TE Bvwg Erkenntnis 2019/10/23 W240 2197293-1

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Veröffentlicht am 23.10.2019
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Entscheidungsdatum

23.10.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W240 2197293-1/16E

W240 2197292-1/15E

W240 2197287-1/16E

W240 2197294-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. FEICHTER über die Beschwerde von XXXX alle StA. Afghanistan, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.04.2018

1) Zl. 1107625302-1603424, 2) Zl. 1107626702-160342785, 3) Zl. 1107610506-160342840 und

4) 1107585610-160342670, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 24.09.2019 zu Recht:

A) Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1

AsylG, sowie XXXX gemäß

§ 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 und 4 AsylG der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass den Beschwerdeführern damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Erstbeschwerdeführer zu W240 2197293-1 ist der Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin zu W240 2197292-1. Die Drittbeschwerdeführerin zu W240 2197287-1 und die Viertbeschwerdeführerin zu W240 2197294-1 sind deren Töchter. Alle vier Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, welche nach illegaler Einreise am 06.03.2016 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt haben.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 07.03.2016 gab der Erstbeschwerdeführer insbesondere an, er sei in Kabul geboren, habe die letzten Jahre im Iran gelebt und dort keine Recht gehabt. Er sei unterdrückt worden und er könne wegen den Taliban nicht nach Afghanistan zurück.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 07.03.2016 gab die Zweitbeschwerdeführerin insbesondere an, sie sei in XXXX in Afghanistan geboren und sie und ihrer Familie hätten die letzten Jahre im Iran gelebt und dort keine Rechte besessen. Die Kinder hätten die Schule nicht besuchen dürfen und nach Afghanistan hätten sie nicht zurückkehren können, weil es zu gefährlich sei.

Am 20.03.2018 wurden der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin vom BFA einvernommen. Am 27.03.2018 wurde auch die Drittbeschwerdeführerin vom BFA einvernommen.

2. Mit den angefochtenen Bescheiden des BFA wurde der Antrag der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz jeweils gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) und gem. § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan (Spruchpunkt II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gem. § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gem. § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gem. § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gem. § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gem. § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.) und gem. § 55 Abs. 1 bis 3 FPG verfügt, dass die Frist für ihre freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

3. Gegen die vorzitierten Bescheide wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. In der Beschwerde wurde ausgeführt, dass den Beschwerdeführern im Falle einer Rückkehr asylrelevante Verfolgung drohe.

Am 03.01.2019 langte betreffend den Erstbeschwerdeführer eine Bestätigung über den Besuch eines Deutschkurses im Niveau A1, Teil 2, ein, betreffend die Zweitbeschwerdeführerin eine Bestätigung über die Teilnahme an einer Bildungsveranstaltung "Alpha Teil 1 für AsylwerberInnen" sowie betreffend die Drittbeschwerdeführerin eine Anmeldebestätigung für einen Basisbildungslehrgang mit Lehrgangsdauer von 15 Wochen ab XXXX .

Am 18.09.2019 langte eine mit 17.09.2019 datierte Stellungnahme beim BVwG ein. Verwiesen wurde darin auf die Verfolgungssituation von Frauen in Afghanistan. Es wurde insbesondere auf die ständige Judikatur des BVwG und in der Vergangenheit des Asylgerichtshofs verwiesen, wonach die Situation von Frauen in Afghanistan eine Asylgewährung aufgrund von Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe der GFK gebieten könne. Keiner Frau, die ein eigenständiges Leben führen will, die ihre eigenen Entscheidungen treffen will, die über ihre sexuelle Selbstbestimmung verfügen will, die als gleichberechtigte Menschen behandelt werden will, sei ein Leben in Afghanistan zumutbar. Die weiblichen Beschwerdeführerinnen hätten eindrücklich ihre Unzufriedenheit mit der Rollgenverteilung der Geschlechter in der konservativ-islamisch geprägten afghanischen Gesellschaft sowie ihren Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, zum Ausdruck gebracht, und die bereits die Schutz- und Rechtslosigkeit von Frauen in Afghanistan eindrücklich erleben müssen.

4. Am 24.09.2019 fand vor dem BVwG eine mündliche Verhandlung statt, an welcher der Beschwerdeführer sowie seine Rechtsvertretung, ein Vertreter des BFA teilnahmen und neben dem Beschwerdeführer auch seine Eltern und Geschwister einvernommen wurden.

Die Zweitbeschwerdeführerin, welche in der Verhandlung kein Kopftuch trug, ihre Haare goldblond gefärbt trug, eine grüne Bluse sowie ein schwarzes Sakko anhatte sowie hohe Stöckelschuhe und Schmuck trug, führte insbesondere an, sie arbeite über die Caritas in Österreich, wenn sie gebraucht werde. Sie habe zahlreiche österreichische Freunde, mit denen sie die Freizeit verbringe, wobei sie alleine oder zusammen mit ihrem Ehemann etwas unternehme sowie alleine einkaufen gehe und den Haushalt gemeinsame mit ihrem Ehemann führe, der im Haushalt mithelfe, die jüngste Tochter zur Schule bringe und auch im Haushalt putze. Sie plane in Österreich weitere Deutschkurse zu besuchen und wolle als Schneiderin in Österreich tätig sein. Sie habe sich bereits erkundigt, welche Ausbildung sie als Schneiderin absolvieren müsse und ihr sei von einer österreichischen Freundin eine Schneidermaschine zur Verfügung gestellt worden. Ihr Ehemann unterstütze ihre Entscheidung, eine Ausbildung zur Schneiderin zu machen. Vor ihrer Ausreise habe sie keine Ausbildung absolviert und keinen Beruf ausgeübt, ihre Beziehung zu ihrem Ehemann habe sich komplett verändert in Österreich. Sie trage seit rund sieben Monaten kein Kopftuch mehr, sie wolle frei sein und anziehen, was ihr gefalle.

Die Zweitbeschwerdeführer gab an, keinen Unterschied in der Erziehung ihres Sohnes und ihrer Töchter zu machen, es sei ihr einzig wichtig, dass die Kinder eine Ausbildung absolvieren und einen Beruf erlernen, der ihnen selbst gefällt. Vor ihrer Ausreise nach Österreich habe sie keine Rechte als Frau genossen und sie sei als Frau nur Hausfrau gewesen und habe die Kinder großgezogen. Sie könne sich nicht mehr vorstellen, so zu leben, wie vor der Einreise nach Österreich. Sie und ihre Familie seien nicht sehr religiös, sie bete nicht, sie faste nicht, glaube jedoch an Gott.

