TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/17 W115 2204369-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.12.2019
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Entscheidungsdatum

17.12.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs4b
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W115 2204367-1/9E

W115 2204370-1/10E

W115 2204368-1/9E

W115 2204369-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

III. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

IV. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Zweitbeschwerdeführer, und ihrer gemeinsamen minderjährigen Tochter, der Drittbeschwerdeführerin, unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten sie am XXXX die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

1.1. Im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab die Erstbeschwerdeführerin im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Usbekisch zusammengefasst an, dass sie afghanische Staatsangehörige sei und der Volksgruppe der Usbeken sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehöre. Ihre Muttersprache sei Usbekisch. Sie sei in Afghanistan in der Provinz XXXX geboren worden. Vor ca. drei Monaten habe sie zusammen mit ihrem Ehemann und ihrer Tochter Afghanistan verlassen und sie seien schlepperunterstützt über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn bis nach Österreich gereist. In Afghanistan würden noch ihre Eltern und ihre fünf Schwestern leben. Ihre drei Brüder würden sich im Iran befinden. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie und ihre Familie aus Angst vor den Taliban Afghanistan verlassen hätten. Diese seien bis heute auch in ihrem Heimatdorf, weswegen sie dorthin nicht zurückkehren könne.

Der Zweitbeschwerdeführer gab im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari im Wesentlichen zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehöre. Seine Muttersprache sei Usbekisch. Er spreche aber auch Dari. Er sei in Afghanistan in der Provinz XXXX geboren worden. Vor ca. drei Monaten habe er zusammen mit seiner Ehefrau und seiner Tochter Afghanistan verlassen und sie seien schlepperunterstützt über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn bis nach Österreich gereist. In Afghanistan würden noch seine Mutter und seine Geschwister leben. Sein Vater sei bereits verstorben. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er und seine Familie von den Taliban bedroht worden seien. Sie hätten von ihm Geld verlangt und seien auch zu ihm nach Hause gekommen. Aus diesem Grund habe er gemeinsam mit seiner Ehefrau und seiner Tochter Afghanistan verlassen. Bei einer Rückkehr habe er Angst vor den Taliban.

1.2. Im weiteren Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens wurden von der Erstbeschwerdeführerin, vom Zweitbeschwerdeführer und von der Drittbeschwerdeführerin ihre afghanischen Reisepässe sowie ihre Tazkiras in Vorlage gebracht.

1.3. Die vorgelegten afghanischen Reisepässe und Tazkiras wurden vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Kurzbezeichnung BFA; in der Folge belangte Behörde genannt) einer kriminaltechnischen Untersuchung unterzogen.

Aus den Untersuchungsberichten der Landespolizeidirektion XXXX jeweils vom XXXX geht hervor, dass keine Anhaltspunkte für eine Fälschung oder Verfälschung festgestellt werden konnten.

1.4. Am XXXX wurde die Viertbeschwerdeführerin, Tochter der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers, in Österreich geboren und stellte die Erstbeschwerdeführerin für sie als gesetzliche Vertreterin am XXXX im Rahmen eines Familienverfahrens einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.5. Nach Zulassung der Verfahren durch Ausfolgung von Aufenthaltsberechtigungskarten wurden die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer am XXXX vor der belangten Behörde im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Usbekisch niederschriftlich einvernommen.

Die Erstbeschwerdeführerin gab im Wesentlichen zusammengefasst an, dass ihre bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Sie sei afghanische Staatsangehörige und gehöre der Volksgruppe der Usbeken sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams an. Sie sei in der Provinz XXXX geboren und habe bis zu ihrer Ausreise auch dort gelebt. Befragt zu ihren Familienverhältnissen gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie zusammen mit ihrem Ehemann und ihren Töchtern in Österreich leben würde. Sie und ihr Ehemann hätten in Afghanistan im Heimatdorf geheiratet. Zum Zeitpunkt ihrer Ausreise hätten sich in Afghanistan noch ihre Mutter, ihre fünf Schwestern sowie eine Tante mütterlicherseits aufgehalten. Ihre drei Brüder würden sich im Iran befinden. Ihr Vater sei bereits verstorben. Er sei vor einem Jahr von den Taliban getötet worden. Dies habe ihr einer von ihren Brüdern erzählt. Befragt zu ihrer Schul- und Berufsausbildung gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie weder lesen noch schreiben könne. Sie habe in Afghanistan auch keinen Beruf ausgeübt. In Österreich habe sie mittlerweile etwas Deutsch gelernt. Befragt zu ihren Fluchtgründen gab die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst an, dass ihr Ehemann in das Visier der Taliban geraten und von ihnen mit dem Tod bedroht worden sei. Die Taliban seien auch bei ihnen zu Hause gewesen und hätten ihren Ehemann geschlagen. Kurze Zeit später sei ihr Ehemann von den Taliban entführt worden und erst durch die Zahlung eines Lösegeldes wieder freigelassen worden. Aufgrund der Bedrohung durch die Taliban hätten sie Afghanistan verlassen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würden sie und ihre Familie von den Taliban getötet werden. Ihr Vater sei bereits von ihnen getötet worden. Zu ihrer Situation in Österreich befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie vor der Geburt der Viertbeschwerdeführerin einen Deutschkurs besucht habe. Sie gehe einkaufen und würde ihre Nachbarn besuchen. Befragt zu ihrer Zukunft in Österreich gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie hier einen Beruf erlernen wolle.

