TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/17 W115 2169534-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.01.2020
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Entscheidungsdatum

17.01.2020

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W115 2169529-1/23E

W115 2169534-1/17E

W115 2169536-1/20E

W115 2169531-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom

XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am

XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX alias XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX alias XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

III. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom

XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am

XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX alias XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX alias XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

IV. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem minderjährigen Sohn, dem Drittbeschwerdeführer, unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte die Erstbeschwerdeführerin am XXXX für sich und ihren minderjährigen Sohn die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

1.1. Der Zweitbeschwerdeführer, Ehemann der Erstbeschwerdeführerin und Vater des Drittbeschwerdeführers, reiste ebenfalls unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am XXXX den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

1.2. Im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab die Erstbeschwerdeführerin im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu zusammengefasst an, dass sie afghanische Staatsangehörige sei und der Volksgruppe der Paschtunen sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehöre. Sie habe Afghanistan bereits vor einigen Jahren verlassen und habe vor ihrer Einreise nach Österreich gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn einige Jahre in Russland gelebt. Zwischenzeitlich habe sie sich gemeinsam mit ihrem Sohn auch in Norwegen aufgehalten und sie habe dort auch einen Asylantrag gestellt. Sie habe jedoch einen negativen Bescheid erhalten und sei daher gemeinsam mit ihrem Sohn wieder nach Russland zurückgekehrt. Vor ca. einer Woche habe sie gemeinsam mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn Russland verlassen und sie seien schlepperunterstützt bis nach Österreich gereist. Auf dem Weg nach Österreich sei sie von ihrem Ehemann getrennt worden und sie wisse im Moment nicht, wo sich dieser aufhalte. In Afghanistan würden noch ihre Eltern und ihre Geschwister leben. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie ihren Ehemann ohne Einverständnis ihrer Familie geheiratet habe. Aus Angst vor ihrer Familie habe sie Afghanistan verlassen. Weiters gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihre Angaben auch für ihren Sohn gelten würden, dieser habe keine eigenen Fluchtgründe.

1.3. Der Zweitbeschwerdeführer gab im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi im Wesentlichen zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei und der Volksgruppe der Tadschiken sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehöre. Er sei in Afghanistan in der Stadt XXXX geboren worden. Er habe Afghanistan bereits vor ca. fünf Jahren verlassen und habe seither in Russland gelebt. Von Russland aus sei er gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinem Sohn schlepperunterstützt bis nach Österreich gereist. Auf dem Weg nach Österreich sei er von seiner Familie getrennt worden und seine Ehefrau und sein Sohn seien bereits ca. einen Monat vor ihm nach Österreich gekommen. In Afghanistan würden noch seine Mutter und seine Geschwister leben. Sein Vater sei bereits verstorben. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er von der Familie seiner Ehefrau bedroht worden sei, da er Tadschike und seine Ehefrau Paschtunin sei. Aus diesem Grund habe er Afghanistan verlassen.

1.4. Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass die Erstbeschwerdeführerin für sich und den Drittbeschwerdeführer am XXXX in Norwegen einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat. Eine EURODAC-Abfrage hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers ergab keinen Treffer.

1.5. Im Verlauf der niederschriftlichen Einvernahme im Zulassungsverfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am XXXX brachte der Zweitbeschwerdeführer im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi ergänzend zusammengefasst vor, dass er in Afghanistan in der Stadt XXXX gelebt habe. Er habe vor einigen Jahren Afghanistan verlassen müssen, da die Familie seiner Ehefrau gegen die Heirat gewesen sei und ihn mit dem Tod bedroht habe. Er sei von Afghanistan direkt nach Russland geflogen und habe sich bis zu seiner Ausreise nach Österreich dort gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinem Sohn aufgehalten. In weiterer Folge seien sie schlepperunterstützt bis nach Österreich gereist. In Österreich lebe er zusammen mit seiner Ehefrau und seinem Sohn in einem gemeinsamen Haushalt.

1.6. Nach Abschluss des Konsultationsverfahrens mit Norwegen und Zulassung der Verfahren gemäß Art. 17 der Dublin III-Verordnung durch Ausfolgung von Aufenthaltsberechtigungskarten wurden die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer am XXXX vor der belangten Behörde im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu niederschriftlich einvernommen.

Die Erstbeschwerdeführerin gab im Wesentlichen zusammengefasst an, dass ihre bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Sie sei afghanische Staatsangehörige und gehöre der Volksgruppe der Paschtunen sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams an. Befragt zu ihren Familienverhältnissen gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn in Österreich leben würde. Sie und ihr Ehemann hätten in Afghanistan traditionell geheiratet. Weiters halte sich in Österreich noch ein Cousin ihres Ehemannes auf. In Afghanistan würden noch ihr Vater, ihre Stiefmutter sowie ihre Geschwister leben. Befragt zu ihrer Schul- und Berufsausbildung gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie in Afghanistan nie eine Schule besucht und auch keinen Beruf erlernt habe. Befragt zu ihren Fluchtgründen gab die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst an, dass sie ihren Ehemann gegen den Willen ihrer Familie geheiratet habe. Aus Angst vor ihrer Familie habe sie schließlich im Jahr XXXX Afghanistan verlassen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe sie Angst von ihrer Familie gefunden zu werden. Weiters gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihre Angaben auch für ihren Sohn gelten würden, dieser habe keine eigenen Fluchtgründe. Zu ihrer Situation in Österreich befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie versuche Deutsch zu lernen und auch schon einen Deutschkurs besucht habe. Ihr Sohn besuche hier den Kindergarten.

Der Zweitbeschwerdeführer gab im Wesentlichen zusammengefasst an, dass seine bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Er sei afghanischer Staatsangehöriger und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams an. Befragt zu seinen Familienverhältnissen gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er hier in Österreich zusammen mit seiner Ehefrau und seinem Sohn lebe. Er und seine Ehefrau hätten in Afghanistan traditionell geheiratet. Weiters halte sich in Österreich noch ein Cousin von ihm auf. In Afghanistan würden noch seine Mutter sowie seine Geschwister leben. Einer seiner Brüder sei bereits verstorben. Befragt zu seiner Schul- und Berufsausbildung gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er in Afghanistan als Schneider gearbeitet habe. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Zweitbeschwerdeführer zusammengefasst an, dass er seine Ehefrau gegen den Willen ihrer Familie geheiratet habe. Aus Angst vor der Familie seiner Ehefrau hätten sie Afghanistan verlassen müssen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan habe er Angst von der Familie seiner Ehefrau gefunden zu werden. Zu seiner Situation in Österreich befragt, gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er versuche Deutsch zu lernen und auch schon einen Deutschkurs besucht habe. Zudem wolle er in Österreich wieder als Schneider arbeiten.

