Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Wessely-Kristöfel als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Thomas Stegmüller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei T*****, vertreten durch Dr. Christoph Orgler, Rechtsanwalt in Graz, gegen die beklagte Partei IEF-Service GmbH, Geschäftsstelle Graz, 8020 Graz, Europaplatz 12, vertreten durch die Finanzprokuratur, 1010 Wien, Singerstraße 17–19, wegen 3.159 EUR sA (Insolvenz-Entgelt), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 12. September 2019, GZ 6 Rs 33/19y-9, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 6. Mai 2019, GZ 36 Cgs 47/19h-5, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Die angefochtene Entscheidung wird dahin abgeändert, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger war seit 1. 11. 2016 als Angestellter bei der H***** GesmbH beschäftigt. Mit Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz vom 22. 10. 2018 wurde über deren Vermögen das Konkursverfahren eröffnet und der Rechtsanwalt Dr. A***** zum Masseverwalter bestellt. Mit Beschluss vom 23. 10. 2018, der am selben Tag in der Insolvenzdatei veröffentlicht wurde, wurde vom Insolvenzgericht die Schließung des gesamten Unternehmens angeordnet, woraufhin der Kläger am 24. 10. 2018 seinen vorzeitigen Austritt gemäß § 25 IO erklärte.
Im Insolvenzverfahren meldete der Kläger ua eine Kündigungsentschädigung vom 25. 10. 2018 bis 31. 3. 2019 als Insolvenzforderung an. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 13. 2. 2019 die Zahlung des klagsgegenständlichen Teils der Kündigungsentschädigung für den Zeitraum 1. 1. bis 31. 3. 2019 von 3.159 EUR netto ab.
Die Schuldnerin beschäftigte zwischen 21 und 99 Arbeitnehmer. Mit dem Kläger erklärten 22 Arbeitnehmer ihren Austritt gemäß § 25 IO. Ein Verfahren nach § 45a AMFG wurde nicht eingeleitet.
Der Kläger begehrte die Zahlung von 3.159 EUR netto an Insolvenz-Entgelt. Der Schwellenwert des § 45a AMFG sei überschritten worden, weil 22 Arbeitnehmer am 24. 10. 2018 ihre Arbeitsverhältnisse berechtigt vorzeitig gemäß § 25 IO aufgelöst hätten. Fingiere man die Einhaltung des Kündigungsfrühwarnsystems, wäre eine ordnungsgemäße Arbeitgeberkündigung nur zum 31. 3. 2019 möglich gewesen.
Die Beklagte bestritt und wandte ein, dass der Kläger sich entschieden habe, sein Arbeitsverhältnis durch vorzeitigen Austritt zu beenden. Er habe auch den Zeitpunkt dafür selbst gewählt und genieße dadurch den Vorteil, Entgelt ohne Arbeitsleistung zu erhalten. Darüber hinaus auch noch eine (Massen-)Kündigung durch den Insolvenzverwalter zu fingieren, um den Zeitraum der Kündigungsentschädigung zu verlängern, entspreche weder dem Zweck des AMFG noch sei eine solche Konstellation vom Sicherungsbereich des IESG umfasst.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Dem Kläger stehe eine Kündigungsentschädigung nur bis 31. 12. 2018 zu. Zwar zählten die Regelungen über das Kündigungsfrühwarnsystem nach § 45a AMFG zu den gesetzlichen Kündigungsbeschränkungen und seien dagegen verstoßende bzw diese missachtende Auflösungen rechtsunwirksam, sodass die Berechnung der Kündigungsentschädigung unter Beachtung der Sperrfrist und einer erst nach deren Ablauf möglichen Arbeitgeberkündigung unter Einhaltung der Fristen und Termine erfolge. Voraussetzung dafür sei aber, dass die Auflösung durch den Betriebsinhaber oder den Masseverwalter erklärt werde, was hier nicht geschehen sei.