TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/2 W191 2138175-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.12.2019
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

02.12.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W191 2138175-1/16E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von Herrn XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.10.2016, Zahl 1069177705-150520031, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.08.2019 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste irregulär und schlepperunterstützt in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte nach seiner vorläufigen Festnahme im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle gemeinsam mit einem Landsmann am 18.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. In seiner Erstbefragung am folgenden Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:

Er stamme aus XXXX , sei aber sofort nach seiner Geburt nach Kabul verzogen. Er sei Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und sunnitischer Moslem. Er habe keine Schule besucht. Seine Familie (Eltern, vier Brüder, drei Schwestern) lebe noch zu Hause.

Seine Heimat habe er vor ca. einem Monat verlassen und sei schlepperunterstützt über - relativ genau - angegebene Länder bis nach Österreich gelangt.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er bis 25.03.2011 als Dolmetscher für die NATO gearbeitet habe. Da er von den Taliban bedroht worden sei und sie verlangt hätten, dass er die Arbeit aufgebe, habe er gekündigt und sich seitdem versteckt. Er sei aber weiterhin von den Taliban mit dem Umbringen bedroht worden, weswegen er schließlich aus Afghanistan geflüchtet sei.

1.3. Aufgrund von EURODAC-Treffern, wonach der BF im Zuge der Stellung eines Asylantrages in Ungarn erkennungsdienstlich behandelt worden war, führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) Konsultationen mit dem Dublin-Mitgliedstaat Ungarn wegen der Zuständigkeit für das Asylverfahren des BF gemäß Dublin-Übereinkommen.

1.4. Mit Bescheid vom 10.09.2015, Zahl 1069177705/150520031, wies das BFA den Antrag des BF gemäß § 5 AsylG als unzulässig zurück. Für die Prüfung seines Antrages sei gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit Art. 25 Abs. 2 der Dublin III-Verordnung Ungarn zuständig.

In der Bescheidbegründung wurde unter anderem ausgeführt, dass sich die Zuständigkeit Ungarns "aufgrund des Verfristungsschreibens vom 07.07.2015 gemäß Art. 18 (1) b Dublin-III-VO" ergäbe. Dementgegen war dem BF zuvor in seiner Einvernahme in Traiskirchen am 16.07.2015 mitgeteilt worden: "[...] aufgrund der bereits vorliegenden Zustimmung Ungarns [...]".

1.5. Der BF brachte gegen diesen Bescheid mit Schreiben seines zur Vertretung bevollmächtigten Rechtsberaters vom 18.09.2015 das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein und begründete diese im Wesentlichen mit der [erheblichen] Verletzung von Verfahrensvorschriften und mit systemischen Mängeln im ungarischen Asylwesen.

1.6. Mit Beschluss vom 29.09.2015, W168 2115023-1/3E, behob das BVwG diesen Bescheid und begründete dies im Wesentlichen damit, dass dem Bescheid keine aktuellen Länderfeststellungen bezüglich der geltend gemachten systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylwerber im Mitgliedstaat Ungarn zugrunde lägen.

1.7. Bei seiner Einvernahme im nunmehr zugelassenen Verfahren am 07.06.2016 vor dem BFA, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben. Er beantwortete Fragen zu seinen Lebensumständen und zu seinem Fluchtgrund und legte mehrere Bescheinigungsmittel bezüglich seiner Identität und seines Fluchtvorbringens vor (im Verwaltungsakt unchronologisch vor der Einvernahmeniederschrift eingeordnet).

Er habe die Schule mit Matura abgeschlossen, seine Angaben bei der Erstbefragung seien falsch übersetzt worden. Er legte seine Tazkira (afghanisches Personaldokument) und ein Highschoolabschlusszeugnis sowie Belege zu seiner Integration in Österreich (Trainingsbestätigung Sportverein, Empfehlungsschreiben) vor. Seine Reisekosten habe er zum Teil gespart, einen Teil habe ihm ein Freund geliehen.

Bezüglich seines Fluchtvorbringens legte er eine Arbeitsbestätigung von Delta Company - Army vom 25.03.2011, ein Zertifikat für Einsatz als Dolmetscher Taske Force Helmand, ein Schreiben der Britischen Botschaft in Kabul vom 24.04.2014 und sieben Farbfotos vor.

Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF an (Auszug aus der Einvernahmeniederschrift, Schreibfehler teilweise korrigiert):

"VP [Verfahrenspartei]: Im März 2011 beendete ich die Arbeit als Dolmetscher bei der NATO, weil ich in Kriegseinsätzen immer dem Risiko einer Tötung durch Feuergefechte ausgesetzt war. Ich blieb danach ca. zwei Monate zuhause. Alle Nachbarn, Bekannte haben mittlerweile mitbekommen, dass ich als Dolmetscher gearbeitet habe. Ich bekam nach diesen zwei Monaten einen Anruf, wo mir vorgeworfen wurde, dass ich die NATO-Kräfte unterstütze und ich deshalb nicht am Leben gelassen werde. Ich wollte danach das Land verlassen, aber ich hatte kein Geld und fing wieder als Hilfsarbeiter zu arbeiten an, wo auch immer Arbeit war. In den nächsten vier Jahren wurde ich mehrmals angerufen, ca. zwei Mal pro Jahr. Die Anrufe beinhalteten immer die gleiche Botschaft, wie auch oben angegeben. Persönlich habe ich sie nie getroffen.

LA [Leiter der Amtshandlung]: Warum haben die Taliban Sie nicht schon früher aufgesucht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Taliban insgesamt vier Jahre warten würden, bevor sie tätig werden?

VP: Ich ging immer verhüllt vom Haus weg und gab mich auch nicht zu erkennen.

LA: Woher glauben Sie, haben die Taliban Ihre Telefonnummer herausbekommen?

VP: Ich weiß es nicht, vielleicht haben die Bekannten die Nummer weitergegeben.

LA: Haben Sie Ihre Telefonnummer je gewechselt?

VP: Ich habe die Nummer ca. drei bis vier Mal gewechselt, dennoch fanden die Taliban die Nummer immer wieder heraus.

LA: Beschreiben Sie mir den letzten Tag, als Sie Ihr Heimatland verlassen haben.

VP: Ich bin in der Früh aufgestanden, packte meine Sachen und bin gegangen. Meine Familie meinte, dass es ihnen nach meinem Verlassen wieder besser gehen würde und sie nicht mehr in Gefahr sein würden.

LA: Sie gaben an, als Dolmetscher für die NATO gearbeitet zu haben. Stellen Sie sich mir als Dolmetscher in Englisch vor.

VP: My Name is XXXX . (Anmerkung: Die VP spricht sehr gut Englisch)

LA: Wie hieß das NATO - Camp, und wo genau befand es sich?

VP: Das amerikanische Camp hieß Phönix und das andere hieß Camp Sottar, dort habe ich die Aufnahmetestung gemacht. Beide Camps waren ca. 40 Minuten mit dem Auto von mir zuhause entfernt. Die Bezirke kann ich nicht nennen. Ich habe in der Provinz Helmand meinen Einsatz als Dolmetscher geleistet. Nach ca. vier Monaten Einsatz bin ich kurzfristig nachhause und danach wieder dorthin. Ich wurde immer mittels Militärflugzeug nach Helmand gebracht und innerhalb der Provinzen mit dem Helikopter (Shinak).

LA: Wer war dort Kommandant, und welchen Rang hatte er?

VP: Es war Major NICK, ein britischer Offizier.

LA: Welche Zutrittsberechtigungen hatten Sie? Wo sind Ihre Berechtigungskarten und wie sahen diese aus?

VP: Es gab drei Kontrollpunkte in einem Camp in Helmand. Es hatte die Größe einer Checkkarte, und sie war grün, und mein Name stand darauf.

LA: Wie funktionierten die Kontrollen in dem Camp? Gab es sie überhaupt?

VP: Wenn man zum Essen ging, mussten wir die Karten vorzeigen. Wenn man von außen reinkam, wurde auch dort kontrolliert.

LA: Wer war Ihre Kontaktperson?

VP: Wenn ich Urlaub hatte, bekam ich vorher genaue Daten, um mich wieder rechtzeitig am Abreisepunkt einzufinden.

LA: Wurden Sie für Ihre Übersetzungen bezahlt? Wenn ja, wie viel bekamen Sie? Wie wurden Sie bezahlt?

VP: Ich habe ca. 1.000-1.200 USD in bar im Monat, je nach Einsatz, bekommen.

LA: Hatten Sie einen Vertrag? Wenn ja, wo befindet sich dieser?

VP: Ja. Ich hatte einen Vertrag, habe aber keine Kopie davon erhalten.

LA: Warum haben Sie keinen Schutz bei der Nato gesucht?

VP: Ich bin zur britischen Botschaft gegangen, um ein Visum für England zu beantragen. Sie haben aber nichts gemacht.

LA: Haben Sie sich an die Polizei oder den Dorfältesten gewandt?

VP: Nein, weil die Polizei in Kabul machtlos ist. Ich kenne leider den Dorfältesten nicht.

LA: Warum sind Sie nicht in einen anderen Bezirk von Kabul gegangen? Die Stadt hat über fünf Millionen Einwohner, und es besteht dort keine Meldepflicht. Man würde Sie dort nicht finden.

VP: Die Sicherheitslage ist allgemein sehr schlecht. Ich könnte nirgends woanders leben. [...]"

