TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/29 G311 2182904-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.01.2020
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Entscheidungsdatum

29.01.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

G311 2182904-1/13E

SCHRIFTLICHE AUSFERTIGUNG DES AM 10.09.2019 MÜNDLICH VERKÜNDETEN

ERKENNTNISSES:

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Eva WENDLER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX, geboren am XXXX, Staatsangehörigkeit: Irak, vertreten durch die ARGE-Rechtsberatung - Diakonie und Flüchtlingshilfe gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 04.12.2017, Zahl: XXXX, betreffend die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz sowie die Erlassung einer Rückkehrentscheidung, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.09.2019, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am 01.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005.

Am 02.10.2015 fand vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die niederschriftliche Erstbefragung des Beschwerdeführers im Asylverfahren statt. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab er an, dass im Irak Krieg herrsche. Es gäbe kein Wasser und keinen Strom; die Schulen seien geschlossen und gäbe es auch keine Arbeit. Aus diesem Grund habe er sein Land verlassen. Er sei nach Österreich gekommen, da hier sein Onkel lebe, zu dem er telefonischen Kontakt habe. Im Falle einer Rückkehr fürchte er wegen dem Krieg um sein Leben.

Die niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, fand am 09.11.2017 statt.

Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer zusammengefasst an, dass er den Irak wegen der schlechten Lebensbedingungen verlassen habe. Es habe keinen Strom und kein Wasser gegeben und nun herrsche dort Krieg. Er habe eigentlich schon vor vier oder fünf Jahren geplant, den Irak zu verlassen, aber es habe ihm dazu das Geld gefehlt. Wäre sein Onkel nicht in Europa, wäre er nicht nach Europa gekommen. Das konkrete Ausreiseereignis sei gewesen, dass er es geschafft habe, genug Geld dafür zusammenzusparen. Andere Fluchtgründe habe er nicht. Es sei ihm im Irak nichts passiert, er sei nicht bedroht oder verfolgt worden. Er habe im Irak nie an bewaffneten Auseinandersetzungen teilgenommen oder Kontakt zu einer terroristischen Vereinigung gehabt. Er sei weder im Irak noch einem anderen Staat vorbestraft und habe weder mit staatlichen Behörden, Gerichten oder der Polizei im Irak Probleme gehabt. Er sei nicht politisch aktiv und habe auch an keinen Demonstrationen im Irak teilgenommen, denn er möge die Politik und die Parteien nicht. Seine Familie, zu der er regelmäßig telefonischen Kontakt habe, lebe noch immer in Suleimaniya und gehe es seinen Angehörigen gut. Der Vater arbeite als Polizist, die Mutter sei Hausfrau, der Bruder habe einen kleinen "Hühnerverkaufsladen" und unterstütze damit das Familieneinkommen. Er selbst sei im Irak als Autowäscher tätig gewesen und habe monatlich etwa EUR 90,00 verdient.

Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes wurde der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen, der Antrag bezüglich des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen, dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak gemäß § 46 FPG zulässig ist. Es wurde festgestellt, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist zur freiwilligen Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass eine Bedrohung der Person des Beschwerdeführers durch Behörden, Behördenvertreter oder Amtsträger nicht festgestellt habe werden können. Er habe nie Probleme aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit, seines Religionsbekenntnisses oder mit der Polizei und Gericht gehabt. Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass er seitens Dritter bedroht oder verfolgt worden wäre. Insgesamt habe nicht festgestellt werden können, dass er im Irak einer Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt oder der Beschwerdeführer in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt gewesen wäre. Es stehe fest, dass der Beschwerdeführer keine Verfolgung durch den irakischen Staat bzw. dessen Behörden zu befürchten habe. Er habe keine asylrelevanten Fluchtgründe glaubhaft machen können. Der Beschwerdeführer sei ein gesunder, arbeitsfähiger Mann mit Schulbildung. Er könne seinen Lebensunterhalt bei einer Rückkehr in den Irak durch seine eigene Arbeitsleistung bestreiten. Dass ihm die Lebensgrundlage komplett entzogen wäre und er in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde, habe nicht festgestellt werden können. Er habe tragfähige familiäre Bindungen in Kurdistan. Wenngleich die allgemein schwierige Lage im Irak bekannt und der Wunsch nach besseren, geordneten und gesicherten Lebensbedingungen verständlich sei, so sei eine aktuell drohende individuelle Gefahr einer asylrelevanten Verfolgung nicht vorgebracht worden und auch im Falle einer Rückkehr nicht feststellbar. Die Sicherheitslage in Kurdistan sei stabil. Eine exzeptionelle Gefährdungslage bestehe nicht. Eine relevante Integration in Österreich liege nicht vor.