Die Drittbeschwerdeführerin gab im Rahmen der Beschwerdeverhandlung insbesondere an, sie habe keine Schule besucht und besuche derzeit in Österreich einen Deutschkurs im Niveau A2. Sie habe zwei Jahre lang die Hauptschule besucht und drei Monate den Lehrgang Basisbildung, der als Vorbereitung für den Schulabschluss gelten solle. Mit ihren österreichischen Freunden verbringe sie die Freizeit in Cafés und im Einkaufszentrum. Sie trage kein Kopftuch mehr und möge religiöse Menschen nicht. Sie bete nicht und gehe in keine Moschee. Die Drittbeschwerdeführerin trug in der Verhandlung kein Kopftuch, hat blondierte Haare, trug eine schwarze Jeanshose sowie Turnschuhe, einen Nasenring sowie Ohrringe und eine Halskette. Sie hatte eine Raulederjacke über ein enges Top an und schwarzlackierte Nägel. Sie plane eine Friseurlehre in Österreich zu absolvieren und habe sich bereits über die Ausbildung informiert. Auch die Drittbeschwerdeführerin bestätigte, dass ihr Vater und Bruder im gemeinsamen Haushalt mithelfen. Im Unterschied zur Zeit vor ihrer Ausreise könne sie in Österreich ihre Kleidung frei wählen, mit ihren Freunden spazieren gehen und etwas unternehmen. Sie habe in Österreich in Summe eine Freiheit, die sie in Afghanistan nie hätte. Sie habe Geld, über das sie frei verfügen könne und habe einen afghanischen Lebensgefährten, der in Österreich über einen Asylstatus verfügt. Ihre Eltern würden dies auch akzeptieren, diese Aussage wurde auch von der Mutter der Drittbeschwerdeführerin bestätigt.

Betreffend die Beschwerdeführer wurden Integrationsunterlange vorgelegt, insbesondere eine Bestätigung aus 2018 vom Bürgermeister der österreichischen Gemeinde, in der die Familie bis Anfang 2019 gelebt hat, dass die Familie an einer Kooperations-Veranstaltung aktiv teilgenommen hat, und dass die Familie sehr bemüht ist, sich in Österreich zu integrieren und regelmäßig am Bauernhof und einer neuen Mittelschule arbeite, vorgelegt.

Betreffend den Erstbeschwerdeführer wurden insbesondere eine Deutschkursbestätigung vorgelegt und ein ÖSD Zertifikat im Niveau A1, eine Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs, mehrere Bestätigungen, wonach der Beschwerdeführer für die Gemeinde Arbeitsleistungen erbracht hat.

Betreffend die Zweitbeschwerdeführerin wurden neben medizinischen Unterlagen, wonach diese an "Diabetes mellitus, Raz. Kopfschmerzen - DD Mischtyp Migräne, Spannungskopfschmerz, HWS Syndrom, Adipostias, Hypercholesterinämie" leidet, insbesondere eine Bestätigung über die Teilnahme an der Bildungsveranstaltung "Alpha Teil 1 und Teil 2 für AsylwerberInnen" vorgelegt.

Betreffend die Drittbeschwerdeführerin wurden insbesondere eine Bestätigung über den Besuch des Lehrgangs "Bildung für junge Flüchtlinge", eine Anmeldebestätigung über einen Lehrgang "Basisbildung", Schulbesuchsbestätigungen, eine Prüfungszeugnis A1-Fit für Österreich, ein Prüfungszeugnis für Deutsch im Niveau A1 eine Kursbesuchsbestätigung für Deutsch A2 und eine Teilnahmebestätigung über die Teilnahme an interkulturellen Frauentanzabenden vorgelegt.

Am Ende der Verhandlung vor dem BVwG wurden aktuelle Berichte zur Situation in Afghanistan, insbesondere betreffend die Situation von Frauen, westlich orientierten Rückkehrern und Apostaten ins Verfahren eingebracht.

Am 09.10.2019 langte eine Stellungnahme vom BFA beim BVwG ein, darin wurde insbesondere ausgeführt, dass das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin zu ihrem Grund, warum sie Afghanistan hätten verlassen müssen, nämlich die drohende Zwangsheirat sowie die nach wie vor drohende Gefährdung deshalb, nicht glaubhaft sei. Es wurde weiters darauf verwiesen, dass die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Afghanistan in der Verfassung fest verankert sei. Die Beschwerdeführer behaupteten, dass kaum bzw. nie ein Schulbesuch vor der Ausreise möglich gewesen sei, dies widerspreche jedoch den Feststellungen der Staatendokumentation, wonach alle afghanischen Staatsbürgerinnen ein Recht auf Bildung hätten, verwiesen wurde auch auf widersprüchliche Angaben der Beschwerdeführer zum Schulbesuch vor der Einreise und auf ihren Eindruck in der Beschwerdeverhandlung, in der diese auf den Vertreter des BFA den Eindruck erweckt hätten, doch die Schule vor der Ausreise besucht zu haben. Betreffend die Kinder des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin wurde darauf verwiesen, es sei amtsbekannt, dass man in Afghanistan gegen Bargeld eine Tazkira mit jedem gewünschten Inhalt kaufen könnte und die Ausführungen, wie die Beschwerdeführer die Tazkiras angeblich erlangt hätten, seien nicht glaubhaft. Laut BFA sei Indiz dafür, dass der Aufenthalt der Beschwerdeführer im Iran nicht illegal gewesen sei, dass es den Beschwerdeführern im Iran möglich gewesen sei zu arbeiten und hohe Geldsummen für die Ausreise zu ersparen. Laut Einschätzung des BFA hätten die Beschwerdeführer ihre Situation vor der Ausreise übertrieben dargestellt, um ihre Chancen auf einen Asylstatus zu erhöhen, diese Übertreibungen würden jedoch das Fluchtvorbringen insgesamt als unglaubwürdig erscheinen lassen. Betreffend die behauptete Verwestlichung der weiblichen Beschwerdeführerinnen verwies das BFA insbesondere darauf, dass die Zweitbeschwerdeführerin in der Beschwerdeverhandlung im September 2019 behauptete, ihr Kopftuch rund acht Monate vor der Verhandlung abgelegt zu haben. Die nunmehr angefochtenen Bescheide ergingen jedoch im Jahr 2018 und habe zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung im April 2018 keine Verinnerlichung der westlichen Werte festgestellt werden können. In der Befragung der Zweitbeschwerdeführerin im März 2018 habe noch keine intensive Auseinandersetzung mit der österreichischen Kultur festgestellt werden können. In dieser Einvernahme seien die weiblichen Beschwerdeführerinnen noch mit Kopftuch erschienen. Im Zuge der mündlichen Beschwerdeverhandlung sei die Verwestlichung der weiblichen Familienmitglieder durch westliche Kleidung, Make-up und entsprechende Antworten zur Lebensgestaltung sowie dem Genuss der Freiheit des westlichen Wertesystems intensiv hervorgehoben worden. Jedoch habe die ganze Familie der Beschwerdeführer einzig Deutschkurse nachweisen können und sei darauf verwiesen wurden, dass sie ihren Partner vollkommen frei wählen könnten sowie sei auf die Freizeitgestaltung verwiesen worden. Dazu verwies das BFA jedoch darauf, dass die mittlerweile volljährige Tochter und Beschwerdeführerin zu W240 2203437-1 nach Ankunft in Österreich einen afghanischen Mann geheiratet habe und schwanger geworden sei und die minderjährige Drittbeschwerdeführerin ebenfalls einen afghanischen Lebensgefährten habe, dies spreche laut BFA auch nicht für eine Verinnerlichung westlicher Werte.

