Entscheidungsdatum
29.01.2020Norm
AsylG 2005 §5Spruch
W239 2227005-1/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Theresa BAUMANN als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.12.2019, Zl. XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die Beschwerdeführerin, eine irakische Staatsangehörige, stellte im österreichischen Bundesgebiet am 15.10.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Zu ihrer Person liegt kein EURODAC-Treffer vor. Laut VIS-Abfrage verfügte die Beschwerdeführerin über ein von 14.08.2019 bis 12.09.2019 gültiges Schengen-Visum Typ C, ausgestellt am 06.08.2019 von der deutschen Vertretungsbehörde in Erbil/Irak (Autonome Region Kurdistan). Der VIS-Abfrage lässt sich auch entnehmen, dass sie zuvor am 09.10.2018 bei der polnischen Vertretungsbehörde in Erbil um ein Visum angesucht hatte, welches ihr verweigert wurde.
Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag (15.10.2019) erklärte die Beschwerdeführerin, sie könne der Einvernahme ohne Probleme folgen. Sie stamme aus Erbil, gehöre zur Volksgruppe der Kurden, bekenne sich zum Islam, ihre Muttersprache sei Sorani (Südkurdisch) und sie sei ledig. Zu ihren Angehörigen führte sie aus, die ganze Familie - bestehend aus den Eltern, sieben Schwestern und zwei Brüdern - sei in Erbil wohnhaft. Die Beschwerdeführerin habe den Entschluss zur Ausreise vor ein paar Jahren gefasst; das Ziel sei Österreich gewesen, weil ihr Freund hier sei.
Zur Reiseroute führte die Beschwerdeführerin an, sie sei am 01.10.2019 vom Wohnort abgereist und mit dem Flugzeug von Erbil nach Istanbul/Türkei geflogen. Sie habe einen gültigen Reisepass besessen, den ihr der Schlepper in der Türkei abgenommen habe. Sämtliche weitere Grenzübertritte seien illegal erfolgt. Zu den durchgereisten EU-Ländern machte die Beschwerdeführerin ebenso wenig Angaben wie zur Frage, ob ihr jemals in einem anderen Land ein Visum oder ein Aufenthaltstitel ausgestellt worden sei. Die Schleppung habe 10.000,-- USD Dollar gekostet. Eine Freundin sei ihre Kontaktperson gewesen und habe alles organisiert.
Als Fluchtgrund brachte die Beschwerdeführerin vor, ihre Eltern hätten sie umbringen wollen, weil sie nicht heiraten habe wollen.
In der Folge richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 23.10.2019 ein auf Art. 12 Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin-III-VO) gestütztes Aufnahmeersuchen an Deutschland, verwies dabei auf das Ergebnis der VIS-Abfrage und gab auch die Angaben der Beschwerdeführerin aus der Erstbefragung wieder.
Die deutsche Dublin-Behörde lehnte die Übernahme der Beschwerdeführerin mit Schreiben vom 06.11.2019 ab und berief sich darauf, dass Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO darauf abstelle, ob das Visum tatsächlich die Einreise in das Gebiet der Mitgliedstaaten ermöglicht habe. Im vorliegenden Fall sei das Visum am 12.09.20019 abgelaufen; die Ersteinreise in die Mitgliedstaaten sei zwischen dem 02.10.2019 und dem 07.10.2019 erfolgt.
Mit Schreiben vom selben Tag (06.11.2019) verfasste das BFA dagegen eine Remonstration gemäß Art. 5 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zur Dublin-III-VO (DVO). Begründend führte das BFA zusammengefasst aus, dass die Angaben der Beschwerdeführerin zu ihren Reisebewegungen nicht glaubhaft seien, da sie nachweislich im Besitz des von Deutschland ausgestellten Visums gewesen sei. Abgesehen von den eigenen Angaben der Beschwerdeführerin würden keine Hinweise darauf vorliegen, dass sie tatsächlich erst nach Ablauf des Visums ihren Herkunftsstaat verlassen habe und die Reisebewegungen ab der Türkei illegal fortgesetzt habe. Weitaus naheliegender sei es, dass sie das deutsche Visum, in dessen Besitz sie gewesen sei, auch tatsächlich verwendet habe und rechtmäßig in den Schengen-Raum eingereist sei. Insofern seien die eigenen Angaben der Beschwerdeführerin, erst am 01.10.2019 ihren Herkunftsstaat verlassen zu haben, obwohl sie unmittelbar davor - nämlich im Zeitraum von 14.08.2019 bis 12.09.2019 - jederzeit legal und unkompliziert mit ihrem Visum ausreisen hätte können, für das BFA völlig unglaubwürdig. Weiters habe die Beschwerdeführerin in der Erstbefragung am 15.10.2019 auch keine Begründung dafür angegeben, weshalb sie ihren Herkunftsstaat angeblich erst nach Ablauf des Visums verlassen habe. Diesbezüglich habe sie überhaupt keine Angaben auf die Frage, ob sie bereits in einem anderen Land ein Visum oder einen Aufenthaltstitel erhalten habe, gemacht.
Mit Schreiben vom 11.11.2019 lehnte die deutsche Dublin-Behörde die Übernahme der Beschwerdeführerin abermals ab. Daraufhin ersuchte das BFA per E-Mail vom 19.11.2019 um erneute Überprüfung des Sachverhaltes und es stimmte die deutsche Dublin-Behörde mit Schreiben vom 20.11.2019 letztlich ausdrücklich gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO zu.
Nach durchgeführter Rechtsberatung fand am 26.11.2019 im Beisein einer Rechtsberaterin eine niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem BFA statt. Dabei gab die Beschwerdeführerin zu Beginn an, sich körperlich und geistig dazu in der Lage zu sehen, Angaben zu ihrem Asylverfahren zu machen. Sie habe zwar etwas Halsschmerzen und eine leichte Erkältung, ansonsten sei sie aber gesund und nehme keine Medikamente ein. Sie sei nicht schwanger.
