TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/20 W204 2193847-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 20.11.2019
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Entscheidungsdatum

20.11.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W204 2193847-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Esther Schneider über die Beschwerde der P XXXX XXXX , geb. XXXX 1992, StA. Afghanistan, vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.03.2018, Zl. 1095115807-151790835 zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und P XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass P XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Beschwerdeführerin (im Folgenden: BF), eine Staatsangehörige Afghanistans, reiste in das Bundesgebiet ein und stellte am 16.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.2. Am 17.11.2015 wurde die BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Steiermark niederschriftlich erstbefragt. Befragt nach ihrem Fluchtgrund führte die BF aus, ihr drohe im Iran die zwangsweise Verehelichung mit einem Mann.

I.3. Am 30.10.2017 wurde die BF von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Farsi und einer Vertrauensperson niederschriftlich einvernommen. Die BF wurde dabei u.a. zu ihrem Gesundheitszustand, ihrer Identität, ihren Lebensumständen im Iran, ihren Familienangehörigen und ihren Lebensumständen in Österreich befragt. Nach den Gründen befragt, die die BF bewogen, ihre Heimat zu verlassen, gab sie an, dass sie von ihren Onkeln zwangsweise mit einem Mann verheiratet werden sollte. Dieser sei der Sohn von XXXX gewesen, der für die medizinische Behandlung ihres an Krebs erkrankten Vaters aufgekommen sei. Wie sie erst später erfahren habe, habe er sich dafür erwartet, dass die BF im Gegenzug seinen Sohn heirate. Dieser sei jedoch zu alt und drogenabhängig. Auch ihre Mutter habe sich entschieden gegen diese Hochzeit ausgesprochen, jedoch übe die Familie ihres Vaters großen Druck auf sie aus, diesen Mann zu heiraten.

Als Beilage zur Niederschrift wurden diverse Integrationsunterlagen genommen.

I.4. Am 03.11.2017 langte beim BFA eine Stellungnahme der BF ein, in der sie dieses Vorbringen wiederholte und vorbrachte, sie sei durch ihren Aufenthalt im Bundesgebiet ihrem äußeren Erscheinungsbild und ihrer inneren Einstellung nach "westlich" eingestellt. Aus diesem Grund und weil sie eine unbegleitete Frau sei, bestünde die wohlbegründete Furcht, dass sie in Afghanistan der Verfolgung ausgesetzt sei. Sie habe in Afghanistan - bis auf einen Stiefonkel unbekannten Aufenthaltes - keine Verwandten.

I.5. Mit Bescheid vom 23.03.2018 , der BF am 06.04.2018 zugestellt, wurde der Antrag der BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen die BF eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass eine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

Eine Verfolgung iSd GFK im Herkunftsstaat habe nicht festgestellt und der BF der Status einer Asylberechtigten nicht gewährt werden können, zumal sie ihre Aussage nicht habe glaubhaft machen können und nicht "westlich" orientiert sei. Auch liege keine Situation vor, die die Gewährung subsidiären Schutzes rechtfertigen würde, da eine Rückkehr der BF nach Kabul möglich und zumutbar sei. Gemäß § 57 AsylG sei auch eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz nicht zu erteilen, da die Voraussetzungen nicht vorlägen. Letztlich hätten auch keine Gründe festgestellt werden können, wonach bei einer Rückkehr der BF gegen Art. 8 Abs. 2 EMRK verstoßen würde, weswegen auch eine Rückkehrentscheidung zulässig sei.

I.6. Mit Verfahrensanordnung vom 28.03.2018 wurde der BF amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.7. Am 25.04.2018 erhob die BF durch ihren Vertreter Beschwerde in vollem Umfang und beantragte, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen sowie der BF den Status der Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren, in eventu die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären, in eventu den Bescheid aufzuheben und die Angelegenheit zur Durchführung eines ordentlichen Ermittlungsverfahrens an das BFA zurückzuverweisen.

Begründend wurde im Wesentlichen auf die Angaben der BF im bisherigen Verfahren verwiesen und die Beweiswürdigung des BFA bemängelt. Das Vorbringen der BF wäre entgegen der Ansicht des BFA glaubhaft. Die BF sei "westlich" orientiert, was zur Asylgewährung führen müsse. Unabhängig davon hätte ihr aufgrund der Sicherheitslage jedenfalls subsidiärer Schutz zuerkannt werden müssen. Zudem sei ihr Recht auf Parteiengehör verletzt worden, da sich die Beweiswürdigung auf für sie nicht zugängliche Quellen gestützt habe und ihr in Bezug auf diese Quellen auch kein Parteiengehör gewährt worden sei. Auch seien die vom BFA herangezogenen Länderberichte unzureichend.