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge und dem Klagebegehren statt. Nach der aktuellen Judikatur werde eine Kündigungsentschädigung unter Berücksichtigung des gesamten kündigungsgeschützten Zeitraums, also eine sogenannte lange Kündigungsentschädigung, dann gewährt, wenn das durch sie geschützte Rechtsgut trotz der Lösung des Arbeitsverhältnisses weiterbestehe. Während in der überwiegenden Anzahl der Fälle diese Abwicklung zu einer langen Kündigungsentschädigung führe, werde bei Betriebsratsmitgliedern berücksichtigt, dass sie durch den Austritt nach § 25 IO ihr Mandat aufgeben und das durch den Kündigungsschutz geschützte Rechtsgut bei einer Austrittserklärung nicht mehr weiterbestehe. Die Beklagte argumentiere damit, dass § 45a AMFG arbeitsmarktpolitische Ziele verfolge. Das sei zwar richtig, doch sei durch BGBl 1979/109 die ursprünglich sanktionslose Verpflichtung zur Verständigung des Arbeitsmarktservices dahingehend novelliert worden, dass Kündigungen, bei denen das Prozedere nicht eingehalten werde, rechtsunwirksam seien. Das ursprüngliche Ziel sei daher um die Dimension des Bestandschutzes angereichert worden. Wenn auch primär der Arbeitsmarkt geschützt werden solle, so bedeute das nicht, dass der Schutz des Einzelnen keine Rolle spiele. Das Ziel der Vollbeschäftigung solle jeden einzelnen Arbeitssuchenden vor Arbeitslosigkeit schützen und damit zweifellos auch den, der aus Anlass der Insolvenz eines Unternehmens seine bisherige Beschäftigung verliere und das Problem habe, dass Gleiches auf eine Vielzahl anderer, ähnlich ausgebildeter Arbeitnehmer zutreffe, was das Finden eines neuen Arbeitsplatzes aufgrund der Konkurrenzsituation erschwere. Damit sei ein Vergleich mit der Situation eines Betriebsratsmitglieds, das durch den Austritt freiwillig sein Mandat verloren habe, nicht argumentierbar.
Nach Ansicht des Berufungsgerichts ergebe sich daher aus dem Umstand, dass sich die Kündigungsentschädigung bei einem nach § 25 IO austretenden Arbeitnehmer nach den Ansprüchen richte, die er gehabt hätte, wäre das Dienstverhältnis vom Arbeitgeber bzw Insolvenzverwalter beendet worden, dass auch die 30-tägige Frist des § 45a AMFG berücksichtigt werden müsse.
Da diese Frage – soweit überblickbar – vom Obersten Gerichtshof noch nicht entschieden worden sei, sei die ordentliche Revision zulässig.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten aus dem Revisionsgrund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung mit dem Antrag auf Abänderung im Sinn einer Klageabweisung.
Der Kläger beantragt in seiner Revisionsbeantwortung, die Revision der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise, ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist zulässig und berechtigt.
1. In den Rechtsfolgen unterscheidet sich der begünstigte Austritt des Arbeitnehmers nach § 25 IO nicht von einem begründeten Austritt nach allgemeinem Arbeitsrecht. Der Arbeitnehmer hat daher gemäß § 25 Abs 2 IO auch Anspruch auf Schadenersatz in der Art der Kündigungsentschädigung (RIS-Justiz RS0120259 [T3]). Dem Arbeitnehmer gebührt die Kündigungsentschädigung bis zum fiktiven Ende des Arbeitsverhältnisses durch ordnungsgemäße Arbeitgeberkündigung. Er ist so zu stellen, als ob das Arbeitsverhältnis durch den Arbeitgeber ordnungsgemäß beendet worden wäre (RS0120259 [T4]). Das zeitliche Maß des Ersatzanspruchs wird durch die für den Arbeitgeber hinsichtlich des konkreten Arbeitnehmers – unter Außerachtlassung der Konkurseröffnung – bestehende Kündigungsmöglichkeit bestimmt (RS0120259; 8 ObS 15/07z).
2.1 Gemäß § 20 Abs 2 AngG hätte der Arbeitgeber den Kläger unter Einhaltung einer sechswöchigen Frist mit Ablauf eines jeden Kalendervierteljahres, hier also ausgehend vom 24. 10. 2018 zum 31. 12. 2018, kündigen können. Strittig ist, ob bei der Bemessung der fiktiven Kündigungsfrist die 30-tägige Sperrfrist des § 45a Abs 2 AMFG zu berücksichtigen ist.
2.2 Nach der – auf der Umsetzung der Massenentlassungsrichtlinie (Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. 7. 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen) basierenden – Bestimmung des § 45a Abs 1 Z 1 AMFG haben Arbeitgeber die nach dem Standort des Betriebs zuständige regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservices durch schriftliche Anzeige zu verständigen, wenn sie in Betrieben mit in der Regel mehr als 20 und weniger als 100 Beschäftigten beabsichtigen, Arbeitsverhältnisse von mindestens fünf Arbeitnehmern innerhalb eines Zeitraums von 30 Tagen aufzulösen. Diese Anzeige ist gemäß § 45a Abs 2 AMFG mindestens 30 Tage vor der ersten Erklärung der Auflösung eines Arbeitsverhältnisses zu erstatten. Die Verpflichtung zur Anzeige besteht auch bei Insolvenz und ist im Falle des Konkurses vom Masseverwalter zu erfüllen, wenn die Anzeige nicht bereits vor Konkurseröffnung erstattet wurde.
Nach § 45a Abs 8 AMFG kann die Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservices nach Anhörung des Landesdirektoriums die Zustimmung zum Ausspruch der Kündigung vor Ablauf der Frist des Abs 2 erteilen, wenn hiefür vom Arbeitgeber wichtige wirtschaftliche Gründe, wie zum Beispiel der Abschluss einer Betriebsvereinbarung im Sinne des § 97 Abs 1 Z 4 in Verbindung mit § 109 Abs 1 Z 1 des Arbeitsverfassungsgesetzes (Sozialplan), nachgewiesen werden. Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob dem Arbeitgeber die fristgerechte Anzeige der beabsichtigten Kündigung möglich oder zumutbar war.
§ 45a Abs 5 AMFG erklärt Kündigungen, die eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses im Sinne des Abs 1 bezwecken, vor Fristablauf ohne vorherige Zustimmung der Landesgeschäftsstelle (Abs 8) für rechtsunwirksam (vgl 4 Ob 79/82 = DRdA 1983, 37). Bei einer nach § 45a AMFG unwirksamen Kündigung stellt die Berechnung der Kündigungsentschädigung auf die nach Ablauf der Sperrfrist des § 45a AMFG mögliche Kündigung ab (9 ObA 55/07i). Das Kündigungsfrühwarnsystem nach § 45a AMFG gilt als gesetzliche Kündigungsbeschränkung im Sinn des § 25 Abs 1 IO (Gamerith in Bartsch/Pollak/Buchegger, Österreichisches Insolvenzrecht I4 [2000] § 25 Rz 22; Reissner in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 25 IO Rz 29).
2.3 Der Zweck der frühzeitigen Verständigung der Arbeitsmarktverwaltung durch den Arbeitgeber von der Auflösung von Arbeitsverhältnissen liegt vor allem darin, die Vollbeschäftigung aufrecht zu erhalten und damit zur Verhütung von Arbeitslosigkeit beizutragen (siehe 9 ObA 75/17w mwN unter Hinweis auf RV 149 BlgNR 14. GP 6, 10 f; AB 274 BlgNR 14. GP 2). Entsprechend den Ausführungen im Ausschussbericht (AB 274 BlgNR 14. GP 2) hat die Rechtsprechung die Meldepflicht auf arbeitsmarktpolitisch relevante Auflösungen eingeschränkt (vgl etwa 9 ObA 75/17w; 9 ObA 119/17s) und sich der Aussage angeschlossen, dass bei der Feststellung der Grenzwerte Kündigungen seitens der Dienstnehmer unberücksichtigt zu bleiben hätten (9 ObA 2287/96f; vgl Olt, Das Frühwarnsystem bei „Massenkündigungen“ nach § 45a AMFG, ARD 6448/5/2015, 5).