Über Nachfrage erklärte die Beschwerdeführerin, die Angaben, die sie bei der Erstbefragung zu ihrer Person gemacht habe, seien richtig. Sie nannte erneut Namen, Geburtsdatum, Geburtsort, Staatsangehörigkeit und Muttersprache, gab diesmal aber an, verheiratet zu sein. Nachgefragt nannte die Beschwerdeführerin den Namen und den Wohnort des Mannes und erklärte, sie hätten geheiratet, nachdem sie nach Österreich gekommen sei. Sie sei seit etwa einem Monat hier und keine Jungfrau mehr. Ihr Mann frage gerade bei den Behörden, wie eine Eheschließung funktionieren könne. Er erkundige sich beim Standesamt. Sie hätten vor drei Jahren nach islamischem Ritus am Telefon geheiratet. Es gebe dazu keine schriftlichen Unterlagen. Zur Frage, wie das Eheleben in diesen drei Jahren ausgesehen habe, schilderte die Beschwerdeführerin, dass sie nur telefonischen Kontakt gehabt hätten. Ihr Mann dürfe nicht in den Irak. Er habe sie eigentlich schon früher heiraten wollen, aber ihre Familie sei dagegen gewesen. Sie sei wegen ihm nach Österreich gekommen. Befragt, ob sie ihren Mann aus dem Irak kenne, gab sie an, sie kenne ihn bereits seit 2004; er sei seit 2007 in Österreich. Sie glaube, dass er subsidiären Schutz habe, da er das immer wieder verlängern müsse. Zur Frage, wie sie Kontakt gehalten hätten, antwortete die Beschwerdeführerin, dass sie von 2007 bis 2010 gar keinen Kontakt gehabt hätten. Ab 2010 seien sie in telefonischem Kontakt gestanden. Sie hätten seither regelmäßig telefoniert und über Videochat kommuniziert. Er habe auf sie gewartet und nicht geheiratet.
Die Beschwerdeführerin habe keine Dokumente, die ihre Identität bestätigen würden. Sie habe einen Personalausweis, aber der sei bei ihren Eltern im Irak. Sie sei unter Stress geflohen und die Unterlagen seien daher dortgeblieben. Der Reisepass sei beim Schlepper, der ihn ihr nicht mehr zurückgegeben habe.
Befragt, ob sie in Österreich oder dem Bereich der EU Verwandte habe, erklärte die Beschwerdeführerin, nein, sie habe nur ihren Mann, den sie zuletzt vor drei Tagen gesehen habe; er habe sie im Camp besucht. Weitere Verwandte gebe es in Europa nicht; sie erhalte auch keine Unterstützung von Dritten.
Nachgefragt erklärte die Beschwerdeführerin, die Angaben, die sie in der Erstbefragung zum Reiseweg gemacht habe, seien richtig. Befragt, wie sie zu dem von Deutschland ausgestellten Visum gekommen sei, antwortete die Beschwerdeführerin: "Ich habe kein Visum, ich kam illegal hierher. Ich versuchte ein paar Mal, ein Visum zu erlangen, ich ging zur österreichischen, französischen und deutschen Botschaft. Die Anträge wurden abgelehnt." Vorgehalten, dass auch ein Visumsantrag an die polnische Behörde vorliege, gestand sie ein, dass sie das vergessen habe. Sie habe es, wie gesagt, öfters versucht, ein Visum zu erlangen. Weiter vorgehalten, dass ihr die deutsche Behörde am 06.08.2019 ein Visum erteilt habe, gab sie an, sie sei zwar auf dem Foto, sie habe das Visum aber nicht für ihre Einreise verwendet. Vorgehalten, wofür sie das Visum dann verwendet habe, erklärte sie, sie habe zu ihrem Mann kommen wollen. Die Familie habe das Visum aber entdeckt und das Visum sei daher ungenutzt abgelaufen. Vorgehalten, dass das unglaubwürdig sei, und nachgefragt, ob sie irgendwie belegen könne, dass sie das Visum nie genutzt habe, verneinte die Beschwerdeführerin das. Sie könne ihren Pass nicht vorlegen. Den Pass und das Handy habe der Schlepper ihr abgenommen. Sie wolle den Pass ja selber gerne haben.
Zur Frage, wann und wie sie in die Mitgliedstaaten eingereist sei, wiederholte die Beschwerdeführerin, dass sie den Irak am 01.10.2019 verlassen habe und in die Türkei geflogen sei. Von dort sei sie mit verschiedenen Pkws und Lkws nach Europa gelangt und am 06.10.2019 in Österreich angekommen. Nachgefragt, was sie auf der Reise beobachtet habe, meinte die Beschwerdeführerin, sie habe öfters gefragt, wo sie gerade seien, aber man habe ihr keine Antwort gegeben. Vorgehalten, dass sie als Lehrerin eine gewisse Bildung aufweise und daher ihre Wahrnehmungen zur Reise schildern können müsste, entgegnete die Beschwerdeführerin, sie habe Straßenschilder gesehen und auch gelesen, habe aber alles wieder vergessen und könne gar nichts dazu sagen. Sie sei noch nie in Deutschland gewesen, habe dort keinen Asylantrag gestellt und könne auch nichts zu einem Aufenthalt dort angeben, weil sie eben nie in Deutschland gewesen sei. Ihr Ziel sei Österreich gewesen, wegen ihrem Mann, und nur hier habe sie einen Antrag gestellt.
Der geplanten Vorgehensweise, sie aufgrund der vorliegenden Zustimmungen Deutschlands dorthin außer Landes zu bringen, hielt die Beschwerdeführerin entgegen, dass sie wegen ihrem Mann nach Österreich gekommen sei. In Deutschland sei ihr Leben in Gefahr, weil entfernte Verwandte ihres Vaters dort leben würden. Sie habe Angst, alleine in einem Camp in Deutschland zu leben. Sie wolle gerne nahe bei ihrem Mann bleiben und habe Angst vor anderen Irakern, weil sie glaube, dass ihr Vater sie geschickt habe. Nachgefragt, ob es konkrete Hinweise für diese Befürchtung gebe, verneinte die Beschwerdeführerin das; sie habe keine Beweise, ihre Familie werde sie im Irak töten. Es sei ihr bekannt, dass sie sich in Deutschland genauso wie auch in Österreich an die Behörden wenden könne, wenn sie bedroht werde, aber sie wolle lieber bei ihrem Mann bleiben. In Deutschland habe sie Angst vor ihrer Familie. Vorgehalten, dass sie zu Beginn angegeben habe, in Europa keine Angehörigen zu haben, entgegnete die Beschwerdeführerin, sie habe gemeint, dass es keine direkten Verwandten gebe. Der Bruder ihres Vaters sei aber in Europa; wo genau, wisse sie nicht.
