TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/17 W142 2161618-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.01.2020
beobachten
merken

Entscheidungsdatum

17.01.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W142 2161618-2/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde und den Vorlageantrag von XXXX StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.08.2018, Zl. 1101172809-152084755, in der Fassung der Beschwerdevorentscheidung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.10.2018, Zl. 1101172809-152084755, und nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.11.2019 zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG

2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin (BF) reiste gemeinsam mit ihren beiden minderjährigen Kindern unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein. In Österreich wurde die gemeinsame Tochter geboren. Der älteste Sohn der BF reiste zuvor mit seiner Tante nach Österreich. Ihr Ehegatte reiste auch zuvor ein. Die Beschwerdeführerin stellte am 31.12.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 31.12.2015 erfolgte die Erstbefragung der BF durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes. Dabei gab diese an, der Volksgruppe der Hazara anzugehören und sich zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam zu bekennen. Sie habe mit ihrem ersten Mann einen Sohn, weIcher bereits in Österreich lebe. Wenn ihr erster Mann von ihrer Rückkehr erfahren würde, werde sie Probleme bekommen und sie habe Angst vor ihm.

3. Am 05.12.2016 und am 09.01.2017 wurde die BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Kurzbezeichnung BFA; in der Folge belangte Behörde genannt) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. In diesen Einvernahmen erklärte sie im Alter von einem Jahr mit ihren Eltern Afghanistan,

XXXX , verlassen zu haben und nach Pakistan geflüchtet zu sein. Anschließend sei sie in den Iran gegangen, da sie studieren habe wollen. Neben dem Studium habe sie als Lehrerin, Dolmetscherin und Schreibkraft gearbeitet. Vom Chef sei sie sexuell belästigt worden. Vom Vater ihres ältesten Sohnes sei sie geschieden. Nachdem die BF ein zweites Mal geheiratet habe, habe ihr Exehemann den gemeinsamen Sohn haben wollen.

4. Mit Bescheid vom 24.05.2017 wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde der Antrag der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde der BF unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. In Spruchpunkt IV. wurde festgehalten, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

5. Der fristgerecht erhobenen Beschwerde wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 27.07.2018 stattgegeben und die Angelegenheiten gemäß § 28. Abs. 3 2.Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt zurückverwiesen.

6. Am 14.08.2018 wurde die BF niederschriftlich seitens des Bundesamtes einvernommen. Unter anderem gab sie an, in ihrem ganzen Leben leiglich sechs Monate in Afghanistan gelebt zu haben. Ihr ältester Sohn sei krank und hätte man ihr, als sie im Iran gelebt haben, gesagt, dass deutsche Ärzte in Afghanistan seien, die afghansiche schwerkranke Kinder mitnehmen würden. Deshalb sei sie mit ihrem kranken Sohn und ihrem zweiten Ehemann nach Afghanistan gereist. In Afghanistan habe man ihnen jedoch gesagt, dass Hazaren nicht geholfen werden würde. Nachgefragt nach ihrem Kleidungsstil gab sie an, dass sie gerne einen Rock und einen Sacko trage. In Afghanistan müsse man in der Öffentlichkeit immer einen Tschador tragen. Ihr Ehemann und die Nachbarn hätten gesagt, dass sie sich so kleiden müsse. In Österreich besuche sie seit März 2017 Deutschkurse, die B1 Prüfung habe sie bereits abgelegt. Sie gehe alleine zu Ämtern und besuche Ärzte. Manchmal gehe sie im Park spazieren. Sie habe Probleme mit der Bandscheibe, weshalb ihr Ehemann hauptsächlcih die Hausarbeit verrichte. Seit März 2017 gehe sie auch zu Frauentreffen und besuche auch das Sprachcafe. Sie habe zahlreiche österreichische Freunde. Sie arbeite freiwillig bei der Caritas. Nachgefragt, wie gut sie ihre Deutschkenntnisse einschätzen würde, erklärte sie, dass sie bis jetzt all ihre Sachen selbst erledige und wenn sie ein Problem habe, verwende sie die englische Sprache. Auf die Frage, ob sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan Unterstützung durch die Familie bekommen würde, erklärte sie, keine Unterstützung von ihrer Familie gehabt zu haben. Sie sei eine Schande für ihre Familie gewesen und deshalb hätten sie sie einfach fallen gelassen. Sie habe sich immer von ihrer Familie ferngehalten, weil sie nicht wolle, dass ihr jetziger Ehemann von ihrer Vergangenheit erfahre. Ihre Familie habe sie alleine gelassen als sie schwanger gewesen sei und habe sie schwere Zeiten gehabt. In Österreich wolle sie ein Lokal oder ein Geschäft aufmachen. Die älteste Tochter erklärte bei ihrer Einvernahme nicht so ein Leben haben zu wollen, wie ihre Mutter. Sie wolle Architektin werden und ihr Bestes geben.

7. Mit Bescheid vom 24.08.2018 wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde der Antrag der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde der BF unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte IV. und V.). In Spruchpunkt VI. wurde festgehalten, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

8. Mit Verfahrensanordnung der belangten Behörde vom 02.10.2018 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren amtswegig eine Rechtsberatung zur Seite gestellt.

9. Gegen den im Spruch genannten Bescheid wurde von der Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde erhoben.

10. Mit Beschwerdevorenscheidung vom 02.10.2018 wurden der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde der Antrag der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde der Beschwerdeführerin unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte IV. und V.). In Spruchpunkt VI. wurde festgehalten, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

11. Mit Vorlageantrag vom 03.10.2018 wurde im Wesentlichen auf die Beschwerde vom 31.08.2018 verwiesen.

12. Am 22.11.2019 fand bezüglich die Beschwerdeführerin vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, an der das Bundesamt als weitere Partei nicht teilnahm.

Entscheidungswesentlich wurde von der BF wie folgt vorgebracht:

"R: Stimmt Ihr Name XXXX und Ihr Geburtsdatum laut Karte?

BF1 (auf Deutsch): Nein, das ist falsch.

R: Schreiben Sie mir bitte Ihre richtigen Daten auf ein Blatt Papier.

BF1 überreicht ein Blatt Papier worauf steht: XXXX . Dieses Schreiben wird als Beilage ./A zum Akt genommen.

R: Wieso wurden Ihre Daten falsch angegeben?

BF1 (auf Deutsch): Ich habe dem Bundesamt mein richtiges Geburtsdatum genannt und auch die richtige Schreibweise meines Namens, aber das Bundesamt hat die Daten nicht geändert.

R: Wo sind Sie in Afghanistan geboren?

BF1 (auf Deutsch): In Daikundi. Ich habe nie in Afghanistan gelebt. Ich habe nur gehört, dass der Name meines Heimatdorfes XXXX lautet.

R: Haben Sie Verwandte, die in Afghanistan leben?

BF1 (auf Deutsch): Meine Eltern, eine Schwester und ein Bruder.

R: Wo leben Ihre Verwandten?

BF1 (auf Deutsch): Alle in Kabul.

R: Haben Sie Kontakt zu Ihren Eltern und Geschwistern?

