TE Bvwg Erkenntnis 2019/1/17 W216 2176490-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.01.2019
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Entscheidungsdatum

17.01.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W216 2176490-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Marion STEINER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung Diakonie & Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamts für Asyl und Fremdenwesen, Regionaldirektion Tirol, Außenstelle Innsbruck, vom 16.10.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 15.01.2019 und am 15.03.2019, zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgeben und es wird XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am 04.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am selben Tag fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Beschwerdeführer an, er habe Afghanistan verlassen, weil er Schwierigkeiten mit einem Onkel väterlicherseits gehabt habe. Dieser habe dem Beschwerdeführer das Erbe seines Vaters nicht geben wollen. Der Beschwerdeführer habe sich daraufhin an die Dorfältesten gewandt, welche entschieden hätten, dass dem Beschwerdeführer das Erbe zustehen würde. Daraufhin sei der Beschwerdeführer von seinem Onkel väterlicherseits und dessen Sohn mit dem Tod bedroht worden.

Am 09.10.2017 fand eine niederschriftliche Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol, Außenstelle Innsbruck (im Folgenden: belangte Behörde) statt, in welcher der Beschwerdeführer im Wesentlichen angab, dass er afghanischer Staatsangehöriger, Hazara und schiitischer Moslem sei. Er sei in Afghanistan in der Provinz XXXX , Distrikt XXXX , Dorf XXXX , geboren und aufgewachsen. Er habe keine Schule besucht und als Fliesenleger bzw. Maurer und anschließend bis zu seiner Ausreise als Kfz-Händler gearbeitet. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse seien gut gewesen, er habe von seinem Vater Grundstücke geerbt und selbst zwei Läden in einem Basar, ein Haus im Heimatdorf und ein eigenes Grundstück besessen. Der Beschwerdeführer habe weiters zwei Mal für ca. eineinhalb Jahre bzw. acht bis zwölf Monate im Iran gelebt.

Zu seinen Familienverhältnissen gab der Beschwerdeführer an, sein Vater sei verschollen und seine Mutter verstorben. Der Beschwerdeführer habe keine Geschwister und sei verheiratet und habe einen minderjährigen Sohn. Dieser würde mit seiner Mutter (der Ehefrau des Beschwerdeführers) im Heimatdistrikt leben. Ansonsten würde nur noch ein Onkel väterlicherseits im Heimatdorf leben. Zu seiner Ehefrau und seinem Sohn bestehe regelmäßiger telefonischer Kontakt, zum Onkel väterlicherseits bestehe kein Kontakt mehr.

Zu den Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer an, er habe Afghanistan wegen Problemen mit seinem Onkel väterlicherseits verlassen. Dieser habe den Beschwerdeführer nach dem Verschwinden seines Vaters und dem Tod seiner Mutter bei sich aufgenommen. Der Beschwerdeführer habe als Kind als Hirte und im Restaurant seines Onkels in der Stadt XXXX arbeiten müssen und habe, im Gegensatz zu seinen Cousins keine Schule besuchen können. Als der Beschwerdeführer erwachsen geworden sei, habe er Anspruch auf das Erbe seines Vaters erhoben, aber der Onkel väterlicherseits habe dies ignoriert und ihn bedroht. Zunächst habe er die Drohungen nicht ernst genommen, bis sein Onkel ihn einmal deswegen geschlagen habe. Daraufhin habe der Beschwerdeführer seinen Onkel angezeigt und beide seien zur Befragung vorgeladen worden. Dort habe der Beschwerdeführer von seinen Problemen mit seinem Onkel erzählt. Die Behörde habe ihm aber nicht helfen wollen. Daher habe er keinen anderen Ausweg gesehen, als die Flucht. Vor der Ausreise habe der Beschwerdeführer zum wiederholten Mal die Ältesten des Dorfes gerufen und sie gebeten, den Streit zu schlichten. Einer der Dorfältesten wollte daraufhin die ihm bekannte Wahrheit über das Erbe des Vaters des Beschwerdeführers erzählen. Der Onkel des Beschwerdeführers sei daraufhin sehr aufgebracht gewesen, habe den Beschwerdeführer geschlagen und habe auf den Koran geschworen, dass er den Beschwerdeführer und dessen Sohn bestrafen werde. Daraufhin habe der Beschwerdeführer Angst bekommen, habe seine Familie zu seinen Schwiegereltern gebracht und sei geflohen.

Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG (Spruchpunkt II) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG eine Rückkehrentscheidung und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise festgelegt (Spruchpunkt IV).

Dagegen erhob der Beschwerdeführer durch seine amtswegig beigegebene Rechtsvertretung, ARGE Rechtsberatung, Diakonie & Volkshilfe, fristgerecht Beschwerde. Als Beschwerdepunkte wurden Rechtswidrigkeit infolge von Verletzung von Verfahrensvorschriften und inhaltliche Rechtswidrigkeit geltend gemacht. Die behauptete Verletzung von Verfahrensvorschriften wurde durch mangelhaftes Ermittlungsverfahren, mangelhafte Länderfeststellungen und mangelhafte Beweiswürdigung begründet. Die behauptete inhaltliche Rechtswidrigkeit wurde auf unrichtige rechtliche Beurteilung zu allen Spruchpunkten gestützt.

Es wurden die Anträge gestellt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung durchführen und dem Beschwerdeführer den Status eines Asylberechtigten zuerkennen. In eventu wurden die Anträge gestellt, dem Beschwerdeführer den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, eine Rückkehrentscheidung bzw. die Abschiebung nach Afghanistan für dauerhaft unzulässig zu erklären oder den angefochtenen Bescheid zu beheben und die Angelegenheit an die belangte Behörde zurückzuverweisen.

Im Zuge der Übermittlung der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht gab die belangte Behörde eine kurze Stellungnahme zum Beschwerdevorbringen ab und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

Mit Schreiben vom 14.01.2019 übermittelte der Beschwerdeführer ein Schreiben der Evangelikalen Freikirche XXXX und ein Taufzeugnis des Beschwerdeführers vom 02.09.2018.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 15.01.2019 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprachen Dari/Farsi eine mündliche Verhandlung durch, in welcher der Beschwerdeführer nochmals eingehend zu seinen persönlichen Verhältnissen und seinen Fluchtgründen sowie seiner vorgebrachten Konversion befragt wurde. Weiters wurde in Aussicht gestellt, zwei Zeugen zum Konversionsvorbringen einzuvernehmen. Die belangte Behörde hat auf eine Teilnahme an der Verhandlung verzichtet.

Mit Schreiben vom 17.01.2019 gab der Beschwerdeführer durch seine Rechtsvertretung bekannt, dass er die beiden geplanten Zeugen zwecks Terminvorschläge kontaktiert, aber nur einen der beiden erreicht habe.

