TE Bvwg Erkenntnis 2019/12/19 W119 2203940-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.12.2019
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Entscheidungsdatum

19.12.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W119 2203940-1/14E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag.a Eigelsberger als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Rechtsanwältin Mag.a Nadja LORENZ, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23. 7. 2018, Zl 1093048607-151663434/BMI-EAST_WEST, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer brachte gemeinsam mit seiner Ehefrau (Zl W119 2203938), seinem minderjährigen Sohn (Zl W119 2203937) und seiner zum Zeitpunkt der Antragstellung noch minderjährigen Tochter am 31. 10. 2015 jeweils Anträge auf internationalen Schutz ein.

Bei seiner am selben Tag erfolgten Erstbefragung nach dem AsylG gab er an, der Volksgruppe der Tadschiken anzugehören und nach traditionellem Ritus verheiratet zu sein. Zu seinem Fluchtgrund befragt, führte er aus, dass seine Tochter in Afghanistan verheiratet gewesen sei. Sie habe sich jedoch von ihrem Ehemann zu trennen beabsichtigt, was dieser habe verhindern wollen. Daraufhin habe sie einen Selbstmordversuch unternommen und sei in ein Krankenhaus eingeliefert worden. Von dort sei sie entführt und vergewaltigt worden. Sie sei von ihrer Familie zurückgeholt worden, wobei sein Sohn verletzt worden sei. Aus Furcht, dass ihm oder seiner Familie etwas zustoßen könne, habe er gemeinsam mit seinen Angehörigen Afghanistan verlassen.

Anlässlich der am 10. 4. 2018 durchgeführten niederschriftlichen Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) berichtigte er eingangs die anlässlich der Erstbefragung getätigte Angabe, wonach seine Tochter nicht verheiratet, sondern verlobt gewesen sei. Ihr Selbstmordversuch habe in Afghanistan, die Entführung erst im Iran stattgefunden. Sein Sohn sei bereits in Afghanistan verletzt worden, nachdem er versucht habe, seine Schwester in den Iran zu bringen.

Da er keine Ausbildung erhalten habe, sei er hauptsächlich in der Landwirtschaft tätig gewesen. Er habe nach seiner Eheschließung weiterhin im Haus seines Vaters gelebt.

Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab er an, dass es einen Anführer namens XXXX gegeben habe, der die Bevölkerung aufgerufen habe, gegen die Taliban Widerstand zu leisten. Da dadurch Probleme entstanden seien, habe er sich zwei Jahre in Herat versteckt gehalten. Danach habe ihn sein Vater davon verständigt, dass er wieder zurückkehren könne, weil sich die Situation entspannt habe. Eines Tages seien er und eine andere Person von den Taliban gesucht und festgenommen worden. Er sei dabei am Körper verletzt worden. Sein Vater habe versucht, ihn freizubekommen. Dies sei nur dadurch gelungen, dass sein Vater den Taliban schriftlich seine XXXX -jährige Enkelin (Tochter des Beschwerdeführers) versprochen habe. Dieser Talib und die anderen seien danach verschwunden gewesen. 15 Jahre später seien diese wiederaufgetaucht und hätten seine Tochter verlangt. Er habe ihnen erklärt, dass auf dem Schriftstück seine Tochter dem XXXX zur Frau gegeben hätte werden sollen. Diese Männer hätten erklärt, dass XXXX gestorben sei und sie dessen Söhne seien. Darauf sei seine Tochter mit einem Talib verlobt worden. Sie sei dagegen gewesen, worauf sie sich im Hof mit einem Benzinkanister habe anzünden wollen. Eine Nachbarin habe dies verhindern können. Einige Tage später habe sie sich die Pulsadern aufzuschneiden versucht. Sie sei im Krankenhaus verarztet worden. Er habe danach seine im Iran lebenden Söhne kontaktiert, damit diese seine Tochter abholen würden. Danach habe es einen Streit zwischen den Taliban und seinen Söhnen gegeben, wobei seine Söhne verletzt worden seien. Die Nachbarn hätten Schlimmeres verhindert. Danach habe er seine Tochter mit seinen Söhnen in den Iran geschickt.

Mit Bescheid des Bundesamtes vom 23. 7. 2018, Zl 1093048607-151663434/BMI-EAST_WEST, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m.

§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m.

§ 2 Abs. 1 Z 13 AsylG hinsichtlich der Zuerkennung des Status des

subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG wurde ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG i.V.m. § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Mit Verfahrensanordnung vom 23. 7. 2018 wurde dem Beschwerdeführer die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe als Rechtsberaterin zur Seite gestellt.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer durch seinen Rechtsberater mit Schriftsatz vom 20. 8. 2018 Beschwerde. Darin wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer aufgrund seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe jener Menschen gehöre, die aufgrund ihrer Familiengeschichte bzw einer drohenden Zwangsheirat ihrer Tochter und den damit einhergehenden Streitigkeiten mit der vermeintlichen Schwiegerfamilie sich außerhalb ihres Heimatlandes befänden und bei einer Rückkehr nach Afghanistan bedroht und verfolgt werden würden.

Bei einem weiteren mit dem Beschwerdeführer in das Bundesgebiet eingereisten Sohn (Zl W261 2203942), dessen Verfahren der Gerichtsabteilung W261 zugeteilt war, wurde am 17. 1. 2019 und am 28. 2. 2019 beim Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchgeführt, in der der Beschwerdeführer zeugenschaftlich einvernommen wurde.