BF1 (auf Deutsch): Nein, wegen der Probleme, die ich hatte, habe ich keinen Kontakt. Mit einer Schwester, die in Deutschland lebt habe ich Kontakt.

R: Wo sind Sie geboren?

BF1 (auf Deutsch): In Daikundi.

R: Wie alt waren Sie, als Sie Afghanistan verlassen haben, um im Iran zu leben?

BF1 (auf Deutsch): Als Kind war ich in Pakistan. Ich habe bis zum 15. Lebensjahr in Pakistan gelebt und anschließend im Iran.

R: Haben Ihre Eltern auch in Pakistan gelebt?

BF1 (auf Deutsch): Ja, mit meinen Eltern habe ich in Pakistan gelebt bis zu meiner Heirat.

R: Sind Ihre Eltern wieder nach Afghanistan zurückgekehrt?

BF1 (auf Deutsch): Ich habe im Iran studiert, aber das nur ein Semester. Ich hatte Probleme mit einem Professor an der Universität im Iran. (weiter mit Übersetzung in Farsi): Um einen Platz in einem staatlichen Studentenheim zu bekommen, habe ich bis dahin bei dem Professor gelebt. Ich habe als Gegenleistung, dass ich bei ihm wohnen darf, seine Kinder unterrichtet und in der Firma des Professors als Sekretärin und Dolmetscherin geholfen. Ich war zu dem damaligen Zeitpunkt 16 Jahre alt.

R: Wo haben Sie sich damals befunden?

BF1 (auf Deutsch): Ich war im Iran.

R: Welche Probleme hat es mit dem Professor gegeben?

BF1: Ich habe, bevor ich bei ihm eingezogen bin, schon Kontakt zu der Familie gehabt, da ich die Kinder unterrichtet habe. Nachdem ich die Erlaubnis von meinen Eltern bekommen habe, um kurzfristig bei ihnen zu leben, bin ich dann hingezogen. Gleich in der ersten Nacht haben sie mir ein Betäubungsmittel verabreicht und mich vergewaltigt, weshalb ich nicht mehr zurückkehren konnte.

R: Wer hat Ihnen das Betäubungsmittel verabreicht?

BF1: Am Anfang wusste ich nicht, ob die Frau des Professors davon wusste oder nicht. Danach habe ich erfahren, dass sie alles gewusst hat.

R: Was meinen Sie mit "habe ich nicht mehr zurückkehren können"?

BF1: Ich konnte nicht mehr zu meiner Familie zurückkehren.

R: Wieso konnten Sie nicht zurückkehren?

BF1: In unserer Kultur ist es so, dass ein Mädchen als Mädchen (Jungfrau) verheiratet werden sollte. Da ich keine Jungfrau mehr war, habe ich mich nicht mehr getraut, zu meinen Eltern zurückzukehren.

R: Wie lange sind Sie dann bei diesem Professor wohnhaft gewesen?

BF1: Ungefähr acht Monate.

R: Wie ist es Ihnen gelungen, aus der Wohnung des Professors wieder auszuziehen?

BF1: Ich habe nach der Gelegenheit gesucht, außerdem habe ich darauf gewartet, meinen Schlafplatz auf der Uni zu bekommen und einen legalen Aufenthaltstitel zu erhalten. Acht Monate war ich bei ihm wohnhaft. Ich habe insgesamt zwei Jahre in Teheran gelebt, ohne meine Eltern und habe Pläne für eine bessere Zukunft geschmiedet.

R: Wo haben Sie dann nach diesen zwei Jahren im Teheran gelebt?

BF1: Nach diesen zwei Jahren habe ich bei meinen Eltern im Iran gelebt. Ich habe keinen Ausweg gefunden und war gezwungen, zu meinen Eltern zurückzukehren.

R: Wie lange haben Sie insgesamt im Iran gelebt?

BF1: Ungefähr drei Jahre oder etwas mehr habe ich bei meinen Eltern im Iran gelebt. Nach meiner Heirat war ich dann noch 12 Jahre im Iran. Ich war drei Jahre lang, bevor ich meinen jetzigen Mann geheiratet habe, mit einem anderen Mann verheiratet, der zu der Zeit in Deutschland war und jetzt auch noch in Deutschland ist. Nachher war ich 12 Jahre mit meinem jetzigen Mann noch im Iran.

R: Haben Sie sich Ihren ersten Ehemann ausgesucht oder mussten Sie ihn heiraten?

BF1 (auf Deutsch): Ich wurde mit ihm in Teheran zwangsverheiratet.

R: Wieso war diese Ehe dann von so kurzer Dauer?

BF1 (auf Deutsch): Weil ich keine Jungfrau mehr war.

R: Wie lang waren Sie mit Ihrem ersten Ehemann verheiratet?

BF1 (auf Deutsch): 20 Tage, dann ist er nach Deutschland gegangen.

R: Das heißt, nach der Beendigung der Ehe mit dem ersten Ehemann haben Ihre Eltern gewusst, dass Sie keine Jungfrau mehr waren, als Sie diesen ersten Ehemann geheiratet haben?

BF1 (auf Deutsch): Ja, alle haben es gewusst, ganz Teheran. Auch mein Ehemann hat es erst in der Hochzeitsnacht erfahren, dass ich keine Jungfrau mehr bin. Er war wütend und wollte das Geld von meinen Eltern und als Entschädigung meine Schwester.

R: Haben Sie sich Ihren zweiten Ehemann selbst ausgesucht?

BF1 (auf Deutsch): Ja, ich war drei Jahre alleine mit meinem Sohn aus erster Ehe. Das war eine sehr schwere Zeit, weil er krank war. Ich habe dann nochmals geheiratet und mir den Mann selbst ausgesucht. Mein ältester Sohn war eine Frühgeburt und es war sehr schwer.

R: Verstehen Sie sich mit Ihrem zweiten Ehemann gut?

BF1 (auf Deutsch): Manchmal schon, manchmal nicht so gut. Er hatte auch ein schwieriges Leben. Als ich ihn geheiratet habe, habe ich seinen Charakter nicht so gut gekannt. Ich brauchte aber einen Mann für die Gesellschaft und für die Sicherheit.

R: Ist Ihr jetziger Ehemann gut zu den Kindern?

BF1 (auf Deutsch): Er ist ein guter Papa. Normalerweise akzeptiert kein anderer Mann ein behindertes Kind. Er war aber immer nett zu meinem Sohn aus erster Ehe.

R: Haben Sie im Iran etwas gearbeitet oder haben Sie Ihr Studium beendet?

BF1 (auf Deutsch): Nein, der Professor hat alle meine Dokumente genommen, auch meinen Reisepass. Ich konnte nicht mehr weiter studieren. Ich habe nur ein Semester studiert. Ich habe Science studiert.

R: Haben Sie gearbeitet im Iran?

BF1 (auf Deutsch): Zuerst bei dem Professor als Sekretärin, dann als Lehrerin. Später auch in der Politik, in der Partei Baba Mazary.