Am 15.03.2019 wurde die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht fortgesetzt und es wurde der Beschwerdeführer nochmals eingehend zu seinem Konversionsvorbringen einvernommen und zwei Zeugen (den Pastor sowie den Bibelkursleiter des Beschwerdeführers) einvernommen. Des Weiteren wurde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit gegeben, zu den aktuellen Länderinformationen Stellung zu nehmen, wovon mündlich in der Verhandlung Gebrauch gemacht wurde. Die belangte Behörde hat auf eine Teilnahme an der Verhandlung verzichtet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage der Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der Einsichtnahme in die bezughabenden Verwaltungsakten, der mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht sowie der Einsichtnahme in das Zentrale Melderegister, das Zentrale Fremdenregister und Strafregister werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:

Der Beschwerdeführer führt den im Spruch genannten Namen sowie das dort genannte Geburtsdatum. Seine Identität steht nicht fest. Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an.

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan in der Provinz XXXX , Distrikt XXXX , Dorf XXXX , geboren und ist dort aufgewachsen. Er hat keine Schule besucht und hat als Fliesenleger bzw. Maurer, in einem Restaurant und anschließend bis zu seiner Ausreise als Kfz-Händler gearbeitet. Der Beschwerdeführer hat weiters zwei Mal für ca. eineinhalb Jahre bzw. acht bis zwölf Monate im Iran gelebt. Dort hat er auf Baustellen gearbeitet und war in medizinischer Behandlung.

Der Vater des Beschwerdeführers ist verschollen, es kann nicht abschließend festgestellt werden, ob er noch lebt oder verstorben ist. Die Mutter des Beschwerdeführers ist verstorben. Der Beschwerdeführer hat keine Geschwister und außer einem Onkel väterlicherseits und Cousins sind keine Verwandten des Beschwerdeführers in Afghanistan aufhältig. Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan traditionell islamisch verheiratet und hat einen minderjährigen Sohn. Dieser und seine Ehefrau leben in der Provinz XXXX , Distrikt XXXX , Dorf XXXX .

Seine wirtschaftlichen Verhältnisse sind gut, er hat in der Provinz XXXX Grundstücke, zwei Läden in einem Basar und ein Haus im Heimatdorf. Der Beschwerdeführer ist gesund (seine bei der Einvernahme vor der belangten Behörde genannten Probleme hat er in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht erwähnt und bereits vor der belangten Behörde angegeben, dass sie nicht behandlungsbedürftig seien), arbeitsfähig, arbeitswillig und verfügt über mehrjährige Berufserfahrung. Auch spricht er Dari/Farsi, eine der Landessprachen Afghanistans, auf muttersprachlichem Niveau und kennt die Sitten und Gebräuche seines Herkunftsstaats.

1.2. Zur maßgeblichen Situation des Beschwerdeführers in Österreich:

Der Beschwerdeführer reiste spätestens Anfang August 2015 illegal in das Bundesgebiet ein und stellte am 04.08.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Er besucht Deutschkurse, hat aber noch kein Zertifikat erworben. Weiters hat er ehrenamtliche bzw. gemeinnützige Tätigkeiten ausgeübt, für welche er eine geringe Entlohnung erhalten hat. Ansonsten hat er in Österreich nicht gearbeitet und lebt von der Grundversorgung.

Er ist in Österreich nicht vorbestraft.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine Familienangehörigen, hat aktuell auch keine Lebensgefährtin oder Freundin, verfügt aber über einen Freundeskreis, zu dem auch Österreicher zählen.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich, abgesehen von der Freikirche XXXX , weder Mitglied in einem Verein, noch in einer politischen Partei oder einer sonstigen Organisation.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in Afghanistan von seinem Onkel väterlicherseits aufgrund eines Streits um das Erbe des Vaters des Beschwerdeführers in asylrelevanter Intensität verfolgt wurde bzw. wird.

Der Beschwerdeführer ist in Afghanistan weder vorbestraft noch wurde er dort jemals inhaftiert und hatte auch mit den Behörden des Herkunftsstaats keine Probleme asylrelevanten Ausmaßes.

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan und dem Iran islamisch (schiitisch) sozialisiert, begann sich jedoch in Österreich für das Christentum zu interessieren. In Österreich kam er durch einen Freund in Kontakt mit dem Christentum, der ihm davon erzählt und sein Interesse am Christentum erweckt hat. Am 20.10.2017 besuchte der Beschwerdeführer schließlich zum ersten Mal die Kirche, welche er von da an regelmäßig besuchte. Nach knapp einem Jahr und dem Besuch eines Taufvorbereitungskurses wurde der Beschwerdeführer am 02.09.2018 getauft. Der Beschwerdeführer besucht regelmäßig Gottesdienste sowie den Bibelunterricht in der Evangelikalen Freikirche XXXX und nimmt an kirchlichen Aktivitäten teil.

Der Beschwerdeführer hat den christlichen Glauben verinnerlicht, ist zum christlichen Glauben konvertiert und würde seinen christlichen Glauben auch im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat weiter ausüben.

Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret Lebensgefahr sowie ein Eingriff in seine körperliche Integrität aufgrund seiner Konversion und Ausübung seines Glaubens in Afghanistan.

1.4. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Das Bundesverwaltungsgericht trifft folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:

1.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 13.11.2019:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 13.11.2019", Schreibfehler teilweise korrigiert):

"Religionsfreiheit

Etwa 99% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7% und die Schiiten auf 10 bis 19% der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 30.04.2019; vgl. AA 02.09.2019). Andere Glaubensgemeinschaften wie die der Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen weniger als ein Prozent der Bevölkerung aus (AA 02.09.2019; vgl. CIA 30.04.2019, USDOS 21.06.2019); in Kabul lebt auch weiterhin der einzige jüdische Mann in Afghanistan (UO 16.08.2019; vgl. BBC 11.04.2019). Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben (USDOS 21.06.2019; vgl. FH 04.02.2019, MPI 2004). Die Abkehr vom Islam gilt als Apostasie, die nach der Scharia strafbewehrt ist (USDOS 21.06.2019; vgl. AA 09.11.2016). Im Laufe des Untersuchungsjahres 2018 gab es keine Berichte über staatliche Verfolgungen aufgrund von Blasphemie oder Apostasie (USDOS 21.06.2019). Auch im Berichtszeitraum davor gab es keine Berichte zur staatlichen Strafverfolgung von Apostasie und Blasphemie (USDOS 29.05.2018).

Konvertiten vom Islam zu anderen Religionen berichteten, dass sie [sich] weiterhin vor Bestrafung durch Regierung sowie Repressalien durch Familie und Gesellschaft fürchteten. Das Gesetz verbietet die Produktion und Veröffentlichung von Werken, die gegen die Prinzipien des Islam oder gegen andere Religionen verstoßen (USDOS 21.06.2019). Das neue Strafgesetzbuch 2017, welches im Februar 2018 in Kraft getreten ist (USDOS 21.06.2019; vgl. ICRC o.D.), sieht Strafen für verbale und körperliche Angriffe auf Anhänger jedweder Religion und Strafen für Beleidigungen oder Verzerrungen gegen den Islam vor (USDOS 21.06.2019).