Der Zweitbeschwerdeführer gab im Wesentlichen zusammengefasst an, dass seine bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Er sei afghanischer Staatsangehöriger und gehöre der Volksgruppe der Usbeken sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams an. Er sei in Afghanistan in der Provinz XXXX geboren und habe bis zu seiner Ausreise auch dort gelebt. Befragt zu seinen Familienverhältnissen gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er hier in Österreich zusammen mit seiner Ehefrau und seinen beiden Töchtern lebe. Er und seine Ehefrau hätten in Afghanistan im Heimatdorf geheiratet. Seine Mutter, seine zwei Schwestern und seine fünf Brüder würden mittlerweile in der Türkei leben. Sein Vater sei vor vier Jahren verstorben. In Afghanistan verfüge er nur mehr über eine Tante väterlicherseits. Wo sich diese genau aufhalte, wisse er jedoch nicht. Befragt zu seiner Schul- und Berufsausbildung gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er weder lesen noch schreiben könne. Er habe in Afghanistan einen Tanklaster besessen und Gas verkauft. Weiters habe er auch in der Landwirtschaft gearbeitet. Von diesen Einkünften habe er und seine Familie gelebt. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Zweitbeschwerdeführer zusammengefasst an, dass er in das Visier der Taliban geraten und von ihnen mit dem Tod bedroht worden sei. Die Taliban seien auch bei ihm zu Hause gewesen und hätten ihn geschlagen. Kurze Zeit später sei er von ihnen entführt worden und erst durch die Zahlung eines Lösegeldes wieder freigelassen worden. Aufgrund der Bedrohung durch die Taliban hätte er gemeinsam mit seiner Familie Afghanistan verlassen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde er von den Taliban getötet werden. Auch sein Schwiegervater sei von ihnen getötet worden. Zu seiner Situation in Österreich befragt, gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er mittlerweile etwas Deutsch gelernt habe. Er habe auch freiwillige Arbeiten geleistet. Befragt zu seiner Zukunft in Österreich gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er hier gerne arbeiten würde. Weiters sei es sein Wunsch, dass seine Kinder hier die Schule besuchen würden.

Weiters wurden den Beschwerdeführern von der belangten Behörde Länderfeststellungen zu Afghanistan vorgehalten und ihnen die Möglichkeit eingeräumt, dazu Stellung zu nehmen.

Im Zuge der Einvernahme wurden von den Beschwerdeführern eine afghanische Heiratsurkunde, Unterlagen betreffend die Bedrohung durch die Taliban sowie integrationsbescheinigende Unterlagen in Vorlage gebracht.

1.6. Mit den im Spruch genannten Bescheiden wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.); die Anträge bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.); ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.); gegen die Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

1.7. Mit Verfahrensanordnung der belangten Behörde vom XXXX wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

1.8. Gegen die im Spruch genannten Bescheide der belangten Behörde erhob der bevollmächtigte Vertreter der Beschwerdeführer unter Berufung auf die erteilte Vollmacht fristgerecht eine gemeinsame Beschwerde, mit der die Bescheide vollinhaltlich angefochten wurden. In der Begründung wurde der Beweisführung sowie der rechtlichen Beurteilung der belangten Behörde substantiiert entgegengetreten. Zudem wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.

2. Die gegenständlichen Beschwerden samt Verwaltungsakte langten der Aktenlage nach am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.

2.1. Mit Schriftsatz vom XXXX wurden vom bevollmächtigten Vertreter der Beschwerdeführer weitere integrationsbescheinigende Unterlagen in Vorlage gebracht.

2.2. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte in der Folge eine mündliche Verhandlung für den XXXX an.

2.3. Mit Schriftsatz vom XXXX wurde vom bevollmächtigten Vertreter der Beschwerdeführer in Ergänzung des Beschwerdevorbringens vorgebracht, dass aufgrund der prekären Sicherheits- und Versorgungslage eine Rückkehr der Beschwerdeführer - eine Familie mit zwei kleinen Töchtern - nach Afghanistan ausgeschlossen sei.

Darüber hinaus wurden weitere integrationsbescheinigende Unterlagen in Vorlage gebracht.

2.4. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX brachten die Beschwerdeführer nach Erläuterung des bisherigen Verfahrensganges und des Akteninhaltes im Beisein des bevollmächtigten Vertreters sowie einer Dolmetscherin für die Sprache Usbekisch auf richterliche Befragung im Wesentlichen zusammengefasst vor, dass ihre bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Sie seien afghanische Staatsangehörige und würden der Volksgruppe der Usbeken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehören. Ihre Muttersprache sei Usbekisch. Befragt zu ihrem Herkunftsort gaben die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer übereinstimmend an, dass sie beide im gleichen Dorf in der Provinz XXXX geboren worden seien und bis zu ihrer gemeinsamen Ausreise auch dort gelebt hätten. Befragt zu ihrer Schul- und Berufsausbildung gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie in Afghanistan nur ein Jahr die Schule besucht habe und in ihrer Muttersprache weder lesen noch schreiben könne. In Österreich habe sie mittlerweile Deutsch gelernt und könne in dieser Sprache bereits ein wenig lesen und schreiben. In Afghanistan sei sie nicht berufstätig gewesen. Vom Zweitbeschwerdeführer wurde in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass er in Afghanistan ebenfalls nur ein Jahr die Schule besucht habe und in seiner Muttersprache auch nicht lesen und schreiben könne. Auch er habe in Österreich Deutsch gelernt und könne mittlerweile in dieser Sprache ein wenig lesen und schreiben. Befragt zu seiner beruflichen Tätigkeit in Afghanistan gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er einen Tanklastwagen besessen und Gas verkauft habe. Befragt zu ihren Familienverhältnissen gaben die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer übereinstimmend an, dass sie ca. drei Jahre vor ihrer Ausreise aus Afghanistan geheiratet hätten. In Österreich würden sie gemeinsam mit ihren beiden Töchtern in einem gemeinsamen Haushalt leben. Befragt zu ihren weiteren Familienmitgliedern gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihre Mutter und ihre fünf Schwestern nach wie vor in Afghanistan leben würden. Ihre drei Brüder würden sich im Iran aufhalten. Ihr Vater sei bereits verstorben. Weiters verfüge sie noch über eine Tante mütterlicherseits, sie wisse jedoch nicht, wo sich diese aufhalte. Der Zweitbeschwerdeführer gab in diesem Zusammenhang an, dass seine Mutter, eine von seinen beiden Schwestern und seine fünf Brüder in der Türkei leben würden. Wo sich seine zweite Schwester im Moment aufhalte, wisse er nicht. Sein Vater sei bereits verstorben. In Afghanistan verfüge er noch über eine Tante väterlicherseits. Wo sich diese im Moment genau aufhalte, wisse er jedoch nicht. Übereinstimmend gaben die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer an, dass sie im Jahr XXXX gemeinsam mit ihrer ältesten Tochter Afghanistan verlassen hätten und schlepperunterstützt bis nach Österreich gereist seien.