Zusammen mit der Stellungnahme wurde ein LIFOS-Bericht über Afghanen im Iran vom 10.04.2018 und eine wissenschaftliche Publikation zur politischen Partizipation von Frauen in Afghanistan des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam übermittelt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Der Erstbeschwerdeführer zu W240 2197293-1 ist der Ehemann der Zweitbeschwerdeführerin zu W240 2197292-1. Die Drittbeschwerdeführerin zu

W240 2197287-1 und die Viertbeschwerdeführerin zu W240 2197294-1 sind deren Töchter. Alle vier Beschwerdeführer sind afghanische Staatsangehörige, welche nach illegaler Einreise am 06.03.2016 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich gestellt haben. Die vier Beschwerdeführer leben im gemeinsamen Haushalt mit zwei weiteren Kindern des Erstbeschwerdeführers und der Zweitbeschwerdeführerin, nämlich dem Beschwerdeführer zu W240 2201958-1 und der Beschwerdeführerin zu 2203437-1, alle gehören der Volksgruppe der Tadschiken an, die Eltern sind in Afghanistan geboren und lebten vor der Ausreise nach Österreich mehrere Jahre im Iran. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin haben vor ihrer Einreise nach Österreich die Ehe geschlossen.

Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Farsi.

Betreffend die Beschwerdeführer wurden Integrationsunterlange vorgelegt, insbesondere eine Bestätigung aus 2018 vom Bürgermeister der österreichischen Gemeinde, in der die Familie bis Anfang 2019 gelebt hat, dass die Familie an einer Kooperations-Veranstaltung aktiv teilgenommen hat, und dass die Familie sehr bemüht ist, sich in Österreich zu integrieren und regelmäßig am Bauernhof und einer neuen Mittelschule arbeite, vorgelegt.

Betreffend den Erstbeschwerdeführer wurden insbesondere eine Deutschkursbestätigung vorgelegt und ein ÖSD Zertifikat im Niveau A1, eine Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs, mehrere Bestätigungen, wonach der Beschwerdeführer für die Gemeinde Arbeitsleistungen erbracht hat.

Betreffend die Zweitbeschwerdeführerin wurden neben medizinischen Unterlagen, wonach diese an "Diabetes mellitus, Raz. Kopfschmerzen - DD Mischtyp Migräne, Spannungskopfschmerz, HWS Syndrom, Adipostias, Hypercholesterinämie" leidet, insbesondere eine Bestätigung über die Teilnahme an der Bildungsveranstaltung "Alpha Teil 1 und Teil 2 für AsylwerberInnen" vorgelegt.

Betreffend die Drittbeschwerdeführerin wurden insbesondere eine Bestätigung über den Besuch des Lehrgangs "Bildung für junge Flüchtlinge", eine Anmeldebestätigung über einen Lehrgang "Basisbildung", Schulbesuchsbestätigungen, eine Prüfungszeugnis A1-Fit für Österreich, ein Prüfungszeugnis für Deutsch im Niveau A1 eine Kursbesuchsbestätigung für Deutsch A2 und eine Teilnahmebestätigung über die Teilnahme an interkulturellen Frauentanzabenden vorgelegt.

Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur Situation der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

Bei der Zweitbeschwerdeführerin handelt es sich um eine selbstständige Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise mittlerweile an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativafghanischen Tradition und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Sie trägt kein Kopftuch, ist bestrebt ihre bereits vorhandenen Kenntnisse der deutschen Sprache weiter zu verbessern. Sie strebt an einen Beruf auszuüben, um in Österreich berufliche und wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erlangen. Sie bewältigt ihren Alltag in Österreich selbstständig und sieht sich als gleichberechtigt neben ihrem Ehemann an. Die Zweitbeschwerdeführerin teilt sich die Erziehung der Kinder mit ihrem Ehemann. Die Zweitbeschwerdeführerin will ihre Kinder frei von Zwängen erziehen und ist sehr darum bemüht, dass ihre Kinder in Österreich eine gute Schul- und Berufsausbildung erhalten, damit sie ein selbstbestimmtes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führen können. In dieser Hinsicht werden ihre Kinder aktiv von ihr unterstützt.

Die Zweitbeschwerdeführerin, welche in der Verhandlung kein Kopftuch trug, ihre Haare goldblond gefärbt trug, eine grüne Bluse sowie ein schwarzes Sakko anhatte sowie hohe Stöckelschuhe und Schmuck trug, verwies darauf, dass sie über die Caritas in Österreich arbeitet, wenn sie gebraucht wird. Sie hat zahlreiche österreichische Freunde, mit denen sie die Freizeit verbringt, wobei sie alleine oder zusammen mit ihrem Ehemann etwas unternimmt sowie alleine einkaufen geht und den Haushalt gemeinsame mit ihrem Ehemann führt, der im Haushalt mithilft, auch die jüngste Tochter zur Schule bringt und auch im Haushalt putzt. Sie plant in Österreich weitere Deutschkurse zu besuchen und will als Schneiderin in Österreich tätig sein. Sie hat sich bereits erkundigt, welche Ausbildung sie als Schneiderin absolvieren muss und ihr wurde auch von einer österreichischen Freundin eine Schneidermaschine zur Verfügung gestellt. Ihr Ehemann unterstützt ihre Entscheidung, eine Ausbildung zur Schneiderin zu machen. Vor ihrer Ausreise hat sie keine Ausbildung absolviert und keinen Beruf ausgeübt, ihre Beziehung zu ihrem Ehemann beschreibt sie als komplett verändert in Österreich. Sie trägt seit Monaten kein Kopftuch mehr, sie will frei sein und selbst bestimmen, welche Kleidung, sie trägt. Die von ihr angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Die Zweitbeschwerdeführerin lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die persönliche Haltung der Zweitbschwerdeführerin über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