Von der Möglichkeit, zu den Länderberichten zu Deutschland eine Stellungnahme abzugeben, machte sie Beschwerdeführerin keinen Gebrauch. Deutschland interessiere sie nicht. Sie sei wegen ihrem Mann da und sie sei keine Jungfrau mehr. Sie wolle gerne bei ihrem Mann leben und habe auch hier im Camp Angst. Der Beschwerdeführerin wurde daraufhin noch einmal informiert, dass sie sich im Falle konkreter Bedrohungen jederzeit an Mitarbeiter der Unterkunft bzw. an die Polizei wenden könne; dies gelte in Österreich genauso wie in Deutschland.
Abschließend beantragte die anwesende Rechtsberaterin die Zulassung des Verfahrens in Österreich (Selbsteintritt), da die Beschwerdeführerin ihren Angaben nach erst nach Ablauf des Visums in Europa eingereist sei und sich zudem ihr Ehemann in Österreich aufhalte.
Am 29.11.2019 wurden dem BFA zwei handschriftlich verfasste Schreiben vorgelegt; eines wurde von der Beschwerdeführerin verfasst und eines von ihrem Lebensgefährten.
Der Übersetzung des Schreibens des Lebensgefährten der Beschwerdeführerin lässt sich zusammengefasst entnehmen, dass die Beschwerdeführerin am Anfang Angst gehabt habe und daher gesagt habe, dass sie keine Dokumente besitze. Vorgelegt würden nun aber schriftliche Beweise zum Umstand, dass sie verheiratet seien. Er kenne die Beschwerdeführerin seit 14 Jahren, sie sei sein "ein und alles", er könne ohne sie nicht leben und er befürchte, dass sie getötet werde, wenn man sie von ihm trenne. Er wolle mit ihr leben und sie beschützen, weil sie in Gefahr sei. Es sei nicht richtig, dass sie mit einem deutschen Visum eingereist sei. Sie sei über die Türkeiroute nach Österreich gekommen. Er bitte, die Lebenssituation der Beschwerdeführerin als Frau zu berücksichtigen. Ihm sei bekannt, dass Frauen in Österreich geschützt würden. Es gebe hier demokratische Gesetze und die Bürger könnten unter Beachtung der Menschenrechte frei leben.
Der Übersetzung des Schreibens der Beschwerdeführerin lässt sich zusammengefasst entnehmen, dass sie sich nicht getraut habe, zu sagen, dass sie Heiratspapiere habe, da sie Angst vor dem Dolmetscher gehabt habe. Ihre Ehe sei geheim und keiner wisse etwas davon, außer dem Bruder des Mannes. Sie habe große Angst, dass sie jemand finden und verraten könnte; keiner könne sie beschützen, außer ihr Mann. Sie sei nicht mit dem deutschen Visum eingereist. Als sie das Visum erhalten habe, habe ihr der Vater den Reisepass weggenommen und ihn ihr erst wiedergegeben, als das Visum bereits abgelaufen gewesen sei. Sie sei illegal über die Türkeiroute nach Österreich gekommen. Sollte man sie nach Deutschland oder in den Irak zurückschieben, werde sie ermordet, weil sie auch in Deutschland Verwandte habe. Sie sei nur hier bei ihrem Mann in Sicherheit.
Vorgelegt im Original und als Kopie zum Akt genommen wurden der nationale irakische und der internationale irakische Führerschein der Beschwerdeführerin, außerdem die Kopie eines ein Ausweises der "Kurdistan Teachers Union" und die Kopie einer Heiratsurkunde vom 08.08.2018 samt beglaubigter Übersetzung ins Deutsche. Dieser ist zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin und der von ihr im Verfahren genannte Lebensgefährte am 08.08.2018 vor einem Richter des Personenstandsgerichts in Erbil erschienen seien und eine Ehe geschlossen hätten.
Des Weiteren wurden ein Arztbrief vom 22.10.2019 und ein Röntgenbefund vom 13.11.2019 vorgelegt. Die medizinischen Unterlagen lassen auf keinerlei schwerwiegende Erkrankung der Beschwerdeführerin schließen.
Am selben Tag (29.11.2019) verzichtete die Beschwerdeführerin freiwillig auf die Grundversorgung und verzog zu ihrem Lebensgefährten, wo sie seit 02.12.2019 mit Hauptwohnsitz gemeldet ist.
2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 10.12.2019 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO Deutschland für die Prüfung des Antrages zuständig sei (Spruchpunkt I.). Gleichzeitig wurde gegen die Beschwerdeführerin gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge eine Abschiebung nach Deutschland gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).
Zur Lage in Deutschland traf das BFA folgende Feststellungen (unkorrigiert und gekürzt):
Allgemeines zum Asylverfahren
In Deutschland existiert ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten (AIDA 3.2018; vgl. BAMF o.D.a, BAMF o.D.b, BR o.D., UNHCR o.D.a, für ausführliche Informationen siehe dieselben Quellen). Im Jahr 2017 hat das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 603.428 Asylanträge entschieden. Das ist ein Rückgang gegenüber 2016 (695.733 Entscheidungen). 2017 wurden 222.683 Asylanträge entgegengenommen,
522.862 weniger als im Vorjahr. Insgesamt 123.909 Personen erhielten 2017 internationalen Schutz (20,5% der Antragsteller), 98.074 Personen (16,3%) erhielten subsidiären Schutz und 39.659 Personen (6,6%) Abschiebeschutz (BAMF 4.2018).