1.8. Mit Eingabe vom 12.06.2016 übermittelte der BF - wie in seiner Einvernahme am 07.06.2016 angekündigt - eine Kopie seines Reisepasses, den er verloren und dessen Kopie ihm sein Bruder nun geschickt habe.

Bei seiner fortgesetzten Einvernahme am 09.09.2016 vor dem BFA, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, wurde der BF zu den Daten in seiner Tazkira und im Reisepass, zu den Umständen des Erhalts seiner Telefonnummern, zu seiner Reise sowie zu den Umständen der telefonischen Drohanrufe und des Erhalts der von ihm vorgelegten Bestätigungen bezüglich seines Fluchtvorbringens befragt.

Der BF beantwortete diese Fragen schlüssig und nachvollziehbar und gab weiters an, dass er Angehöriger der Volksgruppe der Araber sei. Er habe dies früher nicht gewusst, aber nun seinen Vater gefragt, der ihm dies gesagt habe.

1.9. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 06.10.2016 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 19.05.2015 [richtig: 18.05.2015] gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.)

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Der BF habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Bezüglich seines Fluchtvorbringens wurde der "Tätigkeit [des BF] als Dolmetscher für die NATO [...] Glauben geschenkt." Seinen "behaupteten erhaltenen Drohanrufen [wurde] jedoch kein Glauben geschenkt." Begründet wurde diese Beurteilung mit (unterstellten) Unstimmigkeiten und Unplausibilitäten in den Angaben des BF.

1.10. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines Vertreters vom 21.10.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und der "Verletzung von Verfahrensvorschriften" ein.

In der weitwendigen Beschwerdebegründung wurde - nach für dieses Verfahren nicht relevanten Rechtsausführungen zur Verfassungsmäßigkeit der Dauer der Rechtsmittelfrist - Auszüge aus diversen Berichten zu Afghanistan zur Gefahrenlage von Dolmetschern und zur Sicherheitslage in Kabul zitiert. Der BF werde wegen unterstellter politischer Gesinnung von den Taliban verfolgt.

Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

1.11. Das BVwG veranlasste die Übersetzung der vom BF vorgelegten Schriftstücke (Schulzeugnis, Tazkira, Reisepass).

1.12. Mit Schreiben vom 27.11.2017 legte der BF weitere Integrationsbelege vor (Pflichtschulabschlusszeugnis, Schulbesuchsbestätigung einer Fachschule für Obstbau, Bestätigung seiner Gemeinde über die Ausübung gemeinnütziger Tätigkeiten).

1.13. Das BVwG führte am 26.08.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF im Beisein seines Vertreters persönlich erschien. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an einer Verhandlung.

Dabei bestätigte der BF seine Angaben zu seinen Lebensumständen. Sein genaues Geburtsdatum sei ihm nicht bekannt. In seiner Tazkira und in seinem Reisepass sei - wie üblich - ein Familienname nicht vermerkt. Er habe XXXX gewählt, weil ihm dessen Bedeutung ("Freund des Rechts") gefalle. Der Reisepass sei in Nangarhar ausgestellt worden, da in seiner Tazkira als Herkunftsprovinz Nangarhar angegeben sei.

Bezüglich seiner Gesundheit gab der BF an, dass er keine körperlichen Beschwerden habe. Aufgrund seines langen Aufenthaltes in Österreich und seiner ungewissen Situation sei er aber etwas depressiv geworden und habe auch einen Arzt aufgesucht. Dem vorgelegten fachärztlichen Attest vom 29.10.2018 zufolge litt der BF an Angststörungen und einer depressiven Entwicklung. Medikamente wurden verschrieben.

In Österreich besuche er seit kurzem das Abendgymnasium in Graz und wolle in drei oder vier Jahren die Matura ablegen.

Zu seiner Familie (Mutter) habe er regelmäßig telefonischen Kontakt.

Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der BF nach einer Bestätigung seiner bisherigen Angaben an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

"[...] RI [Richter]: Wieso haben Sie gedolmetscht und Ihre Brüder nicht?

BF: Weil meine Brüder nicht Englisch konnten. Ich habe sehr gut gelernt, hatte gute Noten in der Schule und habe eine Aufnahmeprüfung für das Dolmetschen ablegen müssen.

RI: Wieso haben Sie zuerst Ihren Reisepass angeblich verloren, und wie haben Sie ihn wieder erhalten? Hat Ihr Bruder ihn Ihnen geschickt?

BF: Ich hatte bei der Einreise nach Österreich keine Dokumente dabei. Ich hatte meinen Reisepass verloren, aber zu Hause einige Kopien aufbewahrt, die mir mein Bruder nachgeschickt hat.

RI: Wo und wie lange haben Sie sich vor den Taliban versteckt?