Dem Sohn des Beschwerdeführers wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 6. 5. 2019, Zl W261 2203942, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.

Am 10. 10. 2019 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der das Bundesamt als weitere Verfahrenspartei nicht teilnahm.

Der Beschwerdeführer führte ergänzend aus, dass XXXX ein Freund seines Vaters und ein Kommandant der Taliban gewesen sei. Sein Sohn XXXX habe seine Tochter heiraten wollen. Er habe im Iran der Familie des XXXX angeboten, ihm die Kosten für eine neue Hochzeit mit einer anderen Ehefrau zu erstatten, wenn er seine Tochter aus der Ehe entlasse. XXXX und seine Familie hätten sich jedoch geweigert und ihn weiter bedroht, sodass er aus dem Iran geflüchtet sei. Weiters gab er an, dass er in Afghanistan auch als Automechaniker tätig gewesen sei.

Zu den in das Verfahren eingeführten Länderberichten wurde der rechtsfreundlichen Vertreterin eine zweiwöchige Frist gewährt, die jedoch ungenützt verstrichen ist.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der tadschikischen Volksgruppe an und lebte in der Provinz Herat, wo er weder die Schule besuchte noch einen Beruf erlernte. Er war in der elterlichen Landwirtschaft und als Automechaniker beschäftigt.

Der Beschwerdeführer kämpfte vor ungefähr 16 Jahren auf Seiten der Regierung gegen die Taliban. Da die Taliban das Heimatdorf des Beschwerdeführers eingenommen hatten, riet ihm sein Vater, sich mit seiner Familie an einem anderen Ort in der Provinz Herat niederzulassen. Nach zwei Jahren forderte der Vater des Beschwerdeführers ihn auf, mit seiner Familie zurückzukehren, um ihn in der Landwirtschaft zu unterstützen. Sechs Monate später wurde der Beschwerdeführer von den Taliban entführt und misshandelt. Mit Hilfe seines Freundes XXXX , gelang es dem Vater des Beschwerdeführers ihn frei zu bekommen. Als Dank dafür versprach der Vater des Beschwerdeführers diesem, seine damals XXXX Enkelin XXXX zur Frau nehmen zu können. Ungefähr fünfzehn Jahre später erschienen zwei Männer, die sich als die Söhne des XXXX vorstellten und erklärten, dass nunmehr XXXX anstelle seines Vaters die Ehe mit der Tochter des Beschwerdeführers die versprochene Ehe eingehen wolle. Der Beschwerdeführer erklärte seiner Tochter, dass sie XXXX heiraten muss. Obwohl sie nicht einverstanden war, wurde die islamische Eheschließung vollzogen. Kurz darauf wollte sich die Tochter des Beschwerdeführers mit Benzin in Brand setzen, was eine Nachbarin verhindern konnte. Einige Tage später versuchte sie sich die Pulsadern aufzuschneiden. Sie wurde in ein Krankenhaus gebracht und dort verarztet. Schließlich kamen zwei im Iran lebende Söhne des Beschwerdeführers zu ihm, um ihre Schwester in den Iran zu bringen. Dabei gab es - bevor sie in den Iran reisten - zunächst zwischen XXXX und den Söhnen des Beschwerdeführers Streit, wobei diese verletzt wurden. Schließlich flüchtete auch der Beschwerdeführer zu seinen Söhnen und seiner Tochter in den Iran. Dort bot der Beschwerdeführer XXXX an, ihm die Hochzeit mit einer anderen Ehefrau zu finanzieren, wenn er seine Tochter aus der Ehe entlasse. XXXX und seine Familie nahmen dieses Angebot nicht an und bedrohten den Beschwerdeführer weiterhin. XXXX wurde von diesen auch entführt. Schließlich flüchtete er mit seiner Familie nach Österreich.

Der Beschwerdeführer ist als Mitglied der Familie seiner Tochter, XXXX , mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Blutrache und Ehrenmord bedroht, weil sich die Tochter des Beschwerdeführers mit Unterstützung ihrer Familie und im Besonderen mit Hilfe ihres Vaters weigerte, als Ehefrau des XXXX mit diesem eine Ehe zu führen.

Zur Situation in Afghanistan:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018 mit Aktualisierungen bis 4. 6. 2019:

Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren.

Herkunftsprovinz Herat

Herat ist eine der größten Provinzen Afghanistans und liegt im Westen des Landes. Herat grenzt im Norden an die Provinz Badghis und Turkmenistan, im Süden an die Provinz Farah, im Osten an die Provinz Ghor und im Westen an den Iran. Die Provinz ist in folgende Bezirke eingeteilt, die gleichzeitig auch die administrativen Einheiten bilden: Shindand, Engeel/Injil, Ghorian/Ghoryan, Guzra/Guzara und Pashtoon Zarghoon/Pashtun Zarghun, werden als Bezirke der ersten Stufe angesehen. Awba/Obe, Kurkh/Karukh, Kushk, Gulran, Kuhsan/Kohsan, Zinda Jan und Adraskan als Bezirke zweiter Stufe und Kushk-i-Kuhna/Kushki Kohna, Farsi, und Chisht-i-Sharif/Chishti Sharif als Bezirke dritter Stufe. Provinzhauptstadt ist Herat-Stadt, welche sich im gleichnamigen Distrikt befindet und eine Einwohnerzahl von 506.900 hat. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.967.180 geschätzt. In der Provinz leben Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Turkmenen, Uzbeken und Aimaken.