Weiters wurden den Beschwerdeführern von der belangten Behörde Länderfeststellungen zu Afghanistan vorgehalten und ihnen die Möglichkeit eingeräumt, dazu Stellung zu nehmen.

Im Zuge der Einvernahme wurden von der Erstbeschwerdeführerin und vom Zweitbeschwerdeführer u.a. ihre afghanische Heiratsurkunde, ihre Tazkiras sowie integrationsbescheinigende Unterlagen in Vorlage gebracht.

1.7. Mit Eingabe vom XXXX wurde von der Erstbeschwerdeführerin eine Kopie ihres afghanischen Reisepasses in Vorlage gebracht.

1.8. Am XXXX wurde der Viertbeschwerdeführer, Sohn der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers, in Österreich geboren und stellte die Erstbeschwerdeführerin für ihn als gesetzliche Vertreterin am XXXX im Rahmen eines Familienverfahrens einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.9. In weiterer Folge wurde die Erstbeschwerdeführerin am XXXX vor der belangten Behörde im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Befragt zu den Fluchtgründen des Viertbeschwerdeführers, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihre bisher im Verfahren getätigten Angaben auch für ihren Sohn gelten würden. Dieser sei in Österreich geboren und habe keine eigenen Fluchtgründe.

1.10. Mit den im Spruch genannten Bescheiden wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.); die Anträge bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.); ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen die Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).

1.11. Mit Verfahrensanordnung der belangten Behörde vom XXXX wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

1.12. Gegen die im Spruch genannten Bescheide der belangten Behörde erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht eine gemeinsame Beschwerde, mit der die Bescheide vollinhaltlich angefochten wurden. In der Begründung wurde der Beweisführung sowie der rechtlichen Beurteilung der belangten Behörde substantiiert entgegengetreten. Zudem wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.

2. Die gegenständlichen Beschwerden samt Verwaltungsakte langten der Aktenlage nach am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein.

2.1. Mit Eingaben vom XXXX, XXXX und XXXX wurden von den Beschwerdeführern weitere integrationsbescheinigende Unterlagen sowie ein mit XXXX datierter ärztlicher Befundbericht lautend auf die Erstbeschwerdeführerin in Vorlage gebracht.

2.2. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte in der Folge eine mündliche Verhandlung für den XXXX an.

2.3. Mit Schreiben vom XXXX wurde von der belangten Behörde mitgeteilt, dass die Teilnahme eines Vertreters an der Verhandlung aus dienstlichen und personellen Gründen nicht möglich sei. Es werde aufgrund der gegebenen Aktenlage die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde beantragt und um Übersendung des Verhandlungsprotokolles ersucht.

2.4. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX brachten die Beschwerdeführer nach Erläuterung des bisherigen Verfahrensganges und des Akteninhaltes im Beisein des bevollmächtigten Vertreters sowie eines Dolmetschers für die Sprachen Paschtu (hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin) und Dari (hinsichtlich des Zweitbeschwerdeführers) auf richterliche Befragung im Wesentlichen zusammengefasst vor, dass ihre bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Die Erstbeschwerdeführerin gab an, dass sie afghanische Staatsangehörige sei und der Volksgruppe der Paschtunen sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehöre. Ihre Muttersprache sei Paschtu. Weiters spreche sie auch die Sprache Dari. Befragt zu ihrem Herkunftsort gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie in einem Dorf in der Provinz XXXX geboren worden sei. Dort habe sie bis zu ihrer Heirat auch gelebt. Nachdem sie ihren Ehemann geheiratet habe, sei sie zu ihm in die Stadt XXXX gezogen und habe dort bis zu ihrer Ausreise gelebt. Zu ihrer Ausreise aus Afghanistan befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihr Ehemann das Land bereits ca. vier Monate vor ihr verlassen habe und nach Russland ausgereist sei. Sie selbst sei dann gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn ihrem Ehemann nachgereist und sie hätten anschließend ca. fünf Jahre in Russland gelebt. Zwischenzeitlich habe sie gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn Russland verlassen und habe in Norwegen einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Sie habe jedoch eine negative Entscheidung erhalten und sei daher gemeinsam mit ihrem Sohn wieder zu ihrem Ehemann nach Russland zurückgekehrt. Anschließend hätten sie gemeinsam Russland verlassen und seien bis nach Österreich gereist. Befragt zu ihrer Schul- und Berufsausbildung gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie in Afghanistan nicht in die Schule gegangen sei. Sie könne weder lesen noch schreiben. Auch sei sie in Afghanistan nicht berufstätig gewesen. In Österreich habe sie mittlerweile Deutsch gelernt. Vom Zweitbeschwerdeführer wurde in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei und der Volksgruppe der Tadschiken sowie der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehöre. Seine Muttersprache sei Dari. In dieser Sprache könne er auch lesen und schreiben. Weiters spreche er auch teilweise die Sprachen Paschtu und Russisch. Befragt zu seinem Herkunftsort gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er in der Stadt XXXX geboren worden sei. Nach einigen Jahren im Iran sei er wieder nach XXXX zurückgekehrt und habe bis zu seiner Ausreise dort gelebt. Von Afghanistan aus sei er nach Russland gereist und habe dort fünf Jahre gelebt. Gemeinsam mit seiner Ehefrau und seinem Sohn habe er dann Russland verlassen und sie seien bis nach Österreich gereist. Befragt zu seiner Schul- und Berufsausbildung gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er in Afghanistan neun Jahre in die Schule gegangen sei. Über eine Berufsausbildung verfüge er jedoch nicht. Er sei angelernter Schneider. Befragt zu ihren Familienverhältnissen gaben die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer übereinstimmend an, dass sie im Jahr XXXX in Afghanistan traditionell geheiratet hätten. In Österreich würden sie gemeinsam mit ihren beiden Söhnen in einem gemeinsamen Haushalt leben. Befragt zu ihren weiteren Familienmitgliedern gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihr Vater, ihre Stiefmutter sowie ihre sechs Brüder und ihre fünf Schwestern (drei leibliche Schwestern sowie zwei Halbschwestern) nach wie vor in ihrem Heimatdorf leben würden. Ihre leibliche Mutter sei bereits verstorben. Weiters verfüge sie noch über zahlreiche Onkel und Tanten väterlicher- sowie mütterlicherseits in Afghanistan. Mit zwei von ihren Schwestern habe sie regelmäßig Kontakt. Der Zweitbeschwerdeführer gab in diesem Zusammenhang an, dass in Afghanistan noch seine Mutter, sein leiblicher Bruder und seine beiden leiblichen Schwestern leben würden. Weiters verfüge er dort noch über zwei Halbbrüder und vier Halbschwestern. Sein Vater sowie sein zweiter leiblicher Bruder seien bereits verstorben. Darüber hinaus würden sich in Afghanistan noch zwei Onkel mütterlicherseits sowie drei Tanten väterlicherseits aufhalten. Mit seiner Mutter habe er regelmäßig Kontakt. Ergänzend gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass sich ein Cousin von ihm im Iran aufhalte und ein weiterer in Österreich leben würde.