Verschiedene Berichte äußerten sich besorgt über die Qualität des Asylverfahrens. Ein hoher Prozentsatz der Asylentscheidungen war einer internen Untersuchung zufolge "unplausibel". Berichten zufolge waren viele Entscheidungsträger, die 2015 und 2016 beim BAMF eingestellt wurden, seit mehr als einem Jahr im Einsatz, ohne das interne Ausbildungsprogramm zu absolvieren. Bei den Dolmetschern wurden die unprofessionelle Haltung und fehlende Objektivität bemängelt. Weiters hat eine große Zahl von Asylwerbern eine Beschwerde gegen ihren Asylbescheid eingelegt, was zu einem Verfahrensstau bei den Gerichten geführt hat (AIDA 3.2018; vgl. USDOS 20.4.2018).
Quellen:
-
AIDA - Asylum Information Database (3.2018): Country Report:
Germany,
http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_de_2017update.pdf, Zugriff 12.6.2018
-
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (o.D.a): Ablauf des Asylverfahrens,
https://www.bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/AblaufAsylv/ablauf-des-asylverfahrens-node.html, Zugriff 12.6.2018
-
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (o.D.b): Ablauf des deutschen Asylverfahrens - Broschüre, https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/das-deutsche-asylverfahren.html?nn=6077414, Zugriff 12.6.2018
-
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (4.2018): Aktuelle Zahlen zu Asyl,
https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/aktuelle-zahlen-zu-asyl-april-2018.pdf?__blob=publicationFile, Zugriff 12.6.2018
-
BR - Bundesregierung (o.D.): Flucht und Asyl: Fakten und Hintergründe,
https://www.bundesregierung.de/Webs/Breg/DE/Themen/Fluechtlings-Asylpolitik/4-FAQ/_function/glossar_catalog.html?nn=1419512&lv2=1659082&id=GlossarEntry1659098, Zugriff 12.6.2018
-
UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (o.D.a): Asyl und anderer Schutz,
http://www.unhcr.org/dach/de/was-wir-tun/asyl-in-deutschland/asyl-und-anderer-schutz, Zugriff 12.6.2018
-
USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Germany, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430259.html, Zugriff 12.6.2018
Dublin-Rückkehrer
Es gibt keine Berichte, dass Dublin-Rückkehrer in Deutschland Schwierigkeiten beim Zugang zum Asylverfahren hätten (AIDA 3.2018).
In "take charge"-Fällen kann der Rückkehrer einen Erstantrag stellen. Im Falle eines "take back"-Verfahrens können Dublin-Rückkehrer, die bereits eine negative Entscheidung erhalten haben, einen Folgeantrag stellen. Bei Dublin-Rückkehrern, die bereits einen Asylantrag in Deutschland gestellt haben, der noch nicht entschieden wurde, wird das Verfahren fortgesetzt. Für Dublin-Rückkehrer gelten die gleichen Aufnahmebedingungen wie für andere Asylwerber (EASO 24.10.2017).
Quellen:
-
AIDA - Asylum Information Database (3.2018): Country Report:
Germany,
http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_de_2017update.pdf, Zugriff 12.6.2018
-
EASO - European Asylum Support Office (24.10.2017): EASO Query.
Subject: Access to Procedures and Reception Conditions for persons transferred back from another Member State of the Dublin regulation, per E-Mail
Non-Refoulement
Wenn die drei Schutzformen - Asylberechtigung, Flüchtlingsschutz, subsidiärer Schutz - nicht greifen, kann bei Vorliegen bestimmter Gründe ein Abschiebungsverbot erteilt werden (BAMF 1.8.2016b). Wenn ein Abschiebungsverbot festgestellt wird, erhält die betroffene Person eine Aufenthaltserlaubnis von mindestens einem Jahr; eine Verlängerung ist möglich (UNHCR o.D.a).
Amnesty International sieht Asylwerber aus Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina, Kosovo, Albanien und Montenegro von einem erhöhten Refoulement-Risiko bedroht, da diese Länder als sichere Herkunftsstaaten eingestuft wurden (AI 31.12.2017). AI kritisiert auch die fortgesetzten Abschiebungen nach Afghanistan, trotz der sich verschlechternden Sicherheitslage vor Ort. Bis Ende des Jahres wurden 121 afghanische Staatsangehörige abgeschoben (AI 22.2.2018).
Quellen:
-
AI - Amensty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Germany, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425035.html, Zugriff 12.6.2018
-
AI - Amnesty International (31.12.2017): Germany: Human rights guarantees undermined: Amnesty International submission for the UN Universal Periodic Review - 30th session of the UPR Working Group, May 2018 [EUR 23/7375/2017],
https://www.ecoi.net/en/file/local/1422247/1226_1516189882_eur2373752017english.pdf, Zugriff 12.6.2018
-
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (1.8.2016b): Nationales Abschiebungsverbot,
https://www.bamf.de/DE/Fluechtlingsschutz/AblaufAsylv/Schutzformen/AbschiebungsV/abschiebungsverbot-node.html, Zugriff 12.6.2018
-
UNHCR - UN High Commissioner for Refugees (o.D.a): Asyl und anderer Schutz,
http://www.unhcr.org/dach/de/was-wir-tun/asyl-in-deutschland/asyl-und-anderer-schutz, Zugriff 12.6.2018
Versorgung
Das Asylbewerberleistungsgesetz regelt die Leistungen, die Asylwerbern zustehen. Die Leistungen umfassen die Grundleistungen des notwendigen Bedarfs (Ernährung, Unterkunft, Heizung, Kleidung, Gesundheits- und Körperpflege, Gebrauchs- und Verbrauchsgüter im Haushalt), Leistungen zur Deckung persönlicher Bedürfnisse im Alltag (Bargeld bzw. Taschengeld), Leistungen bei Krankheit, Schwangerschaft und Geburt. Bei besonderen Umständen können auch weitere Leistungen beantragt werden, die vom Einzelfall abhängen (AIDA 3.2018; vgl. BAMF 1.8.2016b). Die empfangenen Leistungen liegen dabei unterhalb der finanziellen Unterstützung, die deutsche Staatsangehörige beziehen. Bei einer Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen werden die Grundleistungen als Sachleistungen bereit gestellt. Hiervon kann - soweit nötig - abgewichen werden, wenn Asylwerber nicht in Aufnahmeeinrichtungen, sondern in Anschlusseinrichtungen (z.B. Gemeinschaftsunterkunft oder dezentrale Unterbringung, wie Wohnung oder Wohngruppen) untergebracht sind. So können Asylwerber statt Sachleistungen Leistungen in Form von unbaren Abrechnungen, Wertgutscheinen oder in Geldleistungen erhalten. Werden alle notwendigen persönlichen Bedarfe durch Geldleistungen gedeckt, werden die folgenden Beträge monatlich ausbezahlt
(...)