R: Was haben Sie in der Partei gemacht?

BF1: Ich war kein offizielles Mitglied dieser Partei. Ich war für diese Partei ehrenamtlich tätig. Ich habe über den Krieg in Afghanistan gesprochen, über Konflikte, über die Vorbeugung und was man machen kann. Ich habe vor einem afghanischen Publikum im Iran gesprochen. Man könnte es als Sozialarbeiterin bezeichnen mit Politik vermischt.

R: In Pakistan haben Sie diese ehrenamtliche Tätigkeit auch gemacht?

BF1 (auf Deutsch): Ja, dort habe ich auch schon begonnen. Ich habe gemeinsam mit XXXX für diese Partei gearbeitet. Nun ist sie im Parlament in Pakistan.

R: Sind Sie von Ihrer Familie verstoßen worden, weil Sie vergewaltigt wurden?

BF1 (auf Deutsch): Das war wirklich schwer. Ich war für sie ein schlechtes Kind. Ich wurde von ihnen verstoßen.

R: Was sind die Gründe, warum Sie nicht in Afghanistan leben können?

BF1: Ich war nie in Afghanistan, bis auf die sechs Monate, in denen ich nur für die ärztlichen Wege meines Sohnes dort war.

R: Aber Sie sind ja nun verheiratet.

BF1: Mein ehemaliger Mann wollte als Entschädigung meine Schwester heiraten und das ganze Geld zurückhaben. Keines von beiden bekam er. Das vergisst und verzeiht man nicht. Man nimmt Rache, wenn immer man Gelegenheit dazu bekommt.

R: Das heißt, Sie haben Angst vor der Familie Ihres ersten Mannes?

BF1: Ja. Als ich in Afghanistan war, hat der erste Ehemann versucht, mir meinen Sohn XXXX wegzunehmen. Wir sind deswegen zurück in den Iran geflüchtet. Er wollte mir nicht nur XXXX wegnehmen, sondern mich töten.

R: Wann waren Sie jeweils in Afghanistan aufhältig?

BF1: Im Jahr 1383 (D: 2005) sechs Monate.

R: Waren Sie zuvor auch schon einmal in Afghanistan?

BF1: Nein, weder zuvor noch danach.

R: Wieso waren Sie sechs Monate in Afghanistan?

BF1 (auf Deutsch): Ja. Es gab eine Chance für unseren Sohn, dass er ärztlich in Deutschland behandelt wird. Das war ein Projekt, aber wir hatten keine Chance, weil wir Hazara waren. Solche Projekte gibt es auch heute noch. Da wir es nicht geschafft haben, dass mein Sohn in Deutschland behandelt wird, sind wir wieder in den Iran gereist.

R: Sie haben Matura, Sie scheinen eine sehr resolute, selbstbestimmte Persönlichkeit zu besitzen?

BF1 (auf Deutsch): Ja. Das was mir als Kind passiert ist, war nicht mein Fehler.

R: Hätten Sie Schwierigkeiten aufgrund Ihrer Schulbildung bzw. Persönlichkeit nach Afghanistan zurückzukehren?

BF1: Meine Bildung würde mir in Afghanistan nichts bringen. Als ich in Afghanistan für diese sechs Monate war, hat mein erster Ehemann nicht nur meinen Sohn gefordert, sondern auch mich, aber um mich zu töten. Ich habe bei meiner zweiten Heirat niemanden hinter mir gehabt und ich bin als Frau, was unüblich ist, selbst um die Hand meines Mannes anhalten gegangen, was auch eine Schande ist für meine Familie.

R: Woher stammt Ihr erster Ehemann?

BF1 (auf Deutsch): Er hat sehr viele Cousinen und Cousins, er hatte selbst sieben Brüder. Die Verwandten leben in Kabul und Daikundi und sind auch im Nachbardorf von meinem Geburtsort. Das Dorf heißt XXXX (phonetisch).

R: Das heißt, die Verwandten Ihres ersten Mannes leben dort? Er lebt ja in Deutschland.

BF1 (auf Deutsch): Nachdem ich mich von ihm scheiden habe lassen, habe ich gewusst, dass er in Deutschland lebt, aber ich hatte dann keinen Kontakt mehr zu ihm und deshalb weiß ich nicht mehr, wo er aufhältig ist.

R: Was arbeiten Sie hier in Österreich?

BF1 (auf Deutsch): Ich habe als Lehrerin bei der Caritas gearbeitet. Das ist ehrenamtlich gewesen. Weiters habe ich im EGER-Heim als Köchin gearbeitet. Sonst dolmetsche ich bei Ämtern und Spitälern.

R: Was ist Ihr Ziel hier in Österreich? Was würden Sie hier arbeiten wollen?

BF1 (auf Deutsch): Ich habe drei verschiedene Ideen. Ich möchte gerne ein Restaurant haben oder ein Hotel. Ich habe im Iran neun Jahre lang als Schneiderin für Soldatenuniformen jeglicher Art gearbeitet. Ich würde auch hier gerne als Schneiderin arbeiten. Ich würde mich gerne mit dem Land zusammenschließen und österreichische Soldatenuniformen schneidern. Ich kenne sehr viele Menschen in Kärnten, die bereits als Schneider gearbeitet haben und arbeitslos sind. Ich würde auch gerne als Sozialarbeiterin arbeiten oder als Dolmetscherin. Ich wäre auch bereit, die Ausbildung dazu zu machen, das wäre kein Problem.

R: Ist das kein Problem, da Sie mehrere Kinder haben?

BF1 (auf Deutsch): Nein, das ist kein Problem, das schaffe ich. Ich versuche auch den Pflichtschulabschluss nachzumachen.

R: Wann wollen Sie die Prüfung machen?

BF1 (auf Deutsch): Ich bin jetzt im ersten Semester. Die Semesterprüfung ist im Jänner. Insgesamt gibt es drei Semester zu absolvieren. Nach jedem Semester muss ich eine Prüfung machen und dann hätte ich den Pflichtschulabschluss.

R: Ist Ihr zweiter Ehemann auch afghanischer Staatsangehöriger? Woher stammt er?

BF1 (auf Deutsch): Das Dorf heißt XXXX , das ist in Daikundi.

R: Wie lange war Ihr Ehemann in Afghanistan aufhältig?

BF1 (auf Deutsch): Ungefähr bis zum sechsten oder siebenten Lebensjahr, dann ist er in den Iran gereist.

R: Wie gestaltet sich Ihr Leben hier in Österreich? Teilen Sie sich die Arbeit mit ihm?

BF1 (auf Deutsch): Ja, ohne seine Hilfe würde ich es nicht schaffen. Er kocht, putzt und passt auf. Ich bin unterwegs in der Schule, oder ich dolmetsche.

R: Auf welchem Niveau sprechen Sie Deutsch?

BF1 (auf Deutsch): B1. Für B2 gibt es in Klagenfurt keinen Kurs, außerdem war ich lange sehr krank. B1 habe ich bei der Caritas gemacht, das war gratis. B2 muss ich selber zahlen und für uns als Familie ist das momentan nicht erschwinglich.