Zudem traf die belangte Behörde umfangreiche Länderfeststellungen zur allgemeinen Lage im Irak.

Mit dem am 03.01.2018 beim Bundesamt eingebrachten Schriftsatz vom 02.01.2018 erhob der Beschwerdeführer durch seine bevollmächtigte Rechtsvertretung das Rechtsmittel der Beschwerde gegen den ihn betreffenden Bescheid des Bundesamtes. Es wurde beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung durchführen, der Beschwerde stattgeben und dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten, in eventu des subsidiär Schutzberechtigten, zuerkennen; in eventu die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig erklären und dem Beschwerdeführer einen Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK erteilen; in eventu den angefochtenen Bescheid beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Bundesamt zurückverweisen.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bundesamt ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren durchgeführt und mangelhafte Länderfeststellungen herangezogen habe, die zwar allgemeine Aussagen über den Irak beinhalten, sich aber nicht mit den konkreten Fluchtgründen des Beschwerdeführers auseinandersetzen würden. Darüber hinaus würden die Länderberichte auf beträchtliche Probleme und Bedrohungsszenarien hinsichtlich des sunnitischen Bevölkerungsanteils im Irak verweisen. Zusätzlich gehöre der Beschwerdeführer auch noch der Volksgruppe der Kurden an. Der Irak sei wegen der bürgerkriegsähnlichen Situation als "failed state" anzusehen. Die vom Beschwerdeführer geschilderten Gefährdungen hätten sich, insbesondere durch die aggressiv auftretenden Milizen, immer weiter verschlimmert. Der Irak sei insbesondere gegenüber sunnitischen Kurden weder schutzfähig noch schutzwillig. So hätte der Beschwerdeführer wegen einer harmlosen Schlägerei mit einem Schiiten ohne geeignetes Verfahren eine zweijährige Haftstrafe antreten müssen. Da er diese Strafe aber nicht angetreten habe, würde er sich im Falle einer Rückkehr in Lebensgefahr befinden. Die vom Bundesamt durchgeführte Befragung des Beschwerdeführers sei ebenso mangelhaft, da es unterlassen worden sei, ihn zu den von ihm und seiner Familie im Irak erlittenen Bedrohungen zu fragen. Tatsächlich habe der Beschwerdeführer glaubhaft zu verstehen gegeben, dass die Dolmetscher im Verwaltungsverfahren die sehr spezielle Sprache Kurdisch-Sorani bei weitem nicht ausreichend verständlich gesprochen und die vom Beschwerdeführer gemachten Angaben dementsprechend wiedergegeben hätten. Bei korrekter Befragung des Beschwerdeführers wäre hervorgekommen, dass er tatsächlich aufgrund einer ihm zu Unrecht angedrohten Haftstrafe wegen einer Schlägerei mit einem Schiiten einer enormen Bedrohung für seine körperliche Integrität bzw. seines Lebens ausgesetzt sei. Weiters würden Kirkuk und Suleimaniya seit Jahren von schiitischen Milizen "drangsaliert" werden. Zusätzlich hätte der Beschwerdeführer bereits im Irak daran gedacht, die Religion des Islam aufzugeben und sich dem Christentum zuzuwenden. Seine Eltern hätten ihm klargemacht, dass sie ihn bei einer Konversion verstoßen würden und eine Konversion im Irak unter Androhung der Todesstrafe verboten sei. Zusammengefasst habe er den Irak wegen seiner politischen Gesinnung und Weltanschauung, dem Rechtsstaat zu dienen und sich keiner radikalen Gruppierung beugen zu wollen, seiner Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe jener Menschen, die zu Unrecht - ohne ein geeignetes rechtsstaatliches Verfahren - einer Straftat beschuldigt und einer Haftstrafe zugeführt werden sollten, seiner Zugehörigkeit zur verhassten Volksgruppe der Kurden sowie der beabsichtigten Konversion zum Christentum verlassen. Wegen der mangelhaften Auswahl der Dolmetscher für die Sprache Kurdisch-Sorani habe er sein Vorbringen im Verfahren vor dem Bundesamt leider nicht erschöpfend darlegen können bzw. seien Teile seiner Fluchtgründe nicht adäquat und richtig wiedergegeben protokolliert worden.

Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden vom Bundesamt vorgelegt und sind am 15.01.2018 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt.

Seitens des Bundesamtes wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 19.02.2018 bzw. am 23.03.2018 ein Bericht der Landespolizeidirektion (LPD) XXXX vom 16.02.2018 sowie ein zugehöriger Abtretungsbericht an die Staatsanwaltschaft vom 18.03.2018 übermittelt, wonach beim Beschwerdeführer und seinem Zimmerkollegen im Zuge einer "freiwilligen Nachschau" Cannabiskraut sowie "Utensilien für den Suchtgifthandel" vorgefunden worden seien und bei geständig wären, Cannabis zu konsumieren.

Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 29.08.2019 wurden dem Beschwerdeführer und dem Bundesamt zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung jeweils ein Konvolut von Länderberichten zum Irak zur Kenntnisnahme und allfälligen Stellungnahme übermittelt.

Das Bundesverwaltungsgericht führte am 10.09.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer, seine bevollmächtigte Rechtsvertretung, eine Vertreterin des Bundesamtes, eine Zeugin sowie ein Dolmetscher für die Sprache Kurdisch-Sorani teilnahmen.

Auf Befragen gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei in Kirkuk geboren, aber im Alter von einem Jahr nach Suleimaniya gezogen, wo er aufgewachsen sei und gelebt habe. Sein Vater sei Polizist und am Bezirksgericht XXXX tätig. Die Familie habe Probleme gehabt, weil der Vater Polizist und Parteimitglied der PUK sei. Die KPD wolle ihn zwingen, dieser beizutreten. Eines Tages sei jemand über den Stall in das Haus der Familie eingedrungen, die Mutter habe jedoch geschrien, sodass der Eindringling die Flucht ergriffen habe. Sein Vater sei einmal auch angegriffen und auf das Haus der Familie sei einmal geschossen worden. Der Vater sei auch wegen der Zugehörigkeit zur PUK für einen Monat im Gefängnis in Suleimaniya inhaftiert worden, als der Beschwerdeführer bereits in Österreich gewesen sei. In diesem Monat habe er kein Gehalt erhalten, nach der Haftentlassung aber weiterhin als Polizist gearbeitet. Der Gerichtspräsident habe gewusst, dass er sich nichts hat zu Schulden kommen lassen. Wegen dieser Probleme sei die Familie schließlich in einen anderen Ort gezogen. Der Beschwerdeführer habe sich bereits in Österreich befunden. Der Vater habe nach wie vor Probleme wegen seiner Parteizugehörigkeit und würde deswegen nunmehr auch der 19-jährige Bruder des Beschwerdeführers bedroht werden. Etwa vier Monate vor der Verhandlung seien Leute zum Bruder gekommen und hätten ihm gesagt, er solle das Haus verlassen und dem Vater sagen, er solle die Partei wechseln, sonst würde man den Vater töten. Etwas später gab der Beschwerdeführer auf Vorhalt an, der Bruder sei mit einem Freund unterwegs gewesen und aus dem Haus gegangen, als ihnen ein PKW den Weg abgeschnitten habe und Leute ausgestiegen seien, die den Bruder des Beschwerdeführers festgenommen und ihm gesagt hätten, der Vater solle