Asylsuchende werden schon während der Bearbeitung ihres Antrags über die Teilnahme an Integrationskursen des Bundesamtes am jeweiligen Wohnort informiert. Sie erhalten ebenfalls eine Beratung zum möglichen Arbeitsmarktzugang durch die örtliche Bundesagentur für Arbeit (BAMF 24.10.2017). Während der ersten drei Monate des Asylverfahrens gilt jedoch ein Beschäftigungsverbot für Asylwerber. Dieses Beschäftigungsverbot besteht fort, solange die betroffene Person verpflichtet ist, in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu wohnen. Für die Aufnahme einer konkreten Tätigkeit wird eine Beschäftigungserlaubnis benötigt, die bei der Ausländerbehörde beantragt werden kann. Die Ausländerbehörde muss hierfür zusätzlich die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit einholen. Die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit ist während des gesamten Asylverfahrens untersagt (UNHCR o.D.b).
Unterbringung
In Deutschland gibt es grundsätzlich drei verschiedene Arten der Unterbringung: Erstaufnahmezentren, Gemeinschaftsunterkünfte und dezentralisierte Unterbringung in Wohnungen. Der Betrieb dieser Einrichtungen ist Ländersache. 2015 und 2016 waren Notunterkünfte im Betrieb, die bis auf wenige Ausnahmen weitgehend geschlossen wurden. Darüber hinaus wurden besondere Aufnahmeeinrichtungen (in denen Personen untergebracht werden können, deren Asylverfahren beschleunigt bearbeitet werden) und Transitzentren (in denen Asylwerber mit geringer Bleibeperspektive untergebracht werden) eingerichtet (AIDA 3.2018; vgl. BSASFI 29.6.2017).
Asylwerber werden in der Regel zunächst in einer Erstaufnahmeunterkunft untergebracht. Nach einer Gesetzesreform vom Juli 2017 wurde die maximale Aufenthaltsdauer in der Erstaufnahmeeinrichtung von sechs auf 24 Monate erhöht. Diese Regelung wurde jedoch bis Ende 2017 nur in Bayern umgesetzt. Wenn die Pflicht zum Aufenthalt im Erstaufnahmezentrum endet, kommen Asylwerber normalerweise in Gemeinschaftsunterkünften unter, wobei es sich um Unterbringungszentren im selben Bundesland handelt. Asylwerber müssen während des gesamten Asylverfahrens in der Gemeinde aufhältig sein, die von der Behörde festgelegt wurde. Die Verantwortung für diese Art der Unterbringung wurde von den Bundesländern oftmals den Gemeinden und von diesen wiederum auf NGOs oder Privatunternehmen übertragen. Manche Gemeinden bevorzugen dezentralisierte Unterbringung in Wohnungen (AIDA 3.2018; vgl. BAMF 10.2016). Von Flüchtlingsorganisationen und NGOs werden die Lebensbedingungen in den Gemeinschaftsunterkünften häufig kritisiert (AIDA 3.2018).
Deutschland verfügt mittlerweile bundesweit über 24 Ankunftszentren. Dort werden viele, bis dahin auf mehrere Stationen verteilte Schritte im Asylverfahren gebündelt. Nach Möglichkeit findet das gesamte Asylverfahren unter dem Dach des Ankunftszentrums statt - von der ärztlichen Untersuchung, über die Aufnahme der persönlichen Daten und der Identitätsprüfung, der Antragsstellung und Anhörung bis hin zur Entscheidung über den Asylantrag. Bei Menschen mit sehr guter Bleibeperspektive sowie Antragsstellenden aus sicheren Herkunftsländern mit eher geringen Bleibeaussichten kann in der Regel vor Ort innerhalb von 48 Stunden angehört und über den Asylantrag entschieden werden (BAMF o.D.c).
Quellen:
-
AIDA - Asylum Information Database (3.2018): Country Report:
Germany,
http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_de_2017update.pdf, Zugriff 12.6.2018
-
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (10.2016): Ablauf des deutschen Asylverfahrens,
http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Publikationen/Broschueren/das-deutsche-asylverfahren.pdf?__blob=publicationFile, Zugriff 12.6.2018
-
BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (o.D.c):
Ankunftszentren,
https://www.bamf.de/DE/DasBAMF/Aufbau/Standorte/Ankunftszentren/ankunftszentren-node.html, Zugriff 12.6.2018
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BSASFI - Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration (29.6.2017): Schriftliche Anfrage einer Abgeordneten betreffend "Ankunftszentren und Transitzentren, https://www.fluechtlingsrat-bayern.de/tl_files/PDF-Dokumente/Anfrage%20Ausbau%20der%20Ankunfts-%20und%20Transitzentren.pdf, Zugriff 12.6.2018
Medizinische Versorgung
Asylwerber sind grundsätzlich nicht gesetzlich krankenversichert, sondern haben im Krankheitsfall Ansprüche nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. In Abhängigkeit von Aufenthaltsdauer und -status definiert das Gesetz unterschiedliche Leistungsniveaus (GKV o.D.).