BF: Am 25.03.2011 habe ich meine Stelle als Dolmetscher aufgegeben. Ich bin zwei Monate lang zu Hause geblieben. Ich wurde sogar zu Hause auch bedroht. Ca. vier Jahre lang habe ich mich versteckt und diverse Arbeiten angenommen und an der Arbeitsstätte gewohnt. Ich war Bauarbeiter, Landwirt und Lagerarbeiter.

RI: Wieso kann Ihre Familie dort noch unbehelligt leben?

BF: Sie leben nicht unbehelligt. Sie leben unter Bedrohungen. Falls ihnen etwas passiert, unternimmt die afghanische Regierung überhaupt nichts.

RI: Ist Ihnen Ihre Familie böse?

BF: Meine Familie hat meine Arbeit als Dolmetscher wertgeschätzt. Sie haben gewusst, dass ich für die Familie arbeite, wenn es auch gefährlich war.

RI: Warum haben Sie mit dem Dolmetschen aufgehört?

BF: Weil ich während meiner Tätigkeit als Dolmetscher sehr oft bedroht wurde.

RI: Was heißt sehr oft, und wie wurden Sie bedroht?

BF: Zwei Monate nachdem ich mit der Tätigkeit angefangen habe, habe ich wöchentlich ein bis zwei Drohungen erhalten, bis ich damit aufgehört habe.

RI: Wie haben Sie diese Drohungen erhalten?

BF: Wir haben im Dienst per Funk kommuniziert, da haben sich die Taliban eingeschalten, mich direkt angesprochen und bedroht. Ich habe dies auch schon in der Beschwerde (auf Seite 39) vorgebracht. Ich wurde auch zu Hause telefonisch bedroht.

[...]

RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren müssten?

BF: Es ist klar, dass ich von den Taliban umgebracht werden würde. Dolmetscher werden als Hauptfeinde angesehen. Die Taliban gehen davon aus, das aufgrund unserer Tätigkeit sehr viele ihrer Mitglieder umgekommen sind. Auf Youtube sind sehr viele Beiträge zu sehen, wie sie mit Dolmetschern umgehen. Meines Wissens nach ist auch UNHCR bekannt, wie gefährlich das Leben der Dolmetscher in Afghanistan ist."

Der RI brachte unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem BVwG vorliegenden Informationen die der Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte in das gegenständliche Verfahren ein. Er erklärte die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legte er die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar, folgte dem Vertreter des BF [BFV] Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gab ihm die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

"BFV: Waren Sie auch an bewaffneten Kampfeinsätzen gegen die Taliban beteiligt?

BF: Ja, ich war in einer militärischen Gruppe tätig. Wir waren immer mit Funk unterwegs.

BFV: Wie oft, und können Sie diese Tätigkeit näher beschreiben?

BF: Die meisten unserer Einsätze waren kriegerisch.

BFV: Wurden Sie im Rahmen dieser Einsätze von den Taliban direkt bedroht?

BF: Ja, über Funk.

BFV: Gibt es Personen, die bezeugen können, dass Sie dort im Rahmen von Einsätzen gedolmetscht haben?

BF: Ja, ich kenne zwei frühere Mitarbeiter. Einer lebt in Österreich und hat Asylstatus zuerkannt bekommen, der andere bekam in Deutschland Asyl. Ich kann den in Österreich lebenden Kollegen ersuchen, persönlich oder schriftlich für mich Zeugenschaft abzulegen, den in Deutschland lebenden nur schriftlich.

BFV: Sind bei diesen Kampfeinsätzen Talibankämpfer ums Leben gekommen?

BF: Ja."

Dem BF wurde auf sein Ersuchen für die ergänzende Nachbringung von weiteren Belegen hinsichtlich seiner angegebenen Fluchtgründe eine Frist von vier Monaten eingeräumt.

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Dem BFA wurden die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt. Es hat dazu keine Stellungnahme abgegeben.

1.14. Mit ergänzender Eingabe binnen gewährter Nachfrist vom 30.10.2019 legte der BF vier schriftliche und unterschriebene Bestätigungen von in Österreich bzw. Deutschland aufhältigen Landsleuten - ehemaligen Arbeitskollegen - (mit Personalia und Adresse) über die Dolmetschertätigkeit des BF für britische Militäreinheiten in Afghanistan sowie ein Konvolut an Fotos, auf welchen der BF bei seiner Tätigkeit für britische Militäreinheiten abgebildet ist, vor.