Zu ihrer Situation in Österreich befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen zusammengefasst an, dass sie hier bereits einen Deutschkurs besucht habe. Sie hätte gerne weitere Deutschkurse besucht, jedoch keinen Platz bekommen. Sie habe aber nach dem Besuch dieses Deutschkurses selbstständig weiter Deutsch gelernt. Zu ihrer Zukunft in Österreich gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie bestrebt sei die deutsche Sprache noch besser zu erlernen. Anschließend wolle sie gerne als Verkäuferin oder Köchin arbeiten, da sie ihr eigenes Geld verdienen und ein selbstständiges Leben führen wolle. Diese Möglichkeit habe sie in Afghanistan nicht gehabt. Zudem könne sie sich in Österreich kleiden wie sie das wolle. In Afghanistan habe sie ein Kopftuch und lange Kleidung tragen müssen. In Österreich trage sie kein Kopftuch, würde sich schminken, Schmuck tragen und sich auch wie andere österreichische Frauen kleiden. Sie habe die Lebensumstände für Frauen in Afghanistan gehasst und könne sich nicht vorstellen, dorthin wieder zurückzukehren. In ihrer Freizeit gehe sie gerne spazieren oder einkaufen. Zum Einkaufen fahre sie auch öfters mit dem Bus nach XXXX , da es dort mehr Geschäfte geben würde. Wenn sie mit dem Bus zum Einkaufen fahre, sei sie meistens alleine unterwegs. Weiters treffe sie sich regelmäßig mit ihren Nachbarn. Auch bei diesen Anlässen sei ihr Ehemann meistens nicht dabei. Darüber hinaus arbeite sie ehrenamtlich in einem Flüchtlingsheim. Auch absolviere sie Behördenwege oder Arztbesuche alleine. Befragt zu ihrer Ehe gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie sich gleichberechtigt neben ihrem Ehemann sehe. Sie verwalte auch gemeinsam mit ihrem Ehemann das Familieneinkommen und gehe ohne seine Begleitung außer Haus. In dieser Zeit passe ihr Ehemann auf die Kinder auf. Sie müsse ihren Ehemann auch nicht um Erlaubnis fragen, wenn sie etwas alleine unternehmen wolle. Befragt zur Erziehung ihrer Kinder gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie sich diese mit ihrem Ehemann teile. Ihr sei es wichtig, dass ihre Kinder in Österreich eine gute Ausbildung bekommen und danach einen Beruf ergreifen. Ihre Kinder würden später einmal selbst entscheiden können, was ihre Ausbildung oder ihre Partnerwahl betreffe. Schon jetzt vermittle sie ihren Söhnen, dass Frauen und Männer die gleichen Rechte hätten. In diesem Zusammenhang wurde von der Erstbeschwerdeführerin angegeben, dass ihr ältester Sohn bereits in die Schule gehe und ihr zweiter Sohn den Kindergarten besuche. Ihre Söhne würden immer von ihr in die Schule bzw. in den Kindergarten gebracht und von dort auch wieder von ihr abgeholt werden. Sie besuche auch regelmäßig die Elternsprechtage in der Schule ihres Sohnes. Weiters spiele ihr ältester Sohn in seiner Freizeit Fußball und sie und ihr Ehemann würden ihn zu den Trainings begleiten. Darüber hinaus hätten ihre Kinder bereits viele österreichische Freunde gefunden, die regelmäßig zu ihnen nachhause kommen würden. Zu den Geburtstagspartys ihrer Kinder seien zudem auch die Eltern der Freunde ihrer Kinder eingeladen.

Nach Erörterung jener Länderberichte, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden, gaben die Beschwerdeführer und ihr bevollmächtigter Vertreter an, dass auf eine Stellungnahme dazu verzichtet werde.

Darüber hinaus wurde vom bevollmächtigten Vertreter ein Konvolut an integrationsbescheinigenden Unterlagen (darunter u.a. eine Bestätigung hinsichtlich des Besuches eines Deutschkurses durch die Erstbeschwerdeführerin sowie diverse Empfehlungsschreiben hinsichtlich der bereits erfolgten Integration der Beschwerdeführer in Österreich) in Vorlage gebracht.

2.5. Weiters wurde vom Bundesverwaltungsgericht eine Kopie der Niederschrift der mündlichen Verhandlung der belangten Behörde übermittelt. Eine Stellungnahme dazu wurde von dieser nicht erstattet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Erstbeschwerdeführerin trägt den im Spruch genannten Namen und ist am XXXX geboren. Die Identität des Zweit-, des Dritt- und des Viertbeschwerdeführers steht nicht zweifelsfrei fest. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind verheiratet und die Eltern des minderjährigen Drittbeschwerdeführers und des minderjährigen Viertbeschwerdeführers. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer haben, bevor sie nach Österreich eingereist sind, in Afghanistan traditionell geheiratet.

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan und gehören der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams

an. Die Erstbeschwerdeführerin gehört der Volksgruppe der Paschtunen

an. Der Zweitbeschwerdeführer gehört der Volksgruppe der Tadschiken an. Die Erstbeschwerdeführerin ist in einem Dorf in der Provinz XXXX geboren und hat bis zu ihrer Heirat dort gelebt. Nach der Heirat ist sie zu ihrem Ehemann in die Stadt XXXX gezogen und hat dort bis zu ihrer Ausreise gelebt. Der Zweitbeschwerdeführer ist in der Stadt XXXX geboren. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt im Iran ist er wieder nach XXXX zurückgekehrt und hat dort gemeinsam mit seiner Ehefrau bis zu seiner Ausreise gelebt. Der Drittbeschwerdeführer ist ebenfalls in Afghanistan geboren. Der Viertbeschwerdeführer ist am XXXX in Österreich geboren worden.

Die Erstbeschwerdeführerin hat ca. vier Monate nach dem Zweitbeschwerdeführer gemeinsam mit dem Drittbeschwerdeführer im Jahr XXXX Afghanistan verlassen. Nach ihrer Ausreise aus Afghanistan haben sich die Erstbeschwerdeführerin, der Zweitbeschwerdeführer und der Drittbeschwerdeführer mehrere Jahre in Russland aufgehalten. Zwischenzeitlich hat die Erstbeschwerdeführerin gemeinsam mit dem Drittbeschwerdeführer Russland verlassen und hat in Norwegen einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, welcher von den norwegischen Behörden abgewiesen worden ist. Nach ihrer Rückkehr nach Russland haben die Erstbeschwerdeführerin, der Zweitbeschwerdeführer und der Drittbeschwerdeführer Russland verlassen und sind schlepperunterstützt unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet eingereist und haben hier am XXXX (Erstbeschwerdeführerin und Drittbeschwerdeführer) sowie am XXXX (Zweitbeschwerdeführer) die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Der Antrag auf internationalen Schutz für den minderjährigen Viertbeschwerdeführer ist am XXXX durch die Erstbeschwerdeführerin gestellt worden.