Die Gesetze sehen medizinische Versorgung für Asylwerber in Fällen akuter Erkrankung oder Schmerzen vor, welche Behandlung (auch Zahnbehandlung), Medikation etc. umfasst. Sonstige, darüber hinausgehende Leistungen liegen im Ermessen der Sozialbehörden und können gewährt werden, wenn sie im Einzelfall zur Sicherung des Lebensunterhalts oder der Gesundheit unerlässlich sind. Schwangere und Wöchnerinnen sind eigens im Gesetz erwähnt. Unabdingbare medizinische Behandlung steht auch Personen zu, die - aus welchen Gründen auch immer - kein Recht auf Sozialunterstützung mehr haben. Deutsche Gerichte haben sich in verschiedenen Fällen der Sichtweise angeschlossen, dass von diesen Bestimmungen auch chronische Erkrankungen abgedeckt werden, da auch diese Schmerzen verursachen können. Berichten zufolge werden jedoch notwendige, aber kostspielige diagnostische Maßnahmen oder Therapien von den lokalen Behörden nicht immer bewilligt (AIDA 3.2018; vgl. DIM 3.2018, GKV o. D.).
Je nach Bundesland erhalten Asylwerber eine Gesundheitskarte oder Krankenscheine vom Sozialamt; darüber können die Bundesländer autonom entscheiden (BMG 2.2016; vgl. BMdI 29.9.2015). Krankenscheine bekommen Asylwerber beim medizinischen Personal der Erstaufnahmeeinrichtung oder später auf dem zuständigen Sozialamt. Bei letzteren wird von Problemen aufgrund von Inkompetenz des Personals berichtet (AIDA 3.2018). Die elektronische Gesundheitskarte ersetzt den Behandlungsschein und damit können Asylwerber den Arzt direkt aufsuchen, ohne vorher eine Bescheinigung von den staatlichen Stellen (z.B. Sozialamt) einzuholen (BMG 6.2016).
Die medizinische Versorgung von Asylwerbern ist zwischen den verschiedenen Kommunen und Bundesländern unterschiedlich organisiert. Während in manchen Ländern fast alle Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung für Antragsteller zur Verfügung stehen, muss in anderen Ländern vor vielen Untersuchungen beim Amt um Kostenübernahme angefragt werden. In dringenden Notfällen dürfen Ärzte immer behandeln, unabhängig von den Papieren. Meistens aber müssen Asylsuchende ins zuständige Sozialamt, bevor sie einen Arzt aufsuchen dürfen. Dort erhalten sie einen Behandlungsschein, mit dessen Hilfe Ärzte ihre Kosten abrechnen können. Hinzu kommt, dass der Behandlungsschein in manchen Kommunen nur für den Hausarzt gültig ist. Wollen die Betroffenen zum Facharzt, müssen sie vor jeder Überweisung die Zustimmung des Amts einholen. In manchen Ländern erhalten Asylwerber eine elektronische Gesundheitskarte einer Krankenkasse, mit der sie direkt zum Arzt gehen können. Die Krankenkasse organisiert nur die medizinische Versorgung der Antragsteller, die Kosten tragen trotzdem die Behörden. Wenn Asylwerber länger als 15 Monate in Deutschland sind, können sie sich eine gesetzliche Krankenversicherung aussuchen, die Behörden bezahlen die Beiträge. Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. freiwillige Zusatzleistungen der Krankenkassen) werden sie dann behandelt wie alle gesetzlich Versicherten. Erst wenn die Antragsteller eine Arbeit finden und selbst einzahlen, klinkt sich der Staat aus ihrer medizinischen Versorgung aus (SO 22.3.2016; vgl. BMG 6.2016, AIDA 3.2018).
Es wurde jedoch kritisiert, dass auch Asylwerber, die eine Gesundheitskarte besitzen, immer noch nur Zugang zu einer Notfallbehandlung hätten. Einige Gemeinden und private Gruppen sorgten für eine zusätzliche Gesundheitsversorgung (USDOS 20.4.2018).
Quellen:
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AIDA - Asylum Information Database (3.2018): Country Report:
Germany,
http://www.asylumineurope.org/sites/default/files/report-download/aida_de_2017update.pdf, Zugriff 12.6.2018
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BMdI - Bundesministerium des Innern (29.9.2015): Änderung und Beschleunigung von Asylverfahren beschlossen, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2015/09/kabinett-beschliesst-asylverfahrensbeschleunigungsgesetz.html, Zugriff 12.6.2018
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BMG - Bundesministerium für Gesundheit (6.10.2015): Verbesserung der medizinischen Versorgung von Flüchtlingen, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/ministerium/meldungen/2015/bund-laender-vereinbarungen/?L=0, Zugriff 12.6.2018
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BMG - Bundesministerium für Gesundheit (6.2016): Ratgeber Gesundheit für Asylwerber in Deutschland, http://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Gesundheit/Broschueren/Ratgeber_Asylsuchende_DE_web.pdf, Zugriff 12.6.2018
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DIM - Das Deutsche Institut für Menschenrechte (3.2018):
Geflüchtete Menschen mit Behinderung, https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/POSITION/Position_16_Gefluechtete_mit_Behinderungen.pdf, Zugriff 12.6.2018
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SO - Spiegel Online (22.3.2016): So werden Flüchtlinge medizinisch versorgt,
http://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/fluechtlinge-so-laeuft-die-medizinische-versorgung-a-1081702.html, Zugriff 12.6.2018
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USDOS - US Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Germany, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430259.html, Zugriff 12.6.2018
Begründend führte das BFA zusammengefasst aus, dass der Antrag auf internationalen Schutz zurückzuweisen sei, weil gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO Deutschland für die Prüfung des Antrags der Beschwerdeführerin zuständig sei. Die Angaben der Beschwerdeführerin zu ihrem Reiseweg seien aus näher dargelegten Gründen nicht glaubhaft; es werde davon ausgegangen, dass sie bewusst versucht habe, ihr von den deutschen Behörden ausgestelltes Schengen-Visum zu verleugnen. Beweismittel, die ihr Vorbringen untermauern hätten können, habe die Beschwerdeführerin nicht vorgelegt und so werde davon ausgegangen, dass sie unter Verwendung des deutschen Visums in das Hoheitsgebiet eingereist sei.