Auch diese Eingabe wurde dem BFA übermittelt.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 19.05.2015 und der Einvernahmen vor dem BFA am 16.07.2015, 07.06.2016 und 09.09.2016, die Aktenvorgänge zum Dublinverfahren des BF betreffend Ungarn, die vom BF vorgelegten Beweismittel zu seiner Identität und zu seinem Fluchtvorbringen (Schulzeugnis, Tazkira, Reisepass, Militärbestätigungen) sowie Belege bezüglich seiner Integration in Österreich (Deutschkurs- und Schulbesuchsbestätigungen, Pflichtschulabschlusszeugnis, Empfehlungsschreiben), den gegenständlich angefochtenen Bescheid sowie die Beschwerde vom 21.10.2016

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 284 bis 337; Auszug aus dem Dossier der Staatendokumentation "AfPAK-Grundlagen der Stammes- und Clanstruktur zum Thema Araber in Afghanistan")

* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 26.08.2019 sowie Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren ergänzend vorgelegten Belege zu seiner Gesundheit, zu seinem Fluchtvorbringen und zu seiner Integration

* Einsicht in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vom BVwG zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

? Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 04.06.2019) sowie

? Auszug aus einer gutachterlichen Stellungnahme eines Ländersachverständigen für Afghanistan (Dr. Sarajuddin Rasuly in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem Asylgerichtshof am 13.06.2012 im Verfahren C15 410.319-1/2009) zum Vorbringen des BF, er habe für ausländische Organisationen als Dolmetsch gearbeitet und werde deshalb von den gegen diese kämpfenden Taliban verfolgt

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Araber und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht auch Farsi und Paschtu sowie etwas Urdu, Englisch und Deutsch.

3.1.2. Der BF stammt aus XXXX (Provinz Nangarhar) und ist als Kind mit seiner Familie nach Kabul verzogen. Seine Familie (Eltern, vier Brüder , drei Schwestern) lebt nach wie vor in Kabul. Der BF hat zwölf Jahre (davon acht Jahre in Jalalabad, Nangarhar) die Schule besucht und die zwölfte Klasse der High School in Kabul absolviert. Der BF hat Kontakt zu seiner Familie.

3.1.3. Der BF bemüht sich in Österreich engagiert und erfolgreich um seine Integration. Er hat den Pflichtschulabschluss absolviert, Schulen besucht, besucht derzeit einen Deutschförderkurs B1 und das Abendgymnasium Graz, hat gemeinnützige Tätigkeiten für die Wohnsitzgemeinde ausgeübt, ist Mitglied in einem Sportverein und hat mehrere Empfehlungsschreiben (darunter einer evangelische Pfarrerin) vorgelegt.

3.1.4. Der BF leidet aufgrund seiner Lebenssituation an gesundheitlichen (psychischen) Problemen. Laut vorgelegtem fachärztlichen Attest vom 29.10.2018 litt der BF an Angststörungen und einer depressiven Entwicklung. Medikamente wurden verschrieben.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF arbeitete von 2006 bis 2010 als Hilfsarbeiter auf Baustellen.

Ab Oktober 2010 war er für britische Militäreinheiten als Dolmetscher tätig. Da er bei Kriegseinsätzen tätig und dort dem Risiko einer Tötung in Feuergefechten ausgesetzt war und weil er telefonisch bzw. per Funk bei seiner Tätigkeit von den Taliban mit dem Tod bedroht wurde, beendete er diese Tätigkeit mit März 2011, wurde aber auch in der Folge von den Taliban weiterhin mit dem Tod bedroht. Obwohl der BF wiederholt seine Telefonnummer wechselte und früh und verhüllt aus dem Haus ging, um seinen Hilfsarbeitertätigkeiten nachzugehen, wurde er weiterhin wiederholt bedroht, sodass er schließlich - auch im Interesse seiner Familie - aus Angst vor den Taliban ins Ausland flüchtete.

3.2.2. Der BF befürchtet, im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner Tätigkeit als Dolmetscher für britische Militäreinheiten in Kriegseinsätzen wegen (zumindest unterstellter) politischer bzw. religiöser Gesinnung von den Taliban getötet zu werden.

3.2.3. Dem BF steht eine zumutbare innerstaatliche Flucht- bzw. Schutzalternative nicht zur Verfügung, zumal er landesweit aufgefunden werden könnte und die staatlichen Einrichtungen seines Herkunftsstaates nicht hinreichend imstande wären, ihn vor dieser Verfolgung zu schützen.

3.2.4. Es liegen keine Gründe vor, nach denen der BF von der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten auszuschließen ist.

3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

3.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 13.11.2019", Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Afghanistan ist ein Zentralstaat mit 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind (AA 15.04.2019). Auf einer Fläche von ca. 632.000 Quadratkilometern (CIA 24.05.2019) leben ca. 32 Millionen Menschen (CSO 2019).

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.02.2015), und die Provinzvorsteher, sowie andere wichtige Verwaltungsbeamte, werden direkt vom Präsidenten ernannt und sind diesem rechenschaftspflichtig. Viele werden aufgrund persönlicher Beziehungen ausgewählt (EC 18.05.2019).