I.8. Am 27.04.2018 langte die gegenständliche Beschwerde samt dem Verwaltungsakt beim Bundesverwaltungsgericht ein.

I.9. Am 22.08.2018 zeigte der im Spruch genannte Vertreter seine Bevollmächtigung an.

I.10. Am 09.10.2018 brachte die BF durch ihren Vertreter eine Stellungnahme zum Verfahrensstand ein und beantragte nochmals die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung. Dabei führte sie aus, dass sie "westlich" orientiert und politisch aktiv sei. So habe sie eine öffentliche Rede zu Frauenrechten und zur Lage der Frauen in Afghanistan gehalten. Sie trage kein Kopftuch, sondern westliche Kleidung, und habe auch ein sichtbares Piercing an der Nase. Zudem habe sie berufliche Ambitionen, sei in der Schule sehr fleißig und habe bereits eine Zusage, im Falle der Erteilung einer Beschäftigungsbewilligung, eine Ausbildungsstelle als Zahnarztassistentin zu erhalten. Bei dieser "westlichen" Orientierung sei davon auszugehen, dass sie in ihrem Heimatland Afghanistan asylrelevanten Verfolgungshandlungen ausgesetzt wäre.

I.11. Am 25.06.2019 brachte die BF durch ihren Vertreter eine weitere Stellungnahme zum Verfahrensstand ein, indem darauf hingewiesen wurde, dass ihrer Mutter und ihrem Bruder seitens des Bundesverwaltungsgerichts der Status der Asylberechtigten zuerkannt worden sei. In der Entscheidung werde ausgeführt, dass die Mutter ihre Tochter dabei unterstütze, ein selbstbestimmtes Leben ohne Einfluss durch ihre Familie zu leben und auch die Zwangsverheiratung ihrer Tochter abgelehnt habe. Zudem habe die Mutter die BF unterstützt, als diese eine Rede vor dem Parlament und dem Rathaus gehalten habe. Aus diesem Verhalten lasse sich die "westliche" Orientierung der Mutter ableiten, diese ließe sich demgemäß auch für die Tochter feststellen. Ihr äußeres Erscheinungsbild, ihre Lebensweise und ihr öffentlichkeitswirksamer politischer Aktionismus widersprächen der in Afghanistan herrschenden Vorstellung der Lebensweise junger Frauen, weshalb ihr dort die Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der "westlich" orientierten afghanischen Frau, drohe.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

-

Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA betreffend die BF; insbesondere in die Befragungsprotokolle;

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Einsicht in das Erkenntnis des BVwG zu den GZ W201 2193841-1/13E und W201 2193843-1/13E;

-

Einsicht in die in das Verfahren eingeführten aktuellen Länderberichte zur Situation im Herkunftsstaat und die im Zuge des Verfahrens vorgelegten Unterlagen der BF;

-

Einsicht in das Strafregister, das Melderegister und das Grundversorgungssystem.

II.1. Sachverhaltsfeststellungen:

II.1.1. Zur BF und ihrer Situation im Falle einer Rückkehr:

Die BF ist Staatsangehörige Afghanistans und der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig. Die BF spricht Farsi und Dari. Ihre Identität steht nicht fest.

Die BF wurde in Teheran geboren und wuchs dort bei ihrer Familie auf. Sie besuchte zehn Jahre lang die Schule und arbeitete nach dem Tod ihres Vaters für vier Monate als Friseurin und Visagistin.

Die Familie der BF besteht aus ihrer Mutter XXXX und drei Brüdern:

XXXX , der 27 Jahre alt mit unbekanntem Aufenthaltsort ist, XXXX , der 15 Jahre alt ist und mit der BF und ihrer Mutter nach Österreich reiste und XXXX , der 12 Jahre alt ist und im Iran zur Adoption freigegeben wurde. Der Vater der BF verstarb am XXXX nach einer Gallenkrebserkrankung in Teheran.

Der Mutter und dem Bruder der BF wurde mit Erkenntnis vom 03.06.2019 zu W201 2193841-1/13E, W201 2193843-1/13E gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status der Asylberechtigten zugesprochen und gemäß § 3 Abs. 5 AsylG die Flüchtlingseigenschaft mit der Begründung zuerkannt, dass es sich bei der Mutter um eine Frau handle, die sich in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauenbild orientiere. Unter anderem manifestierten sich diese Umstände darin, dass sie ihre Tochter, die BF, bei einer Rede, welche diese vor dem Rathaus und dem Parlament in Österreich abgehalten hat, unterstützte.

Die BF hat noch weitere Familie in Afghanistan und dem Iran, nämlich zwei Onkel mütterlicherseits sowie eine Tante väterlicherseits in Teheran, Iran, sowie einen Stiefonkel in Afghanistan. Die Angehörigen sind in der Bauwirtschaft beschäftigt. Der BF drohte im Iran eine Zwangsverheiratung durch ihre Onkel, weshalb sie den Iran mit ihrer Mutter und ihrem Bruder verlassen hat.

