Entscheidungsdatum
28.01.2020Norm
B-VG Art. 133 Abs4Spruch
G314 2227013-1/4E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag.a Katharina BAUMGARTNER über die Beschwerde der polnischen Staatsangehörigen XXXX, geboren am XXXX, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX12.2019, Zl. XXXX, betreffend die Erlassung eines Aufenthaltsverbots zu Recht:
A) Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen,
dass es in Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids zu lauten hat:
"Gemäß § 67 Abs 1 und 3 FPG wird gegen die Beschwerdeführerin ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen."
B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
Verfahrensgang:
Die Beschwerdeführerin (BF) wurde im Verfahren XXXX des Landesgerichts für Strafsachen XXXX zu einer fünfzehnjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die sie aktuell in der Justizanstalt XXXX verbüßt. Mit den Schreiben des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 10.03.2016 und vom 26.11.2019 wurde sie jeweils aufgefordert, sich zur beabsichtigten Erlassung eines Aufenthaltsverbots zu äußern und Fragen zu ihren persönlichen Verhältnissen, ihrem Aufenthalt und ihren Bindungen in Österreich zu beantworten. Sie erstattete entsprechende Stellungnahmen. Am 03.08.2017 und am 03.05.2018 wurde sie vor dem BFA zu diesem Thema vernommen; am 05.09.2018 fand die Einvernahme ihrer Eltern dazu statt.
Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid erließ das BFA gegen die BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein unbefristetes Aufenthaltsverbot (Spruchpunkt I.), erteilte gemäß § 70 Abs 3 FPG keinen Durchsetzungsaufschub (Spruchpunkt II.) und erkannte einer Beschwerde gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt III.). Das Aufenthaltsverbot wurde im Wesentlichen mit der strafgerichtlichen Verurteilung der BF wegen Mordes begründet, wobei der Tatbestand des § 67 Abs 3 Z 1 FPG erfüllt sei. Sie sei zwar in Österreich sozial integriert, habe aber auch familiäre Anknüpfungspunkte in Polen, wo sie nach der Entlassung aus der Haft einer legalen Erwerbstätigkeit nachgehen könne. Das öffentliche Interesse an Ordnung und Sicherheit überwiege ihr persönliches Interesse an einem Verbleib in Österreich. Ein unbefristetes Aufenthaltsverbot sei notwendig, zumal sie keinen Besserungswillen glaubhaft gemacht habe.
Dagegen richtet sich die Beschwerde mit den Anträgen auf Durchführung einer Beschwerdeverhandlung und auf Behebung des angefochtenen Bescheids, insbesondere dessen Spruchpunkt III. Hilfsweise strebt die BF eine Verkürzung des Aufenthaltsverbots an. Sie begründet die Beschwerde zusammengefasst damit, dass sie seit 17 Jahren als EWR-Bürgerin in Österreich lebe, wo sich auch ihre Eltern und ihre Schwester, die österreichische Staatsbürger seien, befänden. Ihr Ex-Mann und ihr Sohn, der den Kontakt zu ihr ablehne, würden in Polen leben. Sie selbst sei aufgrund des langen Aufenthalts in Österreich von der Lebensweise in Polen entfremdet und befürchte, dass es ihr nicht gelingen würde, dort am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Das unbefristete Aufenthaltsverbot würde die Trennung von ihren Angehörigen bedeuten und sei unverhältnismäßig.
Das BFA legte dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde samt den Akten des Verwaltungsverfahrens vor.
Feststellungen:
Die BF wurde am XXXX in der polnischen Stadt XXXX geboren. Sie ist polnische Staatsangehörige; ihre Muttersprache ist Polnisch (Reisepass und Personalausweis AS 179; Sachverständigengutachten AS 31 ff). Sie besuchte in Polen acht Jahre lang die Schule und machte anschließend eine Ausbildung zur XXXX (Stellungnahme der BF AS 341 ff, Sachverständigengutachten AS 31 ff). Danach war sie in Tschechien erwerbstätig. Am XXXX kam ihr SohnXXXX, der ebenfalls polnischer Staatsangehöriger ist, in der polnischen StadtXXXXzur Welt (Beschuldigtenvernehmung AS 51 ff [wiedergegeben im Sachverständigengutachten]).
