TE OGH 2020/2/19 7Ob6/20p

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Veröffentlicht am 19.02.2020
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Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Ing. G***** E*****, vertreten durch Dr. Norbert Nowak, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei G***** AG, *****, vertreten durch die Schönherr Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 6.342,73 EUR sA, über die Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 8. November 2018, GZ 60 R 98/18v-12, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 15. Juni 2018, GZ 18 C 109/18p-8, abgeändert wurde, beschlossen und zu Recht erkannt:

Spruch

I. Das Revisionsverfahren wird fortgesetzt.

II. Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 626,52 EUR (darin 104,42 EUR an USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der Kläger unterfertigte am 22. Oktober 2007 bei der Beklagten einen Antrag auf Abschluss einer fondsgebundenen Lebensversicherung ab 1. Dezember 2007 bis 1. Dezember 2030. In den „Erläuterungen“ (Stand März 2007) zum Antrag finden sich folgende Hinweise:

Möglichkeiten zum Rücktritt des Versicherungsnehmers vom Versicherungsvertrag sind in folgenden Gesetzen geregelt:

§ 5b Versicherungsvertragsgesetz

[…]

§ 165a Versicherungsvertragsgesetz

Es besteht ein Rücktrittsrecht von 30 Tagen ab Zustandekommen des Vertrages

§ 3a Konsumentenschutzgesetz

[…]

§ 3 Konsumentenschutzgesetz

[…]

§ 8 Fern-Finanzdienstleistungsgesetz

[…]

Bitte beachten Sie, dass alle Rücktrittsrechte der Schriftform bedürfen und e-mails nicht als schriftliche Kündigung gelten.“

Im Jahr 2016 kündigte der Kläger den Vertrag und erhielt von der Beklagten den Rückkaufswert nach § 176 VersVG ausgezahlt. Am 17. Jänner 2018 erklärte der Kläger unter Berufung auf § 165a VersVG den Rücktritt vom Versicherungsvertrag.

Der Kläger begehrte die von ihm gezahlten Prämien zuzüglich Zinsen und abzüglich des Rückkaufswerts samt Zinsen und abzüglich eines Entgelts für den Risikoschutz. Ihm stehe zu, zeitlich unbefristet, auch nach Kündigung, zurückzutreten, weil er unrichtig über das
– richtigerweise binnen 30 Tagen ab Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags und formfrei zustehende – Rücktrittsrecht nach § 165a VersVG belehrt worden sei.

Die Beklagte wandte ein, die Belehrung sei zutreffend sowie gesetzes- und richtlinienkonform vor Abschluss des Versicherungsvertrags erfolgt. Die 30-tägige Rücktrittsfrist des § 165a VersVG sei abgelaufen, das Rücktrittsrecht sei verjährt und werde rechtsmissbräuchlich geltend gemacht. Im Falle des Rücktritts stünde nur der Rückkaufswert nach § 176 VersVG zu.

Das Erstgericht wies das Begehren in Ansehung der im Klagebegehren enthaltenen Versicherungssteuer ab (was unangefochten blieb) und gab im Übrigen dem Klagebegehren statt.

Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung im gänzlich klagsabweisenden Sinne ab. Es ließ die ordentliche Revision zur bereicherungsrechtlichen Rückabwicklungsproblematik von Lebensversicherungsverträgen zu.

Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, der Klage zur Gänze stattzugeben; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Beklagte beantragt die Zurück-, hilfsweise die Abweisung der Revision.

Rechtliche Beurteilung

Zu I.:

1.1. Der Senat hat aus Anlass der Revision mit Beschluss vom 27. Februar 2019, AZ 7 Ob 26/19b, das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das Vorabentscheidungsersuchen vom 12. Juli 2018 des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien (GZ 13 C 738/17z-12 [13 C 8/18y, 13 C 21/18k und 13 C 2/18s]), Rechtssache C-479/18, UNIQA Österreich Versicherungen ua, unterbrochen.

1.2. Der EuGH hat mit Urteil vom 19. Dezember 2019 in den verbundenen Rechtssachen C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, über das Vorabentscheidungsersuchen entschieden.