Zu ihrer Situation in Österreich befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen zusammengefasst an, dass sie bislang nur einen Deutschkurs besuchen habe können, da in dem Ort wo sie wohne, keine weiteren Deutschkurse angeboten worden seien. Sie habe aber nach dem Besuch dieses Deutschkurses selbstständig weiter Deutsch gelernt. Sollte es die Möglichkeit geben, wieder einen Deutschkurs zu besuchen, würde sie an einem solchen teilnehmen. Auch mit ihrer österreichischen Freundin unterhalte sie sich auf Deutsch. Zu ihrer Zukunft in Österreich gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie bestrebt sei die deutsche Sprache noch besser zu erlernen. Weiters wolle sie gerne als Köchin arbeiten, da sie ihr eigenes Geld verdienen und ein selbstständiges Leben führen wolle. Diese Möglichkeit habe sie in Afghanistan nicht gehabt. Ihr gefalle es, dass in Österreich die Frauen frei leben können und arbeiten gehen dürfen. In ihrer Freizeit treffe sie sich regelmäßig mit ihrer österreichischen Freundin und sie würden gemeinsam einkaufen oder spazieren gehen. Wenn sie nicht mit ihrer Freundin unterwegs sei, gehe sie auch alleine einkaufen. Weiters gehe sie auch gerne laufen. Befragt gab die Erstbeschwerdeführerin dazu an, dass sie dabei normale Sportbekleidung trage. Zudem sei sie gerade dabei schwimmen zu lernen und besuche regelmäßig gemeinsam mit ihren Töchtern und ihrer Freundin ein Schwimmbad. Manchmal würde sie dabei auch ihr Ehemann begleiten. Beim Schwimmen würde sie wie alle anderen österreichischen Frauen einen Badeanzug tragen. Zudem trage sie seit ca. eineinhalb Jahren kein Kopftuch mehr. Sie würde sich zudem schminken, Schmuck tragen und sich auch wie andere österreichische Frauen kleiden. Befragt zu ihrer Ehe gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie sich gleichberechtigt neben ihrem Ehemann sehe. Sie verwalte auch das Familieneinkommen und gehe ohne Begleitung ihres Ehemannes außer Haus. Sie müsse ihren Ehemann auch nicht um Erlaubnis fragen, wenn sie etwas alleine unternehmen wolle. Befragt zur Erziehung ihrer Töchter gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie sich diese mit ihrem Ehemann teile. Wenn sie alleine außer Haus gehe, passe ihr Ehemann auch auf die Kinder auf. Ihr sei es wichtig, dass ihre Töchter in Österreich eine Ausbildung absolvieren und danach einen Beruf ergreifen. Ihre Töchter würden später einmal selbst entscheiden können, was ihre Ausbildung, ihre Partnerwahl oder ihre Religionszugehörigkeit betreffe. In dieser Hinsicht werde sie ihnen keine Vorgaben machen. Sie wolle nicht, dass ihre beiden Töchter die gleichen Probleme haben würden, wie sie in Afghanistan. Sie selbst habe als Frau dort kein freies Leben gehabt. Sie habe nicht einmal alleine das Haus verlassen dürfen. Ihre älteste Tochter besuche auch bereits den Kindergarten (Anmerkung: In diesem Zusammenhang wurde von der Erstbeschwerdeführerin eine Bestätigung über den Kindergartenbesuch der Drittbeschwerdeführerin vom XXXX in Vorlage gebracht.). Weiters wurde von der Erstbeschwerdeführerin ergänzend angegeben, dass sie ihre älteste Tochter auch immer nach dem Frühstück in den Kindergarten bringe und sie von dort auch wieder abhole. Bei diesen Gelegenheiten würde sie sich auch immer wieder mit der Kindergartenpädagogin unterhalten und sich erkundigen, wie es ihrer Tochter im Kindergarten gehe. Sie begleite ihre Tochter - manchmal zusammen mit ihrem Ehemann - auch zu Veranstaltungen im Kindergarten und helfe dort auch mit. Zuletzt seien sie auf einer Halloweenparty und auf einem Laternenfest gewesen. Auch habe sie die Weihnachtsfeier ihrer Tochter im Kindergarten besucht. Bei diesen Anlässen habe sie auch schon Kontakte zu anderen Eltern geknüpft und diese würden dann an den Wochenenden gemeinsam mit ihren Kindern zu ihnen nach Hause auf Besuch kommen.

Nach Erörterung jener Länderberichte, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden, wurde vom bevollmächtigten Vertreter der Beschwerdeführer zusammengefasst ausgeführt, dass für die Erstbeschwerdeführerin aufgrund ihrer westlichen Orientierung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan eine Gefahr der Verfolgung gegeben sei.

Darüber hinaus wurde vom bevollmächtigten Vertreter ein Konvolut an integrationsbescheinigenden Unterlagen (darunter u.a. eine Bestätigung hinsichtlich des Besuches eines Deutschkurses durch die Erstbeschwerdeführerin sowie diverse Empfehlungsschreiben hinsichtlich der bereits erfolgten Integration der Erstbeschwerdeführerin und ihrer Familie in Österreich) in Vorlage gebracht.