3.1 In der Entscheidung 9 ObA 2276/96p hatte der Oberste Gerichtshof den Schadenersatzanspruch eines Arbeitnehmers zu beurteilen, der nach Konkurseröffnung wegen Nichtzahlung des Entgelts austrat, bevor ihn der Masseverwalter noch nach § 25 Abs 1 Z 1 KO kündigen konnte. Die Besonderheit jenes Falles lag darin, dass der Masseverwalter die (eine Meldepflicht nach § 45a AMFG auslösende) beabsichtigte Auflösung der zur Schuldnerin bestehenden Arbeitsverhältnisse bereits beim Arbeitsmarktservice angezeigt hatte und ein frühester Kündigungstermin bereits festgelegt war, als der Austritt des Arbeitnehmers erfolgte. Die Kündigungsentschädigung des Arbeitnehmers wurde dort unter Berücksichtigung der (über Antrag des Masseverwalters mit Bescheid des Arbeitsmarktservices verkürzten) Sperrfrist des § 45a Abs 2 AMFG berechnet.
3.2 Im Anlassfall wurde eine die Anzeigepflicht auslösende Absicht des Masseverwalters, die bestehenden Arbeitsverhältnisse aufzulösen, nicht einmal zum Ausdruck gebracht, geschweige denn ein frühester Kündigungstermin festgelegt. Die Unternehmensschließung mag zwar eine Kündigungsabsicht des Masseverwalters nahelegen, zwingend ist dieser Schluss allerdings nicht, könnte der Masseverwalter ja zB in Verhandlungen über eine Unternehmensveräußerung stehen.
Gegen die Berücksichtigung einer bloß fiktiven 30-tägigen Sperrfrist, weil der Masseverwalter die (zeitgleich mit dem Kläger nach § 25 IO ausgetretenen) Arbeitnehmer nur unter Beachtung des § 45a AMFG hätte kündigen können, spricht, dass nach der bereits zitierten Rechtsprechung bei Bemessung des Ersatzanspruchs ein individueller – auf den konkreten Arbeitnehmer bezogener – Maßstab anzulegen ist. Schon dieser Aspekt steht dem Standpunkt des Klägers, der sich auf eine rein hypothetische Kündigung weiterer Arbeitnehmer durch den Masseverwalter beruft, entgegen. Dazu kommt, dass die Sperrfrist nicht zwingend 30 Tage beträgt, sondern über (pflichtgemäßen) Antrag des Masseverwalters nach § 45a Abs 8 AMFG verkürzt werden kann. Im konkreten Fall hätte mit entsprechender Zustimmung des Arbeitsmarktservices eine ordnungsgemäße Kündigung des Klägers durch den Masseverwalter theoretisch auch im Rahmen eines Verfahrens nach § 45a AMFG zum 31. 12. 2018 bewerkstelligt werden können.
Der vom Kläger geltend gemachte Schadenersatzanspruch setzte daher voraus, dass sowohl die Absicht des Masseverwalters, die Arbeitsverhältnisse zu beenden, als auch ein Kündigungstermin fingiert wird, zweiteres unter Zugrundelegung einer derart langen Sperrfrist, dass eine Kündigung zum nächsten Quartalsende nicht mehr möglich gewesen wäre. Gegen eine derartige Fiktion zugunsten des Klägers spricht aber schon der (auch vom Unionsrecht nach Art 4 Abs 2 der Massenentlassungsrichtlinie vorgegebene) Zweck des Kündigungsfrühwarnsystems, den Behörden Gelegenheit zu geben, innerhalb der Sperrfrist „nach Lösungen für die durch die beabsichtigten Massenentlassungen aufgeworfenen Probleme zu suchen“ (vgl Riesenhuber, Europäisches Arbeitsrecht [2009] 398 ff), der – wie die Beklagte zutreffend hervorhebt – bei Austritt durch den Arbeitnehmer unterlaufen wird.
4. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine bloß hypothetische, tatsächlich aber nicht im Sinn des § 45a Abs 2 AMFG ausgelöste Verlängerung der hinsichtlich des konkreten Arbeitnehmers zu beachtenden Kündigungsfrist bei der Bemessung des Ersatzanspruchs des nach § 25 IO ausgetretenen Arbeitnehmers nicht berücksichtigt werden kann.
Der Revision war daher Folge zu geben und das Urteil des Erstgerichts wiederherzustellen.
5. Gründe für einen Kostenersatzanspruch nach Billigkeit hat der Kläger nicht vorgebracht (RS0085829).
Textnummer
E127588European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:008OBS00012.19A.0124.000Im RIS seit
23.03.2020Zuletzt aktualisiert am
20.01.2022