Das Zivil- und Strafrecht basiert auf der Verfassung; laut dieser müssen Gerichte die verfassungsrechtlichen Bestimmungen sowie das Gesetz bei ihren Entscheidungen berücksichtigen. In Fällen, in denen weder die Verfassung noch das Straf- oder Zivilgesetzbuch einen bestimmten Rahmen vorgeben, können Gerichte laut Verfassung die sunnitische Rechtsprechung der hanafitischen Rechtsschule innerhalb des durch die Verfassung vorgegeben Rahmens anwenden, um Gerechtigkeit zu erlangen. Die Verfassung erlaubt es den Gerichten auch, das schiitische Recht in jenen Fällen anzuwenden, in denen schiitische Personen beteiligt sind. Nicht-Muslime dürfen in Angelegenheiten, die die Scharia-Rechtsprechung erfordern, nicht aussagen. Die Verfassung erwähnt keine eigenen Gesetze für Nicht-Muslime (USDOS 21.06.2019).

[...]

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsalierung gegenüber religiösen Minderheiten und reformerischen Muslimen behindert (FH 04.02.2019; vgl. USDOS 21.06.2019).

Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 04.02.2019). Mitglieder der Taliban und des Islamischen Staates (IS) töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung (USDOS 21.06.2019; vgl. FH 04.02.2019). Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen (USDOS 21.06.2019).

Ein Muslim darf eine nicht-muslimische Frau heiraten, aber die Frau muss konvertieren, sofern sie nicht Anhängerin einer anderen abrahamitischen Religion (Christentum oder Judentum) ist. Einer Muslima ist es nicht erlaubt, einen nicht-muslimischen Mann zu heiraten. Konvertiten vom Islam riskieren die Annullierung ihrer Ehe (USDOS 21.06.2019). Ehen zwischen zwei Nicht-Muslimen sind gültig (USE o.D.). Die nationalen Identitätsausweise beinhalten Informationen über das Religionsbekenntnis. Das Bekenntnis zum Islam wird für den Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht benötigt. Religiöse Gemeinschaften sind gesetzlich nicht dazu verpflichtet, sich registrieren zu lassen (USDOS 21.06.2019).

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen (USDOS 21.06.2019).

Christentum und Konversion zum Christentum

Nichtmuslimische Gruppierungen wie Sikhs, Baha'i, Hindus und Christen machen ca. 0,3% der Bevölkerung aus. Genaue Angaben zur Größe der christlichen Gemeinschaft sind nicht vorhanden (USDOS 21.06.2019). USDOS schätzte im Jahresbericht zur Religionsfreiheit 2009 die Größe der geheimen christlichen Gemeinschaft auf 500 bis 8.000 Personen (USDOS 26.10.2009). Religiöse Freiheit für Christen in Afghanistan existiert; gemäß der afghanischen Verfassung ist es Gläubigen erlaubt, ihre Religion in Afghanistan im Rahmen der Gesetze frei auszuüben. Dennoch gibt es unterschiedliche Interpretationen zu religiöser Freiheit, da konvertierte Christen im Gegensatz zu originären Christen vielen Einschränkungen ausgesetzt sind. Religiöse Freiheit beinhaltet nicht die Konversion (RA KBL 01.06.2017).

Tausende ausländische Christen und einige wenige Afghanen, die originäre Christen und nicht vom Islam konvertiert sind, werden normal und fair behandelt. Es gibt kleine Unterschiede zwischen Stadt und Land. In den ländlichen Gesellschaften ist man tendenziell feindseliger (RA KBL 01.06.2017).

Afghanische Christen sind in den meisten Fällen vom Islam zum Christentum konvertiert. Neben der drohenden strafrechtlichen Verfolgung werden Konvertiten in der Gesellschaft ausgegrenzt und zum Teil angegriffen (AA 02.09.2019). Bei der Konversion vom Islam zum Christentum wird in erster Linie nicht das Christentum als problematisch gesehen, sondern die Abkehr vom und der Austritt aus dem Islam (LIFOS 21.12.2017). Laut islamischer Rechtsprechung soll jeder Konvertit drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken (USDOS 21.06.2019).

Konvertiten vom Islam zum Christentum werden von der Gesellschaft nicht gut behandelt, weswegen sie sich meist nicht öffentlich bekennen. Zur Zahl der Konvertiten gibt es keine Statistik. In den meisten Fällen versuchen die Behörden, Konvertiten gegen die schlechte Behandlung durch die Gesellschaft zu unterstützen, zumindest um potenzielles Chaos und Misshandlung zu vermeiden (RA KBL 01.06.2019).

Für christliche Afghanen gibt es keine Möglichkeit der Religionsausübung außerhalb des häuslichen Rahmens (AA 02.09.2019; vgl. USCIRF 4.2018, USDOS 21.06.2019), da es keine öffentlich zugänglichen Kirchen im Land gibt (USDOS 21.06.2019; vgl. AA 02.09.2019). Einzelne christliche Andachtsstätten befinden sich in ausländischen Militärbasen. Die einzige legale christliche Kirche im Land befindet sich am Gelände der italienischen Botschaft in Kabul (WA 11.12.2018; vgl. AA 02.09.2019). Die afghanischen Behörden erlaubten die Errichtung dieser katholischen Kapelle unter der Bedingung, dass sie ausschließlich ausländischen Christen diene und jegliche Missionierung vermieden werde (KatM KBL 08.11.2017).

Gemäß hanafitischer Rechtsprechung ist Missionierung illegal; Christen berichten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber. Es gibt keine Berichte zu staatlicher Verfolgung aufgrund von Apostasie oder Blasphemie (USDOS 21.06.2019).

Beobachtern zufolge hegen muslimische Ortsansäßige den Verdacht, Entwicklungsprojekte würden das Christentum verbreiten und missionieren (USDOS 21.06.2019). Ein christliches Krankenhaus ist seit 2005 in Kabul aktiv (CURE 8.2018); bei einem Angriff durch einen Mitarbeiter des eigenen Wachdienstes wurden im Jahr 2014 drei ausländische Ärzte dieses Krankenhauses getötet (NYP 24.04.2014). Auch gibt es in Kabul den Verein "Pro Bambini di Kabul", der aus Mitgliedern verschiedener christlicher Orden besteht. Dieser betreibt eine Schule für Kinder mit Behinderung (PBdK o.D.; vgl. AF 04.01.2019).

Apostasie, Blasphemie, Konversion

Glaubensfreiheit, die auch eine freie Religionswahl beinhaltet, gilt in Afghanistan de facto nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam (Apostasie) wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (AA 02.09.2019).

Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Missionierung illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 21.06.2019) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung "religionsbeleidigende Verbrechen" verboten ist (MoJ 15.05.2017: Art. 323).

Es gibt keine Berichte über die Verhängung der Todesstrafe aufgrund von Apostasie (AA 02.09.2019); auch auf höchster Ebene scheint die afghanische Regierung kein Interesse zu haben, negative Reaktionen oder Druck hervorzurufen - weder vom konservativen Teil der afghanischen Gesellschaft, noch von den liberalen internationalen Kräften, die solche Fälle verfolgt haben (LIFOS 21.012.2017; vgl. USDOS 21.06.2019) und Auch zur Strafverfolgung von Blasphemie existieren keine Berichte (USDOS 21.06.2019).