Die BF besuchte mehrere Deutschkurse und verfügt über ein ÖSD B1-Zertifikat. Zusätzlich nahm sie an einem Vorbereitungskurs auf den erwachsenengerechten Pflichtschulabschluss teil. Am 26.06.2018 hat sie den Pflichtschulabschluss erfolgreich bestanden. Die BF strebt nach finanzieller und beruflicher Eigenständigkeit. Neben dem Besuch von Deutschkursen engagiert sie sich für andere Flüchtlinge, sie unterstützt soziale Einrichtungen ehrenamtlich als Dolmetscherin, so begleitet sie Personen zu Ärzten und Behörden, und plant auch, einen VHS Lehrgang zur Gerichts- und Verfahrensdolmetscherin zu besuchen. Sie verrichtete im September 2017 gemeinnützige Arbeit in der Hauptbücherei der Stadt Wien, wofür sie einen Anerkennungsbeitrag von 110 € erhielt.

Die BF engagiert sich im Verein XXXX und nahm im Zuge dieses Engagements an einer Reihe von Veranstaltungen und Demonstrationen teil. Die BF tritt öffentlich für Frauenrechte und Gleichberechtigung auf. Am XXXX Internationalen Aktionstag gegen XXXX hielt sie eine öffentliche Rede vor dem Rathaus und vor dem Parlament. In dieser Rede betonte sie die Wichtigkeit der Unabhängigkeit und Freiheit der Frau und deren gesellschaftliche Bedeutung für einen Staat. Sie wies auf die strukturelle Gewalt und Unterdrückung der Frauen in ihrer Heimat Afghanistan hin und bezeichnete Wien als eine Stadt "in der Frauen Zukunft schaffen". Insbesondere betonte sie die Wichtigkeit von Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Frauenrechten. Die BF würde auch in Afghanistan öffentlich für die Rechte von Frauen eintreten.

Bei der BF handelt es sich um eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Die BF lebt nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition, kleidet sich nach westlicher Mode und trägt ein allgemein sichtbares Piercing im Gesicht. Sie besuchte mehrere Deutschkurse und spricht gemessen an ihrer Aufenthaltsdauer und ihrem Bildungsstand sehr gut Deutsch. Die BF bewegt sich frei und geht auch ohne männliche Begleitung aus. Sie will weiterhin frei leben, eine Ausbildung in Österreich machen und einem Beruf nachgehen, dazu hat sie auch bereits konkrete Schritte gesetzt. So plant sie zum einen den Besuch eines Dolmetscherkurses an der Volkshochschule, zum anderen hat sie sich um eine Stelle als Zahnarztassistentin bemüht und eine Einstellungszusage einer Fachärztin für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde unter der Bedingung erhalten, dass sie über eine Beschäftigungsbewilligung verfügt. Die von ihr angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Die BF lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die BF würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am "westlichen" Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen und wäre deshalb der Gefahr der Verfolgung ausgesetzt.

Die BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten. Sie ist gesund und arbeitsfähig.

II.1.2. Zur Situation in Afghanistan:

Allgemeine Sicherheitslage:

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil (Länderinformationsblatt für Afghanistan vom 29.06.2018 mit letzter Kurzinformation vom 26.03.2019 - LIB 26.03.2019, S. 16). Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (LIB 26.03.2019, S. 59).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (LIB 26.03.2019, S.59). Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt

23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan; für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712. Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (LIB 26.03.2019, S. 60). Global Incident Map zufolge wurden im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) 4.436 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (LIB 26.03.2019, S. 18). Im Berichtszeitraum 16.8.2018 - 15.11.2018 registrierten die UN 5.854 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet (LIB 26.03.2019, S. 16). Im Berichtszeitraum 1.1.2018 bis 30.9.2018 registrierte die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) 8.050 zivile Opfer verzeichnet (LIB 26.03.2019, S. 32). Die UNAMA registrierte im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte), eine allgemeine Steigerung von 5% sowie eine Steigerung der Zahl der Toten um 11% gegenüber dem Vorjahreswert. Kabul war mit insgesamt 1.866 Opfern (596 Tote und 1.270 Verletzte) die Provinz mit der höchsten Anzahl an Selbstmordanschlägen durch IED, während die Zahl der Opfer in Nangarhar mit insgesamt 1.815 (681 Tote und 1.134 Verletzte) zum ersten Mal fast die Werte von Kabul erreichte (hauptsächlich wegen des Einsatzes von IED bei Nichtselbstmordanschlägen). Kabul-Stadt verzeichnete insgesamt 1.686 zivile Opfer (554 Tote und 1.132 Verletzte) wegen komplexen und Selbstmordangriffen (LIB 26.03.2019, S. 20).