R: Glauben Sie, könnten Sie in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif leben?

BF1 (auf Deutsch): Unter uns gesagt, wenn es möglich wäre, würde ich in mein Heimatland zurückkehren. Aber wenn man von der Gesellschaft nicht akzeptiert wird, wie kann man dort leben? Für die Kinder wäre es noch schwieriger.

R: Wieso werden Sie von der Gesellschaft nicht akzeptiert?

BF1 (auf Deutsch): Ich war sechs Monate in Afghanistan und in dieser Zeit habe ich selbst am eigenen Leib erfahren, dass ich keine Unterstützung bekomme. Zuerst war ich in Kabul, da hat mein erster Mann versucht, mir meinen Sohn wegzunehmen und Rache auszuüben. Als ich in Afghanistan war, war ich auch beim Vater meines jetzigen Ehemannes und dieser hat sich gewundert, dass ich um die Hand seines Sohnes angehalten habe. Ich würde von der Familie meines jetzigen Ehemannes nicht akzeptiert werden. Ich lebe in ständiger Angst, nicht nur um mich und meine Ehe, sondern auch um meine Kinder. Ich möchte nicht, dass meine Schwiegerfamilie von meiner Vergangenheit erfährt. Das würde nicht nur für mich Nachteile bringen, sondern auch für meine Kinder.

R: Woher sollten die Eltern Ihres jetzigen Ehemannes von Ihrer Vorgeschichte wissen?

BF1: Auch mein jetziger Ehemann weiß nicht den tatsächlichen Grund der Scheidung von meinem ersten Ehemann. Auch von meiner Vergewaltigung weiß er nichts. Solange wir in Österreich sind ist das kein Problem, aber, wenn ich nach Afghanistan zurückkehren würde, könnten andere Personen das Geschehene meinem jetzigen Ehemann und deren Verwandten erzählen. Dann würde mein jetziger Ehemann unsere Ehe auflösen und er könnte mich vielleicht auch umbringen. Wenn er es hier in Österreich erfährt, könnte er sich scheiden lassen, aber in Afghanistan hätte er mehr Rechte als betrogener Ehemann

RV: Keine Fragen.

BF1: Es kann sein, dass viele Frauen so etwas erlebt haben wie ich, aber nicht mit den gleichen Erfahrungen. Ich habe ein sehr schweres Leben mit viel Angst und Sorgen. Ich habe zwei Nächte lang sehr schlecht geschlafen, aus Angst davor, was mein Erkenntnis mir bringen wird. In Afghanistan wäre es eine Schande, wenn meine Vorgeschichte bekannt werden würde. Hier in Österreich hätten meine Kinder eine Sicherheit, falls mein Ehemann von meiner Vorgeschichte erfahren würde. In Afghanistan würden ich und sie von der Familie verstoßen werden.

R: Akzeptiert Ihr jetziger Ehemann, dass Sie so selbständig agieren?

BF1 (auf Deutsch): Nicht immer. Ich glaube er hat Angst, wenn ich mehr Schulbildung hätte als er. Ich würde gerne den Pflichtschulabschluss haben und später studieren. Er sagt dazu, dass ich schon zu alt wäre und zu Hause bleiben soll und auf die Kinder aufpassen soll.

R: Was macht Ihr Mann?

BF1 (auf Deutsch): Er arbeitet freiwillig. Er war Schweißer und möchte als solcher auch in Österreich tätig sein.

Erörtert werden folgende Berichte:

? Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Stand 13.11.2019

? UNHCR-Richtlinien Afghanistan, 30.08.2018

? EASO-Bericht Afghanistan, Juni 2019

R: Möchten Sie zur Sicherheitslage in Ihrem Heimatland etwas angeben?

BF1 (auf Deutsch): Meine Kinder sind sehr intelligent. Meine Tochter ist zB die Beste in der Klasse. Auch mein ältester Sohn ist sehr intelligent. Sie haben in kurzer Zeit die deutsche Sprache gelernt. Auch ich habe in kurzer Zeit die Sprache gelernt.

RV erklärt, dass ihr diese Unterlagen bekannt sind und sie möchte keine Erklärung dazu abgeben und verweist im Übrigen auf die Anträge in der Beschwerde.

Die BF1 legt ein Fotoalbum mit Bildern vom Sprachcafe, Altersheim und der Frauenakademie vor. Aus den Bildern ist ersichtlich, dass die BF1 viele österreichische Freunde hat und gut integriert ist.

Die BF1 legt ein Konvolut an Integrationsunterlagen vor. Auf einem Foto sind Mitarbeiter des ORF zu sehen. Dieses Konvolut wird als Beilage ./B zum Akt genommen.

BF1: Ich habe dort als Dolmetscherin gearbeitet und auf der Rückseite ist zu sehen, dass sie mir alle viel Glück wünschen. Für meine Kinder wünsche ich mir, dass sie in einer sicheren Umgebung aufwachsen und wünsche ich mir, dass sie eine gute schulische Ausbildung haben. [...]"