Es kann jedoch einzelne Lokalpolitiker geben, die streng gegen mutmaßliche Apostaten vorgehen, und es kann auch im Interesse einzelner Politiker sein, Fälle von Konversion oder Blasphemie für ihre eigenen Ziele auszunutzen (LIFOS 21.12.2017).

Gefahr bis hin zur Ermordung droht Konvertiten hingegen oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld (AA 02.09.2019). Die afghanische Gesellschaft hat generell eine sehr geringe Toleranz gegenüber Menschen, die als den Islam beleidigend oder zurückweisend wahrgenommen werden (LIFOS 21.12.2017; vgl. FH 04.02.2019). Obwohl es auch säkulare Bevölkerungsgruppen gibt, sind Personen, die der Apostasie beschuldigt werden, Reaktionen von Familie, Gemeinschaften oder in einzelnen Gebieten von Aufständischen ausgesetzt, aber eher nicht von staatlichen Akteuren (LIFOS 21.12.2017). Wegen konservativer sozialer Einstellungen und Intoleranz sowie der Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Sicherheitskräfte, individuelle Freiheiten zu verteidigen, sind Personen, die mutmaßlich gegen religiöse und soziale Normen verstoßen, vulnerabel für Misshandlung (FH 04.02.2019).

Abtrünnige haben Zugang zu staatlichen Leistungen; es existiert kein Gesetz, Präzedenzfall oder Gewohnheiten, die Leistungen für Abtrünnige durch den Staat aufheben oder einschränken. Sofern sie nicht verurteilt und frei sind, können sie Leistungen der Behörden in Anspruch nehmen (RA KBL 01.06.2017)."

1.4.2. Auszug aus einer ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan zur Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen die Kritik am Islam äußern,

4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa vom 01.06.2017, a-10159:

"Nach Angaben des US-Nachrichtendiensts Central Intelligence Agency (CIA) seien 99,7 Prozent der Bevölkerung Afghanistans Muslime. Der Anteil der Sunniten liege bei 84,7 bis 89,7 Prozent, während jener der Schiiten bei 10 bis 15 Prozent liege. Nichtmuslimische Gruppen würden 0,3 Prozent der Bevölkerung ausmachen (CIA, Stand 1. Mai 2017). Laut US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) würden zu den nichtmuslimischen Gruppen vor allem Hindus, Sikhs, Bahá'í und Christen zählen. Bezüglich Zahl der christlichen Gemeinden im Land würden keine verlässlichen Schätzungen vorliegen (USDOS, 10. August 2016, Section 1). Nach Angaben des niederländischen Außenministeriums handle es sich dabei wahrscheinlich um einige Dutzend Personen (BZ, 15. November 2016, S. 65). Laut Angaben der Evangelischen Allianz in Deutschland (EAD), eines evangelikalen Netzwerks verschiedener Kirchen und Gemeinschaften in Deutschland, gehe ‚[e]ine optimistische Schätzung [...] davon aus, dass es mehrere Tausend einheimische Christen' im Land gebe (EAD, 9. Juni 2015). Die staatliche United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF) schreibt unter Berufung auf Berichte afghanischer Flüchtlinge in Europa, dass unter anderem die Zahl der Christen in Afghanistan seit dem Wiedererstarken der Taliban im Jahr 2015 vermutlich erheblich zurückgegangen sei (USCIRF, 26. April 2017).

1) Vom Islam abgefallene Personen (Apostaten)

Das norwegische Herkunftsländerinformationszentrum Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass Apostasie (Arabisch: ridda) in der klassischen Scharia als ‚Weggehen' vom Islam verstanden werde und ein Apostat (Arabisch: murtadd) ein Muslim sei, der den Islam verleugne. Apostasie müsse nicht unbedingt bedeuten, dass sich der Apostat einer neuen Glaubensrichtung anschließe:

[...]

Artikel 2 der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan vom Jänner 2004 legt die ‚heilige Religion des Islam' als Religion Afghanistans fest. Angehörige anderer Glaubensrichtungen steht es frei, innerhalb der Grenzen des Gesetzes ihren Glauben und ihre religiösen Rituale auszuüben. Gemäß Artikel 3 der Verfassung darf kein Gesetz in Widerspruch zu den Lehren und Vorschriften des Islam stehen. Laut Artikel 7 ist Afghanistan indes verpflichtet, die Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen, zwischenstaatlicher Vereinbarungen, internationaler Vertragswerke, deren Vertragsstaat Afghanistan ist, sowie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte einzuhalten. Artikel 130 der Verfassung schreibt vor, dass die Gerichte bei der Beurteilung von Fällen die Bestimmungen der Verfassung und anderer Gesetze zu berücksichtigen haben. Wenn es jedoch zu einem Fall keine Bestimmungen in der Verfassung oder anderen Gesetzen gibt, so haben die Gerichte entsprechend der (sunnitischen) hanafitischen Rechtssprechungstradition innerhalb der Grenzen der Verfassung auf eine Art und Weise zu entscheiden, welche am besten geeignet ist, Gerechtigkeit zu gewährleisten:

[...]

Bezugnehmend auf den soeben zitierten Artikel 130 der afghanischen Verfassung schreibt Landinfo im August 2014, dass dieser Artikel hinsichtlich Apostasie und Blasphemie relevant sei, da Apostasie und Blasphemie weder in der Verfassung noch in anderen Gesetzen behandelt würden. (Landinfo, 26. August 2014, S. 2). Im afghanischen Strafgesetzbuch existiere keine Definition von Apostasie (Landinfo, 4. September 2013, S. 10; USDOS, 10. August 2016, Section 2). Die US Commission on International Religious Freedom (USCIRF) schreibt, dass das Strafgesetzbuch den Gerichten ermögliche, Fälle, die weder im Strafgesetz noch in der Verfassung explizit erfasst seien, darunter Blasphemie, Apostasie und Konversion, gemäß dem Scharia-Recht der Hanafi-Rechtsschule und den sogenannten ‚hudud'-Gesetzen, die Vergehen gegen Gott umfassen würden, zu entscheiden (USCIRF, 26. April 2017). Die Scharia zähle Apostasie zu den sogenannten ‚hudud'-Vergehen (USDOS, 10. August 2016, Section 2) und sehe für Apostasie wie auch für Blasphemie die Todesstrafe vor (Landinfo, 26. August 2014, S. 2).

Die United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF), eine staatliche Einrichtung der USA zur Beobachtung der Situation hinsichtlich der Meinungs- Gewissens- und Glaubensfreiheit im Ausland, schreibt in ihrem Jahresbericht vom April 2017, dass staatlich sanktionierte religiöse Führer sowie das Justizsystem dazu ermächtigt seien, islamische Prinzipien und das Scharia-Recht (gemäß Hanafi-Rechtslehre) auszulegen. Dies führe zuweilen zu willkürlichen und missbräuchlichen Auslegungen und zur Verhängung schwerer Strafen, darunter der Todesstrafe (USCIRF, 26. April 2017).