Im Februar 2004 übersiedelte die BF mit ihrem Sohn nach Österreich, wo sie sich auch schon davor vorübergehend aufgehalten hatte. Ihre Eltern, ihre beiden Brüder und ihre Schwester lebten bereits in Österreich. Ihr Vater ist hier seit 1995 durchgehend mit Hauptwohnsitz gemeldet, ihre Mutter, ihre Schwester und ein Bruder seit 1999, ein weiterer Bruder seit 2003. Die Eltern und die Schwester der BF haben seit 2003 die österreichische Staatsbürgerschaft; ihre Brüder sind nach wie vor polnische Staatsangehörige. Seit Anfang 2004 hielt sich die BF nur mehr im Rahmen kurzer Besuche in ihrem Heimatstaat auf. Am 17.02.2004 wurde ihr eine für ein Jahr gültige Niederlassungsbewilligung ausgestellt (Beschuldigtenvernehmung AS 53; Niederschrift AS 275 ff, Stellungnahme der BF AS 341 ff, ZMR-Auszüge). Am 01.05.2004 trat Polen der EU bei (siehe z.B. https://de.wikipedia.org/wiki/EU-Erweiterung_2004, Zugriff am 27.01.2020). Von Oktober 2004 bis Juli 2010 war die BF in XXXX als XXXX - zum Teil mehrfach - geringfügig beschäftigt (Versicherungsdatenauszug, Stellungnahme der BF AS 341 ff).
2008 heiratete die BF den Vater ihres Sohnes, einen in XXXX erwerbstätigen polnischen Staatsangehörigen. Die dreiköpfige Familie lebte zusammen in einer Mietwohnung in XXXX. Am XXXX kam die gemeinsame Tochter NXXXX in XXXX zur Welt (ZMR-Auszüge, Sachverständigengutachten AS 31 ff, insbesondere Seiten 53 und 71 ff). Die BF bezog bis September 2012 Kinderbetreuungsgeld (Versicherungsdatenauszug). Sie betreute Haushalt und Kinder und war zum Teil in geringem Ausmaß ohne Anmeldung zur Sozialversicherung als Reinigungskraft tätig (Sachverständigengutachten AS 31 ff, insbesondere Seiten 53 und 73).
Die BF fühlte sich in Österreich nicht heimisch und hatte vor, mit ihrem Ehemann und den Kindern nach Polen zurückzukehren, wenn ihr Sohn 15 Jahre alt sei (Sachverständigengutachten AS 31 ff, insbesondere AS 73, 127 und 137). Die Familie lebte in beengten finanziellen Verhältnissen (Beschuldigtenvernehmung AS 53); ab 2012 gab es mehrere Versuche, die Räumungsexekution der von ihnen bewohnten Wohnung wegen Mietzinsrückständen zu vollziehen, was die BF durch (Teil-)Zahlungen wiederholt abwenden konnte. Ihrem Ehemann erzählte sie davon nichts. Als bei einem Räumungstermin am XXXX ein weiterer Aufschub abgelehnt wurde, geriet die BF, die mit den beiden Kindern allein in der Wohnung war, in einen akuten Belastungszustand. Aus nicht restlos geklärten Gründen tötete sie ihre XXXX, indem sie sie von hinten an der Stirn erfasste, zu sich drückte, mit einem Küchenmesser wiederholt auf sie einstach und ihr Stich- und Schnittverletzungen im Gesicht sowie im Hals- und Brustbereich zufügte, wobei sie letztlich aufgrund der Hals- und Bruststichverletzungen infolge einer Blutung in den Herzbeutel und Verblutens verstarb. Die BF litt an keiner (klinisch relevanten) psychischen Erkrankung; ihre Dispositionsfähigkeit war eingeschränkt, aber nicht aufgehoben (Strafurteil AS 3 ff; Sachverständigengutachten AS 31, insbesondere Seiten 43, 55, 143 und 151).
Die BF wurde unmittelbar nach der Tat verhaftet und in der Folge in der Justizanstalt XXXX in Untersuchungs- bzw. Strafhaft angehalten (ZMR-Auszug, Vollzugsinformation). Mit dem seit 17.02.2016 rechtskräftigen Urteil des Geschworenengerichts beim Landesgericht für Strafsachen XXXX vom XXXX, XXXX, wurde sie der vorsätzlichen Tötung ihrer Tochter für schuldig erkannt und wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB (ausgehend von einem Strafrahmen von zehn bis zwanzig Jahren oder lebenslanger Freiheitsstrafe) zu einer 15-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Es handelt sich um ihre erste und bislang einzige strafgerichtliche Verurteilung. Bei der Strafzumessung wurden das reumütige Geständnis, der bisherige ordentliche Lebenswandel und die durch den akuten Belastungszustand verminderte Dispositionsfähigkeit als mildernd, die Ausnützung der Wehr- und Hilflosigkeit des unmündigen Opfers und die für den unmündigen Sohn der BF wahrnehmbare Gewaltanwendung an einer nahestehenden Person dagegen als erschwerend gewertet. Außerdem wurde berücksichtigt, dass die BF die Tat zum Nachteil des eigenen, an der Situation unschuldigen Kindes beging, wobei der Umstand, dass sie durch die Ermordung einer ihr nahestehenden Person einen für sie selbst fühlbaren Verlust erlitt, keinen Milderungsgrund darstellt (Strafurteil AS 3 ff; Strafregister).
Die Tochter der BF wurde auf einem Friedhof in XXXX beerdigt (Niederschrift AS 275 ff; Stellungnahme AS 341 ff).
Die BF verbüßt die Strafe seit XXXX2016 in der Justizanstalt XXXX; das urteilsmäßige Strafende ist am XXXX2030. Ihre bedingte Entlassung ist frühestens im Februar 2023 möglich (Vollzugsinformation, ZMR-Auszug). Sie wird während der Haft regelmäßig von ihren Eltern und Geschwistern, fallweise auch von Bekannten, besucht. Sie absolvierte während der Haft einen Deutschkurs und arbeitet in einem Unternehmerbetrieb der Justizanstalt, in dem Arbeiten für externe Unternehmer verrichtet werden (Besucherlisten AS 271 ff und 287 ff). Sie macht eine Therapie zur Aufarbeitung des Geschehens (Stellungnahme AS 341 ff, insbesondere AS 344). Sie nimmt Antidepressiva; abgesehen davon ist sie gesund (Niederschrift AS 275 ff).
Der Ehemann und der Sohn der BF, die sie in der Justizanstalt XXXX zunächst noch besucht hatten, besuchten sie in der Justizanstalt XXXXnicht mehr (Niederschrift AS 225). 2016 wurde der Ehemann der BF mit der alleinigen Obsorge für den gemeinsamen Sohn betraut, der seither keinen Kontakt zu ihr möchte (Stellungnahme BF AS 341 ff). 2017 kehrten beide nach Polen zurück, wo sie seither leben (Niederschrift AS 276, ZMR-Auszüge). Am XXXX2019 wurde die Ehe der BF von einem polnischen Gericht geschieden (Bescheinigung AS 315 ff).
Die Eltern der BF sind bereit, sie nach der Haftentlassung in ihrer Wohnung in XXXX aufzunehmen. In Polen hat die BF bis auf eine Cousine keine Familienangehörigen mehr (Niederschrift AS 307 ff). Andere Verwandte der BF leben in Österreich, Deutschland und Frankreich (Niederschrift AS 277).
Beweiswürdigung:
Der Verfahrensgang ergibt sich widerspruchsfrei sich aus dem unbedenklichen Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten und des Gerichtsakts des BVwG.
Die Feststellungen beruhen auf den jeweils in den Klammerzitaten angeführten Beweismitteln (wobei sich die angegebenen Aktenseiten (AS) auf die Seitennummerierung der vorgelegten Verwaltungsakten beziehen), insbesondere auf dem Strafurteil, den grundsätzlich schlüssigen und plausiblen Angaben der BF, den von ihr vorgelegten Urkunden sowie auf Auszügen aus dem Zentralen Melderegister (ZMR), dem Informationsverbundsystem Zentrales Fremdenregister (IZR) und dem Strafregister. Auch insoweit liegen kaum entscheidungswesentliche Widersprüche vor.
Die Feststellungen zur Identität der BF basieren auf den aktenkundigen Kopien aus ihrem Reisepass und ihrem Personalausweis. Ihre polnische Muttersprache ist angesichts ihrer Herkunft und der in Polen absolvierten Schul- und Berufsausbildung plausibel, zumal es offenbar zu keinen Verständigungsproblemen mit den beigezogenen Dolmetschern für diese Sprache kam.