In Österreich leben die Erstbeschwerdeführerin, der Zweitbeschwerdeführer sowie der Dritt- und der Viertbeschwerdeführer in einem gemeinsamen Haushalt.

Der Vater der Erstbeschwerdeführerin, ihre Stiefmutter sowie ihre sechs Brüder und ihre fünf Schwestern (drei leibliche Schwestern sowie zwei Halbschwestern) leben nach wie vor in Afghanistan. Die leibliche Mutter der Erstbeschwerdeführerin ist bereits verstorben. Weiters verfügt die Erstbeschwerdeführerin noch über zahlreiche Onkel und Tanten väterlicher- sowie mütterlicherseits in Afghanistan. Mit zwei von ihren Schwestern hat sie regelmäßig Kontakt. Die Mutter des Zweitbeschwerdeführers sowie sein leiblicher Bruder und seine beiden leiblichen Schwestern leben nach wie vor in Afghanistan. Weiters verfügt er dort noch über zwei Halbbrüder und vier Halbschwestern. Sein Vater sowie sein zweiter leiblicher Bruder sind bereits verstorben. Darüber hinaus leben in Afghanistan noch zwei Onkel mütterlicherseits sowie drei Tanten väterlicherseits des Zweitbeschwerdeführers. Ein Cousin des Zweitbeschwerdeführers hält sich im Iran auf. Ein zweiter Cousin von ihm lebt in Österreich. Mit seiner Mutter hat der Zweitbeschwerdeführer regelmäßig Kontakt.

Die Muttersprache der Erstbeschwerdeführerin ist Paschtu. Weiters spricht sie noch die Sprache Dari. Darüber hinaus verfügt sie über Kenntnisse der deutschen Sprache. Die Erstbeschwerdeführerin verfügt über keine Schul- und Berufsausbildung und kann in ihrer Muttersprache weder lesen noch schreiben. Sie hat in Afghanistan nie gearbeitet. Die Muttersprache des Zweitbeschwerdeführers ist Dari. Weiters verfügt er über Kenntnisse der Sprachen Paschtu und Russisch. Der Zweitbeschwerdeführer hat in Afghanistan neun Jahre die Schule besucht und kann in seiner Muttersprache lesen und schreiben. Er verfügt über keine Berufsausbildung und hat in Afghanistan als angelernter Schneider gearbeitet.

Der Drittbeschwerdeführer besucht in Österreich die Schule. Der Viertbeschwerdeführer geht hier in den Kindergarten.

Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur Situation der Erstbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine selbstständige Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Sie kleidet sich nach westlicher Mode und schminkt sich. Auf das Tragen des Kopftuches wird verzichtet. Die Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich bereits einen Deutschkurs besucht und ist bestrebt, ihre bereits vorhandenen Kenntnisse der deutschen Sprache weiter zu verbessern. Sie beabsichtigt zudem einen Beruf auszuüben, um in Österreich berufliche und wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erlangen. Sie bewältigt ihren Alltag in Österreich selbstständig und sieht sich als gleichberechtigt neben ihrem Ehemann an. Die Erstbeschwerdeführerin teilt sich die Erziehung ihrer Kinder mit ihrem Ehemann und ist ebenso wie ihr Ehemann für die Verwaltung des Familieneinkommens zuständig. Die Erstbeschwerdeführerin will ihre beiden Kinder frei von Zwängen erziehen und ist sehr darum bemüht, dass sie in Österreich eine gute Schul- und Berufsausbildung erhalten, damit sie ein selbstbestimmtes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führen können. In dieser Hinsicht werden ihre Kinder aktiv von ihr unterstützt. So besucht die Erstbeschwerdeführerin regelmäßig die Elternsprechtage in der Schule des Drittbeschwerdeführers und erkundigt sich, in welchen Bereichen sie ihren Sohn unterstützen kann. Die Erstbeschwerdeführerin geht alleine einkaufen bzw. absolviert falls erforderlich Arztbesuche und Behördenwege selbstständig. Zum Einkaufen fährt die Erstbeschwerdeführerin auch regelmäßig alleine mit dem Bus in die nächst größere Ortschaft. In ihrer Freizeit trifft sie sich regelmäßig mit ihren Nachbarn oder ladet auch die Eltern der Freunde ihrer Kinder zu sich nachhause ein. Weiters begleitet die Erstbeschwerdeführerin regelmäßig ihren ältesten Sohn zu seinen Fußballtrainings. Darüber hinaus arbeitet die Erstbeschwerdeführerin ehrenamtlich in einem Flüchtlingsheim. Wenn die Erstbeschwerdeführerin alleine außer Haus geht, beaufsichtigt ihr Ehemann während dieser Zeit die Kinder. Die von der Erstbeschwerdeführerin angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die persönliche Haltung der Erstbeschwerdeführerin über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

Der Erstbeschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer Wertehaltung eine Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen. Vom afghanischen Staat kann sie keinen effektiven Schutz erwarten.

Es besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer:

Aufgrund der in der Ladung angeführten bzw. der in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen zur Lage in Afghanistan werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Gesamtaktualisierung am 13.11.2019:

Politische Lage (Verfassung):

Im Jahr 2004 wurde die neue Verfassung angenommen (BFA 7.2016; vgl. Casolino 2011), die vorsieht, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürgerinnen und Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Sicherheitslage (Allgemein):