Bei der Drittbeschwerdeführerin handelt es sich um ein junges selbstständiges Mädchen, das in seiner Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativafghanischen Tradition und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Die Drittbeschwerdeführerin besucht derzeit in Österreich einen Deutschkurs im Niveau A2. Sie hat in Österreich zwei Jahre lang die Hauptschule besucht und drei Monate den Lehrgang Basisbildung, der als Vorbereitung für den Schulabschluss gilt. Mit ihren österreichischen Freunden verbringt sie ihre Freizeit in Österreich und macht allein und selbständig Unternehmungen mit ihren Freunden. Sie trägt kein Kopftuch mehr und gab in der Beschwerdeverhandlung an, dass sei religiöse Menschen nicht mag. Sie betet nicht und besucht keine Moschee. Die Drittbeschwerdeführerin trug in der Verhandlung kein Kopftuch, hat blondierte Haare, trug eine schwarze Jeanshose sowie Turnschuhe, einen Nasenring sowie Ohrringe und eine Halskette. Sie hatte eine Raulederjacke über ein enges Top an und schwarzlackierte Nägel. Sie plant eine Friseurlehre in Österreich zu absolvieren und hat sich über die Ausbildung dazu informiert. Auch die Drittbeschwerdeführerin bestätigte, dass ihr Vater und ihr Bruder im gemeinsamen Haushalt so wie die weiblichen Familienangehörigen mithelfen. Im Unterschied zur Zeit vor ihrer Ausreise ist es ihr laut eigenen Angaben möglich, in Österreich ihre Kleidung frei zu wählen und selbständig mit ihren Freunden in Österreich unterwegs zu sein. Sie schätzt laut eigenen Angaben in Summe die Freiheit in Österreich, die sie in Afghanistan nie hätte. Sie hat in Österreich auch Geld, über das sie frei verfügen kann und hat einen afghanischen Lebensgefährten, der in Österreich über einen Asylstatus verfügt. Ihre Eltern sowie ihr Bruder akzeptieren auch, dass sie einen Lebensgefährten hat.

Die von der Drittbeschwerdeführerin angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die persönliche Haltung der Drittbeschwerdeführerin über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

Der Zweitbeschwerdeführerin und der Drittbeschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer Wertehaltung eine Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen.

Vom afghanischen Staat können sie keinen effektiven Schutz erwarten.

Es besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative.

Gründe, nach denen ein Ausschluss der Beschwerdeführer hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat, sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer:

Politische Lage (Verfassung):

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Sicherheitslage (Allgemein):

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019 (1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (UNAMA 24.4.2019).

Diese Verringerung wurde durch einen Rückgang der Zahl ziviler Opfer von Selbstmordanschlägen mit IED (Improvised Explosive Devices - unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung/Sprengfallen) verursacht. Der Quelle zufolge könnten die besonders harten Winterverhältnisse in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 zu diesem Trend beigetragen haben. Es ist unklar, ob der Rückgang der zivilen Opfer wegen Maßnahmen der Konfliktparteien zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung oder durch die laufenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien beeinflusst wurde (UNAMA 24.4.2019).

Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (UNAMA 24.4.2019).

Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 24.4.2019).

Nach dem Taliban-Angriff auf Ghazni-Stadt im August 2018, bestand weiterhin die Befürchtung, dass die Taliban großangelegte Angriffe im Südosten des Landes verüben könnten. Dies war zwar nicht der Fall, dennoch setzten Talibankämpfer die afghanischen Sicherheitskräfte am Stadtrand von Ghazni, in Distrikten entlang des Highway One nach Kabul und durch die Einnahme des Distrikts Andar in Ghazni im Oktober weiterhin unter Druck. Im Westen der Provinz Ghazni, wo die ethnische Gruppierung der Hazara eine Mehrheit bildet, verschlechterten sich die Sicherheitsbedingungen wegen großangelegter Angriffe der Taliban, was im November zur Vertreibung zahlreicher Personen führte. In Folge eines weiteren Angriffs der Taliban im Distrikt Khas Uruzgan der Provinz Uruzgan im selben Monat wurden ebenfalls zahlreiche Hazara-Familien vertrieben. Des Weiteren nahmen Talibankämpfer in verschiedenen Regionen vorübergehend strategische Positionen entlang der Hauptstraßen ein und behinderten somit die Bewegungsfreiheit zwischen den betroffenen Provinzen. Beispiele dafür sind Angriffe entlang Hauptstraßen nach Kabul in den Distrikten Daymirdad und Sayyidabad in Wardak, der Route Mazar - Shirbingham und Maimana - Andkhoy in den nördlichen Provinzen Faryab, Jawzjan und Balkh und der Route Herat - Qala-e-Naw im westlichen Herat und Badghis (UNGASC 7.12.2018). Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 gemäß SIGAR die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.1.2019).

Im Laufe des Wahlregistrierungsprozesses und während der Wahl am 20. und am 21. Oktober wurden zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die Taliban und den Islamischen Staat - Provinz Khorasan (ISKP) beansprucht wurden (UNGASC 7.12.2018; vgl. UNAMA 10.10.2018, UNAMA 11.2018). Während der Wahl in der Provinz Kandahar, die wegen Sicherheitsbedenken auf den 27. Oktober verschoben worden war, wurden keine sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Die afghanischen Sicherheitskräfte entdeckten und entschärften einige IED [Improvised Explosive Devices - Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen] in Kandahar-Stadt und den naheliegenden Distrikten (UNAMA 11.2018). Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hatte zwischen 1.1.2018 und 30.9.2018 im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen insgesamt 366 zivile Opfer (126 Tote und 240 Verletzte) registriert (UNAMA 10.10.2018). Am offiziellen Wahltag, dem 20. Oktober, wurden 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) registriert, darunter 117 Kinder (21 Tote und 96 Verletzte) und 48 Frauen (2 Tote und 46 Verletzte). Am folgenden Wahltag, dem 21. Oktober, wurden 47 weitere zivile Opfer (4 Tote und 43 Verletzte) verzeichnet, inklusive 17 Kinder (2 Tote und 15 Verletzte) und Frauen (3 Verletzte). Diese Zahlen beinhalten auch Opfer innerhalb der Afghan National Police (ANP) und der Independet Electoral Commission (IEC) (UNAMA 11.2018). Die am 20. Oktober am meisten von sicherheitsrelevanten Vorfällen betroffenen Städte waren Kunduz und Kabul. Auch wenn die Taliban in den von ihnen kontrollierten oder beeinflussten Regionen die Wählerschaft daran hinderten, am Wahlprozess teilzunehmen, konnten sie die Wahl in städtischen Gebieten dennoch nicht wesentlich beeinträchtigen (trotz der hohen Anzahl von Sicherheitsvorfällen) (UNGASC 7.12.2018).

Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst - laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 22.10.2018 53,8% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9% der Distrikte sind umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Der ISKP ist weiterhin im Osten des Landes präsent und bekennt sich zu Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen in Nangarhar und zu sechs Angriffen in Kabul-Stadt. Des Weiteren finden in den Provinzen Nangarhar und Kunar weiterhin Kämpfe zwischen ISKP- und Talibankämpfern statt. Die internationalen Streitkräfte führten Luftangriffe gegen den ISKP in den Distrikten Deh Bala, Achin, Khogyani, Nazyan und Chaparhar der Provinz Nangarhar aus (UNGASC 7.12.2018).

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte), eine allgemeine Steigerung von 5% sowie eine Steigerung der Zahl der Toten um 11% gegenüber dem Vorjahreswert. 42% der zivilen Opfer (4.627 Opfer;

1.361 Tote und 3.266 Verletzte) wurden durch IED im Zuge von Anschlägen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich ISKP) verursacht. Die Anzahl der Selbstmordanschläge unter Einsatz von IED stieg dabei um 22% und erreichte somit einen Rekordwert. Diese Art von Anschlägen verursachte 26% aller zivilen Opfer, während IED, die bei Nichtselbstmordanschlägen verwendet wurden, 16% der zivilen Opfer forderten. Kabul war mit insgesamt 1.866 Opfern (596 Tote und 1.270 Verletzte) die Provinz mit der höchsten Anzahl an Selbstmordanschlägen durch IED, während die Zahl der Opfer in Nangarhar mit insgesamt 1.815 (681 Tote und 1.134 Verletzte) zum ersten Mal fast die Werte von Kabul erreichte (hauptsächlich wegen des Einsatzes von IED bei Nichtselbstmordanschlägen). Kabul-Stadt verzeichnete insgesamt 1.686 zivile Opfer (554 Tote und 1.132 Verletzte) wegen komplexen und Selbstmordangriffen (UNAMA 24.2.2019).

Zusammenstöße am Boden (hauptsächlich zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Gruppierungen) verursachten 31% der zivilen Opfer (insgesamt 3.382; davon 814 Tote und 2.568 Verletzte), was einen Rückgang um 3% im Vergleich mit dem Vorjahreswert bedeutet. Grund dafür war der Versuch regierungsfreundlicher Gruppierungen, die zivile Bevölkerung zu schonen. Die Verlagerung der Kämpfe in dünn besiedelte Gebiete, die Vorwarnung der lokalen Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen und die Implementierung von Strategien zum Schutz der Bevölkerung waren einige der bestimmenden Faktoren für den Rückgang bei zivilen Opfern. Jedoch ist die Opferzahl bei gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichteten komplexen Angriffen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen gestiegen (plus 48% gegenüber 2017; 4.125 Opfer insgesamt, davon 1.404 Tote und 2.721 Verletzte). Sowohl der ISKP als auch die Taliban griffen gezielt Zivilisten an: Der ISKP war für 1.871 zivile Opfer verantwortlich, darunter waren u.a. Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft, und die Taliban für 1.751. Obwohl die Gesamtzahl der zivilen Opfer durch gezielte Tötungen von Einzelpersonen (hauptsächlich durch Erschießung) zurückging, blieben Zivilisten inklusive religiöser Führer und Stammesältester weiterhin Ziele regierungsfeindlicher Gruppierungen. Die Gesamtzahl der durch Luftangriffe verursachten zivilen Opfer stieg im Vergleich mit dem Vorjahreswert um 61% und die Zahl der Todesopfer erreichte 82%. 9% aller zivilen Opfer wurden Luftangriffen (mehrheitlich der internationalen Luftwaffe) zugeschrieben, der höchste Wert seit 2009 (UNAMA 24.2.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen waren im UNAMA-Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) für 6.980 zivile Opfer (2.243 Tote und 4.737 Verletzte) verantwortlich. Das entspricht 63% der gesamten zivilen Opfer. 37% davon werden den Taliban, 20% dem ISKP und 6% unbestimmten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben. Im Laufe des Jahres 2018 wurden vermehrt Anschläge gegen Bildungseinrichtungen verzeichnet, meist durch Talibankämpfer, da in Schulen Registrierungs- und Wahlzentren untergebracht waren. Der ISKP attackierte und bedrohte Bildungseinrichtungen als Reaktion auf militärische Operationen afghanischer und internationaler Streitkräfte. UNAMA berichtet auch über anhaltende Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, welche Auswirkungen auf einen Großteil der zivilen Bevölkerung haben. Trotzdem die Taliban nach eigenen Angaben Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen haben, attackierten diese weiterhin Zivilisten, zivile Einrichtungen und regierungsfreundliche Gruppierungen in Zivilgebieten (UNAMA 24.2.2019).

Ungefähr 24% der zivilen Opfer (2.612, davon 1.185 Tote und 1.427 Verletzte), werden regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben: 14% den afghanischen Sicherheitskräften, 6% den internationalen Streitkräften und 4% unbestimmten regierungsfreundlichen Gruppierungen. Die Steigerung um 4% gegenüber dem Vorjahr geht auf Luftangriffe der internationalen Streitkräfte und Fahndungsaktionen der afghanischen Sicherheitskräfte und regierungsfreundlicher Gruppierungen zurück (UNAMA 24.2.2019).

Die verbleibenden 13% der verzeichneten zivilen Opfer wurden im Kreuzfeuer während Zusammenstößen am Boden (10%), durch Beschuss aus Pakistan (1%) und durch die Explosion von Blindgängern verursacht (UNAMA 24.2.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden:

das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).

Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen - insbesondere die Taliban - ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017).

Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören u.a. die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (SIGAR 1.2018).