13. Der Ehemann der BF gab in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht an, dass er Verwandte in Afghanistan habe, die Probleme machen würden. Er wies daraufhin, dass Frauen in Afghanistan keinen Wert hätten, sie keine Entscheidungen treffen und keine Meinungen äußern dürften, ferner keine Schule und Ausbildung genießen könnten. Seine Frau (BF) würde deshalb viele Probleme bekommen. Beispielsweise habe sie im Jahr 2005 ein Jobangebot als Dolmetscherin in Daikundi bekommen, sein Vater habe dies jedoch nicht zugelassen (siehe GZ. W142 2161740-2/3Z).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die Beschwerdeführerin trägt den Namen XXXX und ist am XXXX in Daikundi geboren. Sie ist afghanische Staatsangehörige und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Im Alter von einem Jahr übersiedelte sie mit ihrer Familie nach Pakistan, wo sie bis zum 15. Lebensjahr lebte. Anschließend studierte sie ein Semester an der Universität im Iran. Während dieser Zeit lebte sie bei einem Professor und dessen Familie, weil sie keinen Platz im staatichen Studentenheim bekommen hatte. Als Gegenleistung unterrichtete sie seine Kinder und half in seiner Firma als Sekretärin und Dolmetscherin. Eines nachts wurde ihr ein Betäubungsmittel verabreicht und vergewaltigte sie der Professor. Insgesamt lebte sie acht Monate beim Professor und als die Eltern schließlich in den Iran zogen, lebte die Beschwerdeführerin bei ihren Eltern. In der Folge wurde die Beschwerdeführerin zwangsverheiratet. Die Ehe dauerte jedoch nur 20 Tage, weil der Ehemann bemerkte, dass sie keine Jungfrau mehr war. Er war wütend und wollte Geld von den Eltern und als Entschädigung ihre Schwester. Daraufhin wurde die Beschwerdeführerin von den Eltern verstoßen und gebar sie einen Sohn, der schwer krank war. Mit ihrem Sohn lebte sie drei Jahre alleine. Schließlich heiratete sie noch einmal und entstammen aus dieser Ehe drei gemeinsame Kinder. Im Jahr 2005 kehrte sie mit ihrem Ehemann und den Kindern für sechs Monate nach Afghansitan zurück, weil sie sich eine ärtzliche Behandlung für ihren kranken Sohn im Rahmen eines Projektes in Deutschland erhoffte. Dieser wurde jedoch nicht im Rahmen dieses Projektes aufgenommen, weshalb die Beschwerdeführerin mit ihrer Familie in den Iran zurückkehrte. Während des Aufenthaltes in Afghanistan bekam die Beschwerdeführerin ein Jobangebot als Dolmetscherin. Der Schwiegervater war jedoch gegen die Ausübung dieser Tätigkeit, weshalb die Beschwerdeführerin das Angebot nicht annehmen durfte. Sie musste in Afghanistan einen Tschador tragen, sich so kleiden wie es ihr Ehemann und die Nachbarn sagten. Sie empfand die dort befehligenden Einschränkungen als sehr belastend. Sie spricht Deutsch auf B1 Niveau. Bildung besitzt für die Beschwerdeführerin selbst einen sehr hohen Stellenwert, ebenso wie wirtschaftliche Unabhängigkeit. Dies äußert sich darin, dass sie bereits eherenamtlich als Lehrerin bei der Caritas arbeitete, weiters arbeitete sie im EGER-Heim als Köchin und dolmetscht bei Ämtern und Spitälern. In Österreich würde sie gerne ein Restaurant oder Hotel besitzen oder als Schneiderin oder Sozialarbeiterin arbeiten. Sie besucht derzeit den Vorbereitungslehrgang zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses. Ihr Ehemann hilft bei der Bewältigung der Hausarbeiten. Sie ist auch in der örtlichen Gemeinschaft sehr integriert und besitzt zahlreiche österreichische Freunde. Sie ist auch in der Lage Arztbesuche oder Behördengänge eigenständig wahrzunehmen. Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine eigenständige, zielstrebige, moderne und aufgeklärte Frau, die mit ihrer Flucht nach Österreich zudem ihre Vorstellungen über die einer Frau zustehenden Rechte verwirklichen und nach diesen Maßstäben ihr weiteres Leben gestalten will. Die Beschwerdeführerin würde im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund ihrer nach außen hin erkennbaren persönlichen Wertehaltung, die sich vorrangig in ihrem Wunsch nach Bildung und Unabhängigkeit geäußert hatte, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgesetzt sein.

Die Eltern und zwei Geschwister der Beschwerdeführerin leben in Kabul. Die Beschwerdeführerin hat jedoch keinen Kontakt zu ihnen. Der Ehemann der Beschwerdeführerin verfügt über Verwandte in Afghanistan.

Situation der Frauen in Afghanistan:

Die Lage afghanischer Frauen hat sich in den letzten 15 Jahren zwar insgesamt ein wenig verbessert, jedoch nicht so sehr wie erhofft. Wenngleich es in den unterschiedlichen Bereichen viele Fortschritte gab, bedarf die Lage afghanischer Frauen spezieller Beachtung. Die afghanische Regierung ist bemüht, die Errungenschaften der letzten eineinhalb Jahrzehnte zu verfestigen - eine Institutionalisierung der Gleichberechtigung von Frauen in Afghanistan wird als wichtig für Stabilität und Entwicklung betrachtet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). In einigen Bereichen hat der Fortschritt für Frauen stagniert, was großteils aus der Talibanzeit stammenden, unnachgiebigen konservativen Einstellungen ihnen gegenüber geschuldet ist (BFA Staatendokumentation 4.2018). Viel hat sich seit dem Ende des Talibanregimes geändert: Frauen haben das verfassungsmäßige Recht an politischen Vorgängen teilzunehmen, sie streben nach Bildung und viele gehen einer Erwerbstätigkeit nach (TET 15.3.2018). Artikel 22 der afghanischen Verfassung besagt, dass jegliche Form von Benachteiligung oder Bevorzugung unter den Bürgern Afghanistans verboten ist. Die Bürger Afghanistans, sowohl Frauen als auch Männer, haben vor dem Gesetz gleiche Rechte und Pflichten (MPI 27.1.2004). In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. UNAMA/OHCHR 5.2018). Die konkrete Situation von Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Traditionell diskriminierende Praktiken gegen Frauen existieren insbesondere in ländlichen und abgelegenen Regionen weiter (AA 5.2018).

Bildung

Das Recht auf Bildung wurde den Frauen nach dem Fall der Taliban im Jahr 2001 eingeräumt (BFA Staatendokumentation 3.7.2014). Laut Verfassung haben alle afghanischen Staatsbürger/innen das Recht auf Bildung (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Öffentliche Kindergärten und Schulen sind bis zur Hochschulebene kostenlos. Private Bildungseinrichtungen und Universitäten sind kostenpflichtig. Aufgeschlossene und gebildete Afghanen, welche die finanziellen Mittel haben, schicken ihre Familien ins Ausland, damit sie dort leben und eine Ausbildung genießen können (z.B. in die Türkei); während die Familienväter oftmals in Afghanistan zurückbleiben (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine der Herausforderungen für alle in Afghanistan tätigen Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich; speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind (BFA Staatendokumentation 4.2018).

In den Jahren 2016 und 2017 wurden durch den United Nations Children's Fund (UNICEF) mit Unterstützung der United States Agency for International Development (USAID) landesweit 4.055 Dorfschulen errichtet - damit kann die Bildung von mehr als 119.000 Kindern in ländlichen Gebieten sichergestellt werden, darunter mehr als 58.000 Mädchen. Weitere 2.437 Ausbildungszentren in Afghanistan wurden mit Unterstützung von USAID errichtet, etwa für Personen, die ihre Ausbildung in frühen Bildungsjahren unterbrechen mussten. Mehr als 49.000 Student/innen sind in diesen Ausbildungszentren eingeschrieben (davon mehr als 23.000 Mädchen). USAID hat mehr als 154.000 Lehrer ausgebildet (davon mehr als 54.000 Lehrerinnen) sowie 17.000 Schuldirektoren bzw. Schulverwalter (mehr als 3.000 davon Frauen) (USAID 10.10.2017).

Sowohl Männer als auch Frauen schließen Hochschulstudien ab - derzeit sind etwa 300.000 Student/innen an afghanischen Hochschulen eingeschrieben - darunter 100.000 Frauen (USAID 10.10.2017).

Dem afghanischen Statistikbüro (CSO) zufolge gab es im Zeitraum 2016-2017 in den landesweit 16.049 Schulen, insgesamt 8.868.122 Schüler, davon waren 3.418.877 weiblich. Diese Zahlen beziehen sich auf Schüler/innen der Volks- und Mittelschulen, Abendschulen, Berufsschulen, Lehrerausbildungszentren sowie Religionsschulen. Im Vergleich mit den Zahlen aus dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Studentinnen um 5,8% verringert (CSO 2017). Die Gesamtzahl der Lehrer für den Zeitraum 2016-2017 betrug 197.160, davon waren 64.271 Frauen. Insgesamt existieren neun medizinische Fakultäten, an diesen sind 342.043 Studierende eingeschrieben, davon

77.909 weiblich. Verglichen mit dem Zeitraum 2015-2016 hat sich die Anzahl der Frauen um 18.7% erhöht (CSO 2017).

Im Mai 2016 eröffnete in Kabul die erste Privatuniversität für Frauen im Moraa Educational Complex, mit dazugehörendem Kindergarten und Schule für Kinder der Studentinnen. Die Universität bietet unter anderem Lehrveranstaltungen für Medizin, Geburtshilfe etc. an. (TE 13.8.2016; vgl. MORAA 31.5.2016). Im Jahr 2017 wurde ein Programm ins Leben gerufen, bei dem 70 Mädchen aus Waisenhäusern in Afghanistan, die Gelegenheit bekommen ihre höhere Bildung an der Moraa Universität genießen zu können (Tolonews 17.8.2017).

Im Herbst 2015 eröffnete an der Universität Kabul der Masterlehrgang für "Frauen- und Genderstudies" (KP 18.10.2015; vgl. UNDP 10.7.2016). Im Jahr 2017 haben die ersten Absolvent/innen des Masterprogramms den Lehrgang abgeschlossen: 15 Frauen und sieben Männer, haben sich in ihrem Studium zu Aspekten der Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte ausbilden lassen; dazu zählen Bereiche wie der Rechtsschutz, die Rolle von Frauen bei der Armutsbekämpfung, Konfliktschlichtung etc. (UNDP 7.11.2017).

Berufstätigkeit

Berufstätige Frauen sind oft Ziel von sexueller Belästigung durch ihre männlichen Kollegen. Die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen variiert je nach Region und ethnischer bzw. Stammeszugehörigkeit (AA 5.2018). Aus einer Umfrage der Asia Foundation (AF) aus dem Jahr 2017 geht hervor, dass die Akzeptanz der Berufstätigkeit von Frauen außerhalb des Hauses unter den Hazara 82,5% beträgt und am höchsten ist. Es folgen die Usbeken (77,2%), die Tadschiken (75,5%) und die Paschtunen (63,4%). In der zentralen Region bzw. Hazarajat tragen 52,6% der Frauen zum Haushaltseinkommen bei, während es im Südwesten nur 12% sind. Insgesamt sind 72,4% der befragten Afghanen und Afghaninnen der Meinung, dass Frauen außerhalb ihres Hauses arbeiten sollen (AF 11.2017). Die Erwerbstätigkeit von Frauen hat sich seit dem Jahr 2001 stetig erhöht und betrug im Jahr 2016 19%. Frauen sind dennoch einer Vielzahl von Hindernissen ausgesetzt; dazu zählen Belästigung, Diskriminierung und Gewalt, aber auch praktische Hürden, wie z.B. fehlende Arbeitserfahrung, Fachkenntnisse und (Aus)Bildung (UNW o. D.).

Nichtsdestotrotz arbeiten viele afghanische Frauen grundlegend an der Veränderung patriarchaler Einstellungen mit. Viele von ihnen partizipieren an der afghanischen Zivilgesellschaft oder arbeiten im Dienstleistungssektor. Aber noch immer halten soziale und wirtschaftliche Hindernisse (Unsicherheit, hartnäckige soziale Normen, Analphabetismus, fehlende Arbeitsmöglichkeiten und mangelnder Zugang zu Märkten) viele afghanische Frauen davon ab, ihr volles Potential auszuschöpfen (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Die Einstellung gegenüber der Berufstätigkeit von Frauen hat sich in Afghanistan in den letzten Jahren geändert; dies hängt auch mit den NGOs und den privaten Firmen zusammen, die in Afghanistan aktiv sind. Die städtische Bevölkerung hat kaum ein Problem mit der Berufstätigkeit ihrer Ehefrauen oder Töchter. Davor war der Widerstand gegen arbeitende Frauen groß und wurde damit begründet, dass ein Arbeitsplatz ein schlechtes Umfeld für Frauen darstelle, etc. In den meisten ländlichen Gemeinschaften sind konservative Einstellungen nach wie vor präsent und afghanische Frauen sehen sich immer noch Hindernissen ausgesetzt, wenn es um Arbeit außerhalb ihres Heimes geht. Im ländlichen Afghanistan gehen viele Frauen, aus Furcht vor sozialer Ächtung, keiner Arbeit außerhalb des Hauses nach (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Das Gesetz sieht zwar die Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf vor, jedoch beinhaltet es keine egalitären Zahlungsvorschriften bei gleicher Arbeit. Das Gesetz kriminalisiert Eingriffe in das Recht auf Arbeit der Frauen; dennoch werden diese beim Zugang zu Beschäftigung und Anstellungsbedingungen diskriminiert (USDOS 20.4.2018).

Dennoch hat in Afghanistan aufgrund vieler Sensibilisierungsprogramme sowie Projekte zu Kapazitätsaufbau und Geschlechtergleichheit ein landesweiter Wandel stattgefunden, wie Frauen ihre Rolle in- und außerhalb des Hauses sehen. Immer mehr Frauen werden sich ihrer Möglichkeiten und Chancen bewusst. Sie beginnen auch wirtschaftliche Macht zu erlangen, indem eine wachsende Zahl Teil der Erwerbsbevölkerung wird - in den Städten mehr als in den ländlichen Gebieten. Frauen als Ernährerinnen mit Verantwortung für die gesamte Familie während ihr Mann arbeitslos ist, sind keine Seltenheit mehr. Mittlerweile existieren in Afghanistan oft mehr Arbeitsmöglichkeiten für Frauen als für Männer, da Arbeitsstellen für letztere oftmals schon besetzt sind. In und um Kabul eröffnen laufend neue Restaurants, die entweder von Frauen geführt werden oder in ihrem Besitz sind. Der Dienstleistungssektor ist zwar von Männern dominiert, dennoch arbeitet eine kleine, aber nicht unwesentliche Anzahl afghanischer Frauen in diesem Sektor und erledigt damit Arbeiten, die bis vor zehn Jahren für Frauen noch als unangebracht angesehen wurden (und teilweise heute noch werden). Auch soll die Anzahl der Mitarbeiterinnen im Finanzsektor erhöht werden. In Kabul zum Beispiel eröffnete im Sommer 2017 eine Filiale der First MicroFinance Bank, Afghanistan (FMFB-A), die nur für Frauen gedacht ist und nur von diesen betrieben wird. Diese Initiative soll es Frauen ermöglichen, ihre Finanzen in einer sicheren und fördernden Umgebung zu verwalten, um soziale und kulturelle Hindernisse, die ihrem wirtschaftlichen Empowerment im Wege stehen, zu überwinden. Geplant sind zwei weitere Filialen in Mazar-e Sharif bis 2019. In Kabul gibt es eine weitere Bank, die - ausschließlich von Frauen betrieben - hauptsächlich für Frauen da ist (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Eine Position in der Öffentlichkeit ist für Frauen in Afghanistan noch immer keine Selbstverständlichkeit. Dass etwa der afghanische Präsident dies seiner Ehefrau zugesteht, ist Zeichen des Fortschritts. Frauen in öffentlichen bzw. semi-öffentlichen Positionen sehen sich deshalb durchaus in einer gewissen Vorbildfunktion. So polarisiert die Talent-Show "Afghan Star" zwar einerseits das Land wegen ihrer weiblichen Teilnehmer und für viele Familien ist es inakzeptabel, ihre Töchter vor den Augen der Öffentlichkeit singen oder tanzen zu lassen. Dennoch gehört die Sendung zu den populärsten des Landes (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Politische Partizipation und Öffentlichkeit

Die politische Partizipation von Frauen ist rechtlich verankert und hat sich deutlich verbessert. So sieht die afghanische Verfassung Frauenquoten für das Zweikammerparlament vor: Ein Drittel der 102 Sitze im Oberhaus (Meshrano Jirga) werden durch den Präsidenten vergeben; die Hälfte davon ist gemäß Verfassung für Frauen bestimmt (AA 9.2016; vgl. USDOS 20.4.2018). Zurzeit sind 18 Senatorinnen in der Meshrano Jirga vertreten. Im Unterhaus (Wolesi Jirga) sind 64 der 249 Sitze für Parlamentarierinnen reserviert; derzeit sind 67 Frauen Mitglied des Unterhauses. Das per Präsidialdekret erlassene Wahlgesetz sieht eine Frauenquote von min. 25% in den Provinzräten vor. Zudem sind min. zwei von sieben Sitzen in der einflussreichen Wahlkommission (Indpendent Electoral Commission, IEC) für Frauen vorgesehen. Die afghanische Regierung veröffentlichte im Jänner 2018 einen Strategieplan zur Erhöhung des Frauenanteils im öffentlichen Dienst um 2% für das Jahr 2018 (AA 5.2018). Drei Afghaninnen sind zu Botschafterinnen ernannt worden (UNW o.D.). Im Winter 2017 wurde mit Khojesta Fana Ebrahimkhel eine weitere Frau zur afghanischen Botschafterin (in Österreich) ernannt (APA 5.12.2017). Dennoch sehen sich Frauen, die in Regierungspositionen und in der Politik aktiv sind, weiterhin mit Bedrohungen und Gewalt konfrontiert und sind Ziele von Angriffen der Taliban und anderer aufständischer Gruppen. Traditionelle gesellschaftliche Praktiken schränken die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen und Aktivitäten außerhalb des Hauses und der Gemeinschaft weiterhin ein. Der Bedarf einer männlichen Begleitung bzw. einer Arbeitserlaubnis ist weiterhin gängig. Diese Faktoren sowie ein Mangel an Bildung und Arbeitserfahrung haben wahrscheinlich zu einer männlich dominierten Zusammensetzung der Zentralregierung beigetragen (USDOS 20.4.2018).

Informationen zu Frauen in NGOs, den Medien und den afghanischen Sicherheitskräften können den Kapiteln 8. "NGOs und Menschenrechtsaktivisten", 11. "Meinungs- und Pressefreiheit" und 5. "Sicherheitsbehörden" entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.

Strafverfolgung und rechtliche Unterstützung

Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Gleichberechtigung und Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte (AA 5.2018; vgl. MPI 27.1.2004). Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und auch gewisser vom Islam vorgegebener, Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern oder traditionellen Stammesstrukturen bestimmt wird, nur in eingeschränktem Maße möglich (AA 5.2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder auf Grund tradierter Wertevorstellungen nicht gewillt, Frauenrechte zu schützen. Gesetze zum Schutz und zur Förderung der Rechte von Frauen werden nur langsam umgesetzt. Das Personenstandsgesetz enthält diskriminierende Vorschriften für Frauen, insbesondere in Bezug auf Heirat, Erbschaft und Beschränkung der Bewegungsfreiheit (AA 9.2016).

Viele Gewaltfälle gelangen nicht vor Gericht, sondern werden durch Mediation oder Verweis auf traditionelle Streitbeilegungsformen (Schuren und Jirgas) verhandelt. Traditionelle Streitbeilegung führt oft dazu, dass Frauen ihre Rechte, sowohl im Strafrecht als auch im zivilrechtlichen Bereich wie z. B. im Erbrecht, nicht gesetzeskonform zugesprochen werden. Viele Frauen werden darauf verwiesen, den "Familienfrieden" durch Rückkehr zu ihrem Ehemann wiederherzustellen (AA 5.2018). Andere Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können, erhalten in einigen Fällen Unterstützung vom Ministerium für Frauenangelegenheiten und Nichtregierungsinstitutionen, indem Ehen für diese arrangiert werden (USDOS 20.4.2018). Eine erhöhte Sensibilisierung seitens der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam, aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Insbesondere die Schaffung von auf Frauen spezialisierte Staatsanwaltschaften in einigen Provinzen hatte positive Auswirkungen (AA 9.2016). Um Frauen und Kindern, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden, beizustehen, hat das Innenministerium (MoI) landesweit Family Response Units (FRU) eingerichtet. Die FRU sind mit Fachleuten wie Psychologen und Sozialarbeitern besetzt, welche die Opfer befragen und aufklären und ihre physische sowie psychische medizinische Behandlung nachverfolgen. Im Jahr 2017 existierten 208 FRU im Land (USDOD 12.2017).

EVAW-Gesetz

Das Law on Elimination of Violence against Women (EVAW-Gesetz) wurde durch ein Präsidialdekret im Jahr 2009 eingeführt und ist eine wichtige Grundlage für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen - inklusive der weit verbreiteten häuslichen Gewalt (AA 5.2018). Das EVAW-Gesetz ist nach wie vor in seiner Form als eigenständiges Gesetz gültig (Pajhwok 11.11.2017; vgl. UNN 22.2.2018); und bietet rechtlichen Schutz für Frauen (UNAMA 22.2.2018).

Das EVAW-Gesetz definiert fünf schwere Straftaten gegen Frauen:

Vergewaltigung, Zwangsprostitution, die Bekanntgabe der Identität eines Opfers, Verbrennung oder Verwendung von chemischen Substanzen und erzwungene Selbstverbrennung oder erzwungener Selbstmord. Dem EVAW-Gesetz zufolge muss der Staat genannte Verbrechen untersuchen und verfolgen, auch, wenn die Frau die Beschwerde nicht einreichen kann bzw. diese zurückzieht. Dieselben Taten werden auch im neuen afghanischen Strafgesetzbuch kriminalisiert (UNAMA/OHCHR 5.2018). Das EVAW-Gesetz wird jedoch weiterhin nur unzureichend umgesetzt. Frauen können sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen. Es gelten strenge soziale Anforderungen an ihr äußeres Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit, deren Einhaltung sie jedoch nicht zuverlässig vor sexueller Belästigung schützt (AA 5.2018).