1.3. Das Revisionsverfahren ist daher fortzusetzen.

Zu II.:

Die Revision ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig, jedoch nicht berechtigt.

A. Vorlagefragen und Beantwortungen:

1. Die vorlegenden Gerichte haben dem EuGH (ua) folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.1. Vorlagefrage 1: Sind „Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96, Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138 in Verbindung mit deren Art. 186 Abs. 1 dahin auszulegen (...), dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die dem Versicherungsnehmer vom Versicherer mitgeteilt werden, entweder nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder eine Form verlangt wird, die das auf den Vertrag anwendbare nationale Recht nicht vorschreibt“? (EuGH 19. 12. 2019, C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rn 60).

1.2. Diese Vorlagefrage 1 hat der EuGH wie folgt beantwortet:

„1. Art. 15 Abs. 1 der Zweiten Richtlinie 90/619/EWG des Rates vom 8. November 1990 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 79/267/EWG in der durch die Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96/EWG des Rates vom 10. November 1992 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung (Lebensversicherung) sowie zur Änderung der Richtlinien 79/267/EWG und 90/619/EWG (Dritte Richtlinie Lebensversicherung), Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 und Art. 185 Abs. 1 der Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und der Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) in Verbindung mit deren Art. 186 Abs. 1 sind dahin auszulegen, dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt,

– nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder

– eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht oder den Bestimmungen des Vertrags nicht vorgeschrieben ist, solange dem Versicherungsnehmer durch die Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Die vorlegenden Gerichte werden im Wege einer Gesamtwürdigung, bei der insbesondere dem nationalen Rechtsrahmen und den Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen sein wird, zu prüfen haben, ob den Versicherungsnehmern diese Möglichkeit durch den in den ihnen mitgeteilten Informationen enthaltenen Fehler genommen wurde.“

2.1. Vorlagefrage 3: Sind „Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 und Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 dahin auszulegen (...), dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Kündigung und Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag, u. a. der Zahlung des Rückkaufswerts durch den Versicherer, ausüben kann, weil in dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht geregelt ist, welche rechtlichen Wirkungen es hat, wenn überhaupt keine Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden oder die darüber mitgeteilten Informationen fehlerhaft waren.“? (EuGH 19. 12. 2019, C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rn 91).

2.2. Diese Vorlagefrage 3 hat der EuGH wie folgt beantwortet:

„3. Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 90/619 in der durch die Richtlinie 92/96 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 31 der Richtlinie 92/96 und Art. 35 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 in Verbindung mit deren Art. 36 Abs. 1 sind dahin auszulegen, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Kündigung und Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag, u. a. der Zahlung des Rückkaufswerts durch den Versicherer, ausüben kann, sofern in dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht geregelt ist, welche rechtlichen Wirkungen es hat, wenn überhaupt keine Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden oder die darüber mitgeteilten Informationen fehlerhaft waren.“

B. Auszahlung des Rückkaufswerts:

1.1. Die Beklagte hat dem Kläger nach dem Laufzeitende den Rückkaufswert ausbezahlt.

1.2. Aus der Beantwortung der Vorlagefrage 3 folgt, dass der Versicherungsnehmer sein Rücktrittsrecht auch noch nach Erfüllung aller Verpflichtungen aus dem Vertrag, also insbesondere auch noch nach der Zahlung des Rückkaufswerts durch den Versicherer, ausüben kann, sofern in dem auf den Vertrag anwendbaren Recht nicht geregelt ist, welche rechtlichen Wirkungen es hat, wenn überhaupt keine Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden oder die darüber mitgeteilten Informationen fehlerhaft waren.

1.3. Im österreichischen Recht (VersVG) waren bis zum Zeitpunkt des vom Kläger am 17. 1. 2018 gegenüber der Beklagten erklärten Vertragsrücktritts die Rechtswirkungen für den Fall, dass dem Versicherungsnehmer keine oder fehlerhafte Informationen über das Rücktrittsrecht mitgeteilt wurden, nicht geregelt. Einem dem Kläger infolge fehlerhafter Informationen gegebenenfalls noch zustehenden Rücktrittsrecht steht daher der Umstand, dass der Versicherungsvertrag gekündigt und die Beklagte dem Kläger auch schon den Rückkaufswert ausbezahlt hat, grundsätzlich nicht entgegen.

