerdem Nahrungsmittel für die Taliban-Kämpfer bereitzustellen. Nur in engmaschig von regierungstreuen Milizen kontrollierten Gebieten oder in der unmittelbaren Nachbarschaft von Stützpunkten der IMF wurden keine Taliban-Steuern erhoben. Es ist nicht genau bekannt, mit welchen Strafen die Taliban auf die Weigerung reagieren, diese Steuern zu entrichten - das Mindeste sind jedoch Schikanen und die Konfiszierung von Waren. Das ANSO berichtete über die Anwendung von Gewalt bei der Eintreibung von Steuern durch die Aufständischen (z. B. Laghman, Dschuzdschan) und über Fälle, in denen Zivilpersonen entführt wurden, wenn sie sich weigerten, Steuern an die Aufständischen zu entrichten (z. B. Ghor, Herat). Im Juni 2012 ermordeten Aufständische in Samangan einen Dorfältesten, der sich geweigert hatte, in ihrem Namen Steuern einzutreiben.
1.1.4 Entführungen
Im Jahr 2007 wurde berichtet, dass die Taliban zunehmend afghanische Zivilpersonen entführten. Häufig wurde von der Familie des Opfers ein Lösegeld für dessen Freilassung verlangt. Bei den Opfern handelte es sich oft um Geschäftsleute und Investoren. Ein Mitarbeiter einer internationalen Entwicklungshilfeagentur in Afghanistan erklärte, dass "nur ein kleiner Teil der Taliban aus ideologischen Beweggründen handelt, während die überwiegende Mehrheit kriminelle Interessen verfolgt. Darum besteht für Reiche ein größeres Risiko als für die Armen. Viele der reichen Geschäftsleute sind bereits mit ihren Familien nach Dubai ausgewandert und kommen immer nur für ein paar Tage zurück, um ihre Geschäfte abzuwickeln."
In seiner Studie über die Taliban in Lugar und Wardak erwähnt Mohammad Osman Tariq Elias die Entführung von Personen durch die Taliban mit dem Ziel, Lösegeld zu erpressen. Er verweist auf die Lahya vom Januar 2007, in der bestimmt wird, dass Taliban für die Freilassung von Mitarbeitern von Regierung, NRO und Privatunternehmen sowie von Lastwagenfahrern, die Ladungen für ausländische Truppen oder die Regierung transportieren, Geld verlangen dürfen. In einigen Fällen kauften Taliban entführte Opfer von Kriminellen, wenn sie sich davon politische oder finanzielle Vorteile versprachen. Den Angaben von Christophe Reuter und Borhan Younus zufolge werden in Ghazni seit 2007 mutmaßliche Taliban-Gegner entführt. Ghazni ist inzwischen eines der Gebiete mit der höchsten Entführungsgefahr für die Mitarbeiter von Regierung und NRO. Beispielsweise berichtete das ANSO im April 2012, dass in der Provinz Sar-i Pul die meisten Entführungen entlang der Straße zwischen den Städten Sar-i Pul und Scheberghan (Dschuzdschan) zielgerichtet waren. Die Zielpersonen waren beispielsweise Regierungsmitarbeiter.
1.1.5 Gezielte Tötungen
Der UN-Sonderberichterstatter, Philip Alston, stellte fest, dass der Begriff der "gezielten Tötung" im Völkerrecht nicht festgeschrieben sei. Alston nannte die Merkmale einer gezielten Tötung: "‚Gezielte Tötung' ist die absichtliche, vorsätzliche und bewusste Anwendung tödlicher Gewalt durch einen Staat oder Bedienstete des Staates, die unter dem Vorgeben der Rechtmäßigkeit handeln, oder durch eine organisierte bewaffnete Gruppe in einem bewaffneten Konflikt, gegen eine bestimmte Person, die sich nicht im physischen Gewahrsam desjenigen befindet, der die Tat begeht." Weiter erklärte Alston, eine gezielte Tötung verletze zwar unter den meisten Umständen das Recht auf Leben, sie könne jedoch unter dem außergewöhnlichen Umstand des bewaffneten Konflikts rechtmäßig sein. Darüber hinaus stellte Alston fest: "Die Mittel und Methoden, die zur Anwendung kommen, sind vielfältig: Heckenschützen, Schüsse aus nächster Nähe, das Abfeuern von Flugkörpern von Hubschraubern, Kampfhubschraubern oder Drohnen, Autobomben, Vergiftung."