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor volatil (UNGASC 3.9.2019), nachdem im Frühjahr sowohl die Taliban als auch die afghanische Regierung neue Offensiven verlautbart hatten (USDOD 6.2019). Traditionell markiert die Ankündigung der jährlichen Frühjahrsoffensive der Taliban den Beginn der sogenannten Kampfsaison - was eher als symbolisch gewertet werden kann, da die Taliban und die Regierungskräfte in den vergangenen Jahren auch im Winter gegeneinander kämpften (AJ 12.4.2019). Die Frühjahrsoffensive des Jahres 2019 trägt den Namen al-Fath (UNGASC 14.6.2019; vgl. AJ 12.4.2019; NYT 12.4.2019) und wurde von den Taliban trotz der Friedensgespräche angekündigt (AJ 12.4.2019; vgl. NYT 12.4.2019). Landesweit am meisten von diesem aktiven Konflikt betroffen, waren die Provinzen Helmand, Farah und Ghazni (UNGASC 14.6.2019). Offensiven der afghanischen Spezialeinheiten der Sicherheitskräfte gegen die Taliban wurden seit Dezember 2018 verstärkt - dies hatte zum Ziel die Bewegungsfreiheit der Taliban zu stören, Schlüsselgebiete zu verteidigen und damit eine produktive Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Seit Juli 2018 liefen auf hochrangiger politischer Ebene Bestrebungen, den Konflikt zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban politisch zu lösen (TS 22.1.2019). Berichten zufolge standen die Verhandlungen mit den Taliban kurz vor dem Abschluss. Als Anfang September der US-amerikanische Präsident ein geplantes Treffen mit den Islamisten - als Reaktion auf einen Anschlag - absagte (DZ 8.9.2019). Während sich die derzeitige militärische Situation in Afghanistan nach wie vor in einer Sackgasse befindet, stabilisierte die Einführung zusätzlicher Berater und Wegbereiter im Jahr 2018 die Situation und verlangsamte die Dynamik des Vormarsches der Taliban (USDOD 12.2018).

Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, die wichtigsten Bevölkerungszentren und Transitrouten sowie Provinzhauptstädte und die meisten Distriktzentren (USDOD 6.2019). Die afghanischen Kräfte sichern die Städte und andere Stützpunkte der Regierung; die Taliban verstärken groß angelegte Angriffe, wodurch eine Vielzahl afghanischer Kräfte in Verteidigungsmissionen eingebunden ist, Engpässe entstehen und dadurch manchmal auch Kräfte fehlen können, um Territorium zu halten (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019). Kämpfe waren auch weiterhin auf konstant hohem Niveau. Die Ausnahme waren islamische Festtage, an denen, wie bereits in der Vergangenheit auch schon, das Kampfniveau deutlich zurückging, als sowohl regierungsfreundliche Kräfte, aber auch regierungsfeindliche Elemente ihre offensiven Operationen reduzierten. Im Gegensatz dazu hielt das Kampftempo während des gesamten Fastenmonats Ramadan an, da regierungsfeindliche Elemente mehrere Selbstmordattentate ausführten und sowohl regierungsfreundliche Truppen, als auch regierungsfeindliche Elemente, bekundeten, ihre operative Dynamik aufrechtzuerhalten (UNGASC 3.9.2019). Die Taliban verlautbarten, eine asymmetrische Strategie zu verfolgen: die Aufständischen führen weiterhin Überfälle auf Kontrollpunkte und Distriktzentren aus und bedrohen Bevölkerungszentren (UNGASC 7.12.2018). Angriffe haben sich zwischen November 2018 und Jänner 2019 um 19% im Vergleich zum Vorberichtszeitraum (16.8. - 31.10.2018) verstärkt. Insbesondere in den Wintermonaten wurde in Afghanistan eine erhöhte Unsicherheit wahrgenommen (SIGAR 30.4.2019). Seit dem Jahr 2002 ist die Wintersaison besonders stark umkämpft. Trotzdem bemühten sich die ANDSF und Koalitionskräfte die Anzahl ziviler Opfer zu reduzieren und konzentrierten sich auf Verteidigungsoperationen gegen die Taliban und den ISKP. Diese Operationen verursachten bei den Aufständischen schwere Verluste und hinderten sie daran ihr Ziel zu erreichen (USDOD 6.2019). Der ISKP ist auch weiterhin widerstandsfähig. Afghanische und internationale Streitkräfte führten mit einem hohen Tempo Operationen gegen die Hochburgen des ISKP in den Provinzen Nangarhar und Kunar durch, was zu einer gewissen Verschlechterung der Führungsstrukturen der ISKP führt. Dennoch konkurriert die Gruppierung auch weiterhin mit den Taliban in der östlichen Region und hat eine operative Kapazität in der Stadt Kabul behalten (UNGASC 3.9.2019).

So erzielen weder die afghanischen Sicherheitskräfte noch regierungsfeindliche Elemente signifikante territoriale Gewinne. Das aktivste Konfliktgebiet ist die Provinz Kandahar, gefolgt von den Provinzen Helmand und Nangarhar. Wenngleich keine signifikanten Bedrohungen der staatlichen Kontrolle über Provinzhauptstädte gibt, wurde in der Nähe der Provinzhauptstädte Farah, Kunduz und Ghazni über ein hohes Maß an Taliban-Aktivität berichtet (UNGASC 3.9.2019). In mehreren Regionen wurden von den Taliban vorübergehend strategische Posten entlang der Hauptstraßen eingenommen, sodass sie den Verkehr zwischen den Provinzen erfolgreich einschränken konnten (UNGASC 7.12.2018). So kam es beispielsweise in strategisch liegenden Provinzen entlang des Highway 1 (Ring Road) zu temporären Einschränkungen durch die Taliban (UNGASC 7.12.2018; vgl. ARN 23.6.2019). Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte stellen erhebliche Mittel für die Verbesserung der Sicherheit auf den Hauptstraßen bereit - insbesondere in den Provinzen Ghazni, Zabul, Balkh und Jawzjan (UNGASC 3.9.2019).

Für das gesamte Jahr 2018, registrierten die Vereinten Nationen (UN) in Afghanistan insgesamt 22.478 sicherheitsrelevante Vorfälle. Gegenüber 2017 ist das ein Rückgang von 5%, wobei die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Jahr 2017 mit insgesamt 23.744 ihren bisherigen Höhepunkt erreicht hatte (UNGASC 28.2.2019).

[...]

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 registriert die Vereinten Nationen (UN) insgesamt 5.856 sicherheitsrelevanter Vorfälle - eine Zunahme von 1% gegenüber dem Vorjahreszeitraum. 63% Prozent aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, die höchste Anzahl, wurde im Berichtszeitraum in den südlichen, östlichen und südöstlichen Regionen registriert (UNGASC 3.9.2019). Für den Berichtszeitraum 8.2-9.5.2019 registrierte die UN insgesamt 5.249 sicherheitsrelevante Vorfälle - ein Rückgang von 7% gegenüber dem Vorjahreswert; wo auch die Anzahl ziviler Opfer signifikant zurückgegangen ist (UNGASC 14.6.2019).

Für den Berichtszeitraum 10.5.-8.8.2019 sind 56% (3.294) aller sicherheitsrelevanten Vorfälle bewaffnete Zusammenstöße gewesen; ein Rückgang um 7% im Vergleich zum Vorjahreswert. Sicherheitsrelevante Vorfälle bei denen improvisierte Sprengkörper verwendet wurden, verzeichneten eine Zunahme von 17%. Bei den Selbstmordattentaten konnte ein Rückgang von 44% verzeichnet werden. Die afghanischen Sicherheitskräfte führen gemeinsam mit internationalen Kräften, weiterhin eine hohe Anzahl von Luftangriffen durch: 506 Angriffe wurden im Berichtszeitraum verzeichnet - 57% mehr als im Vergleichszeitraum des Jahres 2018 (UNGASC 3.9.2019).