Außerdem haben Militäroperationen der pakistanischen Regierung einige Zufluchtsorte Aufständischer zerstört. Jedoch genießen bestimmte Gruppierungen, wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk Bewegungsfreiheit in Pakistan (USDOD 12.2017). Die Gründe dafür sind verschiedene: das Fehlen einer Regierung, das permissive Verhalten der pakistanischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsamen kommunalen Bindungen über die Grenze und die zahlreichen illegalen Netzwerke, die den Aufständischen Schutz bieten (AAN 17.10.2017).

Rechtsschutz/Justizwesen:

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. (Casolino 2011). Die wichtigste religiöse Institution des Landes ist der Ulema-Rat (Afghan Ulama Council - AUC, Shura-e ulama-e afghanistan, Anm.), eine nationale Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. den Präsidenten in islamrechtlichen Angelegenheiten berät und Einfluss auf die Rechtsformulierung und die Auslegung des existierenden Rechts hat (USDOS 15.8.2017; vgl. AB 7.6.2017, AP o.D.).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.:

Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (NYT 26.12.2015; vgl. AP o.D.).

Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen, einschließlich Menschenrechtsverträge, vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (AP o.D.; vgl. vertrauliche Quelle 10.4.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle als auch das islamische Recht anzuwenden (AP o.D.).

Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten umgesetzt. Die Umsetzung der rechtlichen Bestimmungen ist innerhalb des Landes uneinheitlich. Dem Gesetz nach gilt für alle Bürger/innen die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Bürger/innen sind bzgl. ihrer Verfassungsrechte oft im Unklaren und es ist selten, dass Staatsanwälte die Beschuldigten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informieren. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt, sich von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt (USDOS 20.4.2018). In Afghanistan existieren keine Strafverteidiger nach dem westlichen Modell; traditionell dienten diese nur als Mittelsmänner zwischen der anklagenden Behörde, dem Angeklagten und dem Gericht. Seit 2008 ändert sich diese Tendenz und es existieren Strafverteidiger, die innerhalb des Justizministeriums und auch außerhalb tätig sind (NYT 26.12.2015). Der Zugriff der Anwälte auf Verfahrensdokumente ist oft beschränkt (USDOS 3.3.2017) und ihre Stellungnahmen werden während der Verfahren kaum beachtet (NYT 26.12.2015). Berichten zufolge zeigt sich die Richterschaft jedoch langsam respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern (USDOS 20.4.2018).

Gemäß einem Bericht der New York Times über die Entwicklung des afghanischen Justizwesens wurden im Land zahlreiche Fortbildungskurse für Rechtsgelehrte durch verschiedene westliche Institutionen durchgeführt. Die Fortbildenden wurden in einigen Fällen mit bedeutenden Aspekten der afghanischen Kultur (z. B. Respekt vor älteren Menschen), welche manchmal mit der westlichen Orientierung der Fortbildenden kollidierten, konfrontiert. Auch haben Strafverteidiger und Richter verschiedene Ausbildungshintergründe: Während Strafverteidiger rechts- und politikwissenschaftliche Fakultäten besuchen, studiert der Großteil der Richter Theologie und islamisches Recht (NYT 26.12.2015).

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll (USIP 3.2015; vgl. USIP o.D.). Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht. Dazu zählen unter anderem das Frauenrecht, Strafrecht und -verfahren, die Verbindlichkeit von Rechten gemäß internationalem Recht und der gesamte Bereich der Grundrechte (USIP o. D.).

Laut dem allgemeinen Islamvorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Trotz großer legislativer Fortschritte in den vergangenen 14 Jahren gibt es keine einheitliche und korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht) (AA 9.2016; vgl. USIP o.D., NYT 26.12.2015, WP 31.5.2015, AA 5.2018). Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, so ist nicht festgelegt, welches Gesetz im Fall eines Konflikts zwischen dem traditionellen islamischen Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und eine fehlende Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen (AA 5.2018).

Das kodifizierte Recht wird unterschiedlich eingehalten, wobei Gerichte gesetzliche Vorschriften oft zugunsten der Scharia oder lokaler Gepflogenheiten missachteten. Bei Angelegenheiten, wo keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht (welches auch nicht einheitlich ist, Anm.) durch (USDOS 20.4.2018).

Gemäß dem "Survey of the Afghan People" der Asia Foundation (AF) nutzten in den Jahren 2016 und 2017 ca. 20.4% der befragten Afghan/innen nationale und lokale Rechtsinstitutionen als Schlichtungsmechanismen. 43.2% benutzten Schuras und Jirgas, währed 21.4% sich an die Huquq-Abteilung [Anm.: "Rechte"-Abteilung] des Justizministeriums wandten. Im Vergleich zur städtischen Bevölkerung bevorzugten Bewohner ruraler Zentren lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Schuras und Jirgas (AF 11.2017; vgl. USIP o.D., USDOS 20.4.2018). Die mangelnde Präsenz eines formellen Rechtssystems in ruralen Gebieten führt zur Nutzung lokaler Schlichtungsmechanismen. Das formale Justizsystem ist in den städtischen Zentren relativ stark verankert, da die Zentralregierung dort am stärksten ist, während es in den ländlichen Gebieten - wo ungefähr 76% der Bevölkerung leben - schwächer ausgeprägt ist (USDOS 3.3.2017; vgl. USDOS 20.4.2018). In einigen Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle setzen die Taliban ein paralleles auf der Scharia basierendes Rechtssystem um (USDOS 20.4.2018).

Die Unabhängigkeit des Justizwesens ist gesetzlich festgelegt; jedoch wird die afghanische Judikative durch Unterfinanzierung, Unterbesetzung, inadäquate Ausbildung, Unwirksamkeit und Korruption unterminiert (USDOS 20.4.2018). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent angewandt (AA 9.2016). Dem Justizsystem mangelt es weiterhin an der Fähigkeit die hohe Anzahl an neuen und novellierten Gesetzen einzugliedern und durchzuführen. Der Zugang zu Gesetzestexten wird zwar besser, ihre geringe Verfügbarkeit stellt aber für einige Richter/innen und Staatsanwälte immer noch eine Behinderung dar. Die Zahl der Richter/innen, welche ein Rechtsstudium absolviert haben, erhöht sich weiterhin (USDOS 3.3.2017). Im Jahr 2017 wurde die Zahl der Richter/innen landesweit auf 1.000 geschätzt (CRS 13.12.2017), davon waren rund 260 Richterinnen (CRS 13.12.2017; vgl. AT 29.3.2017). Hauptsächlich in unsicheren Gebieten herrscht ein verbreiteter Mangel an Richtern und Richterinnen. Nachdem das Justizministerium neue Richterinnen ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen in unsichere Provinzen versetzen wollte und diese protestierten, beschloss die Behörde, die Richterinnen in sicherere Provinzen zu schicken (USDOS 20.4.2018). Im Jahr 2015 wurde von Präsident Ghani eine führende Anwältin, Anisa Rasooli, als erste Frau zur Richterin des Obersten Gerichtshofs ernannt, jedoch wurde ihr Amtsantritt durch das Unterhaus [Anm.: "wolesi jirga"] verhindert (AB 12.11.2017; vgl. AT 29.3.2017). Auch existiert in Afghanistan die "Afghan Women Judges Association", ein von Richterinnen geführter Verband, wodurch die Rechte der Bevölkerung, hauptsächlich der Frauen, vertreten werden sollen (TSC o.D.).