Die Vereinten Nationen verzeichneten im Jahr 2010 gegenüber 2009 eine Zunahme der Tötungen und Hinrichtungen durch Taliban. Mehr als die Hälfte aller dieser Morde wurde im Süden verübt. Zu den zivilen Opfern zählten unter anderem Lehrkräfte, Krankenschwestern und -pfleger, Ärzte, Stammesälteste und Anführer anderer Gemeinschaften sowie Provinz- und Bezirksbeamte. Die Vereinten Nationen erfassten im Jahr 2011 495 gezielte Tötungen. Zu den Opfern zählten hochrangige Regierungsbeamte, Provinz- und Bezirksgouverneure, kommunale Beamte und sonstige Mitarbeiter der lokalen Verwaltung, Mitglieder der Provinz- und Friedensräte, Gemeindeälteste, einflussreiche Kommunalpolitiker und Geistliche, Lehrkräfte, Bauarbeiter, Sympathisanten der Regierung oder der IMF sowie Personen, die als solche wahrgenommen wurden. Die UNAMA berichtete, in der ersten Jahreshälfte 2012 seien zunehmend Zivilpersonen, die im Verdacht standen, die Regierung oder die IMF zu unterstützen, Opfer gezielter Gewalt oder gezielter Tötungen durch Aufständische geworden. In den ersten sechs Monaten des Jahres 2012 wurden 356 Zivilpersonen Opfer gezielter Tötungen oder versuchter gezielter Tötungen durch Aufständische. Im Fokus dieser Angriffe standen in erster Linie Regierungsmitarbeiter, Polizeibeamte in ihrer Freizeit, Zivilpolizisten, Stammesälteste, der Spionage für die Regierung oder die IMF bezichtigte Zivilpersonen und Regierungsbeamte. Im April 2012 stellte das ANSO in einer Analyse fest, dass Zivilpersonen in der Regel Opfer gezielter Tötungen wurden, weil sie angeblich oder tatsächlich mit den ANSF, den IMF oder der Regierung kollaborierten.
Zwischen dem 1. Mai und dem 31. Juli verzeichneten die Vereinten Nationen eine Zunahme der gezielten Tötungen von Zivilpersonen, darunter von Beamten und anderen Mitarbeitern der Regierung, Gemeindeältesten und religiösen Führern, um 88 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Darüber hinaus stellte man fest, dass bei gezielten Tötungen immer häufiger USBV eingesetzt wurden.
[...]
Zusammenfassung: Beamte und Bedienstete der Regierung
Die Taliban und andere Gruppierungen Aufständischer hatten die Absicht, durch Einschüchterung, Nachtbriefe, Entführungen und gezielte Tötungen die Unterstützung der Bevölkerung für die Regierung zu unterminieren und einen Keil zwischen die Menschen und die Regierenden zu treiben. Die Aufständischen richteten Kontrollpunkte ein, um Regierungsmitarbeiter aufzuspüren. Personen mit Beziehungen zu den Beamten (z. B. ihre Familienangehörigen) wurden ebenfalls häufig angegriffen, um Druck auf die Beamten auszuüben. Die Taliban und andere Gruppierungen Aufständischer erklärten in öffentlichen Stellungnahmen oder Botschaften, dass Regierungsbeamte Zielpersonen darstellten, und forderten die Menschen auf, nicht länger für die Regierung zu arbeiten.
[...]
Möglichkeiten, Einschüchterung und gezielter Gewalt zu entgehen
[...] Im Rahmen der allgemeinen Zielsetzung der Taliban, durch Einschüchterung und gezielte Gewalt einen Keil zwischen Bürger und Regierung zu treiben, dafür zu sorgen, dass diese keine Unterstützung erfährt, und ihren Einfluss zu untergraben, stellt die Kündigung eingeschüchterter Beamter und Bediensteter einen strategischen Erfolg dar. Darüber hinaus war kein Beleg dafür auszumachen, dass Beamte oder Bedienstete der Regierung nach dem Rückzug von ihrem Posten weiterhin im Visier der Aufständischen standen.
[...]
Zusammenfassung: Sympathisanten, Kollaborateure und Auftragnehmer der Regierung
Afghanen, die mit der Regierung zusammenarbeiten oder mit ihr sympathisieren, sind Gegenstand von Einschüchterungen, Anschlägen, Tötungen, Entführungen und von Taliban-Gerichten ausgesprochenen Todesstrafen. Um Druck auf Kollaborateure der Regierung auszuüben, gehen die Taliban auch gegen deren Familienangehörige mit gezielter Gewalt, Drohungen, Entführungen oder Tötungen vor.
In dieser Profilgruppe sind Zivilpersonen vertreten, die angeblich Verbindungen zur Regierung haben, mit dieser sympathisieren oder als Auftragnehmer für sie tätig sind (z. B. Lieferanten der ANP und Bauarbeiter). Ein extremes Beispiel ist die Tötung von fünf örtlichen Bauern durch die Taliban in Helmand wegen des Vorwurfs, Düngemittel und andere landwirtschaftliche Unterstützung aus einem Regierungsprogramm angenommen zu haben.