In Folge der Präsidentschaftswahlen 2014 wurde am 29.09.2014 Mohammad Ashraf Ghani als Nachfolger von Hamid Karzai in das Präsidentenamt eingeführt. Gleichzeitig trat sein Gegenkandidat Abdullah Abdullah das Amt des Regierungsvorsitzenden (CEO) an - eine per Präsidialdekret eingeführte Position, die Ähnlichkeiten mit der Position eines Premierministers aufweist. Ghani und Abdullah stehen an der Spitze einer Regierung der nationalen Einheit (National Unity Government, NUG), auf deren Bildung sich beide Seiten in Folge der Präsidentschaftswahlen verständigten (AA 15.04.2019; vgl. AM 2015, DW 30.9.2014). Bei der Präsidentenwahl 2014 gab es Vorwürfe von Wahlbetrug in großem Stil (RFE/RL 29.05.2019). Die ursprünglich für den 20.04.2019 vorgesehene Präsidentschaftswahl wurde mehrfach verschoben, da die Wahlbehörden auf eine landesweite Wahl so kurz nach der Parlamentswahl im Oktober 2018 nicht vorbereitet waren. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans konnte die Herausforderungen für die Wahlkommission nachvollziehen und verlängerte die Amtszeit von Präsident Ashraf Ghani bis zu der auf den 28.09.2019 verschobenen Präsidentschaftswahl (DZ 21.4.2019).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus zwei Kammern: dem Unterhaus oder Volksvertretung (Wolesi Jirga) mit 250 Abgeordneten (für fünf Jahre gewählt), sowie dem Oberhaus oder Ältestenrat (Meschrano Jirga) mit 102 Abgeordneten (AA 15.04.2019).

Das Oberhaus setzt sich laut Verfassung zu je einem Drittel aus Vertretern der Provinz- und Distrikträte zusammen. Das letzte Drittel der Senatoren wird durch den Präsidenten bestimmt (AA 15.04.2019). Die Hälfte der vom Präsidenten entsandten Senatoren müssen Frauen sein. Weiters vergibt der Präsident zwei Sitze für die nomadischen Kutschi und zwei weitere an behinderte Personen. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 13.03.2019).

Die Sitze im Unterhaus verteilen sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 13.03.2019, Casolino 2011).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Ob das neue Parlament, das sich nach den Wahlen vom Oktober 2018 erst mit erheblicher Verzögerung im April 2019 konstituierte, eine andere Rolle einnehmen kann, muss sich zunächst noch erweisen. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist, doch nutzt das Parlament auch seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die Regierung der Nationalen Einheit als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leidet die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 02.09.2019).

Die Präsidentschaftswahlen und Parlamentswahlen finden gemäß Verfassung alle fünf Jahre statt (USIP 11.2013). Mit dreijähriger Verzögerung fanden zuletzt am 20. und 21.10.2018 - mit Ausnahme der Provinz Ghazni - Parlamentswahlen statt (AA 15.04.2019; vgl. USDOS 13.03.2019). Die letzten Präsidentschaftswahlen fanden am 28.09.2019 statt; ein vorläufiges Ergebnis wird laut der unabhängigen Wahlkommission (IEC) für den 14.11.2019 erwartet (RFE/RL 20.10.2019).

Bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 20. und 21.10.2018 gaben etwa vier Millionen der registrierten 8,8 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme ab. In der Provinz Kandahar musste die Stimmabgabe wegen eines Attentats auf den Provinzpolizeichef um eine Woche verschoben werden, und in der Provinz Ghazni wurde die Wahl wegen politischer Proteste, welche die Wählerregistrierung beeinträchtigten, nicht durchgeführt (s.o.). Die Wahl war durch Unregelmäßigkeiten geprägt, darunter Betrug bei der Wählerregistrierung und Stimmabgabe, Einschüchterung der Wähler, und einige Wahllokale mussten wegen Bedrohungen durch örtliche Machthaber schließen. Die Taliban und andere Gruppierungen behinderten die Stimmabgabe durch Drohungen und Belästigungen. Durch Wahl bezogene Gewalt kamen 56 Personen ums Leben, und 379 wurden verletzt. Mindestens zehn Kandidaten kamen im Vorfeld der Wahl bei Angriffen ums Leben, wobei die jeweiligen Motive der Angreifer unklar waren (USDOS 13.03.2019).

Wegen Vorwürfen des Betruges und des Missmanagements erklärte Anfang Dezember 2018 die afghanische Wahlbeschwerdekommission (ECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Die beiden Wahlkommissionen einigten sich in Folge auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen (TN 12.12.2018). Die Provinzergebnisse von Kabul wurden schließlich am 14.05.2019, fast sieben Monate nach dem Wahltag, veröffentlicht. In einer Ansprache bezeichnete Präsident Ghani die Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen als "ineffizient" (AAN 17.05.2019).