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt) bedrohen. Dies ist den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zuzuschreiben (LIB 26.03.2019, S. 62). Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung (LIB 26.03.2019, S. 16).

Im Jänner 2018 waren 56.3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (LIB 26.03.2019, S. 70). Mit Stand 22.10.2018 kontrollierte beziehungsweise beeinflusste die Regierung - laut Angaben der Resolute Support Mission - 53,8% der Distrikte. 33,9% waren umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (LIB 26.03.2019, S. 16).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht. In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt. Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden; auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (LIB 26.03.2019, S. 63).

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat IS) verübten "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB 26.03.2019, S. 63). Die Auflistung der high-profile Angriffe zeigt, dass die Anschläge in großen Städten, auch Kabul, hauptsächlich im Nahebereich von Einrichtungen mit Symbolcharakter (Moscheen, Tempel bzw. andere Anbetungsorte), auf Botschaften oder auf staatliche Einrichtungen stattfinden. Diese richten sich mehrheitlich gezielt gegen die Regierung, ausländische Regierungen und internationale Organisationen (LIB 26.03.2019, S. 63).

Am Donnerstag, dem 9.8.2018, starteten die Taliban eine Offensive zur Eroberung der Hauptstadt Ghaznis, einer strategisch bedeutenden Provinz, die sich auf der Achse Kabul-Kandahar befindet. Nach fünftägigen Zusammenstößen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Aufständischen konnten letztere zurückgedrängt werden. Während der Kämpfe kamen ca. 100 Mitglieder der Sicherheitskräfte ums Leben und eine unbekannte Anzahl Zivilisten und Taliban (LIB 26.03.2019, S. 47f).

Der Islamische Staat - Provinz Khorasan (ISKP) ist in den Provinzen Nangarhar, Kunar und Jawzjan aktiv und zeichnete im August und im September für öffentlichkeitswirksame Angriffe auf die schiitische Glaubensgemeinschaft in Kabul und Paktia, auf die Mawoud-Akademie in Dasht-e Barchi/Kabul am 15.08.2018, auf einen Wrestling-Klub im Kabuler Distrikt Dasht-e Barchi am 05.09.2018 sowie auf eine Demonstration gegen die Übergriffe der Taliban in Ghazni und Uruzgan am 12.11.2018 und auf das Kabuler Gefängnis Pul-i-Charkhi am 31.10.2018 verantwortlich (LIB 26.03.2019, S. 17, 29, 37).

Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, das Personenstands- und Urkundenwesen in Afghanistan ist kaum entwickelt. Die lokalen Gemeinschaften verfügen über zahlreiche Informationen über die Familien in dem Gebiet und die Ältesten haben einen guten Überblick (LIB 26.03.2019, S. 346f).

Frauen:

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft. Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet. In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden, unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist. Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (LIB 26.03.2019, S.283).

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt. Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen. Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.049 Schulen, insgesamt

8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert. Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies". Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (LIB 26.03.2019, S. 283-285).

Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit. Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. %). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen. Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung. Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor. Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (LIB 26.03.2019, S. 285).

Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten. Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind. In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden. In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019. In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist (LIB 26.03.2019, S. 286).

Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen (LIB 26.03.2019, S. 287).

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit. Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen. Andere Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, erhalten in einigen Fällen Unterstützung vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und Nichtregierungsinstitutionen, indem Ehen für diese arrangiert werden. Eine erhöhte Sensibilisierung seitens der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen hatte positive Auswirkungen. Um Frauen und Kindern, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, beizustehen, hat das Innenministerium (MoI) landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet, die mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt sind, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung nachverfolgen (LIB 26.03.2019, S. 287f).

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt. Das EVAW-Gesetz definiert fünf schwere Straftaten gegen Frauen: Vergewaltigung, Zwangsprostitution, die Bekanntgabe der Identität eines Opfers, Verbrennung oder Verwendung von chemischen Substanzen und erzwungene Selbstverbrennung oder erzwungener Selbstmord. Dem EVAW-Gesetz zufolge muss der Staat genannte Verbrechen untersuchen und verfolgen, auch, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert. Das EVAW-Gesetz wird jedoch weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (LIB 26.03.2019, S. 288f).

Nichtregierungsorganisation in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, zu denen auch Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen, zählen. Oftmals versuchen Väter ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren. Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z. B. Frauenhäuser). Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft für die Notlage (mit-)verantwortlich ist. Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste "Generation" von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben. Die EVAW-Institutionen konsultieren in der Regel die Familie und das Opfer, bevor sie es in ein Frauenhaus bringen (LIB 26.03.2019, S. 289f).

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord. Soziale Medien in Afghanistan haben Frauen und Mädchen neue Möglichkeiten eröffnet, um ihr Schicksal zu teilen. In den Medien ist der Kampf afghanischer Frauen, Mädchen und Buben gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt in all ihren Formen tiefgründig dokumentiert. Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss, wozu auch das EVAW-Gesetz dienen soll (LIB 26.03.2019, S. 290).

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen. Quellen zufolge ist die frühe Heirat weiterhin verbreitet. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; dennoch hält sich die Umsetzung dieses Gesetzes in Grenzen. Im Rahmen von Traditionen geben arme Familien ihre Mädchen im Gegenzug für "Brautgeld" zur Heirat frei, wenngleich diese Praxis in Afghanistan illegal ist. Lokalen NGOs zufolge, werden manche Mädchen im Alter von sechs oder sieben Jahren zur Heirat versprochen - unter der Voraussetzung, die Ehe würde bis zum Erreichen der Pubertät nicht stattfinden (LIB 26.03.2019, S. 290f).

Ehrenmorde an Frauen werden typischerweise von einem männlichen Familien- oder Stammesmitglied verübt und kommen auch weiterhin vor. Laut AIHRC waren von 277 Mordfällen an Frauen im Jahr 2017 136 Ehrenmorde. Afghanische Expert/innen sind der Meinung, dass die Zahl der Mordfälle an Frauen und Mädchen viel höher ist, da sie normalerweise nicht zur Anzeige gebracht werden. Der Grund dafür ist das Misstrauen eines Großteils der afghanischen Bevölkerung in das juristische System. Weibliche Genitalverstümmelung ist in Afghanistan nicht üblich (LIB 26.03.2019, S. 291f).

Es existieren gewisse Sicherheitsbedenken, wenn Frauen alleine reisen. Doch hat sich die Situation wesentlich verbessert. Während früherer Regierungen (vor den Taliban) war das Tragen des Chador bzw. des Hijab nicht verpflichtend - eine Frau konnte auch ohne sie außer Haus gehen, ohne dabei mit negativen Konsequenzen rechnen zu müssen (LIB 26.03.2019, S. 292).

II.2. Diese Feststellungen beruhen auf folgender Beweiswürdigung:

II.2.1. Der oben angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbedenklichen und unzweifelhaften Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und dem Verfahrensakt des Bundesverwaltungsgerichts.

II.2.2. Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit und zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit der BF traf bereits das BFA auf Basis der Angaben der BF. Diese werden in der Beschwerde nicht bestritten, sodass diese Feststellungen auch der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegt werden konnten. Die Identität kann mangels Vorlage unbedenklicher Dokumente nicht festgestellt werden.

II.2.3. Die Feststellungen zur Herkunft, Schulbildung und Familie der BF basieren auf den unbedenklichen Angaben der BF vor dem BFA und wurden ebenso bereits im Wesentlichen vom BFA getroffen bzw. auch im Verfahren der Mutter durch das Bundesverwaltungsgericht festgestellt.

II.2.4. Die Feststellungen zum Alltag der BF in Österreich, den besuchten Kursen und den geleisteten bezahlten sowie ehrenamtlich geleisteten Tätigkeiten konnten aufgrund der Angaben der BF getroffen werden, die durch entsprechende unbedenkliche Urkunden bestätigt werden.

Die Feststellungen zur BF als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte afghanische Frau ergeben sich aus der Stellungnahme der BF in Zusammenschau mit den vorgelegten Unterlagen, aus denen ihr politisches Engagement klar hervorgeht, insbesondere aus dem Protokoll ihrer Rede am Internationalen Aktionstag (Beilage zur Stellungnahme vom 24.06.2019). Die "westliche" Orientierung der Mutter der BF wurde im Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 03.06.2019, mit dem der Mutter und dem Bruder der BF Asyl zuerkannt wurde, rechtskräftig festgestellt. Die Tatsache, dass die Mutter ihre Tochter bei ihren politischen und feministischen Aktivitäten unterstützt, war dabei entscheidungserheblich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten. Gleichermaßen wurde damit auch bereits die "westliche Orientierung" der BF durch das Bundesverwaltungsgericht - wenn auch durch eine andere Einzelrichterin - festgestellt.

Die Feststellungen zu den guten Deutschkenntnissen der BF fußen auf den vorgelegten unbedenklichen Zertifikaten, Kursbestätigungen, den vorgelegten Bestätigungen (AS 51) sowie auf der Tatsache, dass sie selbstständig und nachweislich eine öffentliche Rede zum XXXX Internationalen Aktionstag gegen XXXX vorgetragen hat.