Des Weiteren wurden Kommandeure von Anti-Taliban- oder regierungsfreundlichen Milizen angegriffen. Zahlreiche Stammesälteste, Gemeindeführer und Geistliche, die vermeintlich mit der Regierung sympathisierten, wurden Opfer von Einschüchterung und gezielter Gewalt. Häufig wurden sie von Aufständischen auf Motorrädern mit Kleinwaffen angegriffen. Diese bedrohliche Lage führte dazu, dass Älteste ihre Heimat verließen und Hunderte von ihnen in den Jahren des Aufstands getötet wurden. Zu dieser Personengruppe zählen letztendlich auch Abtrünnige aus den Reihen der Aufständischen.
Die Berichte über die Vorkommnisse des Jahres 2012 geben Hinweise auf die derzeitige Entwicklung. Der bei Weitem nicht erschöpfenden Liste der etwa 70 dokumentierten Vorkommnisse des Jahres 2012 sind die folgenden Zahlen zu entnehmen:
Im Süden wurden mindestens zwölf Vorfälle von gezielter Gewalt gegen Sympathisanten oder Kollaborateure der Regierung durch Aufständische dokumentiert. Zwei der Vorfälle spielten sich in der Stadt Kandahar ab und einer in der Stadt Tarin Kut (Uruzgan). Im Südosten wurden mindestens vier Vorfälle dokumentiert, darunter zwei in der Stadt Chost. Im Osten wurden mindestens 17 Vorfälle dokumentiert. In der Landesmitte wurde mindestens ein Vorfall dokumentiert. Im Nordosten wurden mindestens sechs Vorfälle dokumentiert, darunter einer in der Stadt Kunduz. Im Nordwesten wurden mindestens 21 Vorfälle dokumentiert. Im Westen wurden mindestens neun Vorfälle dokumentiert, darunter einer in der Stadt Farah.
Von den in allen Regionen insgesamt erfassten Vorfällen waren mindestens 16 gegen Zivilpersonen mit vermeintlichen Verbindungen zur Regierung, 15 gegen Kommandeure oder andere Angehörige regierungsfreundlicher Milizen, 28 gegen Stammesälteste oder örtliche Gemeindeführer, sieben gegen regierungsfreundliche Geistliche und fünf gegen abtrünnige Aufständische gerichtet, die ins Visier der Aufständischen geraten waren.
In mindestens acht Fällen wurden die Anschläge während der Freizeit oder auf die Privatwohnung der Opfer verübt. In mindestens sechs Fällen wurde berichtet, dass Angehörige von Sympathisanten der Regierung Zielscheibe der Aufständischen waren.
Analyse: Einschüchterung und gezielte Gewalt gegen Sympathisanten, Kollaborateure oder Auftragnehmer der Regierung
In mehreren Quellen wurde eine intensive Kampagne der Einschüchterung und gezielten Gewalt Aufständischer gegen Sympathisanten und Kollaborateure der Regierung erwähnt. In diesem Bericht sind mindestens 70 Vorkommnisse des Jahres 2012 dokumentiert. Diese Zahl ist nicht als erschöpfend zu betrachten und lässt keine Schlussfolgerungen hinsichtlich der Häufigkeit der Vorfälle zu. Es handelt sich hier lediglich um eine veranschaulichende Aufstellung, die Hinweise auf die Entwicklungen des Jahres 2012 gibt und zeigt, dass die Aufständischen nach wie vor gegen diese Profilgruppe vorgehen.
Darüber hinaus wurden Belege für unmittelbare Anschläge auf Familienangehörige der Zielpersonen vorgelegt. Die Opfer wurden zudem regelmäßig angegriffen, wenn sie als Privatperson unterwegs oder zuhause waren. Es wurde berichtet, dass mehrere Opfer vor Taliban-Gerichte gestellt und verurteilt wurden. Diese Merkmale weisen darauf hin, dass die Aufständischen gezielt Einzelpersonen aufspüren.
Zu den Opfern zählen sowohl weniger bekannte Personen (z. B. normale Zivilpersonen mit Verbindungen zur Regierung oder örtliche Auftragnehmer wie Lebensmittellieferanten) als auch bekannte Personen (z. B. Stammesälteste, Geistliche und Kommandeure). Wichtig ist, wie die Profilgruppen von den Akteuren, sprich den Aufständischen, wahrgenommen werden. Ahmad Quraishi erklärte beispielsweise, dass die Taliban den Einfluss der Stammesführer mehr fürchten als einfache Regierungsmitarbeiter [...].
Regionale Unterschiede