Herat wird als eine der relativ friedlichen Provinzen gewertet, dennoch sind Aufständische in einigen Distrikten der Provinz, wie Shindand, Kushk, Chisht-i-Sharif und Gulran, aktiv. Des Weiteren wurde Ende Oktober 2017 verlautbart, dass die Provinz Herat zu den relativ ruhigen Provinzen im Westen des Landes zählt, wenngleich sich in den abgelegenen Distrikten die Situation in den letzten Jahren aufgrund der Taliban verschlechtert hat.

Die Provinz ist u.a. ein Hauptkorridor für den Menschenschmuggel in den Iran bekannt - speziell von Kindern. Mitte Februar 2018 wurde von der Entminungs-Organisation Halo Trust bekannt gegeben, dass nach zehn Jahren der Entminung 14 von 16 Distrikten der Provinz sicher seien. In diesen Gegenden bestünde keine Gefahr mehr, Landminen und anderen Blindgängern ausgesetzt zu sein, so der Pressesprecher des Provinz-Gouverneurs. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage und der Präsenz von Aufständischen wurden die Distrikte Gulran und Shindand noch nicht von Minen geräumt. In der Provinz leben u.a. tausende afghanische Binnenflüchtlinge.

Im Zeitraum 01.01.2017-30.04.2018 wurden in der Provinz 139 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden in der Provinz Herat 495 zivile Opfer (238 getötete Zivilisten und 257 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Selbstmordanschlägen/komplexen Attacken und gezielten Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 37% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016.

In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um einige Gegenden von Aufständischen zu befreien. Auch werden Luftangriffe verübt; dabei wurden Taliban getötet. Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen finden statt. In Herat sind Truppen der italienischen Armee stationiert, die unter dem Train Advise Assist Command West (TAAC-W) afghanische Streitmächte im Osten Afghanistans unterstützen.

Anhänger des IS haben sich im Jahr 2017 in Herat zum ersten Mal für Angriffe verantwortlich erklärt, die außerhalb der Provinzen Nangarhar und Kabul verübt wurden.

ACLED registrierte für den Zeitraum 01.01.2017-15.07.2017 IS-bezogene Vorfälle (Gewalt gegen die Zivilbevölkerung) in der Provinz Herat.

Bei der Provinz Herat (mit Ausnahme der Stadt Herat) handelt es sich laut EASO um einen jener Landesteile Afghanistans, wo willkürliche Gewalt stattfindet und allenfalls eine reelle Gefahr festgestellt werden kann, dass der BF ernsthaften Schaden im Sinne von Artikel 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie nehmen könnte - vorausgesetzt, dass er aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse von derartigen Risikofaktoren konkret betroffen ist.

Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Ethnische Paschtunen sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pasht. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden, und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen.

Die Dari-sprachige Minderheit der Tadschiken, wozu der BF und seine Familie zählt, ist die zweitgrößte; und zweitmächtigste Gemeinschaft in Afghanistan. Sie machen etwa 30% der afghanischen Gesellschaft aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan bilden Tadschiken in weiten Teilen Afghanistans ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten: In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. Aus historischer Perspektive identifizierten sich Sprecher des Dari-Persischen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa Siedlungsgebiet oder Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel kaboli (aus Kabul), herati (aus Herat), mazari (aus Mazar-e Scharif), panjsheri (aus Pajshir) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name tajik (Tadschike) bezeichnete traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

Religion

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten.

Abtrünnige bekennen sich üblicherweise in Afghanistan nicht öffentlich. Sollten sie ihre Meinung öffentlich kundtun und sich auf Diskussionen einlassen, um ihren abtrünnigen Glauben vergleichend mit dem Islam zu verteidigen, werden sie von der Gesellschaft schlecht behandelt. Staatliche Behörden werden nur dann eingreifen, wenn sich Abtrünnige öffentlich äußern und soziale Probleme hervorrufen.

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen. Es gibt in Afghanistan viele Menschen, die während des Ramadans nicht fasten und freitags nicht beten. In ländlichen Gebieten wird diesen Personen von der Gesellschaft nahegelegt, (zumindest) das Freitags- und Ramadan-Gebet einzuhalten. Die Gesellschaft behandelt das Nichtbeten als kleine Vergehen. Das Nicht-Fasten ist in ländlichen Gebieten eine heiklere Angelegenheit. Vorfälle schlechter Behandlung wegen Nicht-Fastens durch die Gesellschaft kommen vor. Es gibt keine Berichte zur offiziellen Strafverfolgung wegen des Nicht-Fastens zu Ramadan. In städtischen Gebieten ist die Gesellschaft flexibler und weniger streng.

Terroristische und aufständische Gruppierungen

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte grundsätzlich vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden: das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus. Die Taliban haben hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet. Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans. Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten.

Die Taliban haben ein Netzwerk an Spitzeln in Afghanistan, allein in der Stadt Kabul sind drei verschiedene Taliban Nachrichtendienste nebeneinander aktiv. Es heißt, dass die verschiedenen Nachrichtendienste der Taliban in Kabul über 1.500 Spione in allen 17 Stadtteilen haben. Selbst die, die umsiedeln, laufen Gefahr, auf dem Weg an den Straßensperren der Taliban festgehalten zu werden. Die Taliban behaupten, dass sie, dank ihrer Spione bei der Grenzpolizei am Flughafen Kabul und auch an vielen anderen Stellen, überwachen können, wer in das Land einreist. Sie geben an, regelmäßig Berichte darüber zu erhalten, wer neu ins Land einreist.