Die Internationale Humanistische und Ethische Union (International Humanist and Ethical Union, IHEU), ein Zusammenschluss von über 100 nichtreligiösen humanistischen und säkularen Organisationen in mehr als 40 Ländern, bemerkt in ihrem im November 2016 veröffentlichten ‚Freedom of Thought Report 2016', dass sich die Gerichte bei ihren Entscheidungen weiterhin auf Auslegungen des islamischen Rechts nach der Hanafi-Rechtslehre stützen würden. Das Office of Fatwa and Accounts innerhalb des Obersten Gerichtshofs Afghanistans würde die Hanafi-Rechtsprechung auslegen, wenn ein Richter Hilfe dabei benötige, zu verstehen, wie die Rechtsprechung umzusetzen sei:

[...]

Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network (AAN), einer unabhängigen, gemeinnützigen Forschungsorganisation mit Hauptsitz in Kabul, die Analysen zu politischen Themen in Afghanistan und der umliegenden Region erstellt, bemerkte in einem Expertengespräch vom Mai 2016 (veröffentlicht im Juni 2016) Folgendes bezüglich der Rechtspraxis:

‚Zwar gibt es drei parallele Rechtssysteme (staatliches Recht, traditionelles Recht und islamisches Recht/Scharia), doch letztendlich ziehen sich viele Richter, wenn die Lage irgendwie politisch heikel wird, auf das zurück, was sie selber als Scharia ansehen, statt sich etwa auf die Verfassung zu berufen. Die Scharia ist nicht gänzlich kodifiziert, obwohl verschiedenste Rechtskommentare etc. existieren, und zudem gibt es zahlreiche Widersprüche in den Lehrmeinungen.' (ACCORD, Juni 2016, S. 10)

Michael Daxner, Sozialwissenschaftler, der das Teilprojekt C9 ‚Sicherheit und Entwicklung in Nordost-Afghanistan' des Sonderforschungsbereichs 700 der Freien Universität Berlin leitet, bemerkte beim selben Expertengespräch vom Mai bezüglich der Auslegung des islamischen Rechts und islamischer Prinzipien:

‚Sehr oft stammen die liberalsten Auslegungen von Personen, die etwa an einer Einrichtung wie der Al-Azhar in Kairo studiert haben und daher mit den Rechtskommentaren vertraut sind. Man kann sich indes kaum vorstellen, wie wenig theologisch und religionswissenschaftlich versiert die Geistlichen auf den unteren Ebenen sind. Wenn ein Rechtsgelehrter anwesend ist, der etwa von der Al-Azhar kommt, kann er die Sache auch ein Stück weit zugunsten des Beschuldigten drehen, denn je mehr glaubwürdige Kommentare dem Scharia-Text zugefügt werden, desto besser sieht es für die Betroffenen aus.' (ACCORD, Juni 2016, S. 10)

Das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) geht in seinen im April 2016 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender wie folgt auf die strafrechtlichen Konsequenzen von Apostasie bzw. Konversion vom Islam ein:

‚Eine Konversion vom Islam wird als Apostasie betrachtet und gemäß den Auslegungen des islamischen Rechts durch die Gerichte mit dem Tod bestraft. Zwar wird Apostasie im afghanischen Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich als Straftat definiert, fällt jedoch nach allgemeiner afghanischer Rechtsauffassung unter die nicht weiter definierten ‚ungeheuerlichen Straftaten', die laut Strafgesetzbuch nach der islamischen Hanafi-Rechtslehre bestraft werden und in den Zuständigkeitsbereich der Generalstaatsanwaltschaft fallen.

Damit wird Apostasie als Straftat behandelt, obwohl nach der afghanischen Verfassung keine Handlung als Straftat eingestuft werden darf, sofern sie nicht als solche gesetzlich definiert ist.'

(UNHCR, 19. April 2016, S. 61)

Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) schreibt in seinem im August 2016 veröffentlichten Länderbericht zur internationalen Religionsfreiheit (Berichtsjahr 2015), dass laut Hanafi-Rechtlehre Männer bei Apostasie mit Enthauptung und Frauen mit lebenslanger Haft zu bestrafen seien, sofern die Betroffenen keine Reue zeigen würden. Richter könnten zudem geringere Strafen verhängen, wenn Zweifel am Vorliegen von Apostasie bestünden. Laut der Auslegung des islamischen Rechts durch die Gerichte würde der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion Apostasie darstellen. In diesem Fall habe die betroffene Person drei Tage Zeit, um die Konversion zu widerrufen. Widerruft sie nicht, so habe sie die für Apostasie vorgesehene Strafe zu erhalten. Die genannten Entscheidungsempfehlungen würden in Bezug auf Personen gelten, die geistig gesund und vom Alter her ‚reif' seien. Dieses Alter werde im Zivilrecht mit 18 Jahren (bei Männern) bzw. 16 Jahren (bei Frauen) festgelegt. Gemäß islamischem Recht erreiche eine Person dieses Alter, sobald sie Anzeichen von Pubertät zeige:

[...]

Auch der Bericht von Landinfo vom September 2013 behandelt unter Berufung auf verschiedene Quellen die rechtlichen Folgen von Apostasie. Das Strafrecht sehe gemäß Scharia die Todesstrafe für erwachsene zurechnungsfähige Männer vor, die den Islam freiwillig verlassen hätten. Diese Rechtsauffassung gelte sowohl für die schiitisch-dschafaritische als auch für die (in Afghanistan dominierende) sunnitisch-hanafitische Rechtsschule. Nach einer Einschätzung in einer Entscheidung des britischen Asylum and Immigration Tribunal aus dem Jahr 2008 sei das Justizwesen in Afghanistan mehrheitlich mit islamischen Richtern besetzt, die den Doktrinen der hanafitischen bzw. dschafaritischen Rechtssprechung folgen würden, welche die Hinrichtung von muslimischen Konvertiten empfehlen würden. Die Strafen für Frauen im Falle von Apostasie seien indes weniger schwer: sie würden ‚gefangen gehalten'. Die sunnitischhanafitische Rechtslehre sehe dabei eine mildere Bestrafung vor als die schiitischdschafaritische. Während letztere vorsehe, dass (weibliche) Apostatinnen täglich jeweils zu den Gebetszeiten ausgepeitscht würden, sehe die hanafitische Lehre vor, dass sie jeden dritten Tag geschlagen würden, um sie zu zur Rückkehr zum Islam zu bewegen. Neben Frauen seien auch Kinder, androgyne Personen und nichtgebürtige Muslime im Fall von Apostasie von der Todesstrafe ausgenommen. Bezüglich der Anwendung der Scharia und der strafrechtlichen Konsequenzen für Apostasie liege kein Erfahrungsmaterial speziell zu Afghanistan vor. Zugleich sei Landinfo der Auffassung, es gebe Grund zur Annahme, dass etwaige gerichtliche Entscheidungen in diesem Bereich unterschiedlich ausgefallen seien, jedoch den soeben beschriebenen Richtlinien entsprechen würden, wobei die Variationen eventuell weniger ausgeprägt sein könnten. Dies gelte auch für die zivilrechtlichen Folgen von Apostasie. Wie Landinfo bemerkt, könne in Afghanistan gemäß Verfassung und religiösen Rechtsmeinungen die Todesstrafe verhängt werden, wenn ein Fall von Konversion vor Gericht komme. Dies gelte sowohl für das staatliche als auch für das traditionelle Rechtssystem:

[...]