C. Belehrung über das Rücktrittsrecht:

1. Zum nationalen (österreichischen) Recht bei Abschluss des Versicherungsvertrags:

1.1. Der bei Vertragsabschluss geltende § 165a VersVG (idF VersRÄG 2006, BGBl I 2006/95) lautete soweit hier relevant:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist berechtigt, binnen 30 Tagen nach seiner Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags von diesem zurückzutreten. …“

1.2. Der bei Vertragsabschluss geltende § 178 VersVG (idF BGBl 1994/509) lautete:

„(1) Auf eine Vereinbarung, die von den Vorschriften der §§ 162 bis 164, der §§ 165, 165a und 169 oder des § 171 Abs. 1 Satz 2 zum Nachteil des Versicherungsnehmers abweicht, kann sich der Versicherer nicht berufen. Jedoch kann für die Kündigung, zu der nach § 165 der Versicherungsnehmer berechtigt ist, die Schriftform ausbedungen werden.“

1.3. Der bei Vertragsabschluss (bis 9. 12. 2007) geltende § 9a Abs 1 VAG (idF BGBl 1996/447) lautete soweit hier relevant:

„(1) Der Versicherungsnehmer ist bei Abschluß eines Versicherungsvertrages über ein im Inland belegenes Risiko vor Abgabe seiner Vertragserklärung schriftlich zu informieren über

6. die Umstände, unter denen der Versicherungsnehmer den Abschluß des Versicherungsvertrages widerrufen oder von diesem zurücktreten kann.

...“

2. Zur Rechtsbelehrung der Beklagten:

2.1. Das Antragsformular der Beklagter enthielt in der Rechtsbelehrung über die Rücktrittsrechte des Versicherungsnehmers nach § 165a VersVG den Hinweis:

„Es besteht ein Rücktrittsrecht von 30 Tagen ab Zustandekommen des Vertrages.“

2.2. Der Hinweis entsprach – nach seinem
Inhalt – den Anforderungen des Art 15 Abs 1 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung 90/619 und dem § 165a Abs 1 VersVG idF VersRÄG 2006 insofern nicht, als für den Fristbeginn auf das Zustandekommen des Vertrags, nicht jedoch auf die Verständigung des Versicherungsnehmers von diesem Umstand Bezug genommen wird.

Der Fachsenat hat zu 7 Ob 78/19z [Pkt 7.1.] ausgeführt, dass der Versicherungsvertrag grundsätzlich formfrei ist und er auch schlüssig oder mündlich abgeschlossen oder geändert werden kann (RS0014572). Er kommt – wie Verträge im Allgemeinen – grundsätzlich durch das Anbot und dessen Annahme zustande (§ 861 ABGB; RS0013984; Bollenberger in KBB5 § 861 Rz 1 f; Rummel in Rummel/Lukas ABGB4 § 861 Rz 1; Riedler in Schwimann/Kodek ABGB4 § 861 Rz 2 ff; uva). Für den Abschlusszeitpunkt von Verträgen kommt es daher regelmäßig auf den Zugang der (Annahme-)Erklärung an (RS0014094 [T1]; RS0014073; vgl auch RS0108978).

Der Senat hat zu 7 Ob 78/19z [Pkt 7.2.] weiters ausgeführt, dass dann, wenn der Versicherer ein vom Interessenten an einem ihrer Produkte auszufüllendes und bei ihr einzureichendes Antragsformular verwendet, es dem durchschnittlichen Versicherungsnehmer (vgl RS0050063; RS0081741; RS0008901) schon nach allgemeinen Grundsätzen verständlich ist, dass sein Antrag eine Annahme erfordert und dass damit der Vertrag zustande kommt. Dies ergibt sich auch schon allgemein verständlich aus dem Begriff „Antrag“. Ein Antrag kann nicht ohne Annahmeerklärung des Vertragspartners ein Vertrag sein. Für diesen Fall ist der für den Versicherungsnehmer von seinem Empfängerhorizont wahrnehmbare Anknüpfungspunkt für den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses jener des Zugangs der Polizze (vgl Schauer in Fenyves/Schauer VersVG § 165a Rz 14). Damit ist für den durchschnittlichen, redlichen und vernünftigen Versicherungsnehmer der Zeitpunkt des Zustandekommens des Vertrags und damit der Beginn der Rücktrittsfrist mit Zugang der Annahme seines Anbots durch den Versicherer klar. Der Zugang der Polizze als wirksame Annahme des Versicherungsantrags ist daher gleichzeitig die Verständigung vom Zustandekommen des Vertrags.