Die Taliban beobachten alle Fremden, die in den Dörfern und Kleinstädten unter ihrer Kontrolle ankommen genau, genauso wie die Dorfbewohner, die in Gebiete unter Regierungskontrolle reisen. Sie fürchten offensichtlich, ausspioniert zu werden und versuchen, die Rekrutierung von Informanten durch die Regierung zu beschränken. Wer in die Taliban-Gebiete ein- oder ausreist sollte die Reise überzeugend begründen können, möglichst belegt mit Nachweisen über Geschäftsabschlüsse, medizinische Behandlung etc. Wenn die Taliban einen Schuldigen suchen, der für die Regierung spioniert haben soll, ist jeder, der verdächtigt wird, sich an die Behörden gewandt zu haben, in großer Gefahr.

Blutrache und Blutfehde

(Auszug aus der Schnellrecherche der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 07.06.2017 zu Blutrache und Blutfehden in Afghanistan (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler)):

Ehre und Vergeltung bei Ehrverletzungen (badal) spielen eine zentrale Rolle im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali)

In den Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016 weist UNHCR mit Bezug auf verschiedene Quellen darauf hin, dass Vergeltung durch Blutrache auf einem traditionellen Verständnis von Verhalten und Ehre beruht. Eine Blutfehde besteht zwischen zwei Familien, wobei Mitglieder der einen Familie solche der anderen zur Vergeltung einer Tat töten. Die Blutrache sei hauptsächlich eine paschtunische Tradition und im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) verankert, werde aber auch von anderen ethnischen Gruppen praktiziert. Auslöser einer Blutfehde könne ein Mord oder eine ungelöste Streitigkeit sein.

Gemäß einem in den UNHCR-Richtlinien zitierten Landinfo-Bericht vom 1. November 2011, der sich auf eine Publikation von Thomas Barfield, Anthropologe mit Schwerpunkt Afghanistan an der Boston University, aus dem Jahr 2003 beruft, ist Vergeltung (badal) bei verletzter Ehre eine zentrale Institution des Paschtunwali. Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network in Kabul, gab am 23. Februar 2017 gegenüber dem Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD) an, bei badal handle es sich um einen Austausch zwischen zwei Familien infolge einer Ehrverletzung. Das Prinzip des badal entspreche dem gesas/gu/sas-Prinzip der Scharia. Laut einem Bericht der Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) vom Januar 2016 steht der Begriff badal für Austausch und kann sich beispielsweise auch auf den Austausch von zwei Frauen zwischen zwei Familien beziehen, indem eine Tochter aus jeder Familie mit einem Mann aus der jeweils anderen Familie verheiratet wird.

Das Recht auf Rache und die Erwartung einer Vergeltung ist gemäß dem Landinfo- Bericht zentral für das nichtstaatliche Rechtssystem des Paschtunwali. Die Verantwortung für die Bestrafung von immoralischem Verhalten wie Diebstahl, Vergewaltigung oder Mord liege nicht bei der Gemeinschaft, sondern beim Opfer, und Rache sei eine akzeptable Reaktion. Die Grenzen der Legitimität der Rache würden durch lokale Traditionen, die öffentliche Meinung und den Paschtunwali bestimmt. Wird keine Rache ausgeübt, könne dies als moralische Schwäche ausgelegt werden, die auf ganze Familienverbände bezogen werden könne. Sowohl das Anzeigen eines Mordes bei den staatlichen Behörden als auch Verhandlungen über finanzielle Entschädigung mit der Täterfamilie können als Schwäche und als Zeichen ausgelegt werden, dass die Familie nicht stark genug ist, ihre Ehre zu verteidigen. Der Familienverband des Opfers habe eine kollektive Verantwortung, Vergeltung zu üben und die Ehre wiederherzustellen. Laut Angaben eines Vertreters der Peace Training & Research Organization (PTRO) in Kabul gegenüber der SFH vom 1. Juni 2017 ist die Ausübung von Vergeltung auch ein Signal an andere, dass die betroffene Familie stark ist und sich verteidigen kann. Dies gelte unabhängig von der ethnischen Zugehörigkeit.

Blutrache wird überall in Afghanistan sowie von und zwischen allen Volksgruppen praktiziert

Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network in Kabul, gab gegenüber der SFH am 30. Mai 2017 folgendes an: Blutrache sei in Afghanistan kein ausschließlich ländliches Phänomen, sondern überall und auch zwischen allen Ethnien möglich. Die kriegsbedingten großen Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte hätten dazu beigetragen, dass Gebräuche wie Blutrache auch in den Städten praktiziert würden.

[...]

Keine festen Regeln wie beispielsweise Mindestalter

Blutrache kann auch nach Jahren oder Jahrzehnten ausgeübt werden. Laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) zielt eine Blutrache hauptsächlich auf diejenige Person ab, die einer Tat wie beispielsweise eines Mordes bezichtigt wird, unabhängig von ihrem Alter. Unter bestimmten Bedingungen könne gemäß dem Landinfo-Bericht aber auch die Tötung des Bruders des Täters oder eines anderen Verwandten der väterlichen Linie eine Alternative darstellen. Thomas Ruttig (30. Mai 2017) gab an, es gebe keine klaren Regeln für die Ausübung von Blutrache wie beispielsweise ein Mindestalter, ab dem eine Person Ziel einer Blutrache werden könne. [...]

Staatliche Prozesse und traditionelle Bräuche wie Blutrache laufen unabhängig voneinander ab.

Ein Urteil eines staatlichen Gerichts beendet eine Blutrache nicht. Bei staatlichen Prozessen und traditionellen Bräuchen wie der Blutrache handelt es sich gemäß Angaben von Thomas Ruttig (30. Mai 2017) um ‚zwei völlig verschiedene Welten'. Laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) hat Blutrache keinen Zusammenhang mit formalen rechtlichen Abläufen, sondern ist illegal. Ein Freispruch durch ein Gericht kann gemäß Angaben von Thomas Barfield und Noah Coburn eine Blutrache beenden. Für eine Tat inhaftierte Personen bleiben laut Thomas Barfield (30. Mai 2017) daher über die Inhaftierung hinaus Ziel einer Blutrache durch die Tötung einer Person beendet werden, wobei eine solche Tötung andererseits auch einen neuen Racheakt der Gegenseite auslösen könne. Üblicherweise ende eine Blutrache, wenn beide Seiten einer förmlichen Beendigung durch einen Versöhnungsprozess zustimmten, bei dem Blutgeld gezahlt würde. Gemäß UNHCR (19. April 2016) können Akte der Blutrache auch dann ausgeübt werden, wenn ein Täter bereits im Rahmen des staatlichen Rechtssystems bestraft wurde. Laut Landinfo (1. November 2011) schließt eine Entscheidung im Rechtssystem der Regierung das Risiko einer gewaltsamen Vergeltung nicht notwendigerweise aus. Von der Opferfamilie könne immer noch erwartet werden, dass sie den Mörder nach seiner Entlassung tötet, außer die Fehde sei beigelegt worden. Eine lokale Gemeinschaft betrachte eine Tötung aus Rache, die durch die Tradition legitimiert ist, nicht als ein Verbrechen.

[...]

Schutz durch den Staat

Weit verbreitete Straflosigkeit und Korruption bei den Behörden; Bürgerinnen und Bürger misstrauen der Polizei und fürchten sie

Gemäß den UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 ergeben sich Afghanistans schwache rechtsstaatliche Strukturen unter anderem aus der sehr weit verbreiteten Korruption und einer Kultur der Straflosigkeit. Urheber von Menschenrechtsverletzungen werden kaum bestraft, und Angehörige von staatlichen Institutionen wie der afghanischen nationalen und der afghanischen lokalen Polizei begehen selbst Menschenrechtsverletzungen, ohne dafür verurteilt zu werden. Staatliche Behörden und Institutionen einschließlich Polizei und Justiz sind auf allen Ebenen von Korruption betroffen. Ein Bericht des Congressional Research Service vom 19. Mai 2017 hebt hervor, dass der Zustand der afghanischen nationalen Polizei von unabhängiger Seite negativ beurteilt wird. Die Korruption habe ein solches Ausmaß erreicht, dass Bürgerinnen und Bürger der Polizei misstrauen und sie fürchten. Unter anderem sei diese auch oft in lokale Streitigkeiten verwickelt. [...]

[...]"

Auszug aus der gutachterlichen Stellungnahme der Ländersachverständigen Mag. MALYAR vom 27.07.2009 zu Blutrache in Afghanistan im Verfahren betreffend einen anderen Asylwerber vor dem Asylgerichtshof, zitiert vom Bundesverwaltungsgericht im Erkenntnis vom 21.01.2016, Zl. W174 1436214-1 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

"Der Rechts- und Ehrenkodex der Paschtunen, der Paschtunwali, zählt zu den sogenannten Stammesgesetzen. Es handelt sich um Normen und Werte zur Anleitung der sozialen Interaktion in der paschtunischen Gesellschaft. Von großer Bedeutung ist das auf die ‚Verteidigung der eigenen Interessen' gerichtete Tura-Konzept. Danach lebt das männliche Individuum in einer ihm feindlich gesonnen Umwelt, die ihm jederzeit seine Lebensressourcen (Frauen, Land etc.) und seine Position innerhalb der Gesellschaft streitig machen will. Diese Umstände fordern ein aggressives und kriegerisches Verhalten vom Paschtunen, mit dem er alles verteidigt, ‚worauf er einen Anspruch zu machen glauben kann'. Manifestiert wird dieses Weltbild insbesondere in der Forderung nach Badal. Badal bedeutet ‚Ausgleich' in der Form von ‚Vergeltung nach dem Prinzip, Aug um Aug, Zahn um Zahn, Leben um Leben'. Bei Verlust eines verteidigungsfähigen Mannes einer Gruppe muss ‚dem Aggressor ebenfalls eine Verminderung seiner Verteidigungsfähigkeit zugefügt werden, um das vorher bestehende Ausgangsstadium und Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen'. Zwar beinhaltet das Tura-Konzept auch die Forderung nach Nanawate, das als befriedendes Mittel eingesetzt wird. Doch fördert dieses nur nach erfolgtem Badal das Prestige des Paschtunen, und Angebot und Annahme von Nanawate vor der Vergeltung gelten als Zeichen für Feigheit und Verteidigungsunfähigkeit und haben einen Ehrverlust zur Folge.

Zu den schweren Normverstößen (Terai) zählen insbesondere

1. Tötung oder versuchte Tötung eines Menschen, ob unverschuldet oder verschuldet,

2. Körperverletzung oder versuchte Körperverletzung, d.h. ‚jede dauerhafte und nicht dauerhafte Einschränkung eines Individuums in seiner körperlichen Funktionsfähigkeit' und

3. Ehrverletzung oder versuchte Ehrverletzung, d.h. ‚der durch Aktionen oder verbale Äußerungen dokumentierte Zweifel an der moralischen und ethischen Integrität des Individuums oder Gemeinwesens'.