Im Gegensatz dazu registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) für das Jahr 2018 landesweit

29.493 sicherheitsrelevante Vorfälle, welche auf NGOs Einfluss hatten. In den ersten acht Monaten des Jahres 2019 waren es 18.438 Vorfälle. Zu den gemeldeten Ereignissen zählten, beispielsweise geringfügige kriminelle Überfälle und Drohungen ebenso wie bewaffnete Angriffe und Bombenanschläge (INSO o.D.).

[...]

Global Incident Map (GIM) verzeichnete in den ersten drei Quartalen des Jahres 2019 3.540 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahr 2018 waren es 4.433.

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Von Jänner bis Oktober 2018 nahm die Kontrolle oder der Einfluss der afghanischen Regierung von 56% auf 54% der Distrikte ab, die Kontrolle bzw. Einfluss der Aufständischen auf Distrikte sank in diesem Zeitraum von 15% auf 12%. Der Anteil der umstrittenen Distrikte stieg von 29% auf 34%. Der Prozentsatz der Bevölkerung, welche in Distrikten unter afghanischer Regierungskontrolle oder -einfluss lebte, ging mit Stand Oktober 2018 auf 63,5% zurück. 8,5 Millionen Menschen (25,6% der Bevölkerung) leben mit Stand Oktober 2018 in umkämpften Gebieten, ein Anstieg um fast zwei Prozentpunkte gegenüber dem gleichen Zeitpunkt im Jahr 2017. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an von den Aufständischen kontrollierten Distrikten waren Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Ein auf Afghanistan spezialisierter Militäranalyst berichtete im Januar 2019, dass rund 39% der afghanischen Distrikte unter der Kontrolle der afghanischen Regierung standen und 37% von den Taliban kontrolliert wurden. Diese Gebiete waren relativ ruhig, Zusammenstöße wurden gelegentlich gemeldet. Rund 20% der Distrikte waren stark umkämpft. Der Islamische Staat (IS) kontrollierte rund 4% der Distrikte (MA 14.1.2019).

Die Kontrolle über Distrikte, Bevölkerung und Territorium befindet sich derzeit in einer Pattsituation (SIGAR 30.4.2019). Die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle Ende 2018 bis Ende Juni 2019, insbesondere in der Provinz Helmand, sind als verstärkte Bemühungen der Sicherheitskräfte zu sehen, wichtige Taliban-Hochburgen und deren Führung zu erreichen, um in weiterer Folge eine Teilnahme der Taliban an den Friedensgesprächen zu erzwingen (SIGAR 30.7.2019). Intensivierte Kampfhandlungen zwischen ANDSF und Taliban werden von beiden Konfliktparteien als Druckmittel am Verhandlungstisch in Doha erachtet (SIGAR 30.4.2019; vgl. NYT 19.7.2019).

Die Vereinten Nationen dokumentierten für den Berichtszeitraum 1.1.-30.9.2019 8.239 zivile Opfer (2.563 Tote, 5.676 Verletzte) - dieser Wert ähnelt dem Vorjahreswert 2018. Regierungsfeindliche Elemente waren auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer; 41% der Opfer waren Frauen und Kinder. Wenngleich die Vereinten Nationen für das erste Halbjahr 2019 die niedrigste Anzahl ziviler Opfer registrierten, so waren Juli, August und September - im Gegensatz zu 2019 - von einem hohen Gewaltniveau betroffen. Zivilisten, die in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni, und Faryab wohnten, waren am stärksten vom Konflikt betroffen (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 17.10.2019).

Für das gesamte Jahr 2018 wurde von mindestens 9.214 zivilen Opfern (2.845 Tote, 6.369 Verletzte) (SIGAR 30.4.2019) berichtet bzw. dokumentierte die UNAMA insgesamt 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte). Den Aufzeichnungen der UNAMA zufolge, entspricht das einem Anstieg bei der Gesamtanzahl an zivilen Opfern um 5% bzw. 11% bei zivilen Todesfällen gegenüber dem Jahr 2017 und markierte einen Höchststand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2009. Die meisten zivilen Opfer wurden im Jahr 2018 in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Helmand, Ghazni und Faryab verzeichnet, wobei die beiden Provinzen mit der höchsten zivilen Opferanzahl - Kabul (1.866) und Nangarhar (1.815) - 2018 mehr als doppelt so viele Opfer zu verzeichnen hatten, wie die drittplatzierte Provinz Helmand (880 zivile Opfer) (UNAMA 24.2.2019; vgl. SIGAR 30.4.2019). Im Jahr 2018 stieg die Anzahl an dokumentierten zivilen Opfern aufgrund von Handlungen der regierungsfreundlichen Kräfte um 24% gegenüber 2017. Der Anstieg ziviler Opfer durch Handlungen regierungsfreundlicher Kräfte im Jahr 2018 wird auf verstärkte Luftangriffe, Suchoperationen der ANDSF und regierungsfreundlicher bewaffneter Gruppierungen zurückgeführt (UNAMA 24.2.2019).

[...]

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

In Afghanistan sind unterschiedliche regierungsfeindliche Gruppierungen aktiv - insbesondere die Grenzregion zu Pakistan bleibt eine Zufluchtsstätte für unterschiedliche Gruppierungen, wie Taliban, Islamischer Staat, al-Qaida, Haqqani-Netzwerk, Lashkar-e Tayyiba, Tehrik-e Taliban Pakistan, sowie Islamic Movement of Uzbekistan (USDOD 6.2019; vgl. CRS 12.2.2019) und stellt nicht nur für die beiden Länder eine Sicherheitsherausforderung dar, sondern eine Bedrohung für die gesamte regionale Sicherheit und Stabilität (USDOD 6.2019):

Taliban:

Die USA sprechen seit rund einem Jahr mit hochrangigen Vertretern der Taliban über eine politische Lösung des langjährigen Afghanistan-Konflikts. Dabei geht es vor allem um Truppenabzüge und Garantien der Taliban, dass Afghanistan kein sicherer Hafen für Terroristen wird. Beide Seiten hatten sich jüngst optimistisch gezeigt, bald zu einer Einigung zu kommen (FAZ 21.8.2019). Während dieser Verhandlungen haben die Taliban Forderungen eines Waffenstillstandes abgewiesen und täglich Operationen ausgeführt, die hauptsächlich die afghanischen Sicherheitskräfte zum Ziel haben (TG 30.7.2019). Zwischen 1.12.2018 und 31.5.2019 haben die Talibanaufständischen mehr Angriffe ausgeführt, als in der Vergangenheit üblich, trotzdem war die Gesamtzahl effektiver feindlicher Angriffe stark rückläufig. Diese Angriffe hatten hauptsächlich militärische Außenposten und Kontrollpunkte sowie andere schlecht verteidigte ANDSF-Posten zu Ziel. Das wird als Versuch gewertet, in den Friedensverhandlungen ein Druckmittel zu haben (USDOD 6.2019).