Korruption stellt weiterhin ein Problem innerhalb des Gerichtswesens dar (USDOS 20.4.2017; vgl. FH 11.4.2018); Richter/innen und Anwält/innen sind oftmals Ziel von Bedrohung oder Bestechung durch lokale Anführer oder bewaffnete Gruppen (FH 11.4.2018), um Entlassungen oder Reduzierungen von Haftstrafen zu erwirken (USDOS 20.4.2017). Wegen der Langsamkeit, der Korruption, der Ineffizienz und der politischen Prägung des afghanischen Justizwesens hat die Bevölkerung wenig Vertrauen in die Judikative (BTI 2018). Im Juni 2016 errichtete Präsident Ghani das "Anti-Corruption Justice Center" (ACJC), um innerhalb des Rechtssystems gegen korrupte Minister/innen, Richter/innen und Gouverneure/innen vorzugehen, die meist vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt waren (AB 17.11.2017; vgl. Reuters 12.11.2016). Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen (BTI 2018). Seit 1.1.2018 ist Afghanistan für drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.2.2018).

Haftbedingungen:

Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), ist verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) des Justizministeriums ist verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren. Das National Directorate of Security (NDS) unter den Afghan National Security Forces (ANDSF) ist für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Bezirksebene verantwortlich. Das Verteidigungsministerium (MoD) betreibt die afghanischen nationalen Haftanstalten in Parwan. Berichten zufolge verwalten Mitglieder der ANDSF private Gefängnisse, in denen Gefangene misshandelt werden (USDOS 20.4.2018). Die Haftbedingungen in Afghanistan entsprechen nicht den internationalen Standards. Es gibt Berichte über Misshandlungen in Gefängnissen. Vor allem Frauen und Kinder werden häufig Opfer von Misshandlungen (AA 5.2018).

Wegen der Überbelegung, den unhygienischen Verhältnissen und dem begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung sind die Haftbedingungen in afghanischen Gefängnissen schwierig. Es herrscht ein Mangel an separaten Einrichtungen für Untersuchungs- und Strafhäftlinge. Lokale Gefängnisse und Haftanstalten haben nicht immer getrennte Einrichtungen für weibliche Gefangene. Überbelegung ist weiterhin ein ernstes, verbreitetes Problem: Gemäß den empfohlenen Standards des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) waren 28 von 34 Gefängnissen für Männer stark überbelegt. Mit Stand Juni 2017 befanden sich im Pul-e-CharkhiGefängnis, der größten Vollzugsanstalt des Landes, 11.527 Gefangene, darunter u.a. Kinder von inhaftierten Müttern, was doppelt so viel war wie vorgesehen (USDOS 20.4.2018). Schätzungen zufolge leben über 300 Kinder in afghanischen Gefängnissen, ohne selbst eine Straftat begangen zu haben. Ab einem Alter von fünf Jahren ist es möglich, die Kinder in ein Heim zu transferieren. Allerdings gibt es diese Heime nicht in jeder Provinz. Die wenigen existierenden Heime sind überfüllt. Zusätzlich müssen die Mütter einem Transfer der Kinder in ein Heim zustimmen (AA 5.2018).

Der Zugang zu Nahrung, Trinkwasser, sanitären Anlagen, Heizung, Lüftung, Beleuchtung und medizinischer Versorgung in den Gefängnissen ist landesweit unterschiedlich und im Allgemeinen unzureichend. Einigen Quellen zufolge ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser in Gefängnissen des GDPCD hingegen ausreichend. Nichtsdestotrotz ist das Budget für das nationale Ernährungsprogramm von Häftlingen des GDPDC sehr limitiert. Daher müssen Familienangehörige oft für die notwendigen Nahrungsergänzungsmittel usw. aufkommen (USDOS 20.4.2018).

Im Oktober 2015 unterzeichneten das Gesundheitsministerium (MoPH) und das Innenministerium eine gemeinsame Absichtserklärung zur Erbringung von Gesundheitsdiensten in Gefängnissen und Haftanstalten landesweit. Das Dokument beschreibt die Zuständigkeiten beider Ministerien bzgl. der Gewährleistung von Zugang zu angemessenen, kostenlosen Gesundheitsdienstleistungen und regelmäßigen Untersuchungen durch qualifizierte medizinische Fachkräfte. Einem Bericht der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) über medizinische Dienste in den afghanischen Gefängnissen zufolge bot ein Großteil der von UNAMA besuchten Strafvollzugsanstalten des NDS die Möglichkeit, grundlegende medizinische Untersuchungen und Behandlungen der Gefangenen durchzuführen, obwohl es kein Abkommen zwischen MoPH und NDS gab. Einige vom NDS betriebene Einrichtungen hatten gut ausgestattete Kliniken und andere konnten hingegen nur grundlegende medizinische Versorgungsdienste gewährleisten (UNAMA 3.2016).