Politische Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 29.05.2018). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004) oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011; vgl. MPI 27.01.2004, USDOS 29.05.2018). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (MPI 27.01.2004).

Das kaum entwickelte afghanische Parteiensystem weist mit über 70 registrierten Parteien eine starke Zersplitterung auf (AA 02.09.2019). Die politischen Parteien haben ihren Platz im politischen System Afghanistans noch nicht etablieren können (DOA 17.03.2019). Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien (AA 02.09.2019; vgl. AAN 06.05.2018, DOA 17.03.2019). Ethnische Zugehörigkeit, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen spielen traditionell eine größere Rolle als politische Organisationen (AA 02.09.2019).

Das derzeitige Wahlsystem ist personenbezogen, die Parteien können keine Kandidatenlisten erstellen, es sind keine Sitze für die Parteien reserviert, und es ist den Parteien untersagt, Fraktionen im Parlament zu gründen. Der Parteivorsitz wird nicht durch parteiinterne Abläufe bestimmt, sondern wird eher wie ein partimoniales Erbgut gesehen, das von einer Generation an die nächste, vom Vater zum Sohn, übergeben wird. Die Menschen vertrauen den Parteien nicht, und junge, gebildete Leute sind nicht gewillt, solchen Parteien beizutreten (DOA 17.03.2019).

Die Hezb-e Islami wird von Gulbuddin Hekmatyar, einem ehemaligen Warlord, der zahlreicher Kriegsverbrechen beschuldigt wird, geleitet. Im Jahr 2016 kam es zu einem Friedensschluss, und Präsident Ghani sicherte den Mitgliedern der Hezb-e Islami Immunität zu. Hekmatyar kehrte 2016 aus dem Exil nach Afghanistan zurück und kündigte im Jänner 2019 seine Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen 2019 an (CNA 19.01.2019).

Im Februar 2018 hat Präsident Ghani in einem Plan für Friedensgespräche mit den Taliban diesen die Anerkennung als politische Partei in Aussicht gestellt (DP 16.06.2018). Bedingung dafür ist, dass die Taliban Afghanistans Verfassung und einen Waffenstillstand akzeptieren (NZZ 27.01.2019). Die Taliban reagierten nicht offiziell auf den Vorschlag (DP 16.06.2018; s. folgender Abschnitt, Anm.).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Hochrangige Vertreter der Taliban sprachen zwischen Juli 2018 (DZ 12.08.2019) - bis zum plötzlichen Abbruch durch den US-amerikanischen Präsidenten im September 2019 (DZ 08.09.2019) - mit US-Unterhändlern über eine politische Lösung des nun schon fast 18 Jahre währenden Konflikts. Dabei ging es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan nicht zu einem sicheren Hafen für Terroristen wird. Die Gespräche sollen zudem in offizielle Friedensgespräche zwischen der Regierung in Kabul und den Taliban münden. Die Taliban hatten es bisher abgelehnt, mit der afghanischen Regierung zu sprechen, die sie als "Marionette" des Westens betrachten - auch ein Waffenstillstand war Thema (DZ 12.08.2019; vgl. NZZ 12.08.2019; DZ 08.09.2019).

Präsident Ghani hatte die Taliban mehrmals aufgefordert, direkt mit seiner Regierung zu verhandeln, und zeigte sich über den Ausschluss der afghanischen Regierung von den Friedensgesprächen besorgt (NYT 28.01.2019; vgl. DP 28.01.2019, MS 28.01.2019). Bereits im Februar 2018 hatte Präsident Ghani die Taliban als gleichberechtigte Partner zu Friedensgesprächen eingeladen und ihnen eine Amnestie angeboten (CR 2018). Ein für Mitte April 2019 in Katar geplantes Dialogtreffen, bei dem die afghanische Regierung erstmals an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen wäre, kam nicht zustande (HE 16.05.2019). Im Februar und Mai 2019 fanden in Moskau Gespräche zwischen Taliban und bekannten afghanischen Oppositionspolitikern, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere Warlords, statt (Qantara 12.02.2019; vgl. TN 31.05.2019). Die afghanische Regierung war weder an den beiden Friedensgesprächen in Doha, noch an dem Treffen in Moskau beteiligt (Qantara 12.02.2019; vgl. NYT 07.03.2019), was Unbehagen unter einigen Regierungsvertretern auslöste und die diplomatischen Beziehungen zwischen den beiden Regierungen beeinträchtigte (REU 18.03.2019; vgl. WP 18.03.2019).

Vom 29.04.2019 bis 03.05.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den innerafghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 06.05.2019 bis 04.06.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 06.05.2019). Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil (HE 16.05.2019).

3. Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 03.09.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.04.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.06.2019; vgl. AJ 12.04.2019; NYT 12.04.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.04.2019; vgl. NYT 12.04.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.06.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel, die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.01.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss, als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 08.09.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 03.09.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 07.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.08. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen. (SIGAR 30.04.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte, die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren, und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran, ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig: Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 03.09.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich es keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 03.09.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 07.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 07.12.2018; vgl. ARN 23.06.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 03.09.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.02.2019).

[...]

Für den Berichtszeitraum 10.05. - 08.08.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevante Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 03.09.2019). Für den Berichtszeitraum 08.02 - 09.05.2019 registrierte die UN insgesamt 5249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.06.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.05 - 08.08.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle, bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 03.09.2019).

Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit

29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

[...]

Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.01.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.01.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.04.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.07.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.04.2019; vgl. NYT 19.07.2019).

Zivile Opfer

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 01.01. - 30.09.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.04.2019) berichtet, bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.02.2019; vgl. SIGAR 30.04.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.02.2019).

[...]

High-Profile Angriffe (HPAs)

Sowohl im gesamten Jahr 2018 (USDOD 12.2018), als auch in den ersten fünf Monaten 2019 führten Aufständische, Taliban und andere militante Gruppierungen insbesondere in der Hauptstadtregion weiterhin Anschläge auf hochrangige Ziele aus, um die Aufmerksamkeit der Medien auf sich zu ziehen, die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben und die Wahrnehmung einer weit verbreiteten Unsicherheit zu schaffen (USDOD 6.2019; vgl. USDOD 12.2018). Diese Angriffe sind stetig zurückgegangen (USDOD 6.2019). Zwischen 01.06.2018 und 30.11.2018 fanden 59 HPAs in Kabul statt (Vorjahreswert: 73) (USDOD 12.2018), zwischen 01.12.2018 und 15.05.2019 waren es 6 HPAs (Vorjahreswert: 17) (USDOD 6.2019).

Anschläge gegen Gläubige und Kultstätten, religiöse Minderheiten

Die Zahl der Angriffe auf Gläubige, religiöse Exponenten und Kultstätten war 2018 auf einem ähnlich hohen Niveau wie 2017: bei 22 Angriffen durch regierungsfeindliche Kräfte, meist des ISKP, wurden 453 zivile Opfer registriert (156 Tote, 297 Verletzte), ein Großteil verursacht durch Selbstmordanschläge (136 Tote, 266 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Für das Jahr 2018 wurden insgesamt 19 Vorfälle konfessionell motivierter Gewalt gegen Schiiten dokumentiert, bei denen es insgesamt zu 747 zivilen Opfern kam (223 Tote, 524 Verletzte). Dies ist eine Zunahme von 34% verglichen mit dem Jahr 2017. Während die Mehrheit konfessionell motivierter Angriffe gegen Schiiten im Jahr 2017 auf Kultstätten verübt wurden, gab es im Jahr 2018 nur zwei derartige Angriffe. Die meisten Anschläge auf Schiiten fanden im Jahr 2018 in anderen zivilen Lebensräumen statt, einschließlich in mehrheitlich von Schiiten oder Hazara bewohnten Gegenden. Gezielte Attentate und Selbstmordangriffe auf religiöse Führer und Gläubige führten zu 35 zivilen Opfern (15 Tote, 20 Verletzte) (UNAMA 24.02.2019).

Angriffe im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen im Oktober 2018

Die afghanische Regierung bemühte sich, Wahllokale zu sichern, was mehr als 4 Millionen afghanischen Bürgern ermöglichte zu wählen (UNAMA 11.2018). Und auch die Vorkehrungen der ANDSF zur Sicherung der Wahllokale ermöglichten eine Wahl, die weniger gewalttätig war als jede andere Wahl der letzten zehn Jahre (USDOS 12.2018). Die Taliban hatten im Vorfeld öffentlich verkündet, die für Oktober 2018 geplanten Parlamentswahlen stören zu wollen. Ähnlich wie bei der Präsidentschaftswahl 2014 warnten sie Bürger davor, sich für die Wahl zu registrieren, verhängten "Geldbußen" und/oder beschlagnahmten Tazkiras und bedrohten Personen, die an der Durchführung der Wahl beteiligt waren (UNAMA 11.2018; vgl. USDOS 13.03.2019). Von Beginn der Wählerregistrierung (14.04.2018) bis Ende des Jahres 2018 wurden 1.007 Opfer (226 Tote, 781 Verletzte) sowie 310 Entführungen aufgrund der Wahl verzeichnet (UNAMA 24.02.2019). Am Wahltag (20.10.2018) verifizierte UNAMA 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) durch Wahl bedingte Gewalt. Die höchste Anzahl an zivilen Opfern an einem Wahltag seit Beginn der Aufzeichnungen durch UNAMA im Jahr 2009 (UNAMA 11.2018).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.02.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.08.2019). Währen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten