Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten Hon.-Prof. Dr. Kuras als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Tarmann-Prentner und Mag. Korn als weitere Richter sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Thomas Stegmüller (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Gerald Fida (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) in der Arbeitsrechtssache der klagenden Partei Mag. T*****, vertreten durch Sunder-Plaßmann Loibner & Partner, Rechtsanwälte OG in Wien, gegen die beklagte Partei Ö***** AG, *****, vertreten durch Mag. Dr. Christian Gepart, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kündigungsanfechtung, infolge Rekurses der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 23. Mai 2019, GZ 8 Ra 100/18m-18, mit dem der Berufung der klagenden Partei gegen das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 18. Juli 2018, GZ 30 Cga 65/18z-10, Folge gegeben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen und zu Recht erkannt:
Spruch
Dem Rekurs wird Folge gegeben.
Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben und in der Sache selbst zu Recht erkannt, dass das Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.
Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 626,52 EUR (darin enthalten 104,42 EUR USt) bestimmten Kosten des Rekursverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.
Text
Entscheidungsgründe:
Der Kläger war ab 1. 10. 2013 Angestellter der Beklagten. Auf das Dienstverhältnis findet der Kollektivvertrag für Mitarbeiter/innen der Ö***** AG Anwendung. Das Dienstverhältnis wurde am 14. 5. 2018 zum 31. 7. 2018 gekündigt. Der Kläger war zu diesem Zeitpunkt bereits vom Dienst freigestellt und hatte seine Zugangskarte zum Betrieb abgegeben. Bei diesem Gespräch wurde dem Kläger auch mitgeteilt, dass der Betriebsrat der Kündigung widersprochen habe und er sich an die Vorsitzende des Betriebsrats wenden könne. Diese wurde am 17. 5. 2018 per E-Mail von der Kündigung in Kenntnis gesetzt.
Der Kläger wollte die Kündigung jedenfalls anfechten. Ihm war nicht bekannt, dass bei einem Widerspruch des Betriebsrats vorerst ein ausschließliches Anfechtungsrecht des Betriebsrats besteht. Er versuchte mehrfach die Vorsitzende des Betriebsrats telefonisch zu erreichen, da er hoffte, von ihr Gründe für die Kündigung zu erfahren. Hätte er sie erreicht, hätte er ihr mitgeteilt, dass er die Kündigung selbst anfechten möchte. In der Folge wandte er sich an den Klagevertreter, dem er am 22. 5. 2018 beim ersten Besprechungstermin den Auftrag zur Kündigungsanfechtung erteilte. Kontakt zum Betriebsrat bestand zu keiner Zeit. Erst während des Verfahrens nahm der Klagevertreter Kontakt zur Vorsitzenden des Betriebsrats auf, die ihm mitteilte, dass der Betriebsrat nur Anfechtungen für Arbeitnehmer vornehme, wenn diese Gewerkschaftsmitglieder seien, was auf den Kläger nicht zutrifft.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Kläger nicht möglich gewesen wäre, allfällige weitere Betriebsratsmitglieder ausfindig zu machen oder ein E-Mail an die Vorsitzende des Betriebsrats zu schreiben.
Der Kläger ficht die Kündigung wegen Sozialwidrigkeit an. Die Einzelheiten des arbeitsverfassungsrechtlichen Kündigungsanfechtungs-verfahrens seien ihm nicht bekannt gewesen. Zwischen ihm und dem Betriebsrat sei es weder vor Ausspruch der Kündigung noch innerhalb der Wochenfrist nach Zugang der Kündigungserklärung zu einer Kontaktaufnahme gekommen. Er habe nicht gewusst, dass er bei einem Widerspruch des Betriebsrats gegen die Kündigung innerhalb einer Frist von einer Woche ein Verlangen gegenüber dem Betriebsrat aussprechen müsse, die Kündigung anzufechten. Hätte er dies gewusst, hätte er den Betriebsrat zur Anfechtung aufgefordert. Hätte dieser mit ihm erörtert, dass der Kläger selbst die Kündigung anfechten könne, hätte er sich für eine individuelle Anfechtung entschieden, da er über eine Rechtsschutzversicherung verfüge.