Dass sich die BF nicht an dem in Afghanistan vorherrschenden konservativen Frauenbild orientiert, zeigt sich eindrucksvoll an den Tatsachen, dass sie in Österreich das Bildungsangebot weit über das vorgeschriebene Mindestmaß und die angebotenen Sozialaktivitäten aktiv in Anspruch nimmt, und sich sowohl als einzelne Frau (AS 43), als auch im Rahmen des Vereines XXXX (AS 93-106) politisch und feministisch engagiert. Gerade mit ihrem öffentlichen Auftreten für Frauenrechte und Gleichberechtigung zeigt sie, dass sie das in Afghanistan immer noch vorherrschende patriarchale System offen ablehnt. Damit bringt sie jedoch nicht nur zum Ausdruck, dass sie das in Afghanistan vorherrschende Frauenbild ablehnt, sondern zeigt auch, dass sie sich nicht mehr in die afghanische Gesellschaft ein- und unterordnen können wird.

Dass sie ein eigenständiges Leben bereits im Iran führen wollte, zeigt, wie das BFA bereits richtig hervorhob, dass sie auch dort die Schule besuchte und arbeitete. Der vom BFA daraus gezogene Schluss, es sprächen keine Gründe dafür, warum sie nicht auch in Afghanistan arbeiten können sollte, überzeugt jedoch nicht. Die Ausführungen des BFA, wonach sich die Situation von Frauen in als sicher geltenden Provinzen seit dem Ende der Taliban Herrschaft maßgeblich gebessert habe und aus den Länderfeststellungen hervorgehe, dass im Bereich der Frauenerwerbstätigkeit und Bildungschancen in Afghanistan positive Entwicklungen und Fortschritte zu vermelden seien, sind zwar grundsätzlich zutreffend. Dabei übersieht das BFA in seiner Beweiswürdigung jedoch völlig, dass die BF ohne männlichen Schutz zurückkehren müsste und sich die "westliche" Lebensweise der BF nicht nur an ihrem Schulbesuch und ihren Bestrebungen hinsichtlich eines Arbeitsplatzes, sondern vielmehr durch ihr öffentliches Auftreten gegen die Unterdrückung der Frauen zeigt. Würde sie in Afghanistan derart offen für Frauenrechte eintreten, wäre sie einer asylrelevanten Gefahr ausgesetzt, wie sich aus den Länderfeststellungen ergibt. Das Engagement der BF für Gleichberechtigung und Frauenrechte wird vom BFA im angefochtenen Bescheid mit keinem Wort erwähnt, obwohl die BF bereits anlässlich ihrer Einvernahme Beweismittel zu ihrer Tätigkeit im Verein XXXX vorlegte.

Die westliche Orientierung der BF wird auch dadurch belegt, dass sie aktive Schritte unternommen hat, ihre berufliche Zukunft zu planen, wie sich eindrucksvoll an der Einstellungszusage einer Zahnärztin zeigt (Beilage H der Stellungnahme zum Verfahrensstand vom 09.10.2018). Dadurch zeigt die BF auch, dass sie nach beruflicher und finanzieller Eigenständigkeit strebt und nicht von ihrer Familie und insbesondere nicht von einem männlichen Familienmitglied abhängig sein will.

Die Tatsache, dass die von ihr angenommene Lebensweise zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden ist, ist ihrer öffentlichen Ansprache zum Internationalen Aktionstag klar zu entnehmen. Hier spricht sie öffentlich von der zu verurteilenden strukturellen Gewalt und Unterdrückung der Frau in Afghanistan und betont, wie wichtig die Unabhängigkeit und Freiheit und daraus folgende Partizipation der Frau für die gesellschaftliche Entwicklung eines Staates sind. Wörtlich sagt sie "Wien ist die Stadt, in der Frauen Zukunft schaffen! Wir halten zusammen, wir stehen für Gleichberechtigung und Selbstbestimmung und die Stadt in der Frauenrechte respektiert werden sollen." (Beilage zur Stellungnahme vom 24.06.2016). Die von der BF glaubwürdig verinnerlichte, selbstbestimmte Lebensweise wird von dieser somit unzweifelhaft als unverzichtbares Kernelement ihrer Identität empfunden und sie ist auch bereit, dafür öffentlich einzutreten und dies - nicht zuletzt durch Mitschnitte ihrer Rede - publik zu machen.

Darüber hinaus entspricht auch das äußere Erscheinungsbild der BF jenem einer "westlichen" Frau und unterstreicht die von der BF gelebte Selbstbestimmtheit. Hierzu ist auszuführen, dass die Beschwerdeführerin ohne Kopftuch und "westlich" gekleidet ist, zumal sie ein Nasen-Piercing trägt, wie aus den vorgelegten Fotos hervorgeht (AS. 93-106) und durch das Bundesverwaltungsgericht im Verfahren der Mutter festgestellt wurde.