Der Kläger hat selbst bereits in seiner Klage vorgebracht, dass die Beklagte seinen Antrag angenommen habe und der Vertrag dadurch zustandegekommen sei.

Dass in der Belehrung auf das Zustandekommen und nicht auf die Verständigung davon Bezug genommen wurde, ist daher insofern unschädlich, als dem Kläger im Lichte des zu 7 Ob 78/19z Ausgeführten klar war, ab welchem Zeitpunkt die – der Dauer nach dem Unionsrecht ebenso wie dem § 165a VersVG (idF VersRÄG 2006) entsprechende – Rücktrittsfrist zu laufen begonnen hatte, und ihm dadurch nicht die Möglichkeit genommen wurde, unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Information sein Rücktrittsrecht auszuüben (vgl die Ausführungen zu Pkt D.).

2.3. Der bei Vertragsabschluss geltende § 165a Abs 1 VersVG (idF VersRÄG 2006) verlangte für die Erklärung des dem Versicherungsnehmer eingeräumten Rücktritts keine Schriftform. Auf eine davon zum Nachteil des Versicherungsnehmers abweichende Vereinbarung einer Schriftform konnte und kann sich der Versicherer nach § 178 VersVG (idF BGBl 1994/509) nicht berufen.

2.4. Der Kläger vertritt die Rechtsansicht, dass ihn die Beklagte deshalb unrichtig belehrt habe, weil sie für den Rücktritt nach § 165a Abs 1 VersVG (idF VersRÄG 2006) die Einhaltung der Schriftform („Bitte beachten Sie, dass alle Rücktrittsrechte der Schriftform bedürfen und e-mails nicht als schriftliche Kündigung gelten.“) verlangt habe. Daraus ergibt sich aber – entgegen der Ansicht des Klägers – nicht ein unbefristetes Rücktrittsrecht:

D. Schriftformerfordernis und Wahrnehmung des Rücktrittsrechts:

1. Betreffend die Form der Rücktrittserklärung lag insoweit eine unvollständige bzw unrichtige Belehrung durch die Beklagte vor, als „nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen (österreichischen) Recht keiner besonderen Form bedarf“ und „eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen (österreichischen) Recht … nicht vorgeschrieben ist“.

2. Aus der Beantwortung der Vorlagefrage 1 folgt allerdings, dass die Rücktrittsfrist bei einem Lebensversicherungsvertrag auch dann ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem der Versicherungsnehmer davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Vertrag geschlossen ist, wenn in den Informationen, die der Versicherer dem Versicherungsnehmer mitteilt, nicht angegeben ist, dass die Erklärung des Rücktritts nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht keiner besonderen Form bedarf, oder eine Form verlangt wird, die nach dem auf den Vertrag anwendbaren nationalen Recht nicht vorgeschrieben ist, solange dem Versicherungsnehmer durch die Informationen nicht die Möglichkeit genommen wird, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben.

3. Nach Ansicht des Fachsenats wurde dem Versicherungsnehmer durch das Verlangen des Versicherers nach Einhaltung der Schriftform für die Ausübung seines Rücktrittsrechts nach § 165a Abs 1 VersVG (idF VersRÄG 2006) und den Hinweis, dass E-Mails nicht als schriftliche Kündigung gelten, nicht die Möglichkeit genommen, sein Rücktrittsrecht im Wesentlichen unter denselben Bedingungen wie bei Mitteilung zutreffender Informationen auszuüben. Dies folgt im gegebenen Kontext aus folgenden Erwägungen (vgl bereits 7 Ob 3/20x, 7 Ob 4/20v und 7 Ob 16/20h):

4.1. § 165a Abs 1 VersVG (idF VersRÄG 2006) sah für die Ausübung des Rücktrittsrechts keine besondere Form vor. § 178 Abs 1 VersVG (idF BGBl 1994/509) bestimmte, dass sich der Versicherer auf eine Vereinbarung, die von den Vorschriften (ua) des § 165a VersVG (idF VersRÄG 2006) zum Nachteil des Versicherungsnehmers abweicht, nicht berufen kann. Selbst wenn sich also der Kläger als Versicherungsnehmer für einen von ihm gegebenenfalls gewünschten Rücktritt nach § 165a Abs 1 VersVG (idF VersRÄG 2006) nicht an die Schriftform gehalten, diesen etwa mündlich (telefonisch) erklärt hätte, hätte sich die Beklagte nicht auf die Einhaltung der Schriftform berufen können. Ein Rücktritt des Klägers nach § 165a Abs 1 VersVG (idF VersRÄG 2006) hätte also ungeachtet der Rechtsbelehrung der Beklagen in jeder beliebigen Form – wirksam – erfolgen können.

4.2. Nach Art 31 Abs 4 der Dritten Richtlinie Lebensversicherung, Art 36 Abs 4 der Richtlinie 2002/83 bzw Art 185 Abs 8 der Solvabilität-II-Richtlinie haben die Mitgliedstaaten die Durchführungsvorschriften zur unionsrechtlich vorgegebenen Belehrung zu erlassen. Gegenstand der Belehrung sind (ua) „die Modalitäten der Ausübung des Rücktrittsrechts“, welche wiederum nach Art 15 Abs 1 Unterabs 3 der Zweiten Richtlinie Lebensversicherung, Art 35 Abs 1 Unterabs 3 der Richtlinie 2002/83 bzw Art 186 Abs 1 Unterabs 3 der Solvabilität-II-Richtlinie ebenfalls von den Mitgliedstaaten festzulegen sind (vgl dazu auch EuGH 19. 12. 2019, C-355/18 bis C-357/18 und C-479/18, Rn 61 f). Daraus folgt, dass der europäische Gesetzgeber den Mitgliedstaaten keine bestimmten Vorgaben für die Form der Ausübung des Rücktrittsrechts erteilt, sondern diesen deren Festlegung überlassen hat. Der österreichische Gesetzgeber hat Art 186 Abs 1 der Solvabilität-II-Richtlinie mit dem Bundesgesetz, mit dem das Versicherungsvertragsgesetz, das Konsumentenschutzgesetz und das Versicherungsaufsichtsgesetz 2016 geändert werden (BGBl I 2018/51) in Form des einheitlichen Rücktrittsrechts nach § 5c VersVG (idgF) umgesetzt. Als Grund für die in § 5c Abs 4 Satz 1 VersVG in Verbindung mit § 1b VersVG (idgF) für den Rücktritt vorgeschriebene Form führte der österreichische Gesetzgeber aus:

„Für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach § 5c wird im Hinblick auf die notwendige Beweisbarkeit für die rechtzeitige Absendung der Rücktrittserklärung die geschriebene Form vorgesehen. Die Vereinbarung einer strengeren Form soll nicht möglich sein. Damit werden die Voraussetzungen für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach Art. 186 Abs. 1 Richtlinie 2009/138/EG gesetzlich geregelt.“ (IA 302/A 26. GP 5).

Der Gesetzgeber misst damit der Beweisbarkeit der Ausübung des Rücktrittsrechts besondere Bedeutung zu.

4.3. Im Alltag ist für eine Vielzahl von (rechtsgeschäftlichen) Erklärungen die Schriftform auch bei Privaten (Verbrauchern) eine geradezu typische und faktisch regelmäßig praktizierte Mitteilungsform, die für jedermann einfach und ohne besonderen Aufwand durchzuführen ist, sodass keine für ihre Effektivität relevanten Hürden entgegenstehen. Der Schriftform für den Rücktritt vom Lebensversicherungsvertrag stehen keine grundsätzlichen europarechtlichen Bedenken entgegen (vgl D.4.2.) und gerade die Schriftform beseitigt – im Unterschied zu mündlichen oder fernmündlichen Erklärungen – Zweifel über Zeitpunkt und Inhalt einer Rücktrittserklärung und dient insofern dem
– auch vom Gesetzgeber (D.4.2.) betonten – Schutz des Versicherungsnehmers bei der Wahrnehmung des Nachweises eines erhobenen Rücktritts. War daher eine Rechtsbelehrung des Versicherers oder eine in seinen AVB enthalten gewesene Regelung dahin zu verstehen, dass der Rücktritt nach § 165a Abs 1 VersVG (idF VersRÄG 2006) schriftlich zu erklären sei, dann stellt dies keine relevante Erschwernis dieses Rücktrittsrechts dar, die dem Versicherungsnehmer dessen unbefristete Ausübung erlauben würde.

E. Ergebnis:

1. Ausgehend von der Beantwortung der Vorlagefrage 3 steht einem dem Kläger infolge fehlerhafter Informationen des Versicherers gegebenenfalls zustehendes unbefristetes Rücktrittsrecht der Umstand nicht entgegen, dass die Laufzeit des Versicherungsvertrags durch Kündigung längst abgelaufen und die Beklagte dem Kläger auch schon den Rückkaufswert ausbezahlt hat.

2. Dass die dem Kläger von der Beklagten erteilte Belehrung über sein Rücktrittsrecht nach § 165a Abs 1 VersVG (idF VersRÄG 2006) inhaltlich insofern unrichtig war, als auf das Zustandekommen und nicht auf die Verständigung davon Bezug genommen wurde, ist unschädlich.

3. Auch wenn die Rechtsbelehrung der Beklagten dem Kläger die Notwendigkeit der Schriftform für die Ausübung des Rücktrittsrechts nach § 165a Abs 1 VersVG (idF VersRÄG 2006) vermittelte, folgt daraus keine relevante Erschwernis dieses Rücktrittsrechts. Auf die Einhaltung der Schriftform konnte sich die Beklagte nicht berufen, sodass ein allfälliger Rücktritt des Klägers in jeder beliebigen Form wirksam gewesen wäre. Die Schriftform steht im gegebenen Kontext nicht mit europarechtlichen Vorgaben im Widerspruch, ist eine auch für Private (Verbraucher) ohne praktische Hürden wahrnehmbare und faktisch regelmäßig praktizierte Mitteilungsform und dient im vorliegenden Zusammenhang dem Schutz des Versicherungsnehmers bei der Wahrnehmung seiner Beweispflicht. Ausgehend von der Beantwortung der Vorlagefrage 1 durch den EuGH ist daher ein allfälliges Verlangen der Beklagten nach einer schriftlichen Ausübung des Rücktritts nach § 165a Abs 1 VersVG (idF VersRÄG 2006) keine relevante Erschwernis dieses Rücktrittsrechts, die dessen unbefristete Ausübung erlauben würde.

4. Die Rücktrittsfrist nach § 165a Abs 1 VersVG (idF VersRÄG 2006) hat im vorliegenden Fall mit dem Zeitpunkt zu laufen begonnen, zu dem der Beklagte davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass der Vertrag geschlossen ist, also mit Zugang der Polizze. Der im Jahr 2018 erklärte Vertragsrücktritt ist daher längst verfristet. Weitere Fragen zur Verjährung von Zinsen im Fall eines berechtigten Rücktritts des Versicherungsnehmers und zur Rückforderbarkeit der Versicherungssteuer stellen sich somit nicht. Die Vorinstanzen haben die Klagebegehren zu Recht abgewiesen. Der Revision ist ein Erfolg zu versagen.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 50, 41 ZPO.

Textnummer

E127609

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00006.20P.0219.000

Im RIS seit

26.03.2020

Zuletzt aktualisiert am

19.07.2021
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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