2.5. Weiters wurde vom Bundesverwaltungsgericht eine Kopie der Niederschrift der mündlichen Verhandlung der belangten Behörde übermittelt. Eine Stellungnahme dazu wurde von dieser nicht erstattet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer tragen die im Spruch genannten Namen und sind am XXXX (Erstbeschwerdeführerin), am XXXX (Zweitbeschwerdeführer), am XXXX (Drittbeschwerdeführerin) sowie am XXXX (Viertbeschwerdeführerin) geboren. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind verheiratet und die Eltern der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin und der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer haben, bevor sie nach Österreich eingereist sind, in Afghanistan geheiratet.

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, gehören der Volksgruppe der Usbeken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams an. Die Erstbeschwerdeführerin, der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin sind in der Provinz XXXX geboren und haben bis zu ihrer Ausreise nach Österreich dort gelebt. Die Viertbeschwerdeführerin ist in Österreich geboren. Die Mutter der Erstbeschwerdeführerin und ihre fünf Schwestern leben nach wie vor in Afghanistan. Ihre drei Brüder halten sich im Iran auf. Weiters verfügt die Erstbeschwerdeführerin über eine Tante mütterlicherseits, deren Aufenthalt ihr jedoch nicht bekannt ist. Der Vater der Erstbeschwerdeführerin ist bereits verstorben. Die Mutter des Zweitbeschwerdeführers, seine fünf Brüder sowie eine von seinen beiden Schwestern halten sich zum Entscheidungszeitpunkt in der Türkei auf. Der Aufenthalt seiner zweiten Schwester ist dem Zweitbeschwerdeführer nicht bekannt. Weiters verfügt der Zweitbeschwerdeführer noch über eine Tante väterlicherseits in Afghanistan. Sein Vater ist bereits verstorben.

Im Jahr XXXX haben die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer gemeinsam mit der Drittbeschwerdeführerin Afghanistan verlassen und sind schlepperunterstützt nach Österreich gereist und haben hier am XXXX für sich und die minderjährige Drittbeschwerdeführerin die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Der Antrag auf internationalen Schutz für die minderjährige Viertbeschwerdeführerin ist am XXXX durch die Erstbeschwerdeführerin gestellt worden.

Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Usbekisch. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer können in dieser Sprache weder lesen und schreiben. Die Erstbeschwerdeführerin verfügt über bereits fortgeschrittene Kenntnisse der deutschen Sprache. Die Erstbeschwerdeführerin verfügt über keine Schul- und Berufsausbildung und hat in Afghanistan nicht gearbeitet. Der Zweitbeschwerdeführer verfügt ebenfalls über keine Schul- und Berufsausbildung. In Afghanistan hat er in der Landwirtschaft gearbeitet sowie einen Tanklastwagen besessen und Gas verkauft.

Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur Situation der Erstbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine selbstständige Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Sie kleidet sich nach westlicher Mode und schminkt sich. Auf das Tragen des Kopftuches wird verzichtet. Die Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich bereits einen Deutschkurs besucht und ist bestrebt, ihre bereits vorhandenen Kenntnisse der deutschen Sprache weiter zu verbessern. Sie beabsichtigt zudem einen Beruf auszuüben, um in Österreich berufliche und wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erlangen. Sie bewältigt ihren Alltag in Österreich selbstständig und sieht sich als gleichberechtigt neben ihrem Ehemann an. Die Erstbeschwerdeführerin teilt sich die Erziehung ihrer Kinder mit ihrem Ehemann und das Familieneinkommen wird von ihr verwaltet. Die Erstbeschwerdeführerin will ihre beiden Töchter frei von Zwängen erziehen und ist sehr darum bemüht, dass sie in Österreich eine gute Schul- und Berufsausbildung erhalten, damit sie ein selbstbestimmtes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führen können. In dieser Hinsicht werden ihre Kinder aktiv von ihr unterstützt. So sucht die Erstbeschwerdeführerin regelmäßig das Gespräch mit der Kindergartenpädagogin der Drittbeschwerdeführerin und erkundigt sich, wie es ihrer Tochter im Kindergarten geht. Weiters besucht die Erstbeschwerdeführerin gemeinsam mit der Drittbeschwerdeführerin Veranstaltungen im Kindergarten und hilft dort auch aktiv mit. Die Erstbeschwerdeführerin geht alleine einkaufen bzw. absolviert falls erforderlich Arztbesuche und Behördenwege selbstständig. In ihrer Freizeit trifft sie sich regelmäßig mit ihrer österreichischen Freundin und geht mit dieser u.a. spazieren oder auch einkaufen. Weiters geht die Erstbeschwerdeführerin öfters laufen. Im Moment lernt die Erstbeschwerdeführerin gerade schwimmen und besucht regelmäßig gemeinsam mit ihren Kindern und ihrer Freundin ein Schwimmbad. Wenn die Erstbeschwerdeführerin alleine außer Haus geht, beaufsichtigt ihr Ehemann während dieser Zeit ihre Kinder. Die von der Erstbeschwerdeführerin angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die persönliche Haltung der Erstbeschwerdeführerin über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

Der Erstbeschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer Wertehaltung eine Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen. Vom afghanischen Staat kann sie keinen effektiven Schutz erwarten.

Es besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer:

Aufgrund der in der Ladung angeführten und im Rahmen der mündlichen Verhandlung mit den Beschwerdeführern erörterten aktuellen Erkenntnisquellen zur Lage in Afghanistan werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, in der Fassung vom 04.06.2019:

Politische Lage (Verfassung):

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Sicherheitslage (Allgemein):

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019 (1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (UNAMA 24.4.2019).

Diese Verringerung wurde durch einen Rückgang der Zahl ziviler Opfer von Selbstmordanschlägen mit IED (Improvised Explosive Devices - unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung/Sprengfallen) verursacht. Der Quelle zufolge könnten die besonders harten Winterverhältnisse in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 zu diesem Trend beigetragen haben. Es ist unklar, ob der Rückgang der zivilen Opfer wegen Maßnahmen der Konfliktparteien zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung oder durch die laufenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien beeinflusst wurde (UNAMA 24.4.2019).

Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (UNAMA 24.4.2019).

Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 24.4.2019).

Nach dem Taliban-Angriff auf Ghazni-Stadt im August 2018, bestand weiterhin die Befürchtung, dass die Taliban großangelegte Angriffe im Südosten des Landes verüben könnten. Dies war zwar nicht der Fall, dennoch setzten Talibankämpfer die afghanischen Sicherheitskräfte am Stadtrand von Ghazni, in Distrikten entlang des Highway One nach Kabul und durch die Einnahme des Distrikts Andar in Ghazni im Oktober weiterhin unter Druck. Im Westen der Provinz Ghazni, wo die ethnische Gruppierung der Hazara eine Mehrheit bildet, verschlechterten sich die Sicherheitsbedingungen wegen großangelegter Angriffe der Taliban, was im November zur Vertreibung zahlreicher Personen führte. In Folge eines weiteren Angriffs der Taliban im Distrikt Khas Uruzgan der Provinz Uruzgan im selben Monat wurden ebenfalls zahlreiche Hazara-Familien vertrieben. Des Weiteren nahmen Talibankämpfer in verschiedenen Regionen vorübergehend strategische Positionen entlang der Hauptstraßen ein und behinderten somit die Bewegungsfreiheit zwischen den betroffenen Provinzen. Beispiele dafür sind Angriffe entlang Hauptstraßen nach Kabul in den Distrikten Daymirdad und Sayyidabad in Wardak, der Route Mazar - Shirbingham und Maimana - Andkhoy in den nördlichen Provinzen Faryab, Jawzjan und Balkh und der Route Herat - Qala-e-Naw im westlichen Herat und Badghis (UNGASC 7.12.2018). Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 gemäß SIGAR die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.1.2019).

Im Laufe des Wahlregistrierungsprozesses und während der Wahl am 20. und am 21. Oktober wurden zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die Taliban und den Islamischen Staat - Provinz Khorasan (ISKP) beansprucht wurden (UNGASC 7.12.2018; vgl. UNAMA 10.10.2018, UNAMA 11.2018). Während der Wahl in der Provinz Kandahar, die wegen Sicherheitsbedenken auf den 27. Oktober verschoben worden war, wurden keine sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Die afghanischen Sicherheitskräfte entdeckten und entschärften einige IED [Improvised Explosive Devices - Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen] in Kandahar-Stadt und den naheliegenden Distrikten (UNAMA 11.2018). Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hatte zwischen 1.1.2018 und 30.9.2018 im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen insgesamt 366 zivile Opfer (126 Tote und 240 Verletzte) registriert (UNAMA 10.10.2018). Am offiziellen Wahltag, dem 20. Oktober, wurden 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) registriert, darunter 117 Kinder (21 Tote und 96 Verletzte) und 48 Frauen (2 Tote und 46 Verletzte). Am folgenden Wahltag, dem 21. Oktober, wurden 47 weitere zivile Opfer (4 Tote und 43 Verletzte) verzeichnet, inklusive 17 Kinder (2 Tote und 15 Verletzte) und Frauen (3 Verletzte). Diese Zahlen beinhalten auch Opfer innerhalb der Afghan National Police (ANP) und der Independet Electoral Commission (IEC) (UNAMA 11.2018). Die am 20. Oktober am meisten von sicherheitsrelevanten Vorfällen betroffenen Städte waren Kunduz und Kabul. Auch wenn die Taliban in den von ihnen kontrollierten oder beeinflussten Regionen die Wählerschaft daran hinderten, am Wahlprozess teilzunehmen, konnten sie die Wahl in städtischen Gebieten dennoch nicht wesentlich beeinträchtigen (trotz der hohen Anzahl von Sicherheitsvorfällen) (UNGASC 7.12.2018).

Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst - laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 22.10.2018 53,8% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9% der Distrikte sind umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Der ISKP ist weiterhin im Osten des Landes präsent und bekennt sich zu Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen in Nangarhar und zu sechs Angriffen in Kabul-Stadt. Des Weiteren finden in den Provinzen Nangarhar und Kunar weiterhin Kämpfe zwischen ISKP- und Talibankämpfern statt. Die internationalen Streitkräfte führten Luftangriffe gegen den ISKP in den Distrikten Deh Bala, Achin, Khogyani, Nazyan und Chaparhar der Provinz Nangarhar aus (UNGASC 7.12.2018).

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte), eine allgemeine Steigerung von 5% sowie eine Steigerung der Zahl der Toten um 11% gegenüber dem Vorjahreswert. 42% der zivilen Opfer (4.627 Opfer;

1.361 Tote und 3.266 Verletzte) wurden durch IED im Zuge von Anschlägen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich ISKP) verursacht. Die Anzahl der Selbstmordanschläge unter Einsatz von IED stieg dabei um 22% und erreichte somit einen Rekordwert. Diese Art von Anschlägen verursachte 26% aller zivilen Opfer, während IED, die bei Nichtselbstmordanschlägen verwendet wurden, 16% der zivilen Opfer forderten. Kabul war mit insgesamt 1.866 Opfern (596 Tote und 1.270 Verletzte) die Provinz mit der höchsten Anzahl an Selbstmordanschlägen durch IED, während die Zahl der Opfer in Nangarhar mit insgesamt 1.815 (681 Tote und 1.134 Verletzte) zum ersten Mal fast die Werte von Kabul erreichte (hauptsächlich wegen des Einsatzes von IED bei Nichtselbstmordanschlägen). Kabul-Stadt verzeichnete insgesamt 1.686 zivile Opfer (554 Tote und 1.132 Verletzte) wegen komplexen und Selbstmordangriffen (UNAMA 24.2.2019).