Dem USDOS zufolge seien aus dem Berichtsjahr 2015 keine Fälle von tätlichen Übergriffen, Inhaftierungen, Festnahmen oder Strafverfolgung wegen Apostasie bekannt (USDOS, 10. August 2016, Section 2).

UNHCR schreibt in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender Folgendes über zivilrechtliche und gesellschaftliche Folgen einer (vermeintlichen) Apostasie bzw. Konversion:

‚Geistig zurechnungsfähige männliche Bürger über 18 Jahren und weibliche Bürger über 16 Jahren, die vom Islam konvertieren und ihre Konversion nicht innerhalb von drei Tagen widerrufen, riskieren die Annullierung ihrer Ehe und eine Enteignung ihres gesamten Grund und sonstigen Eigentums. Außerdem können sie von ihren Familien und Gemeinschaften zurückgewiesen werden und ihre Arbeit verlieren.

Berichten zufolge herrscht in der öffentlichen Meinung eine feindliche Einstellung gegenüber missionarisch tätigen Personen und Einrichtungen. Rechtsanwälte, die Angeklagte vertreten, denen Apostasie zur Last gelegt wird, können Berichten zufolge selbst der Apostasie bezichtigt und mit dem Tod bedroht werden. [...]

Darüber hinaus besteht für Personen, denen Verstöße gegen die Scharia wie Apostasie, Blasphemie, einvernehmliche gleichgeschlechtliche Beziehungen oder Ehebruch (zina) vorgeworfen werden, nicht nur die Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung, sondern auch der gesellschaftlichen Ächtung und Gewalt durch Familienangehörige, andere Mitglieder ihrer Gemeinschaften, die Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte (AGEs).' (UNHCR, 19. April 2016, S. 61-62)

Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass die Situation von Apostaten, die hin zu einer anderen Religion konvertieren, eine andere sei als jene von Atheisten oder säkular eingestellten Personen. Mit dem Negieren bzw. Bezweifeln der Existenz Gottes würden keine Erwartungen an ein bestimmtes Verhalten im Alltag einhergehen. Eine Konversion zu einer Religion hingegen sei mit Verhaltensvorschriften, kirchlichen Traditionen und Ritualen zu verbinden, die schwieriger zu verbergen seien:

[...]

Die IHEU bemerkt in ihrem Bericht vom November 2016, dass nur sehr wenige Fälle von ‚Ungläubigen' bzw. Apostaten verzeichnet würden, was wahrscheinlich jedoch bedeute, dass viele Konvertiten und Andersgläubige zu viel Angst davor hätten, ihren Glauben öffentlich kundzutun. Der Übertritt vom Islam werde selbst von vielen Personen, die sich allgemein zu demokratischen Werten bekennen würden, als Tabu angesehen. (IHEU, 1. November 2016)

Laut einem Artikel von BBC News vom Jänner 2014 stelle Konversion bzw. Apostasie in Afghanistan nach islamischem Recht eine Straftat dar, die mit der Todesstrafe bedroht sei. In manchen Fällen würden die Leute jedoch die Sache selbst in die Hand nehmen und einen Apostaten zu Tode prügeln, ohne dass die Angelegenheit vor Gericht gelange:

[...]

Weiters bemerkt BBC News, dass für gebürtige Muslime ein Leben in der afghanischen Gesellschaft eventuell möglich sei, ohne dass sie den Islam praktizieren würden oder sogar dann, wenn sie ‚Apostaten' bzw. ‚Konvertiten' würden. Solche Personen seien in Sicherheit, solange sie darüber Stillschweigen bewahren würden. Gefährlich werde es dann, wenn öffentlich bekannt werde, dass ein Muslim aufgehört habe, an die Prinzipien des Islam zu glauben. Es gebe kein Mitleid mit Muslimen, die ‚Verrat an ihrem Glauben' geübt hätten, indem sie zu einer anderen Religion konvertiert seien oder aufgehört hätten, an den einen Gott und an den Propheten Mohammed zu glauben. In den meisten Fällen werde ein Apostat von seiner Familie verstoßen:

[...]

2) Christliche KonvertitInnen

Thomas Ruttig vom Afghanistan Analysts Network (AAN) bemerkte in einem Expertengespräch vom Mai 2016 (veröffentlicht im Juni 2016), dass Christen als religiöse Gruppe in der afghanischen Verfassung ‚(wohl bewusst) nicht genannt' würden, während Sikhs und Hindus in der Verfassung genannt würden und die gleichen Rechte hinsichtlich der Religionsausübung zuerkannt bekämen wie Muslime schiitischer Konfession. Da es jedoch niemanden gebe, der in der Lage sei, die Verfassung umzusetzen, könne ‚die Verfassung einen Christen wohl auch dann nicht schützen, wenn die Verfassung die Religionsausübung von Christen garantieren würde und sich ein Christ auf die Verfassung berufen könnte'. (ACCORD, Juni 2016, S. 10)

UNHCR bemerkt in seinen im April 2016 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, dass nichtmuslimische religiöse Minderheiten, darunter Christen, ‚weiterhin im geltenden Recht diskriminiert' würden. Die sunnitische Hanafi-Rechtssprechung gelte für ‚alle afghanischen Bürger, unabhängig von ihrer Religion'. Die ‚einzige Ausnahme' würden ‚Personenstandsachen [bilden], bei denen alle Parteien Schiiten sind', in diesem Fall würde ‚das schiitische Recht für Personenstandsachen angewendet'. Für andere religiöse Gruppen gebe es ‚kein eigenes Recht'. Wie UNHCR weiter ausführt, würden unabhängig davon ‚nicht-muslimische Minderheiten Berichten zufolge weiterhin gesellschaftliche Schikanierung und in manchen Fällen Gewalt' erfahren. So würden Mitglieder religiöser Minderheiten wie etwa der Christen ‚aus Angst vor Diskriminierung, Misshandlung, willkürlicher Verhaftung oder Tötung' es vermeiden, ‚sich öffentlich zu ihrer Religion zu bekennen oder sich offen zum Gebet zu versammeln'. (UNHCR, 19. April 2016, S. 57-58)

Ähnlich schreibt das US-Außenministerium (USDOS) in seinem im August 2016 veröffentlichten Jahresbericht zur Religionsfreiheit (Berichtsjahr: 2015) unter Berufung auf Vertreter von Minderheitenreligionen, dass die afghanischen Gerichte Nichtmuslimen nicht dieselben Rechte wie Muslimen zugestehen würden und Nichtmuslime häufig der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung unterworfen würden (USDOS, 10. August 2016, Section 2).