Der derzeitige Taliban-Führer ist nach wie vor Haibatullah Akhundzada (REU 17.8.2019; vgl. FA 3.1.2018) - Stellvertreter sind Mullah Mohammad Yaqub - Sohn des ehemaligen Taliban-Führers Mullah Omar - und Serajuddin Haqqani (CTC 1.2018; vgl. TN 26.5.2016) Sohn des Führers des Haqqani-Netzwerkes (TN 13.1.2017). Die Taliban bezeichnen sich selbst als das Islamische Emirat Afghanistan (VOJ o. D.). Die Regierungsstruktur und das militärische Kommando sind in der Layha, einem Verhaltenskodex der Taliban, definiert (AAN 4.7.2011), welche zuletzt 2010 veröffentlicht wurde (AAN 6.12.2018).

Ein Bericht über die Rekrutierungspraxis der Taliban teilt die Taliban-Kämpfer in zwei Kategorien: professionelle Vollzeitkämpfer, die oft in den Madrassen rekrutiert werden, und Teilzeit-Kämpfer vor Ort, die gegenüber einem lokalen Kommandanten loyal und in die lokale Gesellschaft eingebettet sind (LI 29.6.2017). Die Gesamtstärke der Taliban wurde von einem Experten im Jahr 2017 auf über 200.000 geschätzt, darunter angeblich 150.000 Kämpfer (rund 60.000 Vollzeitkämpfer mobiler Einheiten, der Rest sein Teil der lokalen Milizen). Der Experte schätzte jedoch, dass die Zahl der Vollzeitkämpfer, die gleichzeitig in Afghanistan aktiv sind, selten 40.000 übersteigt (LI 23.8.2017). Im Jänner 2018 schätzte ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums die Gesamtstärke der Taliban in Afghanistan auf 60.000 (NBC 30.1.2018). Laut dem oben genannten Experten werden die Kämpfe hauptsächlich von den Vollzeitkämpfern der mobilen Einheiten ausgetragen (LI 23.8.2017; vgl. AAN 3.1.2017; AAN 17.3.2017).

[...]

Die Mehrheit der Taliban sind immer noch Paschtunen, obwohl es eine wachsende Minderheit an Tadschiken, Usbeken, Belutschen und sogar mehreren hundert Hazara (einschließlich Schiiten) gibt (LI 23.8.2017). In einigen nördlichen Gebieten sollen die Taliban bereits überwiegend Nicht-Paschtunen sein, da sie innerhalb der lokalen Bevölkerung rekrutieren (LI 23.8.2017).

Haqqani-Netzwerk:

Das seit 2012 bestehende Haqqani-Netzwerk ist eine teilautonome Organisation, Bestandteil der afghanischen Taliban und Verbündeter von al-Qaida (CRS 12.2.2019). Benannt nach dessen Begründer, Jalaluddin Haqqani (AAN 1.7.2010; vgl. USDOS 19.9.2018; vgl. CRS 12.2.2019), einem führenden Mitglied des antisowjetischen Jihad (1979-1989) und einer wichtigen Taliban-Figur; sein Tod wurde von den Taliban im September 2018 verlautbart. Der derzeitige Leiter ist dessen Sohn Serajuddin Haqqani, der seit 2015, als stellvertretender Leiter galt (CTC 1.2018).

Als gefährlichster Arm der Taliban, hat das Haqqani-Netzwerk, seit Jahren Angriffe in den städtischen Bereichen ausgeführt (NYT 20.8.2019) und wird für einige der tödlichsten Angriffe in Afghanistan verantwortlich gemacht (CRS 12.2.2019).

Islamischer Staat (IS/ISIS/ISIL/Daesh), Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP):

Erste Berichte über den Islamischen Staat (IS, auch ISIS, ISIL oder Daesh genannt) in Afghanistan gehen auf den Sommer 2014 zurück (AAN 17.11.2014; vgl. LWJ 5.3.2015). Zu den Kommandanten gehörten zunächst oft unzufriedene afghanische und pakistanische Taliban (AAN 1.8.2017; vgl. LWJ 4.12.2017). Schätzungen zur Stärke des ISKP variieren zwischen 1.500 und 3.000 (USDOS 18.9.2018), bzw. 2.500 und 4.000 Kämpfern (UNSC 13.6.2019). Nach US-Angaben vom Frühjahr 2019 ist ihre Zahl auf 5.000 gestiegen. Auch soll der Islamische Staat vom zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan sowie von aus Syrien geflohenen Kämpfern profitieren (BAMF 3.6.2019; vgl. VOA 21.5.2019).

Berichten zufolge, besteht der ISKP in Pakistan hauptsächlich aus ehemaligen Teherik-e Taliban Mitgliedern, die vor der pakistanischen Armee und ihrer militärischen Operationen in der FATA geflohen sind (CRS 12.2.2019; vgl. CTC 12.2018). Dem Islamischen Staat ist es gelungen, seine organisatorischen Kapazitäten sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan dadurch zu stärken, dass er Partnerschaften mit regionalen militanten Gruppen einging. Seit 2014 haben sich dem Islamischen Staat mehrere Gruppen in Afghanistan angeschlossen, z.B. Teherik-e Taliban Pakistan (TTP)-Fraktionen oder das Islamic Movement of Uzbekistan (IMU), während andere ohne formelle Zugehörigkeitserklärung mit IS-Gruppierungen zusammengearbeitet haben, z.B. die Jundullah-Fraktion von TTP oder Lashkar-e Islam (CTC 12.2018).