Die BF schilderte ihre Jugend und ihren Werdegang bei der Beschuldigtenvernehmung, gegenüber der Sachverständigen und vor dem BFA weitgehend konsistent. Geburtsdatum und -ort ihres Sohnes sind auch im ZMR ersichtlich. Die BF ist laut ZMR seit Februar 2004 durchgehend mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet (wobei sie seit ihrer Festnahme nicht mehr in der davor zuletzt bewohnten Wohnung mit der Adresse XXXX, wo nach wie vor eine Hauptwohnsitzmeldung besteht, wohnt). Die legale Erwerbstätigkeit der BF in Österreich und der Bezug von Kinderbetreuungsgeld ergeben sich aus dem Versicherungsdatenauszug. Die gelegentliche Schwarzarbeit als Reinigungskraft gab sie gegenüber der Sachverständigen offen zu. Die Eheschließung in Wien und die Scheidung in Polen werden durch die von der BF vorgelegte "Bescheinigung über Entscheidungen in Ehesachen" belegt.
Die Behauptung der BF in ihrer letzten Stellungnahme an das BFA, wonach sich ihr Vater schon seit 1990 in Österreich aufhalte, kann anhand der vorliegenden Unterlagen nicht nachvollzogen werden. Aus dem ZMR ergibt sich eine Hauptwohnsitzmeldung ab 1995. Angesichts des jedenfalls sehr langen kontinuierlichen Inlandsaufenthalts und der österreichischen Staatsbürgerschaft des Vaters der BF ist nicht entscheidungswesentlich, ob er sich schon seit 1990 oder erst ab 1995 in Österreich aufhielt.
Die Unzufriedenheit der BF mit ihrem Aufenthalt in Österreich und ihr Wunsch, diesen in absehbarer Zeit zu beenden und nach Polen zurückzukehren, wurden von der Sachverständigen in dem von der BF vorgelegten Gutachten an mehreren Stellen wiedergegeben. Dies ist vor allem deshalb nachvollziehbar, weil die BF die deutsche Sprache vor ihrer Festnahme nicht wirklich erlernt hatte, obwohl sie da bereits seit mehr als elf Jahren in Österreich lebte.
Die schwierige finanzielle Lage der Familie, die Räumungsexekutionsversuche und die Geschehnisse vom XXXX lassen sich anhand des Sachverständigengutachtens und der darin wiedergegebenen Auszüge aus dem Strafakten sowie anhand des Strafurteils und des Wahrspruchs der Geschworenen gut rekonstruieren. Die Sachverständige begründet ausführlich und gut nachvollziehbar, dass die BF nicht an einer psychischen Krankheit litt und ihre Dispositionsfähigkeit (worauf auch in den Strafzumessungsgründen Bezug genommen wird) eingeschränkt, aber nicht aufgehoben war. Die Sachverständige legt eindrücklich dar, dass die Kindestötung durch die BF keinen spezifischen Erklärungsmodellen (und damit der Gruppe der "unbekannten Gründe") zuzurechnen sei, woraus abzuleiten ist, dass Motive und Ursachen der Tat nicht abschließend geklärt werden konnten.
Der Strafvollzug kann anhand der Verwaltungsakten gut nachvollzogen werden. Aus den Besucherlisten der Justizanstalt ergibt sich auch, dass die BF in einem Unternehmerbetrieb beschäftigt wird und einen Deutschkurs in der Justizanstalt besuchte. Letzteres ist insbesondere deshalb glaubhaft, weil die BF bei der Niederschrift am 03.05.2018 keinen Dolmetsch mehr benötigte.
Abgesehen von der von der BF geschilderten Einnahme von Antidepressiva gibt es keine Anhaltspunkte für schwerwiegende gesundheitliche Probleme, zumal sie offenbar uneingeschränkt haft- und arbeitsfähig ist.
Es ist glaubhaft, dass der Ehemann und der Sohn der BF 2017 nach Polen zurückkehrten, zumal laut ZMR für beide seitXXXX2017 in Österreich keine Wohnsitzmeldung mehr besteht. Die BF schilderte die Übertragung der Obsorge für ihren Sohn an ihren Mann konsistent und (angesichts des fehlenden Kontakts zu ihm) plausibel, sodass ihr insoweit gefolgt werden kann, obwohl dazu keine Urkunden vorgelegt wurden.
Es ist nachvollziehbar, dass die Eltern der BF vorhaben, sie nach der Haftentlassung bei sich wohnen zu lassen, wie sie das bei der Einvernahme vor dem BFA angaben, zumal sie sie regelmäßig besuchen und mit ihr in Kontakt stehen. Das Fehlen von in Polen lebenden Familienangehörigen wurde von der BF übereinstimmend mit ihren Eltern geschildert.
Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids:
Gemäß § 67 Abs 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen die BF als unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürgerin (§ 2 Abs 4 Z 8 FPG) zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahme nicht ohne weiteres begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen EWR-Bürger, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch den Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Gemäß § 67 Abs 2 FPG kann ein Aufenthaltsverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren erlassen werden. Bei einer Verurteilung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren kann das Aufenthaltsverbot gemäß § 67 Abs 3 Z 1 FPG sogar unbefristet erlassen werden.
Bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist das Gesamtverhalten des oder der Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung oder Bestrafung, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" abzustellen ist und strafgerichtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (vgl. VwGH 24.01.2019, Ra 2018/21/0234).
Aufgrund des von der BF begangenen Kapitalverbrechens ist die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich (trotz der bei solchen Delikten allgemein niedrigen statistischen Rückfallwahrscheinlichkeit, siehe Sachverständigengutachten AS 153) durch ihren Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet, zumal sie die eigene, XXXX mit mehreren Messerstichen ermordete, wobei die aufgrund der bevorstehenden Delogierung verständliche Anspannung unvermittelt in Aggression umschlug (siehe auch Sachverständigengutachten AS 151). Das Ausmaß der gegen sie verhängten Freiheitsstrafe beträgt das Dreifache der in § 67 Abs 3 Z 1 FPG festgelegten Grenze für die Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbots.
Trotz der begonnenen therapeutischen Auseinandersetzung mit ihrer Tat wird die BF den Wegfall der durch die strafgerichtliche Verurteilung indizierten Gefährlichkeit erst durch einen langen Zeitraum des Wohlverhaltens in Freiheit nach der Haftentlassung unter Beweis stellen müssen. Für sie kann noch keine positive Zukunftsprognose erstellt werden, obwohl sie zum ersten Mal straffällig wurde, weil der Gesinnungswandel einer Straftäterin grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange sie sich - nach dem Vollzug einer Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat (siehe VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0118). Das gegen die BF erlassene Aufenthaltsverbot ist zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, zur Verhinderung von strafbaren Handlungen und zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer dringend geboten, zumal sie die seit der Tat vergangene Zeit zur Gänze in Haft verbracht hat.
Das Aufenthaltsverbot greift in das Privat- und Familienleben der BF ein. Daher ist eine einzelfallbezogene gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung mit ihren gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Dabei sind zu ihren Gunsten insbesondere ihr langjähriger rechtmäßiger inländischer Aufenthalt als Unionsbürgerin, die Beziehung zu ihren ebenfalls seit vielen Jahren im Bundesgebiet lebenden Eltern und Geschwistern und die Kontakte zu anderen in Österreich lebenden Angehörigen und Bekannten zu berücksichtigen. Letztere sind allerdings seit geraumer Zeit haftbedingt eingeschränkt.
Es ist der BF andererseits zumutbar, sich trotz ihrer langen Abwesenheit und des Fehlens naher Bezugspersonen wieder in die polnische Gesellschaft einzugliedern, zumal sie sprachkundig ist und bis zu ihrem 27. Lebensjahr in Polen lebte, wo sie auch eine Schul- und Berufsausbildung absolvierte. Schwierigkeiten beim Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt sind nach der Haftentlassung auch in Österreich zu erwarten, zumal sie schon vor ihrer Festnahme seit Jahren keiner legalen außerhäuslichen Erwerbstätigkeit nachging. In Polen kann sie außerdem eine Wiederannäherung an ihren dort lebenden Sohn, zu dem derzeit kein Kontakt besteht, versuchen, und mit ihren Eltern und Geschwistern sowie mit anderen in Österreich lebenden Bezugspersonen über diverse Kommunikationsmittel (Telefon, E-Mail, Internet) und bei Besuchen außerhalb von Österreich in Verbindung bleiben. Da sich das Aufenthaltsverbot nur auf das österreichische Bundesgebiet bezieht, sind allfällige Kontakte zu Verwandten in Deutschland und Frankreich dadurch nicht eingeschränkt.
Nach der Rechtsprechung des VwGH ist im Rahmen der Interessenabwägung nach Art 8 EMRK bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in der Regel vom Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Dies gilt allerdings nur dann, wenn sich aus dem Verhalten des oder der Fremden (abgesehen von einem allfälligen unrechtmäßigen Verbleib in Österreich) sonst keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit ergibt und nicht in einer Konstellation wie der vorliegenden, in der der BF ein massives strafrechtliches Fehlverhalten anzulasten ist (siehe VwGH 28.02.2019, Ra 2018/01/0409).
Die Erlassung eines unbefristeten Aufenthaltsverbots gegen die BF ist im Ergebnis aufgrund des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung, das wegen des ihr vorzuwerfenden vorsätzlichen Tötungsdelikts besonders groß ist, trotz der starken privaten und familiären Bindungen im Bundesgebiet nicht zu beanstanden. Bei einer so gravierenden Straftat und daraus ableitbarer hoher Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ist die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auch gegen eine langjährig in Österreich befindliche EWR-Bürgerin, deren Eltern und Schwester österreichische Staatsbürger sind, zulässig. Das Aufenthaltsverbot ist aber statt auf § 67 Abs 1 und 2 FPG (wie im Spruch des angefochtenen Bescheids offenbar irrtümlich angegeben) richtig auf § 67 Abs 1 und 3 FPG zu stützen. Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheids ist mit dieser Maßgabe zu bestätigen.
Zu den Spruchpunkten II. und III. des angefochtenen Bescheids:
Gemäß § 70 Abs 3 FPG ist EWR-Bürgern bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbots von Amts wegen ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat zu erteilen, es sei denn, die sofortige Ausreise wäre im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich. Gemäß § 18 Abs 3 BFA-VG kann die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen ein Aufenthaltsverbot aberkannt werden, wenn die sofortige Ausreise oder die sofortige Durchsetzbarkeit im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich ist.
Gemäß § 18 Abs 5 BFA-VG hat das BVwG einer Beschwerde, der die aufschiebende Wirkung aberkannt wurde, diese binnen einer Woche ab Vorlage der Beschwerde von Amts wegen zuzuerkennen, wenn anzunehmen ist, dass eine Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des oder der Fremden in den Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur EMRK bedeuten würde oder für ihn oder sie als Zivilperson eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. In der Beschwerde gegen den in der Hauptsache ergangenen Bescheid sind die Gründe, auf die sich die Behauptung des Vorliegens einer realen Gefahr oder einer ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit stützt, genau zu bezeichnen.
Hier sind weder die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung noch die Nichterteilung eines Durchsetzungsaufschubs korrekturbedürftig. Aufgrund der von der BF begangenen Gewalttat und des unmittelbar anschließenden mehrjährigen Freiheitsentzugs ist ihre sofortige Ausreise nach dem Eintritt der Durchsetzbarkeit des Aufenthaltsverbots (trotz der generell statistisch geringen Wiederholungsgefahr bei Tötungsdelikten) aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit jedenfalls notwendig. Dies führt auch dazu, dass ihr kein Durchsetzungsaufschub zu erteilen ist, zumal sie die Vorbereitungen für ihre Ausreise auch schon während des Strafvollzugs (insbesondere im Rahmen des Entlassungsvollzugs iSd §§ 144 ff StVG und von Ausgängen gemäß § 147 StVG) treffen und organisieren kann. Auch die Beschwerde gegen die Spruchpunkte II. und III. des angefochtenen Bescheids ist somit abzuweisen.
Da der relevante Sachverhalt aus der Aktenlage und dem Beschwerdevorbringen geklärt erscheint und auch bei einem positiven Eindruck von der BF bei einer mündlichen Verhandlung keine Befristung oder gar ein Entfall des Aufenthaltsverbots möglich wäre, unterbleibt die beantragte Beschwerdeverhandlung gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG. Von deren Durchführung ist keine weitere Klärung der Angelegenheit zu erwarten, zumal das BVwG ohnedies von den Behauptungen der BF zu ihren familiären und privaten Anknüpfungen im Inland ausgeht, sodass kein klärungsbedürftiges Tatsachenvorbringen erstattet wurde.
Zu Spruchteil B):
Die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose, die Interessenabwägung gemäß § 9 BFA-VG und die Bemessung der Dauer eines Aufenthaltsverbots sind im Allgemeinen nicht revisibel (siehe VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0284, 01.03.2018, Ra 2018/19/0014 und 10.07.2019, Ra 2019/19/0186). Die Revision ist nicht zuzulassen, weil sich das BVwG dabei an höchstgerichtlicher Rechtsprechung orientieren konnte und keine darüber hinausgehende grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG zu lösen war.
Schlagworte
Aufenthaltsverbot, Haft, Interessenabwägung, öffentliche Interessen,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2020:G314.2227013.1.00Zuletzt aktualisiert am
13.03.2020