Beobachter berichten über landesweit vorkommende willkürliche, längere Inhaftierungen. Dabei bleiben die Inhaftierten oft über die gegen sie erhobene Anklage im Unklaren. Garantien wie Rechtsberatung, die Nutzung von Haftbefehlen und die zeitliche Begrenzung des Gewahrsams ohne Anklageerhebung, sind zwar vom Gesetz vorgesehen, werden jedoch nicht immer eingehalten. Auch gewährt das Gesetz einem Angeklagten das Recht, gegen die Untersuchungshaft Einspruch zu erheben und ein Gerichtsverfahren zu beantragen. Nichtsdestotrotz stellt die lange Untersuchungshaft weiterhin ein Problem dar. Aufgrund fehlender Ressourcen, einer geringen Anzahl an Verteidigern, unerfahrenen Rechtsanwälten sowie Korruption profitierten viele Inhaftierte nicht von allen Bestimmungen der Strafprozessordnung. Viele Häftlinge werden trotz der rechtlichen Bestimmungen über die gesetzliche Frist hinaus festgehalten, selbst wenn es keine Anklage gibt (USDOS 20.4.2018). Häftlinge sind gesetzlich dazu berechtigt, bis zu 20 Tage das Gefängnis zu verlassen, um Familienbesuche abzustatten; jedoch setzen zahlreiche Justizvollzugsanstalten diese Vorschriften nicht um. Des Weiteren ist die Zielgruppe des Gesetzes nicht klar definiert (USDOS 20.4.2018).

Einem Bericht über die Haftbedingungen in Afghanistan zwischen Jänner 2015 und Dezember 2016 zufolge berichteten 39% der Befragten, dass sie während der Verhaftung oder des Gewahrsams in verschiedenen Strafvollzugsanstalten des NDS oder der ANP gefoltert bzw. misshandelt geworden würden (HRC 21.2.2018). Trotz des rechtlich verankerten Folterverbots wird von Foltervorfällen durch die afghanischen Sicherheitskräfte und andere Akteure bis hin zur Entourage des ersten Vizepräsidenten, des Generals Abdul Rashid Dostum, berichtet (HRW 2018; vgl. USDOS 20.4.2018).

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sind gesetzlich verboten; trotzdem werden beide Praktiken weiterhin betrieben. Diese stellen in den meisten Provinzen ein Problem dar. Beobachtern zufolge werden Personen gelegentlich von Polizei und Staatsanwälten auf Basis von Handlungen, die nach afghanischem Recht nicht strafbar sind, ohne Anklage inhaftiert. Teilweise auch deshalb, weil das Justizsystem nicht in der Lage ist, in angemessener Zeit einen Strafprozess abzuwickeln (USDOS 20.4.2018). Die UNAMA berichtete von Verhaftungen wegen Verstößen gegen die Moral, Vertragsbruch, Familiendisputen und zum Zwecke des Erhalts von Geständnissen. Beobachter berichten, dass oft Frauen für "moralische" Vergehen inhaftiert werden (USDOS 20.4.2018; vgl. BTI 2018). Die angekündigten Reformen u.a. zur Beendigung der unwissenschaftlichen und missbräuchlichen Jungfräulichkeitsuntersuchungen bei inhaftierten Frauen wurden nicht durchgeführt (HRW 2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Oft werden Frauen wegen versuchter zina [Anm.: Ehebruch] angeklagt, um Verhaftungen wegen Verstöße gegen die Sitten, wie das Davonlaufen von Zuhause, die Ablehnung designierter Ehemänner, die Flucht vor häuslicher Gewalt usw. rechtlich zu legitimieren. Einige Frauen, die Missbräuche anzeigen, werden verhaftet und anstelle von verurteilten Familienmitgliedern eingesperrt in der Annahme, dass diese sich stellen würden, um die Freilassung der Frau zu bewirken. In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (USDOS 20.4.2018).

Todesstrafe:

Die Todesstrafe ist in der Verfassung und im Strafgesetzbuch für besonders schwerwiegende Delikte vorgesehen (AA 5.2018). Das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, sieht die Todesstrafe für Delikte wie Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Angriff gegen den Staat, Mord und Zündung von Sprengladungen, Entführungen bzw. Straßenraub mit tödlicher Folge, Gruppenvergewaltigung von Frauen usw. vor (MoJ 15.5.2017: Art. 170). Die Todesstrafe wird vom zuständigen Gericht ausgesprochen und vom Präsidenten genehmigt (MoJ 15.5.2017: Art. 169). Sie wird durch Erhängen ausgeführt (AA 5.2018).

Die Anzahl der mit Todesstrafe bedrohten Verbrechen wurde durch den neuen Kodex signifikant reduziert (HRC 21.2.2018). So ist bei einigen Straftaten statt der Todesstrafe nunmehr lebenslange Haft vorgesehen (AI 22.2.2018).

Unter dem Einfluss der Scharia hingegen droht die Todesstrafe auch bei anderen Delikten (z.B. Blasphemie, Apostasie, Ehebruch). Berichten zufolge wurden im Jahr 2017 elf Menschen zu Tode verurteilt (AA 5.2018). Im November 2017 wurden fünf Männer im Pul-e-Charki-Gefängnis hingerichtet (AI 22.2.2018; vgl. HRC 21.2.2018). Des Weiteren fand am 28.1.2018 die Hinrichtung von drei Menschen statt. Alle wurden aufgrund von Entführungen und Mord zum Tode verurteilt. Zuvor wurden 2016 sechs Terroristen hingerichtet (AA 5.2018). Im Zeitraum 1.1 - 30.11.2017 befanden sich weiterhin 720 Person im Todestrakt (HRC 21.2.2018).

In der afghanischen Bevölkerung trifft diese Form der Bestrafung und Abschreckung auf eine tief verwurzelte Unterstützung. Dies liegt nicht zuletzt auch an einem als korrupt und unzuverlässig geltenden Gefängnissystem und der Tatsache, dass Verurteilte durch Zahlungen freikommen können. Obwohl Präsident Ghani sich zwischenzeitlich positiv zu einem möglichen Moratorium zur Todesstrafe geäußert hat und Gesetzesvorhaben auf dem Weg sind, die die Umwandlung der Todesstrafe in eine lebenslange Freiheitsstrafe vorsehen, ist davon auszugehen, dass weiter Todesurteile vollstreckt werden (AA 5.2018).

Allgemeine Menschenrechtslage:

Im Bereich der Menschenrechte hat Afghanistan unter schwierigen Umständen erhebliche Fortschritte gemacht. Inzwischen ist eine selbstbewusste neue Generation von Afghaninnen und Afghanen herangewachsen, die sich politisch, kulturell und sozial engagiert und der Zivilgesellschaft eine starke Stimme verleiht. Diese Fortschritte erreichen aber nach wie vor nicht alle Landesteile und sind außerhalb der Städte auch gegen willkürliche Entscheidungen von Amtsträgern und Richtern nur schwer durchzusetzen (AA 5.2018).

Zu den bedeutendsten Menschenrechtsfragen zählen außergerichtliche Tötungen, Verschwindenlassen, willkürliche Verhaftungen, Festnahmen (u. a. von Frauen wegen "mor

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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