Letztlich stellte das Bundesverwaltungsgericht im Erkenntnis ihrer Mutter und ihres Bruders auch fest, dass die BF sich gemeinsam mit ihrer Mutter im Iran einer Zwangsheirat widersetzte und deshalb den Iran verlassen hat (ES 97). Auch das zeigt, dass es sich bei den Aktivitäten der BF und ihren Ausführungen vor dem BFA nicht um "leere Floskeln" handelt, sondern die BF vielmehr tatsächlich eine selbstbestimmte Lebensweise anstrebt und etwa auch ihren zukünftigen Ehemann selbst aussuchen will. Damit stellt sie sich gegen ihre Familie und verletzt damit die Familienehre, wodurch ihr auch in Afghanistan eine Gefahr droht, zumal sich dort ein Stiefonkel der BF aufhalten soll, auch wenn sie zu diesem keinen Kontakt hat. Jedoch ist nicht auszuschließen, dass dieser von der Rückkehr der BF erfahren könnte und sie an ihre Onkel, die sie bereits zwangsverheiraten wollten, verraten beziehungsweise "ausliefern" könnte.

Zusammengefasst ergibt sich aus diesem von der BF gezeigten Verhalten, dass die BF auch in Afghanistan ihr in Österreich nunmehr gesetztes politisches Verhalten fortsetzen würde, weil sie bereits gezeigt hat, dass sie für ihre Rechte eintritt und kein Grund ersichtlich ist, warum sie dies bei einer Rückkehr nicht wiederum täte.

II.2.6. Die strafrechtliche Unbescholtenheit ergibt sich aus einem aktuellen Strafregisterauszug, die Gesundheit der BF aus ihren eigenen Angaben.

II.2.7. Die Länderfeststellungen gründen auf dem von der BF selbst ins Verfahren eingebrachten Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand: Juni 2018), auf das sich die BF in ihrer Stellungnahme vom 09.10.2018 stützte (S. 5 der Stellungnahme). Diese Länderinformationen erweisen sich für die vorliegende Rechtssache als hinreichend aktuell und konnten folglich herangezogen werden, weil das BFA seine Entscheidung zwar noch auf das Länderinformationsblatt aus dem Jahr 2017 mit Kurzinformationen bis zum Jänner 2018, jedoch damit auf Informationen stützte, die im Wesentlichen auch dem jüngeren Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zugrunde lagen. Im Übrigen hatte das BFA auf eine Verhandlung verzichtet und sind diesem die Länderinformationen seiner Staatendokumentation hinreichend bekannt. Dem BFA war auch deshalb kein gesondertes Parteiengehör zu gewähren, weil sich - insbesondere aufgrund des öffentlichen politischen Auftretens der BF - selbst unter Zugrundelegung der Länderfeststellungen des BFA aus dem Jahr 2017 eine asylrelevante Verfolgung ergibt und die herangezogenen Länderinformationen folglich keine andere Entscheidung bewirken. Auch aus den laut VfGH unmittelbar anwendbaren aktuellen UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 zeigt sich, dass Frauen im öffentlichen Leben weiterhin bedroht, eingeschüchtert und gewaltsam angegriffen werden, was sich insoweit auch mit der vom BFA herangezogenen Anfragebeantwortung deckt. Demnach wird die Beteiligung von Frauen am öffentlichen Leben oftmals als Überschreitung gesellschaftlicher Normen wahrgenommen und als "unmoralisch" verurteilt. Diesen Frauen droht Einschüchterung, Schikane bis hin, Opfer von Gewaltakten, einschließlich Mord, zu werden (S. 51f).

II.3. Rechtliche Beurteilung:

II.3.1. Gemäß § 3 BFA-G, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 70/2015, obliegt dem BFA die Vollziehung des BFA-VG (Z 1), die Vollziehung des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100 (Z 2), die Vollziehung des 7., 8. und 11. Hauptstückes des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100 (Z 3) und die Vollziehung des Grundversorgungsgesetzes - Bund 2005, BGBl. I Nr. 100 (Z 4).

Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG, BGBl. I Nr. 87/2012 idF BGBl. I Nr. 68/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des BFA.

Gemäß § 6 Bundesverwaltungsgerichtsgesetz, BGBl. I Nr. 10/2013, entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist, was im gegenständlichen Verfahren nicht der Fall ist.

II.3.2. Zu Spruchpunkt A)

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, sich außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffs ist die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung". Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates beziehungsweise der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. zB. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; 21.12.2000, 2000/01/0131; 25.1.2001, 2001/20/0011).

Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454, 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse, sondern erfordert eine Prognose (vgl. VwGH 16.02.2000, 99/01/0397). Verfolgungshandlungen die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318).

Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (vgl. VwGH 15.03.2001, 99/20/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes beziehungsweise des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat beziehungsweise dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (vgl. VwGH 16.06.1994, 94/19/0183).

Relevant kann darüber hinaus nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Bescheid-/Erkenntniserlassung vorliegen, auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH 19.10.2000, 98/20/0233).