Zusammenstöße am Boden (hauptsächlich zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Gruppierungen) verursachten 31% der zivilen Opfer (insgesamt 3.382; davon 814 Tote und 2.568 Verletzte), was einen Rückgang um 3% im Vergleich mit dem Vorjahreswert bedeutet. Grund dafür war der Versuch regierungsfreundlicher Gruppierungen, die zivile Bevölkerung zu schonen. Die Verlagerung der Kämpfe in dünn besiedelte Gebiete, die Vorwarnung der lokalen Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen und die Implementierung von Strategien zum Schutz der Bevölkerung waren einige der bestimmenden Faktoren für den Rückgang bei zivilen Opfern. Jedoch ist die Opferzahl bei gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichteten komplexen Angriffen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen gestiegen (plus 48% gegenüber 2017; 4.125 Opfer insgesamt, davon 1.404 Tote und 2.721 Verletzte). Sowohl der ISKP als auch die Taliban griffen gezielt Zivilisten an: Der ISKP war für 1.871 zivile Opfer verantwortlich, darunter waren u.a. Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft, und die Taliban für 1.751. Obwohl die Gesamtzahl der zivilen Opfer durch gezielte Tötungen von Einzelpersonen (hauptsächlich durch Erschießung) zurückging, blieben Zivilisten inklusive religiöser Führer und Stammesältester weiterhin Ziele regierungsfeindlicher Gruppierungen. Die Gesamtzahl der durch Luftangriffe verursachten zivilen Opfer stieg im Vergleich mit dem Vorjahreswert um 61% und die Zahl der Todesopfer erreichte 82%. 9% aller zivilen Opfer wurden Luftangriffen (mehrheitlich der internationalen Luftwaffe) zugeschrieben, der höchste Wert seit 2009 (UNAMA 24.2.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen waren im UNAMA-Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) für 6.980 zivile Opfer (2.243 Tote und 4.737 Verletzte) verantwortlich. Das entspricht 63% der gesamten zivilen Opfer. 37% davon werden den Taliban, 20% dem ISKP und 6% unbestimmten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben. Im Laufe des Jahres 2018 wurden vermehrt Anschläge gegen Bildungseinrichtungen verzeichnet, meist durch Talibankämpfer, da in Schulen Registrierungs- und Wahlzentren untergebracht waren. Der ISKP attackierte und bedrohte Bildungseinrichtungen als Reaktion auf militärische Operationen afghanischer und internationaler Streitkräfte. UNAMA berichtet auch über anhaltende Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, welche Auswirkungen auf einen Großteil der zivilen Bevölkerung haben. Trotzdem die Taliban nach eigenen Angaben Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen haben, attackierten diese weiterhin Zivilisten, zivile Einrichtungen und regierungsfreundliche Gruppierungen in Zivilgebieten (UNAMA 24.2.2019).

Ungefähr 24% der zivilen Opfer (2.612, davon 1.185 Tote und 1.427 Verletzte), werden regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben: 14% den afghanischen Sicherheitskräften, 6% den internationalen Streitkräften und 4% unbestimmten regierungsfreundlichen Gruppierungen. Die Steigerung um 4% gegenüber dem Vorjahr geht auf Luftangriffe der internationalen Streitkräfte und Fahndungsaktionen der afghanischen Sicherheitskräfte und regierungsfreundlicher Gruppierungen zurück (UNAMA 24.2.2019).

Die verbleibenden 13% der verzeichneten zivilen Opfer wurden im Kreuzfeuer während Zusammenstößen am Boden (10%), durch Beschuss aus Pakistan (1%) und durch die Explosion von Blindgängern verursacht (UNAMA 24.2.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden:

das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).

Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen - insbesondere die Taliban - ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017).

Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören u.a. die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (SIGAR 1.2018).

Außerdem haben Militäroperationen der pakistanischen Regierung einige Zufluchtsorte Aufständischer zerstört. Jedoch genießen bestimmte Gruppierungen, wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk Bewegungsfreiheit in Pakistan (USDOD 12.2017). Die Gründe dafür sind verschiedene: das Fehlen einer Regierung, das permissive Verhalten der pakistanischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsamen kommunalen Bindungen über die Grenze und die zahlreichen illegalen Netzwerke, die den Aufständischen Schutz bieten (AAN 17.10.2017).

Rechtsschutz/Justizwesen:

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. (Casolino 2011). Die wichtigste religiöse Institution des Landes ist der Ulema-Rat (Afghan Ulama Council - AUC, Shura-e ulama-e afghanistan, Anm.), eine nationale Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. den Präsidenten in islamrechtlichen Angelegenheiten berät und Einfluss auf die Rechtsformulierung und die Auslegung des existierenden Rechts hat (USDOS 15.8.2017; vgl. AB 7.6.2017, AP o.D.).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.:

Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (NYT 26.12.2015; vgl. AP o.D.).

Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen, einschließlich Menschenrechtsverträge, vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (AP o.D.; vgl. vertrauliche Quelle 10.4.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle als auch das islamische Recht anzuwenden (AP o.D.).

Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten umgesetzt. Die Umsetzung der rechtlichen Bestimmungen ist innerhalb des Landes uneinheitlich. Dem Gesetz nach gilt für alle Bürger/innen die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Bürger/innen sind bzgl. ihrer Verfassungsrechte oft im Unklaren und es ist selten, dass Staatsanwälte die Beschuldigten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informieren. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt, sich von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt (USDOS 20.4.2018). In Afghanistan existieren keine Strafverteidiger nach dem westlichen Modell; traditionell dienten diese nur als Mittelsmänner zwischen der anklagenden Behörde, dem Angeklagten und dem Gericht. Seit 2008 ändert sich diese Tendenz und es existieren Strafverteidiger, die innerhalb des Justizministeriums und auch außerhalb tätig sind (NYT 26.12.2015). Der Zugriff der Anwälte auf Verfahrensdokumente ist oft beschränkt (USDOS 3.3.2017) und ihre Stellungnahmen werden während der Verfahren kaum beachtet (NYT 26.12.2015). Berichten zufolge zeigt sich die Richterschaft jedoch langsam respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern (USDOS 20.4.2018).

Gemäß einem Bericht der New York Times über die Entwicklung des afghanischen Justizwesens wurden im Land zahlreiche Fortbildungskurse für Rechtsgelehrte durch verschiedene westliche Institutionen durchgeführt. Die Fortbildenden wurden in einigen Fällen mit bedeutenden Aspekten der afghanischen Kultur (z. B. Respekt vor älteren Menschen), welche manchmal mit der westlichen Orientierung der Fortbildenden kollidierten, konfrontiert. Auch haben Strafverteidiger und Richter verschiedene Ausbildungshintergründe: Während Strafverteidiger rechts- und politikwissenschaftliche Fakultäten besuchen, studiert der Großteil der Richter Theologie und islamisches Recht (NYT 26.12.2015).

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll (USIP 3.2015; vgl. USIP o.D.). Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht. Dazu zählen unter anderem das Frauenrecht, Strafrecht und -verfahren, die Verbindlichkeit von Rechten gemäß internationalem Recht und der gesamte Bereich der Grundrechte (USIP o. D.).

Laut dem allgemeinen Islamvorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Trotz großer legislativer Fortschritte in den vergangenen 14 Jahren gibt es keine einheitliche und korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht) (AA 9.2016; vgl. USIP o.D., NYT 26.12.2015, WP 31.5.2015, AA 5.2018). Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, so ist nicht festgelegt, welches Gesetz im Fall eines Konflikts zwischen dem traditionellen islamischen Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und eine fehlende Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen (AA 5.2018).

Das kodifizierte Recht wird unterschiedlich eingehalten, wobei Gerichte gesetzliche Vorschriften oft zugunsten der Scharia oder lokaler Gepflogenheiten missachteten. Bei Angelegenheiten, wo keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht (welches auch nicht einheitlich ist, Anm.) durch (USDOS 20.4.2018).

Gemäß dem "Survey of the Afghan People" der Asia Foundation (AF) nutzten in den Jahren 2016 und 2017 ca. 20.4% der befragten Afghan/innen nationale und lokale Rechtsinstitutionen als Schlichtungsmechanismen. 43.2% benutzten Schuras und Jirgas, während 21.4% sich an die Huquq-Abteilung [Anm.: "Rechte"-Abteilung] des Justizministeriums wandten. Im Vergleich zur städtischen Bevölkerung bevorzugten Bewohner ruraler Zentren lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Schuras und Jirgas (AF 11.2017; vgl. USIP o.D., USDOS 20.4.2018). Die mangelnde Präsenz eines formellen Rechtssystems in ruralen Gebieten führt zur Nutzung lokaler Schlichtungsmechanismen. Das formale Justizsystem ist in den städtischen Zentren relativ stark verankert, da die Zentralregierung dort am stärksten ist, während es in den ländlichen Gebieten - wo ungefähr 76% der Bevölkerung leben - schwächer ausgeprägt ist (USDOS 3.3.2017; vgl. USDOS 20.4.2018). In einigen Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle setzen die Taliban ein paralleles auf der Scharia basierendes Rechtssystem um (USDOS 20.4.2018).

Die Unabhängigkeit des Justizwesens ist gesetzlich festgelegt; jedoch wird die afghanische Judikative durch Unterfinanzierung, Unterbesetzung, inadäquate Ausbildung, Unwirksamkeit und Korruption unterminiert (USDOS 20.4.2018). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent angewandt (AA 9.2016). Dem Justizsystem mangelt es weiterhin an der Fähigkeit die hohe Anzahl an neuen und novellierten Gesetzen einzugliedern und durchzuführen. Der Zugang zu Gesetzestexten wird zwar besser, ihre geringe Verfügbarkeit stellt aber für einige Richter/innen und Staatsanwälte immer noch eine Behinderung dar. Die Zahl der Richter/innen, welche ein Rechtsstudium absolviert haben, erhöht sich weiterhin (USDOS 3.3.2017). Im Jahr 2017 wurde die Zahl der Richter/innen landesweit auf 1.000 geschätzt (CRS 13.12.2017), davon waren rund 260 Richterinnen (CRS 13.12.2017; vgl. AT 29.3.2017). Hauptsächlich in unsicheren Gebieten herrscht ein verbreiteter Mangel an Richtern und Richterinnen. Nachdem das Justizministerium neue Richterinnen ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen in unsichere Provinzen versetzen wollte und diese protestierten, beschloss die Behörde, die Richterinnen in sicherere Provinzen zu schicken (USDOS 20.4.2018). Im Jahr 2015 wurde von Präsident Ghani eine führende Anwältin, Anisa Rasooli, als erste Frau zur Richterin des Obersten Gerichtshofs ernannt, jedoch wurde ihr Amtsantritt durch das Unterhaus [Anm.: "wolesi jirga"] verhindert (AB 12.11.2017; vgl. AT 29.3.2017). Auch existiert in Afghanistan die "Afghan Women Judges Association", ein von Richterinnen geführter Verband, wodurch die Rechte der Bevölkerung, hauptsächlich der Frauen, vertreten werden sollen (TSC o.D.).

Korruption stellt weiterhin ein Problem innerhalb des Gerichtswesens dar (USDOS 20.4.2017; vgl. FH 11.4.2018); Richter/innen und Anwält/innen sind oftmals Ziel von Bedrohung oder Bestechung durch lokale Anführer oder bewaffnete Gruppen (FH 11.4.2018), um Entlassungen oder Reduzierungen von Haftstrafen zu erwirken (USDOS 20.4.2017). Wegen der Langsamkeit, der Korruption, der Ineffizienz und der politischen Prägung des afghanischen Justizwesens hat die Bevölkerung wenig Vertrauen in die Judikative (BTI 2018). Im Juni 2016 errichtete Präsident Ghani das "Anti-Corruption Justice Center" (ACJC), um innerhalb des Rechtssystems gegen korrupte Minister/innen, Richter/innen und Gouverneure/innen vorzugehen, die meist vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt waren (AB 17.11.2017; vgl. Reuters 12.11.2016). Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen (BTI 2018). Seit 1.1.2018 ist Afghanistan für drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.2.2018).