Ein im besonderen Maße substantiiertes, glaubhaftes Vorbringen betreffend das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, welche die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 EMRK im Falle einer Überstellung des Beschwerdeführers ernstlich für möglich erscheinen ließe, sei im Verfahren insgesamt nicht hervorgekommen. Hinsichtlich Art. 8 EMRK nahm das BFA eine umfassende Güterabwägung der betroffenen Interessen vor und gelangte zu dem Ergebnis, dass die geplante Außerlandesbringung nicht auf unzulässige Weise in das Privat- bzw. Familienleben der Beschwerdeführerin eingreife. Die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 sei nicht erschüttert worden und es habe sich kein Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO ergeben.
3. Gegen den Bescheid des BFA erhob die Beschwerdeführerin durch ihre Vertretung rechtzeitig das Rechtmittel der Beschwerde und stellte gleichzeitig den Antrag, der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Inhaltlich wurde festgehalten, dass die belangte Behörde völlig willkürlich und in antizipierender Beweiswürdigung davon ausgehe, dass die Beschwerdeführerin mit dem ihr von der deutschen Botschaft in Bagdad [richtig: Erbil] ausgestellten Schengen-Visum Typ C in den Schengen-Raum eingereist sei, was jedoch unrichtig sei. Sie habe stets angegeben, dass sie schon seit Längerem versucht habe, mit einem Schengen-Visum nach Österreich einzureisen, um zu ihrem Mann zu kommen. Ihre Eltern seien gegen diese Beziehung gewesen und hätten ihr den Reisepass mit dem darin angebrachten Visum weggenommen. Erst nach Ablauf der Gültigkeitsdauer des Visums habe sie ihren Reisepass in den Sachen ihrer Eltern, die diesen versteckt hätten, wiederfinden können. Sie habe den Irak am 01.10.2019 verlassen und sei über die Türkei kommend am 06.10.2019 nach Österreich gelangt. Dies ergebe sich eindeutig aus ihren eigenen Angaben. Beweismittel, die das Gegenteil ergeben würden, gebe es nicht. Deutschland habe daher zurecht das Aufnahmeersuchen Österreichs zweimal abgelehnt. Hätte die belangte Behörde ein Interesse an der Aufklärung des Sachverhaltes gehabt, hätte sie auch den Mann der Beschwerdeführerin einvernehmen müssen.
Betreffend die Eheschließung wurde in der Beschwerde ausgeführt, die Beschwerdeführerin und ihr Mann hätten am 08.08.2018 im Irak die Ehe geschlossen, wobei sich der Mann durch seinen Bruder vertreten habe lassen und daher nicht persönlich anwesend gewesen sei. Er habe dem Bruder bereits am 09.05.2006 eine allgemeine Vollmacht erteilt, die vor einer Behörde unterschrieben worden sei. Die arabische Vollmachtsurkunde wurde der Beschwerde beigelegt und es wurde dazu angeben, dass man auf den Fotos auf der Urkunde den Mann und seinen Bruder erkennen könne. Im Sommer 2016 hätten die Beschwerdeführerin und ihr Mann telefonisch vereinbart, in der Moschee heiraten zu wollen. Die Beschwerdeführerin, der Bruder des Mannes und Freunde seien in die Moschee in Erbil gegangen und es sei der Mann über das Handy angerufen worden; er habe dem Hodscha [Anm.: einem Geistlichen] gegenüber bestätigt, dass er die Beschwerdeführerin heiraten wolle. Diese Eheschließung habe keine rechtliche Wirkung gehabt. Vor dem 08.08.2019 hätten die Beschwerdeführerin und ihr Mann vereinbart, auch vor Gericht heiraten zu wollen, damit die Ehe rechtlich gültig sei. Der Mann habe den Bruder gebeten, die Beschwerdeführerin vor dem Gericht in Erbil in Ausnützung der Vollmacht in seinem Namen zu heiraten. Während der Amtshandlung sei er angerufen worden und habe am Telefon dem Richter gegenüber bestätigt, die Beschwerdeführerin heiraten zu wollen. Es gehe auch aus der vorgelegten Urkunde hervor, dass der Mann der Beschwerdeführerin nicht vor dem Gericht in Erbil anwesend gewesen sei, da seine Unterschrift fehle; über dem Rundstempel habe sein Bruder unterschrieben. Rechts unten müsste der Bräutigam unterschreiben, doch sei dieses Feld leer. Auch diese Vorgänge hätte der Mann der Beschwerdeführerin bei einer Zeugeneinvernahme bestätigen können. Hätte die belangte Behörde ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt, wäre sie zu dem für die Beschwerdeführerin günstigeren Ergebnis gelangt, dass sie seit 08.08.2018 verheiratet sei und Österreich daher zur Führung des Verfahrens zuständig sei.
Die Beschwerdeführerin habe angegeben, dass ihre Eltern gegen die Beziehung zu ihrem Mann seien und sie dadurch, dass sie zu ihm nach Österreich gereist sei, gegen die Familienehre verstoßen habe. Angehörige des Vaters, die in Deutschland leben würden, könnten sie suchen und im Falle des Auffindens töten. Die irakischen Personen in Deutschland seien untereinander vernetzt. Wenn die Beschwerdeführerin in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft ankomme, werde ihre Anwesenheit nicht unbemerkt bleiben und es werde sie der namentlich genannte Onkel väterlicherseits leicht finden. Die deutsche Polizei könne die Beschwerdeführerin nicht rund um die Uhr schützen. Da die Beschwerdeführerin aufgrund des deutschen Visums eher in Deutschland als in Österreich vermutet werde, sei sie hier sicherer als dort.