Der BF ist es gelungen, wie im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, glaubhaft zu machen, eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte junge Frau zu sein. Sie hat daher aus nachstehenden Gründen eine maßgebliche Verfolgungswahrscheinlichkeit aus einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe aufgezeigt:

Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Frauen in Afghanistan haben sich zwar keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle afghanischen Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Fall ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr liefen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-)Verfolgung ausgesetzt zu sein. Die Intensität von den in den Länderberichten aufgezeigten Einschränkungen und Diskriminierungen kann jedoch bei Hinzutreten weiterer maßgeblicher individueller Umstände, insbesondere einer diesen - traditionellen und durch eine konservativ-religiöse Einstellung geprägten - gesellschaftlichen Zwängen nach außen hin offen widerstrebenden Wertehaltung einer Frau, Asylrelevanz erreichen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund eines gelebten "westlich" orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer bedrohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen (VwGH 23.01.2018, Ra 2017/18/0301 uva).

Den aktuellen Länderfeststellungen ist zu entnehmen, dass kulturelle Verbote für die freie Fortbewegung und das Verlassen des Hauses ohne Begleitperson viele Frauen daran hindern, außerhalb ihres Hauses zu arbeiten, und ihren Zugang zu Bildung, Gesundheitsvorsorge, Polizeischutz und andere soziale Leistungen begrenzen. Öffentliche Schande haftet Frauen an, die ihr Haus ohne männliche Begleitperson verlassen. Frauen sind besonders gefährdet, Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Besonders Frauen, die öffentlich auftreten, sind Bedrohungen, Schikanierungen oder gewaltsamen Übergriffen bis hin zum Mord ausgesetzt.

Für die BF wirkt sich die derzeitige Situation in Afghanistan so aus, dass sie im Falle einer Rückkehr einem Klima ständiger latenter Bedrohung, struktureller Gewalt und unmittelbarer Einschränkungen und durch das Bestehen dieser Situation einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre. Die BF unterliegt damit einer erhöhten Gefährdung, in Afghanistan dieser Situation ausgesetzt zu sein, weil sie aufgrund ihrer Wertehaltung und Lebensweise gegenwärtig in Afghanistan als eine junge Frau wahrgenommen würde, die sich vor allem durch die Ergreifung der beruflichen und Bildungsmöglichkeiten, ihrem Kleidungsstil, einem Piercing im Gesicht sowie ihrer politischen und feministischen Einstellungen als nicht konform ihrer durch die Gesellschaft, Tradition und das Rechtssystem vorgeschriebenen geschlechtsspezifischen Rolle benimmt; sie ist insofern einem besonderen Misshandlungsrisiko ausgesetzt, zumal sie sich dafür auch öffentlich einsetzt (vgl. dazu EGMR, 20.07.2010, 23.505/09, N./Schweden, unter Hinweis auf UNHCR). Die die BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan bedrohende Situation ist in ihrer Gesamtheit von asylrelevanter Intensität. Nicht entscheidend ist, ob die Asylwerberin schon vor ihrer Ausreise aus dem Herkunftsstaat eine derartige Lebensweise gelebt hat, beziehungsweise deshalb bereits verfolgt worden ist. Es reicht vielmehr aus, dass sie diese Lebensweise im Zuge ihres Aufenthaltes in Österreich angenommen hat und bei Fortsetzung dieses Lebensstils im Falle der Rückkehr mit Verfolgung rechnen müsste, wobei festzuhalten ist, dass sie sich bereits im Iran gegen die ihr zugeteilte Rolle zur Wehr gesetzt hatte.

Es ist nach Lage des Falles davon auszugehen, dass die BF vor dieser Bedrohung in Afghanistan nicht ausreichend geschützt werden kann. Zwar stellen diese Umstände keine Eingriffe von "offizieller" Seite dar, das heißt, sie sind von der gegenwärtigen afghanischen Regierung nicht angeordnet; andererseits ist es der Zentralregierung auch nicht möglich, für die umfassende Gewährleistung grundlegender Rechte und Freiheiten der afghanischen Frauen Sorge zu tragen. Gegenwärtig besteht in Afghanistan kein für diesen Bereich funktionierender Polizei- und Justizapparat. Für die BF ist damit nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass sie angesichts des sie als "westlich" orientierte Frau betreffenden Risikos, Opfer von Misshandlungen und Einschränkungen zu werden, ausreichenden Schutz im Herkunftsstaat finden kann.

Auch die für die Asylgewährung erforderliche Anknüpfung an einen Konventionsgrund (Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Gesinnung) ist im vorliegenden Fall gegeben. Bei der BF liegt das dargestellte Verfolgungsrisiko in ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Gruppe der am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierten afghanischen Frauen (vgl. d

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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