Der islamische Staat hat eine Präsenz im Osten des Landes, insbesondere in der Provinz Nangarhar, die an Pakistan angrenzt (CRS 12.2.2019; vgl. CTC 12.2018). In dieser sind vor allem bestimmte südliche Distrikte von Nangarhar betroffen (AAN 27.9.2016; vgl. REU 23.11.2017; AAN 23.9.2017; AAN 19.2.2019), wo sie mit den Taliban um die Kontrolle kämpfen (RFE/RL 30.10.2017; vgl. AAN 19.2.2019). Im Jahr 2018 erlitt der ISKP militärische Rückschläge sowie Gebietsverluste und einen weiteren Abgang von Führungspersönlichkeiten. Einerseits konnten die Regierungskräfte die Kontrolle über ehemalige IS-Gebiete erlangen, andererseits schwächten auch die Taliban die Kontrolle des ISKP in Gebieten in Nangarhar (UNSC 13.6.2019; vgl. CSR 12.2.2019). Aufgrund der militärischen Niederlagen war der ISKP dazu gezwungen, die Anzahl seiner Angriffe zu reduzieren. Die Gruppierung versuchte die Provinzen Paktia und Logar im Südosten einzunehmen, war aber schlussendlich erfolglos (UNSC 31.7.2019). Im Norden Afghanistans versuchten sie ebenfalls Fuß zu fassen. Im August 2018 erfuhr diese Gruppierung Niederlagen, wenngleich sie dennoch als Bedrohung in dieser Region wahrgenommen wird (CSR 12.2.2019). Berichte über die Präsenz des ISKP könnten jedoch übertrieben sein, da Warnungen vor dem Islamischen Staat laut einem Afghanistan-Experten "ein nützliches Fundraising-Tool" sind: so kann die afghanische Regierung dafür sorgen, dass Afghanistan im Bewusstsein des Westens bleibt und die Auslandshilfe nicht völlig versiegt (NAT 12.1.2017). Die Präsenz des ISKP konzentrierte sich auf die Provinzen Kunar und Nangarhar. Außerhalb von Ostafghanistan ist es dem ISKP nicht möglich, eine organisierte oder offene Präsenz aufrechtzuerhalten (UNSC 13.6.2019).

Neben komplexen Angriffen auf Regierungsziele, verübte der ISKP zahlreiche groß angelegte Anschläge gegen Zivilisten, insbesondere auf die schiitische-Minderheit (CSR 12.2.2019; vgl. UNAMA 24.2.2019; AAN 24.2.2019; CTC 12.2018; UNGASC 7.12.2018; UNAMA 10.2018). Im Jahr 2018 war der ISKP für ein Fünftel aller zivilen Opfer verantwortlich, obwohl er über eine kleinere Kampftruppe als die Taliban verfügt (AAN 24.2.2019). Die Zahl der zivilen Opfer durch ISKP-Handlungen hat sich dabei 2018 gegenüber 2017 mehr als verdoppelt (UNAMA 24.2.2019), nahm im ersten Halbjahr 2019 allerdings wieder ab (UNAMA 30.7.2019).

Der ISKP verurteilt die Taliban als "Abtrünnige", die nur ethnische und/oder nationale Interessen verfolgen (CRS 12.2.2019). Die Taliban und der Islamische Staat sind verfeindet. In Afghanistan kämpfen die Taliban seit Jahren gegen den IS, dessen Ideologien und Taktiken weitaus extremer sind als jene der Taliban (WP 19.8.2019; vgl. AP 19.8.2019). Während die Taliban ihre Angriffe weitgehend auf Regierungsziele und afghanische und internationale Sicherheitskräfte beschränken (AP 19.8.2019), zielt der ISKP darauf ab, konfessionelle Gewalt in Afghanistan zu fördern, indem sich Angriffe gegen Schiiten richten (WP 19.8.2019).

Al-Qaida und ihr verbundene Gruppierungen:

Al-Qaida sieht Afghanistan auch weiterhin als sichere Zufluchtsstätte für ihre Führung, basierend auf langjährigen und engen Beziehungen zu den Taliban. Beide Gruppierungen haben immer wieder öffentlich die Bedeutung ihres Bündnisses betont (UNSC 15.1.2019). Unter der Schirmherrschaft der Taliban ist al-Qaida in den letzten Jahren stärker geworden; dabei wird die Zahl der Mitglieder auf 240 geschätzt, wobei sich die meisten in den Provinzen Badakhshan, Kunar und Zabul befinden. Mentoren und al-Qaida-Kadettenführer sind oftmals in den Provinzen Helmand und Kandahar aktiv (UNSC 13.6.2019).

Al-Qaida will die Präsenz in der Provinz Badakhshan stärken, insbesondere im Distrikt Shighnan, der an der Grenze zu Tadschikistan liegt, aber auch in der Provinz Paktika, Distrikt Barmal, wird versucht die Präsenz auszubauen. Des Weiteren fungieren al-Qaida-Mitglieder als Ausbilder und Religionslehrer der Taliban und ihrer Familienmitglieder (UNSC 13.6.2019).

[...]

Rechtsschutz/Justizwesen:

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind (Casolino 2011). In islamischen Rechtsfragen lässt sich der Präsident von hochrangigen Rechtsgelehrten des Ulema-Rates (Afghan Ulama Council - AUC) beraten (USDOS 29.5.2018). Dieser Ulema-Rat ist eine von der Regierung unabhängige Körperschaft, die aus rund 2.500 sunnitischen und schiitischen Rechtsgelehrten besteht (REU 24.11.2018; vgl. USDOS 29.5.2018).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.:

Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (APE 3.2017). Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen - einschließlich Menschenrechtsverträge - vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (APE 3.2017; vgl. UNAMA 22.2.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle, als auch das islamische Recht anzuwenden (APE 3.2017).

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll. Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht (USIP 3.2015).

Gemäß dem allgemeinen Scharia-Vorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, sodass nicht festgelegt ist, welches Gesetz in Fällen des Konflikts zwischen traditionellem, islamischem Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits, zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und das Fehlen einer Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen und stehen Fortschritten im Menschenrechtsbereich entgegen (AA 2.9.2019). Wenn keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht durch. Es gibt einen Mangel an qualifiziertem Justizpersonal und manche lokale und Provinzbehörden, darunter auch Richter, haben nur geringe Ausbildung und fundieren ihre Urteile auf ihrer persönlichen Interpretation der Scharia, ohne das staatliche Recht, Stammesrecht oder örtliche Gepflogenheiten zu respektieren. Diese Praktiken führen oft zu Entscheidungen, die Frauen diskriminieren (USDOS 13.3.2019).

Trotz erheblicher Fortschritte in der formellen Justiz Afghanistans, bemüht sich das Land auch weiterhin für die Bereitstellung zugänglicher und gesamtheitlicher Leistungen; weit verbreitete Korruption sowie Versäumnisse vor allem in den ländlichen Gebieten gehören zu den größten Herausforderungen (CR 11.2018). Auch ist das Justizsystem weitgehend ineffektiv und wird durch Drohungen, Befangenheit, politischer Einflussnahme und weit verbreiteter Korruption beeinflusst (USDOS 13.3.2019; vgl. AA 2.9.2019, FH 4.2.2019). Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten durchgesetzt (USDOS 13.3.2019). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent (AA 2.9.2019) und innerhalb des Landes uneinheitlich angewandt (USDOS 13.3.2019).

Dem Gesetz nach gilt für alle Bürgerinnen und Bürger die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Beschuldigte werden von der Staatsanwaltschaft selten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informiert. Die Beschuldigten sind dazu bere

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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