Abschließend wurde in der Beschwerde vorgebracht, dass die Beschwerdeführerin ihren Mann kenne, seit sie 18 Jahre alt sei. Sie seien drei Jahre lang ein Paar gewesen, bis er im Jahr 2007 den Iran verlassen habe müssen. Ab 2010 hätten sie wieder telefonischen Kontakt gehabt und ihre Beziehung über Telefon und Videochat aufrechterhalten. Beide hätten nie einen anderen Partner gehabt. Es liege daher ein schützenswertes Familienleben iSd Art. 8 EMRK vor. Der Mann komme zudem für alle Kosten der Beschwerdeführerin auf und sei bereit, auch zukünftig alle Kosten zu übernehmen. Diesbezüglich wurde auf eine der Beschwerde beigefügte eidesstattliche Erklärung verwiesen.
4. Am 30.12.2019 erfolgte die Beschwerdevorlage beim Bundesverwaltungsgericht. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 07.01.2020 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuerkannt. Davon wurde die deutsche Dublin-Behörde seitens des BFA mit Schreiben vom 08.01.2020 in Kenntnis gesetzt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Die Beschwerdeführerin, eine irakische Staatsangehörige, stellte im österreichischen Bundesgebiet am 15.10.2019 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Sie verfügte zum Zeitpunkt der Asylantragstellung am 15.10.2019 über ein seit weniger als sechs Monate zuvor abgelaufenes deutsches Schengen-Visum Typ C (Gültigkeitszeitraum von 14.08.2019 bis 12.09.2019), aufgrund dessen sie in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten einreisen konnte, und sie hat dieses zwischenzeitlich nicht wieder verlassen.
Das BFA richtete am 23.10.2019 ein auf Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO gestütztes Aufnahmeersuchen an Deutschland, welchem die deutsche Dublin-Behörde - nach einem mängelfrei geführten Remonstrationsverfahren - mit Schreiben vom 20.11.2019 letztlich ausdrücklich gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin-III-VO zustimmte.
Das Bundesverwaltungsgericht schließt sich den Feststellungen des angefochtenen Bescheids zur Lage im Mitgliedstaat an.
Besondere, in der Person der Beschwerdeführerin gelegene Gründe, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung in Deutschland sprechen, liegen nicht vor.
Die Beschwerdeführerin leidet an keinen schwerwiegenden Erkrankungen, die einer Überstellung nach Deutschland entgegenstünden.
Die Beschwerdeführerin verfügt in Österreich über ihren Lebensgefährten, dem der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde. Es kann nicht festgestellt werden, dass zwischen den Genannten im Zeitpunkt der Antragstellung am 15.10.2019 eine rechtsgültige Ehe bestand. Seit 05.04.2007 ist der Lebensgefährte durchgehend in Österreich gemeldet, wohingegen sich die Beschwerdeführerin noch in der Heimat aufhielt und daher in den letzten 12 Jahren jedenfalls kein gemeinsamer Wohnsitz bestand. Ein solcher wurde erst nach der Einreise der Beschwerdeführerin in Österreich am 02.12.2019 begründet. Eine besonders berücksichtigungswürdige Abhängigkeit zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Lebensgefährten besteht nicht.
Abgesehen vom Lebensgefährten verfügt die Beschwerdeführerin über keine weiteren nennenswerten Anknüpfungspunkte an Österreich. Besonders intensiv ausgeprägte private, familiäre oder berufliche Bindungen bestehen im österreichischen Bundesgebiet daher nicht.
2. Beweiswürdigung:
Dass die Beschwerdeführerin über ein von der deutschen Vertretungsbehörde in Erbil/Irak (Autonome Region Kurdistan) ausgestelltes Schengen-Visum Typ C verfügte, welches zum Zeitpunkt der Antragstellung seit weniger als sechs Monaten abgelaufen war, ergibt sich aus dem Ergebnis der VIS-Abfrage. Anhaltspunkte dafür, dass die Beschwerdeführerin das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zwischenzeitlich wieder verlassen hätte, gibt es nicht.
Soweit im Verfahren vorgebracht wurde, dass die Beschwerdeführerin nicht unter Verwendung des deutschen Visums, sondern erst nach Ablauf dessen Gültigkeit über die Türkei und weiter illegal auf dem Landweg in das Gebiet der Mitgliedstaaten eingereist sei, wird den Angaben aus den folgenden Überlegungen kein Glauben geschenkt:
Vorweg ist festzuhalten, dass sich das Vorbringen einzig und alleine auf die Aussagen der Beschwerdeführerin sowie auf das Schreiben ihres Lebensgefährten stützt, jedoch nicht durch sonstige Beweismittel, wie etwa die Vorlage des Reisepasses samt etwaigen darin befindlichen Stempeln oder des angeblich verwendeten Flugtickets Erbil-Istanbul samt behauptetem Flugdatum, untermauert werden konnte. Von daher kommt den Aussagen der Beschwerdeführerin eine besondere Bedeutung zu, doch kamen hier zahlreiche Ungereimtheiten hervor, die klar dafürsprechen, dass die Beschwerdeführerin versuchte, ihren wahren Reiseweg zu verschleiern, um ein für sie günstigeres Ergebnis zu erzielen.
So machte die Beschwerdeführerin im Zuge der Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes zur Frage, ob ihr jemals in einem anderen Land ein Visum oder ein Aufenthaltstitel ausgestellt worden sei, keine Angaben. Sie scheute also nicht davor zurück, vor den Behörden die Unwahrheit zu sagen, obwohl sie von ihrem deutschen Visum wissen musste. Dass sie also - wie in der Beschwerde behauptet - stets angegeben habe, dass sie schon seit Längerem versucht habe, mit einem Schengen-Visum nach Österreich zu kommen, was jedoch nicht geklappt habe und letztlich von ihren Eltern vereitelt worden sei, ist schlicht nicht richtig. Tatsächlich führte sie diese Erklärung erst bei der Einvernahme vor dem BFA ins Treffen, als sie davon sprach, erfolglos bei der österreichischen, der französischen und der deutschen Botschaft gewesen zu sein. Bemerkenswert ist hier einerseits, dass sie auch an diesem Punkt der Einvernahme zuerst noch behauptete, niemals ein Visum erhalten zu haben (vgl. "Ich habe kein Visum, ich kam illegal hierher."), und andererseits auch die geschilderten Vorversuche der legalen Ausreis