Kommt es zu einem Normbruch, so wird dieser vom betroffenen Individuum festgestellt, und die weitere Sanktionierung der Tat liegt in seiner Hand. Die Öffentlichkeit schreitet nicht in den Konflikt ein. Befriedungsversuche scheitern meist. Um ihre Ehre wiederherzustellen und sich nicht der Feigheit verdächtig zu machen, bevorzugen meist beide Parteien die Konfliktlösung durch Badal. Das Badal stellt eine legitime Reaktion dar, wenn es in seinem Ausmaß der Tat gleichgestellt ist. Das erreichte Badal bedeutet jedoch nicht immer das Ende des Konflikts. Eine Reaktion der Gegenpartei bricht zwar erneut mit der Norm, jedoch ist sie im Sinne des Rechts auf Blutrache legitim und wird auch vom Gemeinwesen anerkannt. Aus diesem Grund ist eine Eskalation der Konflikte nicht selten.

Das Paschtunwali führte zu einer Ordnung und bot die Existenzgarantie für die Paschtunen. Ein Teil dieses Kodex, mit modernen Rechtsnormen verwoben, könnte eine zukünftige afghanische Rechtsnorm bilden, die auch einfacher von der afghanischen Gesellschaft akzeptiert werden würde. Viele Elemente des Paschtunwali, z.B. die Jirgas, wurden vom afghanischen Staat übernommen. Als die Amerikaner nach dem 11.09.2001 auf der Suche nach einer Neustrukturierung Afghanistans waren, war es die Loya Jirga, die der Regierung Karzai ihre Legitimität gab.

Im Laufe der Zeit wurde das Paschtunwali überwiegend mündlich, teilweise auch schriftlich fixiert. Die zunächst für die Zusammenarbeit der Stämme und Sippen konzipierten Direktiven des Paschtunwali avancierten nicht nur zu Werten der Gemeinschaft, sondern nahmen auch regulative Funktionen ein. Gesetze wie Gastrecht, Asadi (Freiheit), Esteqlal oder Khpolwaki (Unabhängigkeit) sind in allen afghanischen Volksgruppen und Ethnien vorhanden, allerdings nicht unter dem Begriff Paschtunwali. Über ein straffes Stammesrecht verfügen jedoch nur Turkmenen und Paschtunen.

Die Blutrache ist ein Prinzip zur Sühnung von Verbrechen, indem Tötungen durch Tötungen gerächt werden. Innerhalb der Fehde stellt die Blutrache die ultima ratio der Konfliktbewältigung dar.

Der Ehrenmord bezeichnet die vorsätzliche Tötung bzw. Ermordung eines Menschen, durch die, aus der Sicht des Täters, die Ehre einer bestimmten Person oder einer Personengruppe oder des Getöteten vermeintlich wiederhergestellt werden soll. In der Praxis ist eine klare Unterscheidung oftmals nur schwer möglich, da in vielen Fällen ein Ehrenmord die Ursache für eine Blutrache sein kann. Bei der Blutrache straft die Familie des Opfers den Täter und seine Familie aus der Absicht heraus, die vermeintlich verlorene Familienehre wiederherzustellen. Motive und die Praxis der Blutrache sind eins zu eins auch in Afghanistan zu finden. Auch dort üben die Familie und Angehörigen bzw. der Stamm des Opfers - je nach der Schwere der Tat - Rache an dem Täter, seiner Familie bzw. seinen biologischen männlichen Verwandten oder - im Falle der Ausbreitung des Konfliktes auf die Stammesebene - an den Stammesangehörigen, was eine hohe Anzahl an Opfern fordern kann. Die Tat wird durch den Paschtunwali gerechtfertigt.

Der Staat und die Regierung in Afghanistan waren noch nie in der Lage, im ganzen Land die Selbstjustiz zu verhindern und die Täter zur Verantwortung zu ziehen, besonders nicht in den letzten drei Jahrzehnten, in denen im ganzen Land Kriegszustand herrschte. Durch die kriegerischen Auseinandersetzungen wurden zudem zahlreiche Schulen und Ausbildungszentren zerstört, dementsprechend ist das Bildungsniveau zurückgegangen.

Häufigste Auslöser von Konflikten, die in weiterer Folge Blutrache verursachen, sind bei den Afghanen Sar (Kopf), Zan (Frau) und Zamin (Land). Sar (Kopf) umfasst Tötungsdelikte, Körperverletzungen und Verstöße gegen die Ehre des Individuums oder Gemeinwesens. Nach Tötungen beginnt die Blutrache. Der Täter wird von der Gegner-Familie getötet, oder er flieht und verlässt die Ortschaft. Das trifft meist zu, wenn der Täter behördlich nicht festgenommen und gerichtlich verfolgt wird. Die Gründe und Umstände, unter denen es zu Blutrache kommt, unterscheiden sich im gesamten Land kaum voneinander.

In den paschtunischen Gebieten steht das Gewohnheitsrecht, bedingt durch die Stammesstruktur und deren Gepflogenheiten, meist an erster Stelle. Die Menschen wenden sich dort für gewöhnlich nur dann an den Staat, wenn alle gewohnheitsrechtlichen Bemühungen aussichtslos geblieben sind und ein Konflikt bereits jahrelang andauert. Unterschiede sind allerdings in der Frage nach dem Betroffenenkreis zu beobachten. In den paschtunischen Gebieten breitet sich der Kreis auf die männlichen Verwandten ersten Grades der auf- und absteigende Linie der männlichen Geschwister und deren männlicher Abkömmlinge, weiters auf Onkel und deren Söhne, Cousins und deren Söhne und sogar auf diejenigen, die dem Feind Schutz gewährt haben, aus. Dieselbe Verwandtschaftslinie ist auch bei der verfeindeten Partei betroffen. Das ist der Grund, warum sich Konflikte, die länger dauern, zunächst auf die Ebene des Dorfes und in weiterer Folge auf die Stammesebene ausbreiten. In Norden, Nordosten sowie dem Zentrum des Landes, die von anderen afghanischen Volksgruppen besiedelt sind, ist der Betroffenenkreis auf den Vater, den Bruder und dessen Söhne sowie den Onkel und dessen Söhne beschränkt.

In Nord- und Zentralafghanistan fühlen sich die Menschen zur Selbstjustiz verpflichtet, wenn die Zentralregierung zu schwach ist, um den Menschen den notwendigen Schutz zu gewähren und ihre Rechte zu sichern. Somit kann eine Verpflichtung zur Blutrache entstehen. Der Gesellschaftsdruck ist ähnlich groß wie in den paschtunischen Gebieten. Die Pflicht zur Blutrache wird de facto von der Gemeinschaft vorgeschrieben. Gleiches gilt für den Nordosten. Um den Namen und die Ehre der Familie zu schützen, wird die Blutrache verübt, und zwar als Pflicht. Es ist in dieser Provinz, die auch teilweise von Paschtunen besiedelt ist, und unter den Paschtunen zum großen Teil üblich, dass, wenn es dem Betroffenen in seinem Leben nicht gelingt, Rache zu nehmen, diese Verpflichtung an seine Kinder übertragen wird. Diese sind dann verpflichtet, die Rache, die der Vater zu Lebzeiten nicht nehmen konnte, auszuführen.

Zur Annahme einer Kompensationszahlung (Nek) ist die Opfer-Familie im Falle einer Tötung meist nur bereit, wenn sie zu schwach ist, um eine legitime Rache mit den daraus folgenden Reaktionen der gegnerischen Gruppe durchzufechten, denn nur dann wäre die Annahme der Zahlung ohne Prestigeverlust möglich. Auch die Täter-Familie wird in der Regel das Zahlen eines Nek weit von sich weisen, um nicht in den Verdacht der Feigheit zu kommen und mit dem Vorwurf konfrontiert zu werden, Angst vor der Badal-Reaktion der Gegner zu haben. Nur im Falle eines offensichtlichen und eindeutigen Unglücksfalles kann Zahlung und Annahme eines Nek auf eine Ersttötung ohne Prestigeverlust für beiden Seiten erfolgen.

Zwischen der letzten Aktion innerhalb der Auseinandersetzung und Konfliktbeilegung vergehen in der Regel mehrere Jahre, denn die Parteien warten auf den richtigen Moment und zeigen meist keine Eile. Nach der Ausübung des Racheaktes, durch den die Ehre wiederhergestellt wird, ist es möglich, dass die Familie wieder an den Geburtsort bzw. Hauptwohnsitz zurückkehrt. Wenn sie aber weiterhin nicht in der Lage ist, neben dem mächtigen Feind zu leben, wird sie die Gegend für immer verlassen. In den Städten wenden sich die Familien auch an die staatlichen Behörden. Wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden, kommt zum Schutz der Familienehre wieder Selbstjustiz in Betracht.

Vor dem Krieg war es dem Staat möglich, sich in diese Konflikte einzumischen und somit die Kämpfe einzudämmen. Nachdem die jeweiligen Zentralregierungen in den letzten drei Jahrzehnten jedoch nicht in der Lage waren, das ganze Land unter ihre Kontrolle zu bringen, sowie aufgrund des andauernden Kriegszustandes und einer nicht funktionierenden Staatsgewalt, kommt es immer öfter zu Fällen von Selbstjustiz, und die regionalen Machthaber bzw. Kommandanten haben das Sagen."

Auszug aus der gutachterlichen Stellungnahme der Ländersachverständigen Mag. MALYAR vom 23.09.2017 zur Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit von afghanischen Behörden im Verfahren betreffend einen anderen Asylwerber vor dem Bundesverwaltungsgericht zur Zl. W246 2137371-1 (bereinigt um grammatikalische und orthographische Fehler):

"[...]

[Fragestellung des Gerichts:] Ist in Afghanistan im Allgemeinen Schutzfähig- und Schutzwilligkeit des Polizei- und Justizapparats vor Gewalthandlungen durch Privatpersonen vorhanden?

In der Strategie der westlichen Besatzer, bis 2014 durch Aufrüstung der afghanischen Sicherheitskräfte, kommt der afghanischen Polizei eine wichtige Rolle zu: Sie soll die vom Militär befreiten Gebiete halten und die Sicherheit garantieren, die für einen zivilen Aufbau notwendig ist. Die afghanische Polizei sowie der Justizapparat sind jedoch als hochgradig korrupt bekannt. Der schlechte Ruf der Sicherheitskräfte und der Justiz ist seit Jahren konstant. Somit sind Justiz und Polizei weiterhin häufig schlecht ausgestattet und ausgebildet.

Diese mangelhafte Ausbildung der Polizisten stellt ein großes Problem dar. Beim Aufbau des Polizeiapparates wurde lange Zeit die Quantität der Qualität bevorzugt. Dennoch sind die Armee und Polizei gewachsen. Allerdings sind bei der Besetzung höherer Stellen innerhalb der Polizei persönliche Beziehungen wichtiger als der professionelle Hintergrund. Auch die schlechte Ausrüstung wurde immer wieder bemängelt, so fehlt es beispielsweise vielen Polizisten an Munition und Fahrzeugen.