Frauenhäuser

Nichtregierungsorganisation in Afghanistan betreiben etwa 40 Frauenhäuser, zu denen auch Rechtsschutzbüros und andere Einrichtungen für Frauen, die vor Gewalt fliehen, zählen. Alle Einrichtungen sind auf Spenden internationaler Gruppen angewiesen - diese Einrichtungen werden zwar im Einklang mit dem afghanischen Gesetz betrieben, stehen aber im Widerspruch zur patriarchalen Kultur in Afghanistan. Oftmals versuchen Väter ihre Töchter aus den Frauenhäusern zu holen und sie in Beziehungen zurückzudrängen, aus denen sie geflohen sind, oder Ehen mit älteren Männern oder den Vergewaltigern zu arrangieren (NYT 17.3.2018). Die EVAW-Institutionen und andere Einrichtungen, die Gewaltmeldungen annehmen und für die Schlichtung zuständig sind, bringen die Gewaltopfer während des Verfahrens oft in Schutzhäuser (z. B. Frauenhäuser) (UNAMA/OHCHR 5.2018).

Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt, Vergewaltigung oder Zwangsehe sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft für die Notlage (mit-)verantwortlich ist. Landesweit gibt es in den großen Städten Frauenhäuser, deren Angebot sehr oft in Anspruch genommen wird. Manche Frauen finden vorübergehend Zuflucht, andere wiederum verbringen dort viele Jahre (AA 5.2018). Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen in Wahrheit Prostituierte (AA 5.2018; vgl. NYT 17.3.2018). Sind Frauen erst einmal im Frauenhaus untergekommen, ist es für sie sehr schwer, danach wieder in ein Leben außerhalb zurückzufinden. Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste "Generation" von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich und wird gemeinhin als unvorstellbar oder gänzlich unbekannt beschrieben (AA 5.2018). Die EVAW-Institutionen konsultieren in der Regel die Familie und das Opfer, bevor sie es in ein Frauenhaus bringen (UNAMA/OHCHR 5.2018).

Gewalt gegen Frauen: Vergewaltigung, Ehrenverbrechen und Zwangsverheiratung

Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt ist weit verbreitet und kaum dokumentiert. Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen finden zu über 90% innerhalb der Familienstrukturen statt. Die Gewalttaten reichen von Körperverletzung und Misshandlung über Zwangsehen bis hin zu Vergewaltigung und Mord (AA 5.2018). Zu geschlechtsspezifischer und sexueller Gewalt zählen außerdem noch die Praxis der badal-Hochzeiten (Frauen und Mädchen, die im Rahmen von Heiratsabmachungen zwischen Familien getauscht werden, Anm.) bzw. des ba'ad (Mädchen, die zur Konfliktlösung abgegeben werden, Anm.) (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. TD 4.12.2017). Dem Bericht der AIHRC zufolge wurden für das Jahr 2017 4.340 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Die Anzahl der gemeldeten Gewaltvorfälle und der Gewaltopfer steigt (AIHRC 11.3.2018).

Soziale Medien in Afghanistan haben Frauen und Mädchen neue Möglichkeiten eröffnet, um ihr Schicksal zu teilen. In den Medien ist der Kampf afghanischer Frauen, Mädchen und Buben gegen geschlechtsspezifische und sexuelle Gewalt in all ihren Formen tiefgründig dokumentiert. Die afghanische Regierung hat anerkannt, dass geschlechtsspezifische Gewalt ein Problem ist und eliminiert werden muss. Das soll mit Mitteln der Rechtsstaatlichkeit und angemessenen Vollzugsmechanismen geschehen. Zu diesen zählen das in Afghanistan eingeführte EVAW-Gesetz zur Eliminierung von Gewalt an Frauen, die Errichtung der EVAW-Kommission auf nationaler und lokaler Ebene und die EVAW-Strafverfolgungseinheiten. Auch wurden Schutzzentren für Frauen errichtet und die Rekrutierung von Frauen in der Polizei verstärkt. Mittlerweile existieren für Frauen 205 Spezialeinsatzeinheiten, die hauptsächlich von weiblichen Mitarbeiterinnen der afghanischen Nationalpolizei geleitet werden (BFA Staatendokumentation 4.2018).

Legales Heiratsalter:

Das Zivilgesetz Afghanistans definiert für Mädchen 16 Jahre (15 Jahre, wenn dies von einem Elternteil bzw. einem Vormund und dem Gericht erlaubt wird) und für Burschen 18 Jahre als das legale Mindestalter für Vermählungen (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5.2018). Dem Gesetz zufolge muss vor dem Ehevertrag das Alter der Braut festgestellt werden. Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung besitzt Geburtsurkunden. Quellen zufolge ist die frühe Heirat weiterhin verbreitet. Gemäß dem EVAW-Gesetz werden Personen, die Zwangsehen bzw. Frühverheiratung arrangieren, für mindestens zwei Jahre inhaftiert; dennoch hält sich die Umsetzung dieses Gesetzes in Grenzen (USDOS 20.4.2018). Im Rahmen von Traditionen geben arme Familien ihre Mädchen im Gegenzug für "Brautgeld" zur Heirat frei, wenngleich diese Praxis in Afghanistan illegal ist. Lokalen NGOs zufolge, werden manche Mädchen im Alter von sechs oder sieben Jahren zur Heirat versprochen - unter der Voraussetzung, die Ehe würde bis zum Erreichen der Pubertät nicht stattfinden. Berichte deuten an, dass diese "Aufschiebung" eher selten eingehalten wird. Medienberichten zufolge existiert auch das sogenannte "Opium-Braut-Phänomen", dabei verheiraten Bauern ihre Töchter, um Schulden bei Drogenschmugglern zu begleichen (USDOS 3.3.2017).

Familienplanung und Verhütung

Das Recht auf Familienplanung wird von wenigen Frauen genutzt. Auch wenn der weit überwiegende Teil der afghanischen Frauen Kenntnisse über Verhütungsmethoden hat, nutzen nur etwa 22% (überwiegend in den Städten und gebildeteren Schichten) die entsprechenden Möglichkeiten (AA 5.2018). Ohne Diskriminierung, Gewalt und Nötigung durch die Regierung steht es Paaren frei, ihren Kinderwunsch nach ihrem Zeitplan, Anzahl der Kinder usw. zu verwirklichen. Es sind u.a. die Familie und die Gemeinschaft, die Druck auf Paare zur Reproduktion ausüben (USDOS 3.3.2017). Auch existieren keine Berichte zu Zwangsabtreibungen, unfreiwilliger Sterilisation oder anderen zwangsverabreichten Verhütungsmitteln zur Geburtenkontrolle (USDOS 20.4.2018). Viele Frauen gebären Kinder bereits in sehr jungem Alter (AA 5.2018; vgl. USDOS 3.3.2017).

Orale Empfängnisverhütungsmittel, Intrauterinpessare, injizierbare Verhütungsmethoden und Kondome sind erhältlich; diese werden kostenfrei in öffentlichen Gesundheitskliniken und zu subventionierten Preisen in Privatkliniken und durch Community Health Workers (CHW) zur Verfügung gestellt (USDOS 3.3.2017).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten