TE Bvwg Erkenntnis 2019/8/13 I403 2220837-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.08.2019
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Entscheidungsdatum

13.08.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs3
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG-DV 2005 §4
AsylG-DV 2005 §8
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs3
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
IntG §11
IntG §9 Abs4
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I403 2220837-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin MMag. Birgit ERTL als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, StA. Nigeria, vertreten durch Rechtsanwältin Mag. Susanne SINGER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.05.2019, Zl. 477905200/14769029, zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben, der angefochtene Bescheid behoben und XXXX wird gemäß §§ 54, 55 Abs. 2 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer, ein Staatsbürger von Nigeria, stellte am 07.01.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz. Er wurde am 08.01.2009 im Krankenhaus XXXX stationär aufgenommen, da er als Typ I Diabetiker insulinpflichtig war und seit ca. 2 Tagen kein Insulin gespritzt hatte. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25.03.2009, Zahl 09 00.216-BAL, wurde der Antrag auf internationalen Schutz des Beschwerdeführers abgewiesen, ihm der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt und er aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria ausgewiesen. Dagegen erhob der Beschwerdeführer Beschwerde und brachte in erster Linie vor, dass er sich in Nigeria Medikamente für seine Diabeteserkrankung nicht würde leisten können. Nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 07.05.2013 wurde die Beschwerde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 24.10.2013, Zl. D11 405902-1/2009/16E als unbegründet abgewiesen und festgehalten, dass es sich bei der Erkrankung des Beschwerdeführers (Diabetes mellitus Typ I (insulinpflichtig)) um keine lebensbedrohliche Krankheit handle und eine Fortsetzung seiner Behandlung im Herkunftsstaat möglich sei. Zudem habe der Beschwerdeführer auch bereits vor seiner Ausreise Behandlungen und Medikamente im Heimatland erhalten. Die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerde wurde vom Verfassungsgerichtshof mit Beschluss vom 20.02.2014, Zl. U 2598/2013-6 abgelehnt.

Mit Schreiben vom 14.04.2014 wurde dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Wege der rechtsfreundlichen Vertretung ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen gemäß § 56 Abs. 2 AsylG 2005 schriftlich übermittelt.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) beantragte bei der Botschaft der Bundesrepublik Nigeria in Wien am 13.04.2015 die Ausstellung eines Heimreisezertifikates für den Beschwerdeführer. Dieser wurde im Rahmen einer Vorführung am 12.06.2015 als nigerianischer Staatsbürger identifiziert. Am 01.09.2015 und am 22.01.2016 urgierte das BFA bei der nigerianischen Botschaft.

Der Beschwerdeführer stellte am 07.07.2017 einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG. Am 06.11.2018 wurde der Beschwerdeführer von der belangten Behörde einvernommen.

Mit dem angefochtenen Bescheid vom 16.05.2019 wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen (Spruchpunkt II.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt III.) und ihm darüber hinaus gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von 2 Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für seine freiwillige Ausreise gewährt (Spruchpunkt IV.).

Gegen den angefochtenen Bescheid wurde fristgerecht mit Schriftsatz vom 17.06.2019 Beschwerde erhoben. Es wurde insbesondere auf den über zehnjährigen Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet und seine Diabeteserkrankung verwiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der volljährige Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger Nigerias, ledig und kinderlos. Seine Identität steht fest. Er stammt aus Benin City und arbeitete vor seiner Ausreise als Mechaniker. Seine Eltern sind verstorben, zu seinen Geschwistern hat er gelegentlich Kontakt.

Der Beschwerdeführer befindet sich seit rund zehneinhalb Jahren im Bundesgebiet. Er stellte am 07.01.2009 einen letztlich unbegründeten Antrag auf internationalen Schutz; mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 24.10.2013 wurde dieser rechtskräftig abgewiesen und war der Beschwerdeführer zur Ausreise verpflichtet. Der Beschwerdeführer kam seiner Ausreiseverpflichtung nicht nach (weswegen auch zweimal eine Verwaltungsstrafe gegen ihn verhängt wurde), sondern verblieb in Österreich. Allerdings leistete er der Ladung zu einem Termin vor der nigerianischen Vertretungsbehörde Folge.

Der Beschwerdeführer führt in Österreich kein Familienleben. Er hat eine Deutschprüfung auf A2-Niveau abgeschlossen und verkauft seit April 2009 eine Straßenzeitung. Er ist in eine Kirchengemeinde integriert und hat zahlreiche Bekanntschaften geschlossen. Er ist strafgerichtlich unbescholten.

Der Beschwerdeführer leidet an Diabetes Mellitus Typ I und muss sich Insulin spritzen. Er war in den letzten Jahren zweimal jeweils für einige Tage wegen schwerer Gastritus und Soor-Ösophagitis (Entzündung der Speiseröhre) in stationärer Behandlung. In Nigeria finden Rückkehrer in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor. Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleistet allerdings keine kostenfreie Medikamentenversorgung, jeder Patient muss, auch im Krankenhaus, für die Kosten von Medikamenten selbst aufkommen. Gerade im Bereich der Diabetes sind die hohen Medikamentenkosten ein Hindernis für den Zugang zu einer adäquaten medizinischen Versorgung.

2. Beweiswürdigung:

Die erkennende Einzelrichterin des Bundesverwaltungsgerichtes hat nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung über die Beschwerde folgende Erwägungen getroffen:

Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.

Zur Feststellung der Identität des Beschwerdeführers legte er eine Geburtsurkunde, ausgestellt am 17.09.2015, und einen Staatsbürgerschaftsnachweis, ausgestellt von der nigerianischen Botschaft in Wien am 15.06.2015, vor. Er wurde zudem von der nigerianischen Delegation als Staatsangehöriger Nigerias identifiziert.

Die Feststellungen zu den Lebensumständen und zu seiner Familie in Nigeria ergeben sich aus den Angaben des Beschwerdeführers im Zuge seines vorangegangenen Asylverfahrens, im gegenständlichen Verfahren vor dem BFA und aus den von der rechtsfreundlichen Vertretung eingebrachten Stellungnahmen.

Der Umstand, dass der Beschwerdeführer Deutsch auf A2-Niveau spricht, ergibt sich aus einem diesbezüglich vorgelegten ÖSD-Zertifikat vom 24.05.2014.

Dass er in Österreich eine Straßenzeitung verkauft, ergibt sich aus einer Bestätigung vom 31.03.2014. Zudem wurde eine Arbeitszusage vom 05.05.2014 vorgelegt.

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer in Österreich diverse Bekanntschaften geschlossen hat, ergibt sich aus einer Vielzahl an vorgelegten Bestätigungsschreiben.

Die Feststellung bezüglich der strafgerichtlichen Unbescholtenheit entspricht dem Amtswissen des Bundesverwaltungsgerichtes durch Einsichtnahme in das Strafregister der Republik Österreich am 09.08.2019.

Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer an Diabetes Mellitus Typ I (insulinpflichtig) erkrankt ist, ergibt sich aus Arztbriefen des Krankenhauses XXXX vom 11.09.2013, vom 01.10.2013, vom 02.01.2015 sowie aus dem Kurzbericht eines Arztes für Allgemeinmedizin vom 11.03.2019. Von 26.09.2013 bis 03.10.2013 und vom 25.12.2014 bis 02.01.2015 wurde er aufgrund einer Gastritis und Ösophagitis stationär behandelt, wie den Arztbriefen des Krankenhauses XXXX zu entnehmen ist.

Die Feststellungen zur medizinischen Behandlung in Nigeria sind identisch mit jenen im angefochtenen Bescheid, die sich aus dem aktuellen Länderinformationsblatt der Staatendokumentation ergeben. Die Feststellung, dass gerade Diabetespatienten mit hohen Medikamentenkosten konfrontiert sind, ergibt sich aus dem in der Stellungnahme des Beschwerdeführers zitierten EASO-Bericht, Country of Origin Information Report: Nigeria, Key socio-economic indicators (November 2018), S 49.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu Spruchteil A)

Der Beschwerdeführer stellte einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK nach § 55 AsylG 2005.

Der mit "Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK" betitelte § 55 AsylG 2005 lautet:

(1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.

Wird durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung gem. § 9 Abs. 1 BFA-VG zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens iSd Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthalts und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des/der Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl- Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

Im angefochtenen Bescheid wurde der Antrag abgewiesen und dies in der rechtlichen Würdigung folgendermaßen begründet: "Sie verfügen über kein schützenswertes Familienleben in Österreich. Allein Ihr langer Aufenthalt, der auch nur durch einen Antrag auf internationalen Schutz für die Dauer des Verfahrens bis 28.10.2013 legal war, vermag Ihr Interesse an einem Verbleib im Bundesgebiet nicht über die Interessen des Staates an einem geordneten Fremdenwesen zu stellen. Sie sind beharrlich im Bundesgebiet geblieben, haben zwar an der Feststellung Ihrer Identität insofern mitgewirkt, als Sie den entsprechenden Ladungen zu den Vorführterminen bei der Botschaft Ihres Herkunftslandes gefolgt sind. Schließlich konnten Sie als Staatsbürger Nigerias identifiziert werden. Ihrer Verpflichtung zur Ausreise sind Sie allerdings nicht aus eigenem nachgekommen und haben sich auch nicht um die Erlangung eines Reisedokumentes bemüht. Sie berufen sich in erster Linie auf Ihre Diabeteserkrankung und der damit verbundenen Notwendigkeit einer laufenden ärztlichen Kontrolle. Integrationsbemühungen sind nicht feststellbar, soziale Kontakte sind gering ausgeprägt und die Unbescholtenheit vermag für sich das Gewicht des persönlichen Interesses am Verbleib im Bundesgebiet nicht zu erhöhen."

Die von der belangten Behörde getroffenen wesentlichen Feststellungen, die dieser rechtlichen Würdigung zugrunde liegen, werden vom Bundesverwaltungsgericht geteilt und sind unbestritten.

Aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes wurden die beiden auch in der Beschwerde besonders betonten Aspekte, nämlich die über zehnjährige Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet und die Diabetes-Erkrankung des Beschwerdeführers, allerdings nicht ausreichend bzw. nicht den von der höchstgerichtlichen Judikatur entwickelten Leitlinien entsprechend in die Interessensabwägung miteinbezogen.

Nach der ständigen Judikatur ist bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. zum Ganzen etwa VwGH, 07.03.2019, Ra 2018/21/0253; VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 11 bis 13; VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 9 und 10, sowie VwGH 08.11.2018, Ra 2016/22/0120, Punkte 6.2. und 7.2., jeweils mwN).

Das BFA spricht im angefochtenen Bescheid davon, dass es keinerlei Integrationsbemühungen gegeben habe und somit der unbescholtene Beschwerdeführer die Zeit seines Aufenthalts überhaupt nicht genützt hätte, um sich in Österreich zu integrieren. Allerdings hat der Beschwerdeführer Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 aufzuweisen, war jahrelang als Zeitungsverkäufer tätig und legte zudem eine Einstellungszusage vor. Dass Einstellungszusagen keine maßgebliche Bedeutung zukommt, trifft im Zusammenhang mit einem langjährigen Aufenthalt nicht zu (vgl. insoweit etwa VwGH, 26.01.2017, Ra 2016/21/0168, Rn. 33, mwN). Darüber hinaus hat der Revisionswerber - durch zahlreiche Empfehlungsschreiben dokumentiert - einen umfangreichen Bekanntenkreis aufgebaut. Darüber hinausgehende Integrationsbemühungen werden von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes bei einem so langen Aufenthalt nicht gefordert (vgl. VwGH, 23.02.2017, Ra 2016/21/0325, Rn. 12).

Umgekehrt hat der Verwaltungsgerichtshof in mehreren Entscheidungen zum Ausdruck gebracht, dass ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale auch gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden können. Dazu zählen das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung (vgl. etwa die Erkenntnisse des VwGH vom 30.06.2016, Ra 2016/21/0165, und vom 10.11.2015, Ro 2015/19/0001, sowie die Beschlüsse des VwGH vom 03.09.2015, Ra 2015/21/0121, und vom 25.04.2014, Ro 2014/21/0054), Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften (wie etwa das Ausländerbeschäftigungsgesetz; siehe VwGH, 16.10.2012, 2012/18/0062, sowie VwGH, 25.04.2014, Ro 2014/21/0054), eine zweifache Asylantragstellung (vgl. VwGH, 20.07.2016, Ra 2016/22/0039, sowie das zitierte Erkenntnis Ra 2014/22/0078 bis 0082), unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren (vgl. die zitierten Erkenntnisse Ra 2015/21/0249 bis 0253 sowie Ra 2016/21/0165), sowie die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (vgl. VwGH, 31.01.2013, 2012/23/0006). Fallgegenständlich kann diesbezüglich die zweimalige Bestrafung wegen des unrechtmäßigen Aufenthaltes herangezogen werden. Entsprechend ist auch der Umstand zu berücksichtigen, dass der Inlandsaufenthalt überwiegend unrechtmäßig war (siehe die Erkenntnisse des VwGH vom 30.06.2016, Ra 2016/21/0165, sowie vom 11.11.2013, 2013/22/0072) und dass der Beschwerdeführer seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen war.

Sonstige gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände hat das BFA aber weder festgestellt noch sonst in seiner Entscheidungsbegründung ins Treffen geführt. Insbesondere ist der Fall nicht mit dem Sachverhalt vergleichbar, der der Entscheidung VwGH, 17.11.2016, Ra 2016/21/0183-5, zugrunde lag, weil in dem damals zugrundeliegenden Fall ein Drittstaatsangehöriger seine Abschiebung bzw. die Erlangung eines Heimreisezertifikates durch die Verwendung einer Alias-Identität verhindert hatte. Im gegenständlichen Fall steht die Identität des Beschwerdeführers fest, verwendete dieser keine Aliasidentität und kam er auch den Ladungen zur Vorführung bei der nigerianischen Botschaft nach. Allerdings ist es durchaus als relativierend anzusehen, dass bereits einmal über die für die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels maßgebliche Frage, ob ihm auf Basis des Art. 8 EMRK ein Aufenthaltsrecht zukommt, entschieden und diese verneint worden war. Davon ausgehend ist die Aufenthaltsdauer als relativiert anzusehen (VwGH, Beschluss vom 23.02.2017, Ra 2016/21/0340).

Im vorliegenden Fall darf aber auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Beschwerdeführer an Diabetes Mellitus leidet und des Insulins bedarf. Aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz steht fest, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Nigeria in keine lebensbedrohliche Situation geraten würde. Eine Verschlechterung seiner gesundheitlichen Situation seit der rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz wurde nicht behauptet. Bei der Abwägung nach Art 8 EMRK sind aber schwierige Rückkehrbedingungen - unter der Schwelle des Art. 2 und 3 EMRK - zu berücksichtigen und kommt auch dem Umstand Bedeutung zu, dass eine medizinische Behandlung in Österreich vorgenommen wird, die im Einzelfall zu einer maßgeblichen Verstärkung des persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich führen kann (VwGH, 28.04.2015, Ra 2014/18/0146). Auch wenn, wie im angefochtenen Bescheid festgestellt wurde, eine Behandlung von Diabetes in Nigeria prinzipiell möglich ist, muss doch berücksichtigt werden, dass die Kosten für Insulin hoch sind und von den Patienten selbst getragen werden müssen. Es wäre dem Beschwerdeführer nur schwer möglich, sich eine regelmäßige medizinische Versorgung für seine Erkrankung zu sichern. Auch wenn dies keine direkte Bedrohung seines Lebens darstellt, erhöht dies doch sein Interesse an einem Verbleib in Österreich.

Für sich genommen wären im Fall des Beschwerdeführers wohl weder seine zehnjährige Aufenthaltsdauer im Bundesgebiet noch seine Erkrankung ausreichend gewichtig, um von einem Überwiegen seiner persönlichen Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet gegenüber dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen ausgehen zu können - in einer Zusammenschau aller Umstände kommt das Bundesverwaltungsgericht jedoch zum Schluss, dass im Falle des Beschwerdeführers eine Rückkehrentscheidung unverhältnismäßig in seine nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eingreifen würde. Dem Beschwerdeführer ist daher gemäß § 55 AsylG ein Aufenthaltstitel zu verleihen.

Zu überprüfen ist noch, ob die Voraussetzungen für die Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" nach Abs. 1 vorliegen oder ob nach Abs. 2 eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen ist. Nach § 9 Abs. 4 des Integrationsgesetzes ist das (in § 55 Abs. 1 AsylG 2005 angesprochene) Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt, wenn der Drittstaatsangehörige einen Nachweis des Österreichischen Integrationsfonds über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung gemäß § 11 vorlegt, einen gleichwertigen Nachweis gemäß § 11 Abs. 4 über die erfolgreiche Absolvierung der Integrationsprüfung vorlegt, über einen Schulabschluss verfügt, der der allgemeinen Universitätsreife im Sinne des § 64 Abs. 1 Universitätsgesetz 2002, BGBl. I Nr. 120/2002, oder einem Abschluss einer berufsbildenden mittleren Schule entspricht, einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte" gemäß § 41 Abs. 1 oder 2 NAG besitzt oder als Inhaber eines Aufenthaltstitels "Niederlassungsbewilligung - Künstler" gemäß § 43a NAG eine künstlerische Tätigkeit in einer der unter § 2 Abs. 1 Z 1 bis 3 Kunstförderungsgesetz, BGBl. I Nr. 146/1988, genannten Kunstsparte ausübt. Keine dieser Voraussetzungen ist gegeben, der Beschwerdeführer hat zwar die A2-Prüfung absolviert, aber keine Integrationsprüfung. Es ist ihm daher eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.

Der Vollständigkeit halber wird darauf hingewiesen, dass nach § 8 Asylgesetz-Durchführungsverordnung einem Antrag auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels unter anderem auch ein gültiges Reisedokument anzuschließen ist und dies gegenständlich nicht der Fall ist. Es wurde auch kein Antrag auf Mängelheilung nach § 4 Asylgesetz-Durchführungsverordnung gestellt. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes rechtfertigt die Nichtvorlage eines gültigen Reisepasses (bei Nichtvorliegen der Voraussetzung des § 4 Abs. 1 Z 3 Asylgesetz-Durchführungsverordnung 2005 bzw. bei Unterbleiben einer entsprechenden Antragstellung) grundsätzlich eine auf § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 gestützte Zurückweisung (VwGH, 17.05.2017, Ra 2017/22/0059). Allerdings hatte der Verwaltungsgerichtshof zur Heilung nach § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 bereits ausgesprochen, dass die Bedingung, wonach die Erteilung des Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK erforderlich sein muss, in jenen Konstellationen, in denen von Amts wegen ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen ist, voraussetzungsgemäß erfüllt ist (vgl. das Erkenntnis vom 15.09.2016, Ra 2016/21/0187).

Auch im Fall eines Antrags auf Erteilung eines solchen Aufenthaltstitels gilt, dass die Voraussetzungen für die verfahrensrechtliche Heilung nach § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 die gleichen sind wie für die materielle Stattgabe des verfahrenseinleitenden Antrags. Die Prüfung, ob einem Heilungsantrag nach § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 stattzugeben ist, unterscheidet sich also inhaltlich nicht von der Beurteilung, ob der Titel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen ist. Daraus folgt auch, dass bei einem Antrag nach § 55 AsylG 2005 in Bezug auf die Heilung nach § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 in erster Linie und vorrangig die Voraussetzungen der Z 2 der genannten Bestimmung zum Tragen kommen und dass es unzulässig ist, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 trotz Vorliegens der hierfür erforderlichen Voraussetzungen wegen Nichtvorlage von Identitätsdokumenten zurückzuweisen - auch wenn kein Antrag auf Mängelheilung gestellt wurde (klargestellt durch VwGH, 26.06.2019, Ra 2019/21/0092 bis 0094).

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

4. Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung

Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Die im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen blieben im Verfahren unwidersprochen und ist der Sachverhalt aus der Aktenlage als geklärt anzusehen. Der Beschwerde wurde stattgegeben, von Seiten der belangten Behörde wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht beantragt.

Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung konnte sohin gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG iVm § 24 VwGVG unterbleiben.

Zu B) (Un)Zulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

Schlagworte

Aufenthaltsberechtigung, Aufenthaltstitel, Aufenthaltstitel aus
Gründen des Art. 8 EMRK, befristete Aufenthaltsberechtigung,
Behebung der Entscheidung, Integration, Interessenabwägung,
Kassation, öffentliche Interessen, Privat- und Familienleben,
private Interessen

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:I403.2220837.1.00

Zuletzt aktualisiert am

13.03.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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