Dass die Kontaktaufnahme mit dem Betriebsrat innerhalb der Wochenfrist gescheitert sei, sei für die aktive Klagslegitimation letztlich irrelevant. Die Betriebsratsvorsitzende habe während des Verfahrens ausdrücklich erklärt, dass sie bei erfolgter Kontaktaufnahme den Kläger, da er kein Gewerkschaftsmitglied sei, an die Arbeiterkammer oder einen Rechtsanwalt weiterverwiesen hätte.
Die Beklagte bestritt. Da der Betriebsrat nicht zur Anfechtung der Kündigung aufgefordert worden sei, sei der Kläger nicht zur Klage legitimiert.
Das Erstgericht wies die Klage ab. Habe der Betriebsrat der Kündigung ausdrücklich widersprochen, habe zunächst der Betriebsrat und nicht der Arbeitnehmer selbst das Recht, die Kündigung anzufechten. Das Anfechtungsrecht des Arbeitnehmers setze aber voraus, dass er den primär anfechtungsberechtigten Betriebsrat (erfolglos) aufgefordert habe, die Anfechtung vorzunehmen, was im vorliegenden Fall nicht geschehen sei. Damit lägen die Voraussetzungen des § 105 Abs 4 ArbVG nicht vor. Das Anfechtungsrecht sei daher nicht auf den Kläger übergegangen und die Kündigung für ihn nicht mehr anfechtbar.
Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers Folge, hob das angefochtene Urteil auf und verwies die Rechtssache zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurück an das Erstgericht. Bei der Beurteilung, ob ein „Verlangen“ des Arbeitnehmers iSd § 105 Abs 4 ArbVG vorliege, lege die Rechtsprechung einen großzügigen Maßstab an. Schutzzweck des „Verlangens“ des Arbeitnehmers sei, dass ihm ein Kündigungsschutzverfahren nicht gegen seinen Willen aufgezwungen werde. Durch die Einbindung des Betriebsrats solle sichergestellt werden, dass dieser auf sein primäres Anfechtungsrecht bestehen könne. Da nach den Feststellungen der Betriebsrat einem Anfechtungsverlangen des Klägers, weil dieser nicht Gewerkschaftsmitglied sei, jedenfalls nicht entsprochen hätte, werde durch die Klage keiner dieser Gesetzeszwecke verletzt. Dass der Betriebsrat kein Interesse an einer Anfechtung habe, sei schon daraus erkennbar, dass von Seiten des Betriebsrats niemand mit dem Kläger Kontakt aufgenommen habe, um die weitere Vorgangsweise abzuklären. Dem Zweck der Regelung entspreche es daher, das Anfechtungsrecht auch dann übergehen zu lassen, wenn dem Arbeitnehmer der Beweis gelinge, dass der Betriebsrat einem Verlangen auf Anfechtung jedenfalls nicht entsprochen hätte.
Den Rekurs an den Obersten Gerichtshof ließ das Berufungsgericht zu, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Frage vorliege, ob das Recht auf Kündigungsanfechtung auf den Arbeitnehmer auch dann übergehe, wenn er im Verfahren unter Beweis stelle, dass der Betriebsrat einem (nicht gestellten) Verlangen auf Anfechtung der Kündigung jedenfalls nicht entsprochen hätte.
Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der Beklagten mit dem Antrag, das Ersturteil wiederherzustellen.
Der Kläger beantragt, den Rekurs zurückzuweisen, in eventu ihm nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Der Rekurs ist aus den vom Berufungsgericht genannten Gründen zulässig und auch berechtigt.
Nach § 105 Abs 4 ArbVG kann der Betriebsrat auf Verlangen des gekündigten Arbeitnehmers binnen einer Woche nach Verständigung vom Ausspruch der Kündigung diese beim Gericht anfechten, wenn er der Kündigungsabsicht ausdrücklich widersprochen hat. Kommt der Betriebsrat dem Verlangen des Arbeitnehmers nicht nach, so kann dieser innerhalb von zwei Wochen nach Ablauf der für den Betriebsrat geltenden Frist die Kündigung selbst beim Gericht anfechten.
In der Entscheidung 8 ObA 177/01i wurde ausgeführt, dass diese Bestimmung deutlich mache, dass das Recht, die Anfechtungsklage zu erheben, im Fall eines Widerspruchs des Betriebsrats gegen die Kündigung primär dem Betriebsrat, und diesem nur dann zusteht, wenn der Arbeitnehmer von ihm die Anfechtung verlangt habe. Da aber im Fall eines Widerspruchs des Betriebsrats gegen die Kündigungsabsicht der Arbeitnehmer selbst nur zur Klage berechtigt sei, wenn der Betriebsrat dem Verlangen auf Anfechtung der Kündigung nicht nachkomme, setze auch das Anfechtungsrecht des Arbeitnehmers voraus, dass der Arbeitnehmer den primär anfechtungsberechtigten Betriebsrat zunächst aufgefordert habe, die Anfechtung vorzunehmen.
An das „Verlangen“ des Arbeitnehmers iSd § 105 Abs 4 ArbVG an den Betriebsrat, die Kündigung anzufechten, sind nach der Rechtsprechung keine besonderen formellen Ansprüche zu stellen. Wesentlich ist, dass aus den Erklärungen des Arbeitnehmers insgesamt hervorgeht, dass er möchte, dass seine Kündigung durch Ausübung des Anfechtungsrechts nach § 105 ArbVG wieder aufgehoben wird (9 ObA 216/00y). Dieser „Wunsch“ kann sich insbesondere in (auch vor ausgesprochener Kündigung erfolgten) Erklärungen und Verhaltensweisen, wie etwa Gesprächen mit dem Betriebsrat und Befassung eines Vertreters der Arbeiterkammer, manifestieren (Wolligger in ZellKomm Arbeitsrecht³, § 105 ArbVG Rz 68).
Schutzzweck der Regelung, die ein Verlangen des Arbeitnehmers für das Anfechtungsrecht des Betriebsrats voraussetzt, ist nach herrschender Ansicht auch, dass dem Arbeitnehmer nicht gegen seinen Willen ein Kündigungsschutzverfahren aufgezwungen werden soll (vgl Cerny in DRdA 2002/18; Trost in DRdA 2002/4).
In der zuvor zitierten Entscheidung 8 ObA 177/01i hat der Oberste Gerichtshof aber auch klargestellt, dass im Fall eines Widerspruchs des Betriebsrats gegen die Kündigungsabsicht mangels eines Anfechtungsverlangens des Arbeitnehmers der Betriebsrat zur Erhebung der Anfechtungsklage gar nicht berechtigt ist und daher das Klagerecht auch durch Zeitablauf nicht auf den Arbeitnehmer übergehen kann. Andernfalls hätte es der Arbeitnehmer in der Hand, das primäre Anfechtungsrecht des Betriebsrats durch Unterlassung eines Verlangens auf Anfechtung zu umgehen und in jeden Fall selbst die Klage einzubringen. Dies sei mit dem klaren Konzept des Gesetzgebers nicht vereinbar. Fehle es an einem wie immer gearteten Verhalten des Arbeitnehmers, das als ein Anfechtungsverlangen interpretiert werden könne, habe der Betriebsrat überhaupt erst nach der Einbringung der Klage von dieser erfahren, sei das Klagerecht des Arbeitnehmers zu verneinen.
In einer Glosse zu dieser Entscheidung hat Firlei (ZAS 2002/15) unter Hinweis auf die Funktion des Anfechtungsverlangens, dem Arbeitnehmer nicht gegen seinen Willen ein Kündigungsschutzverfahren aufzuzwingen, vertreten, dass eine Anfechtung auch dann zugelassen werden sollte, wenn eine in plausibler Weise zu vermutende „stille“ Zustimmung des Dienstnehmers zur Anfechtung schlicht aus den vorliegenden Umständen zu erschließen sei. Diese könne sich aus dem hypothetischen Willen des Arbeitnehmers unter Berücksichtigung der gesamten vorliegenden Umstände ergeben, also nicht nur aus Erklärungen und (schlüssigen) Verhaltensweisen. Auch eine bloß aus den Umständen zu vermutende Einwilligung des Arbeitnehmers in die Bekämpfung der Kündigung löse das formelle Anfechtungsrecht des Betriebsrats, subsidiär das des Arbeitnehmers, aus. Wolligger (in ZellKomm, Arbeitsrecht³, § 105 ArbVG Rz 68) pflichtet dem bei: Nur eine Interpretation des Begriffs „Verlangen“ als „Vorliegen eines Einvernehmens“ könne dem von der Rechtsprechung immer wieder betonten Postulat der Einzelfallgerechtigkeit gerecht werden.
Dem kann angesichts der klaren gesetzlichen Regelung nicht beigepflichtet werden. Der allgemeine Kündigungsschutz ist im Rahmen der Betriebsverfassung, eingebunden in die Mitwirkungsbefugnisse der Arbeitnehmerschaft, geregelt. Es handelt sich also um einen kollektivrechtlich geprägten Kündigungsschutz mit dem vorrangigen Ziel der Wahrnehmung der Gesamtinteressen der Arbeitnehmerschaft, wobei jedoch diese Regelung auch stark individualrechtliche Komponenten enthält (Gahleitner in Gahleitner/Mosler, Arbeitsverfassungsrecht 35 [2015] § 105 Rz 9, 162). Nach der Konzeption des Gesetzes kommt das Anfechtungsrecht im Falle eines Widerspruchs des Betriebsrats zur Kündigung primär und ausschließlich dem Betriebsrat zu. Zusätzlich setzt das Recht auf Kündigungsanfechtung durch den Betriebsrat ein „Verlangen“ des Arbeitnehmers voraus, da das Kündigungsschutzverfahren nicht gegen den Willen des Arbeitnehmers eingeleitet werden soll. Dies setzt aber voraus, dass dem Betriebsrat in irgendeiner Form während der ihm für die Anfechtung zur Verfügung stehenden Frist bekannt wird, dass der Arbeitnehmer eine Anfechtung wünscht oder zumindest mit einer solchen einverstanden ist. Wie bereits in der Entscheidung 8 ObA 177/01i dargelegt, kann nur so ein Anfechtungsanspruch des Betriebsrats entstehen und nur dann ein solcher Anspruch auf den Arbeitnehmer übergehen.
Die vom Berufungsgericht angenommene Möglichkeit, im Nachhinein hypothetisch nachzuvollziehen, ob der Arbeitnehmer mit einer Anfechtung einverstanden gewesen wäre bzw ob der Betriebsrat im Fall eines ihm bekannt gewordenen Einverständnisses selbst eine Kündigungsanfechtung vorgenommen hätte, entspricht damit nicht dem Gesetz.
Für den konkreten Fall bedeutet das, da der Kläger weder vor der Kündigung noch nach Ausspruch der Kündigung innerhalb der dem Betriebsrat zur Klagseinbringung zur Verfügung stehenden Frist Kontakt mit einem Mitglied des Betriebsrats hatte und daher kein dem Betriebsrat bekannt gewordenes Verhalten setzte, aus dem auf ein „Verlangen“ der Anfechtung geschlossen werden hätte können, dass weder der Betriebsrat noch in der Folge der Kläger ein Recht auf Anfechtung der Kündigung hatte.
Dem Rekurs war daher Folge zu geben, der Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts aufzuheben und aufgrund Spruchreife das klagsabweisende Ersturteil wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Der Zuschlag für im elektronischen Rechtsverkehr eingebrachte Schriftsätze beträgt, wenn es sich nicht um einen ein Verfahren einleitenden Schriftsatz handelt, nur 2,10 EUR (§ 23a RATG).
Textnummer
E127589European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:008OBA00048.19W.0124.000Im RIS seit
23.03.2020Zuletzt aktualisiert am
23.04.2021