All dies führt dazu, dass weder die Polizei noch die Justiz wirklich in der Lage sind, der Bevölkerung Schutz zu gewähren.

[...]"

2. Beweiswürdigung:

Die Länderfeststellungen gründen auf den jeweils angeführten Länderberichten angesehener staatlicher und nichtstaatlicher Einrichtungen. Angesichts der Seriosität der Quellen und der Plausibilität ihrer Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln, sodass sie den Feststellungen zur Situation in Afghanistan zugrunde gelegt werden konnten.

Der Verfahrensgang und die getroffenen Feststellungen ergeben sich aus dem unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des Bundesamtes sowie des Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichts, insbesondere aus der mündlichen Verhandlung am 10. 10. 2019.

Die Feststellungen zum Geburtsort und dem beruflichen Werdegang des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen im Verfahren getätigten, im Wesentlichen gleichlautenden und daher glaubhaften Angaben.

Die Feststellung zur strafgerichtlichen Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug.

Der Beschwerdeführer brachte zu seinem Fluchtgrund vor, dass er aus Furcht vor XXXX , der seine Tochter zu einem Eheleben zwingen wollte und dessen Familie, wegen seiner Weigerung seine Tochter diesen zu überlassen, Afghanistan bzw den Iran verlassen habe.

Der Beschwerdeführer wiederholte in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht glaubhaft das in der Einvernahme vor dem Bundesamt getätigte Vorbringen zu seinem Fluchtgrund und führte dies nach konkreterer Befragung näher aus. Er vermochte mit seinen Ausführungen ein eindeutig nachvollziehbares Bild der von ihm erlebten Geschehnisse zu zeichnen und vermittelte neben auch durch sein Auftreten, während der gesamten Verhandlung den Eindruck, das Erzählte tatsächlich erlebt zu haben.

Dies steht auch im Gleichklang mit dem vom Sohn des Beschwerdeführers in seiner Verhandlung beim Bundesverwaltungsgericht geschilderten Vorbringen, in dessen Verfahren (Zl W261 2203942) der Beschwerdeführer zeugenschaftlich einvernommen wurde und das auch zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft beim Sohn des Beschwerdeführers führte, weil er als Mitglied der Familie seiner Schwester, XXXX , mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Blutrache und Ehrenmord bedroht ist, weil sich seine Schwester mit Unterstützung ihrer Familie und im Besonderen mit Hilfe ihres Vaters (dem Beschwerdeführer) weigerte, als Ehefrau des XXXX mit diesem eine Ehe zu führen.

3. Rechtliche Beurteilung:

Gemäß § 6 des Bundesverwaltungsgerichtsgesetzes (BVwGG), BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist.

In vorliegendem Fall ist in den maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen eine Senatszuständigkeit nicht vorgesehen und obliegt somit in der gegenständlichen Rechtssache die Entscheidung dem nach der jeweils geltenden Geschäftsverteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zuständigen Einzelrichter.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I 2013/33 i.d.F. BGBl. I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

Gemäß § 3 Bundesgesetz über die Einrichtung und Organisation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA-Einrichtungsgesetz - BFA-G) BGBl. I Nr. 87/2012 idgF obliegt dem Bundesamt die Vollziehung des BFA-VG (Z 1), die Vollziehung des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl.I Nr. 100 (Z 2), die Vollziehung des 7., 8. und 11. Hauptstückes des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr.100 (Z 3) und die Vollziehung des Grundversorgungsgesetzes - Bund 2005, BGBl.I Nr.100 (Z 4).

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Soweit das Verwaltungsgericht nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, hat es gemäß § 27 VwGVG den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs.1 Z 3 und 4) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3) zu überprüfen. Gemäß § 9 Abs.1 VwGVG hat die Beschwerde u.a. (Z 3) die Gründe, auf die sich die Behauptung der Rechtswidrigkeit stützt, sowie (Z 4) das Begehren zu enthalten. In den erläuternden Bemerkungen der Regierungsvorlage zur Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012, BGBl. I Nr. 51/2012, wurde zu § 27 VwGVG ausgeführt: "Der vorgeschlagene § 27 legt den Prüfungsumfang des Verwaltungsgerichtes fest. Anders als die Kognitionsbefugnis einer Berufungsbehörde (vgl. § 66 Abs. 4 AVG) soll die Kognitionsbefugnis des Verwaltungsgerichtes durch den Inhalt der Beschwerde beschränkt sein."

Zu A)

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318;

09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN;

19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131;

25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 05.11.1992, Zl. 92/01/0792; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht - diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann -, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).

Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. "inländische Fluchtalternative" vor. Der Begriff "inländische Fluchtalternative" trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).

Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße - möglicherweise vorübergehende - Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände iSd. Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, Zl. 98/20/0399; 03.05.2000, Zl. 99/01/0359).

Der Beschwerdeführer hat glaubhaft dargelegt, dass seine Familie und er wegen der Weigerung seiner Tochter, mit XXXX ein Eheleben zu führen, bedroht werden. Der Familie des Beschwerdeführers droht daher Blutrache bzw Ehrenmord.

Dieser vom Beschwerdeführer vorgebrachte Eingriff in die vom Staat zu schützende Sphäre des Beschwerdeführers knüpft an einen in Art 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention festgelegten Grund, nämli

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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