Haftbedingungen:

Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), ist verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) des Justizministeriums ist verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren. Das National Directorate of Security (NDS) unter den Afghan National Security Forces (ANDSF) ist für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Bezirksebene verantwortlich. Das Verteidigungsministerium (MoD) betreibt die afghanischen nationalen Haftanstalten in Parwan. Berichten zufolge verwalten Mitglieder der ANDSF private Gefängnisse, in denen Gefangene misshandelt werden (USDOS 20.4.2018). Die Haftbedingungen in Afghanistan entsprechen nicht den internationalen Standards. Es gibt Berichte über Misshandlungen in Gefängnissen. Vor allem Frauen und Kinder werden häufig Opfer von Misshandlungen (AA 5.2018).

Wegen der Überbelegung, den unhygienischen Verhältnissen und dem begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung sind die Haftbedingungen in afghanischen Gefängnissen schwierig. Es herrscht ein Mangel an separaten Einrichtungen für Untersuchungs- und Strafhäftlinge. Lokale Gefängnisse und Haftanstalten haben nicht immer getrennte Einrichtungen für weibliche Gefangene. Überbelegung ist weiterhin ein ernstes, verbreitetes Problem: Gemäß den empfohlenen Standards des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) waren 28 von 34 Gefängnissen für Männer stark überbelegt. Mit Stand Juni 2017 befanden sich im Pul-e-Charkhi-Gefängnis, der größten Vollzugsanstalt des Landes, 11.527 Gefangene, darunter u.a. Kinder von inhaftierten Müttern, was doppelt so viel war wie vorgesehen (USDOS 20.4.2018). Schätzungen zufolge leben über 300 Kinder in afghanischen Gefängnissen, ohne selbst eine Straftat begangen zu haben. Ab einem Alter von fünf Jahren ist es möglich, die Kinder in ein Heim zu transferieren. Allerdings gibt es diese Heime nicht in jeder Provinz. Die wenigen existierenden Heime sind überfüllt. Zusätzlich müssen die Mütter einem Transfer der Kinder in ein Heim zustimmen (AA 5.2018).

Der Zugang zu Nahrung, Trinkwasser, sanitären Anlagen, Heizung, Lüftung, Beleuchtung und medizinischer Versorgung in den Gefängnissen ist landesweit unterschiedlich und im Allgemeinen unzureichend. Einigen Quellen zufolge ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser in Gefängnissen des GDPCD hingegen ausreichend. Nichtsdestotrotz ist das Budget für das nationale Ernährungsprogramm von Häftlingen des GDPDC sehr limitiert. Daher müssen Familienangehörige oft für die notwendigen Nahrungsergänzungsmittel usw. aufkommen (USDOS 20.4.2018).

Im Oktober 2015 unterzeichneten das Gesundheitsministerium (MoPH) und das Innenministerium eine gemeinsame Absichtserklärung zur Erbringung von Gesundheitsdiensten in Gefängnissen und Haftanstalten landesweit. Das Dokument beschreibt die Zuständigkeiten beider Ministerien bzgl. der Gewährleistung von Zugang zu angemessenen, kostenlosen Gesundheitsdienstleistungen und regelmäßigen Untersuchungen durch qualifizierte medizinische Fachkräfte. Einem Bericht der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) über medizinische Dienste in den afghanischen Gefängnissen zufolge bot ein Großteil der von UNAMA besuchten Strafvollzugsanstalten des NDS die Möglichkeit, grundlegende medizinische Untersuchungen und Behandlungen der Gefangenen durchzuführen, obwohl es kein Abkommen zwischen MoPH und NDS gab. Einige vom NDS betriebene Einrichtungen hatten gut ausgestattete Kliniken und andere konnten hingegen nur grundlegende medizinische Versorgungsdienste gewährleisten (UNAMA 3.2016).

Beobachter berichten über landesweit vorkommende willkürliche, längere Inhaftierungen. Dabei bleiben die Inhaftierten oft über die gegen sie erhobene Anklage im Unklaren. Garantien wie Rechtsberatung, die Nutzung von Haftbefehlen und die zeitliche Begrenzung des Gewahrsams ohne Anklageerhebung, sind zwar vom Gesetz vorgesehen, werden jedoch nicht immer eingehalten. Auch gewährt das Gesetz einem Angeklagten das Recht, gegen die Untersuchungshaft Einspruch zu erheben und ein Gerichtsverfahren zu beantragen. Nichtsdestotrotz stellt die lange Untersuchungshaft weiterhin ein Problem dar. Aufgrund fehlender Ressourcen, einer geringen Anzahl an Verteidigern, unerfahrenen Rechtsanwälten sowie Korruption profitierten viele Inhaftierte nicht von allen Bestimmungen der Strafprozessordnung. Viele Häftlinge werden trotz der rechtlichen Bestimmungen über die gesetzliche Frist hinaus festgehalten, selbst wenn es keine Anklage gibt (USDOS 20.4.2018).

Häftlinge sind gesetzlich dazu berechtigt, bis zu 20 Tage das Gefängnis zu verlassen, um Familienbesuche abzustatten; jedoch setzen zahlreiche Justizvollzugsanstalten diese Vorschriften nicht um. Des Weiteren ist die Zielgruppe des Gesetzes nicht klar definiert (USDOS 20.4.2018).

Einem Bericht über die Haftbedingungen in Afghanistan zwischen Jänner 201

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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