Ruttig geht im Expertengespräch vom Mai 2016 (veröffentlicht im Juni 2016) wie folgt auf die Lage von christlichen Konvertiten ein:

‚Die Gleichberechtigung gilt nicht für die zunehmende Zahl von Christen, bei denen es sich ausschließlich um Konvertiten (oft durch evangelikale Gruppen; aber auch bewusste Abwendungen vom Islam unter Gebildeten) und nicht um autochthone Gruppen handelt.

Als ehemalige Muslime gelten sie als Abtrünnige, worauf nach der Scharia (siehe Rechtssysteme) die Todesstrafe stehen kann. Ihre Zahl ist nicht bekannt. Es gibt heute eine ganze Reihe von Afghanen, die zum Christentum übergetreten sind. Sie tun alle sehr wohl daran, ihren Glaubensübertritt nicht (weitestgehend nicht einmal gegenüber der eigenen Familie) bekanntzugeben. Es handelt sich zum Teil um Angehörige stark unterprivilegierter Gruppen (Straßenkinder, sehr arme Familien), die über humanitäre Ausreichungen konvertiert worden sind und ich habe auch Leute von denen getroffen, die oft nur geringe Kenntnisse über das Christentum haben. Aber es gibt auch sehr bewusste Entscheidungen unter gebildeten Afghanen, die sich bewusst vom Islam abwenden und Christen werden. Mir sind persönlich Fälle von drei oder vier Leuten bekannt (aber es gibt natürlich viel mehr!), deren Konversion bekannt geworden ist, die dann aus Afghanistan gerettet und ausgeflogen werden mussten. Konversion ist einfach nicht vorgesehen, deswegen stehen diese Christen unter starkem Verfolgungsdruck.' (ACCORD, Juni 2016, S. 8-9)

‚Afghanen, die einer Konversion beschuldigt werden, stehen völlig im Regen. Es gibt niemanden, der ihnen helfen kann. Falls die Sache vor ein staatliches Gericht kommt (was unwahrscheinlich ist), dann sehen sich die Richter ideologisch derart gezwungen, nach der Scharia zu urteilen, dass der Fall nur schlecht für den Betroffenen ausgehen kann.' (ACCORD, Juni 2016, S. 10)

Wie UNHCR bemerkt, dürften Nichtmuslime ‚Berichten zufolge nur dann untereinander heiraten, wenn sie sich nicht öffentlich zu ihren nicht-islamischen Überzeugungen bekennen' würden (UNHCR, 19. April 2016, S. 58).

[...]

UNHCR schreibt Folgendes über gesellschaftliche Haltungen gegenüber Christen sowie über das Vorgehen der Taliban gegen (vermeintlich) christliche ausländische Hilfsorganisationen:

‚Die gesellschaftliche Einstellung gegenüber Christen ist Berichten zufolge weiterhin offen feindlich. Christen werden gezwungen, ihren Glauben zu verheimlichen. In Afghanistan existieren keine öffentlichen Kirchen mehr und Christen beten allein oder in kleinen Versammlungen in Privathäusern. Im Jahr 2013 riefen vier Parlamentsmitglieder Berichten zufolge zur Hinrichtung von Personen auf, die zum Christentum konvertiert sind. Die Taliban haben Berichten zufolge ausländische Hilfsorganisationen und ihre Gebäude auf der Grundlage angegriffen, dass diese Zentren des christlichen Glaubens seien.' (UNHCR, 19. April 2016, S. 58-59)

Die staatliche United States Commission on International Religious Freedom (USCIRF) schreibt im April 2017, dass nichtmuslimische religiöse Gemeinschaften weiterhin von gesellschaftlicher Diskriminierung, Schikanierung und mitunter auch Gewalt betroffen seien. Es würden unter anderem Berichte über Schikanen gegen vom Islam konvertierte Personen vorliegen. Mitglieder nichtmuslimischer Gemeinschaften hätten berichtet, dass allgemein vorherrschende Unsicherheit und Mangel an wirtschaftlichen Möglichkeiten sie dazu bewegt hätten, das Land zu verlassen:

[...]

Das USDOS bemerkt, dass Christen aus Angst vor staatlichen Repressalien weiterhin Situationen aus dem Weg gehen würden, die geeignet wären, bei der Regierung den Eindruck zu erwecken, sie würden versuchen, ihre Religion zu verbreiten. Weiters hätten Christen angegeben, dass die öffentliche Meinung gegenüber christlichen Konvertiten und der Idee der christlichen Missionierung feindselig sei. Mitglieder der kleinen christlichen Gemeinde, von denen viele im Ausland zum Christentum konvertiert seien, würden aus Angst vor Diskriminierung oder Verfolgung weiterhin alleine oder in kleinen Gruppen in Privathäusern Gottesdienst halten. Es gebe weiterhin keine öffentlichen christlichen Kirchen in Afghanistan.

Für nichtafghanische Staatsangehörige unterschiedlicher Glaubensrichtungen gebe es Gebetsstätten innerhalb von Militäreinrichtungen der Koalitionstruppen sowie in Botschaften in Kabul:

[...]

Laut Angaben der USCIRF befinde sich die einzige bekannte christliche Kirche im Land auf dem Gelände der italienischen Botschaft (USCIRF, 26. April 2017).

Der Deutschlandfunk, ein öffentlich-rechtlicher Radiosender mit Sitz in Köln, zitiert im Februar 2017 den deutschen reformierten Theologen und Religionswissenschaftler Thomas Schirrmacher mit folgender Aussage, die sich auf Übertritte afghanischer Asylwerber zum Christentum bezieht:

‚Für viele Muslime ist die Sache hoch gefährlich, weil im Islam eine Strafe auf Apostasie und Blasphemie steht. Und sie können dann so oder so nicht mehr in ihre Länder zurück. Im Regelfall wird aber auch die Familie sie verstoßen. In Afghanistan gibt es - ja man kann schon sagen - ein Kampf auf Leben und Tod zwischen dem offiziellen Islam und allen abweichenden Formen und der zweitgrößten Religion im Land, dem Christentum.' (Deutschlandfunk, 13. Februar 2017)

Die Evangelische Allianz in Deutschland (EAD) beschreibt die Lage von Christen wie folgt: ‚Gemeinden leben fast ausschließlich als Untergrundkirche, und es gab nur eine leichte Verbesserung seit dem Sturz der Taliban. Gläubige aus dem Ausland, die stark zugenommen haben, können nur sehr vorsichtig ihren Glauben bezeugen. Die Zahl der afghanischen Gläubigen wächst, ebenso die Mittel, die zur Verfügung stehen, um ihnen zu helfen. [...] Werden spirituellen Aktivitäten unter den Gläubigen entdeckt, wird auf dem muslimischem Hintergrund in den Medien intensiv darüber berichtet und versichert, hart durchzugreifen bis hin zur Todesstrafe.# (EAD, 9. Juni 2015)

Landinfo schreibt in einem Bericht vom September 2013, dass sich die religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Beschränkungen, denen Christen in Afghanistan unterworfen seien, nicht anders gestalten würden als für andere Gruppen mit Meinungen, Weltansichten, politischen Überzeugungen und Glaubensvorstellungen, die als Abfall vom Islam wahrgenommen werden könnten. Ebenso wie Personen mit säkularen Ansichten, Atheisten und nichtgläubige Afghanen müssten auch Christen ständige Selbstzensur üben und könnten sich wegen drohender Angriffe nicht zu ihrem Verhältnis zum bzw. ihrer Sicht auf den Islam äußern. Angehörige solcher Gruppen seien gezwungen, sich konform mit dem Islam, d.h. so zu verhalten, als wären sie Muslime. Nach außen hin müssten alle Afghanen die religiösen Erwartungen ihrer lokalen Gemeinschaft hinsichtlich religiösen Verhaltensweisen, Gebeten etc. erfüllen. Laut Angaben unter anderem der norwegischen Kulturberatungsfirma Hansen Cultural Coaching (HCC) gebe es viele Afghanen (nicht nur christliche Konvertiten), die lokale religiöse Sitten befolgen und an religiösen Ritualen teilnehmen, ohne dass diese Handlungen ihre tatsächlichen inneren Glaubensvorstellungen und Überzeugungen widerspiegeln würden:

[...]

Die US-Tageszeitung New York Times (NYT) berichtet in einem älteren Artikel vom Juni 2014, dass es aus offizieller Sicht keine afghanischen Christen gebe. Die wenigen Afghanen, die das Christentum praktizieren würden, würden dies aus Angst vor Verfolgung im Privaten tun und eine der wenigen Untergrundkirchen besuchen, von denen man annehme, dass sie im Land existieren würden. Ausländische Christen würden Kapellen in Botschaftseinrichtungen besuchen, doch diese seien für Afghanen praktisch unzugänglich. Im vergangenen Jahrzehnt seien nur wenige Fälle von Konversion öffentlich bekannt geworden. In der Regel sei die Regierung dann rasch und lautlos vorgegangen: Die Betroffenen seien dazu aufgefordert worden, ihren Glaubensübertritt zu widerrufen, und wenn sie sich geweigert hätten, seien sie aus dem Landes vertrieben worden, in der Regel nach Indien:

[...]"

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:

Die Feststellungen zum Namen und Geburtsdatum des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in der Beschwerde und in den mündlichen Verhandlungen vor dem Bundesverwaltungsgericht. Soweit in der gegenständlichen Rechtssache Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers (Name und Geburtsdatum) getroffen wurden, gelten diese ausschließlich für die Identifizierung des Beschwerdeführers im Asylverfahren.

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und zur Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers gründen sich auf seine diesbezüglich glaubhaften Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen - im gesamten Verfahren gleich gebliebenen und sich mit den Länderberichten zu Afghanistan deckenden - Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.

Die Angaben des Beschwerdeführers zu seinem Geburtsort, seinem Lebenslauf und seinen Familienangehörigen waren im Wesentlichen gleichbleibend und widerspruchsfrei und vor dem Hintergrund der bestehenden sozioökonomischen Strukturen in Afghanistan plausibel.

Die Feststellung zu seiner strafrechtlichen Unbescholtenheit ergibt sich aus der Einsichtnahme in das Strafregister.

2.2. Zur Konversion des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zu dem religiösen Hintergrund des Beschwerdeführers, zu seinem ersten Kontakt mit dem Christentum, zu seinen Besuchen von Gottesdiensten, dem Bibelkurs und kirchlichen Veranstaltungen in Österreich sowie zu seiner erfolgten Taufe stützen sich einerseits auf die vorgelegten Unterlagen (u.a. Schreiben der Evangelikalen Freikirche XXXX und Taufschein) sowie andererseits auf die vom Beschwerdeführer getätigten Angaben vor dem Bundesverwaltungsgericht (s. Verhandlungsprotokoll vom 15.03.2019). Auch die einvernommenen Zeugen (Pfarrer in der Evangelikalen Freikirche XXXX und Bibelkursleiter) bestätigten in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 15.03.2019 diese Angaben.

Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichtes ergibt sich aus den in der mündlichen Verhandlung vom Beschwerdeführer getätigten Angaben eindeutig, dass er während seines Aufenthalts in Österreich aus freier persönlicher Überzeugung sowie für Dritte wahrnehmbar vom Islam zum Christentum konvertiert ist, dass diese Konversion nicht bloß zum Schein erfolgt ist und dass beim Beschwerdeführer ein starker Willen zur Ausübung des christlichen Glaubens besteht. Der "Pastor" der Kirche, der als Zeuge einvernommen wurde, bestätigte, dass sich der Beschwerdeführer zum christlichen Glauben bekenne, sonst hätten sie ihn nicht getauft, und regelmäßig an den Gottesdiensten, dem Bibelunterricht und am Gemeindeleben teilnimmt (vgl. Verhandlungsschrift vom 15.03.2019, S. 15).

Der Beschwerdeführer konnte glaubhaft und stringent darlegen, dass er aus Überzeugung zum christlichen Glauben übergetreten ist. Er hat dies durch sein äußeres Verhalten, der Teilnahme an kirchlichen Zusammenkünften und der Mitarbeit an selben, den regelmäßigen Besuch des Gottesdienstes sowie durch die gewissenhafte Absolvierung des Taufvorbereitungskurses überzeugend dargetan. Zudem zeigt sich im Alltag des Beschwerdeführers ein ordentlicher Lebenswandel, ausgerichtet nach christlichen Werten. Eine Konversion des Beschwerdeführers zum Christentum aus innerer Überzeugung wurde auch von den einvernommenen Zeugen bestätigt (vgl. Verhandlungsschrift vom 15.03.2019).

Der Beschwerdeführer ist als Person mit christlicher Überzeugung im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit massiven Einschränkungen und Diskriminierungen im persönlichen Bereich auf Grund seiner religiösen Überzeugung sowie einem erheblichen Verfolgungsrisiko für seine persönliche Sicherheit und physische Integrität sowohl von privater Seite - ohne dass ihm in dieser Hinsicht staatlicher Schutz zukäme - als auch von staatlicher Seite ausgesetzt.

Aus den beigezogenen Länderberichten ergibt sich, dass die gesellschaftliche Einstellung gegenüber konvertierten Christen ablehnend ist. Konversion wird als Akt der Abtrünnigkeit und Verbrechen gegen den Islam, der mit dem Tod bestraft wird, gesehen, sodass der Beschwerdeführer in Afghanistan erhebliche Eingriffe in seine körperliche Integrität zu fürchten hätte. Aus der ACCORD-Anfragebeantwortung vom 01.06.2017 u.a. zur Situation von christlichen KonvertitInnen geht hervor, dass Konvertiten Verfolgung durch afghanische Behörden und durch Privatpersonen befürchten müssen, wenn ihr Abfall vom Islam und ihre Hinwendung zum Christentum bekannt werden.

2.3. Zu den Feststellunge

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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