die Partei wechseln oder sie würden den Vater töten. Den Freund hätten sie nicht festhalten können und sei dieser zur Mutter des Beschwerdeführers gelaufen, die dann den Vater angerufen habe. Der Vater habe wegen seiner Stellung als Polizist die Freilassung des Bruders des Beschwerdeführers erwirken können. Der Beschwerdeführer sei deswegen am selben Tag von der Familie im Irak angerufen worden. Der Vater plane nun auch, den Bruder nach Europa zu schicken, jedoch fehle dazu derzeit das Geld, obwohl er nach wie vor der Arbeit als Polizist nachgehe. Ob es seither zu weiteren Vorfällen gekommen sei, wisse er nicht und er habe auch nicht danach gefragt. Bereits nach der ersten Bedrohung habe die Familie ständig die Wohnung gewechselt und alle zwei Monate woanders gelebt. Eine fixe Unterkunft hätten sie nicht gehabt. Der Beschwerdeführer selbst habe in Kurdistan kein gutes Leben gehabt. Er sei einmal von zwei Personen angegriffen worden, die ihn mit Motorradketten auf den Rücken geschlagen hätten. Er habe zwar nicht geblutet, aber zwei Nächte nicht geschlafen wegen der Schmerzen. Einen Arzt oder ein Krankenhaus habe er nicht aufgesucht. Er habe ständig Angst gehabt und sich nach 18 Uhr nicht mehr getraut, aus dem Haus zu gehen. Vor lauter Angst habe er sich nicht frei bewegen können. Auch verschlechtere sich die Versorgungslage mit Strom und Wasser ständig. Im Irak sei nie Ruhe, man lebe immer nur im Terrorismus. Der IS komme, andere würden verschwinden. Er wäre gerne in seine Geburtsstadt Kirkuk zurückgekehrt, was wegen dem IS aber nicht möglich sei. Er habe weiters eine sunnitisch-muslimische Religion in Kurdistan praktiziert, übe in Österreich seine Religion aber nicht aus, sei jedoch auch nicht konvertiert. Er trinke in Österreich Alkohol. Entgegen dem Beschwerdevorbringen sei es nicht richtig, dass ihm im Irak eine Haftstrafe von zwei Jahren wegen einer Schlägerei mit einem Schiiten drohen würde.

Er habe bisher alles angegeben, auch die Probleme seines Vaters. Er sei davon ausgegangen, dass der Dolmetscher des BFA beeidet und alles richtig gemacht worden sei. Es habe keine Rückübersetzung des Protokolls vor dem Bundesamt stattgefunden. Der Dolmetscher sei syrischer Kurde gewesen und habe darüber hinaus Kurdisch-Badini und teilweise Arabisch (was der Beschwerdeführer nicht verstehe), aber nicht Kurdisch-Sorani gesprochen. Es sei zu Übersetzungsfehlern gekommen. Den Dolmetscher in der mündlichen Verhandlung habe er verstanden.

Sodann wurde die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers, eine in Österreich lebende deutsche Staatsangehörige, als Zeugin einvernommen.

In weiterer Folge wurden seitens des erkennenden Gerichtes die bereits vorweg zur Vorbereitung der Verhandlung übermittelten Länderberichte zur allgemeinen Lage im Irak erörtert und auf deren Zustandekommen hingewiesen. Die Rechtsvertreterin beantragte eine Frist zur Erstattung einer Stellungnahme, da das Fluchtvorbringen vom bisherigen Fluchtvorbringen abweiche.

Nach Unterbrechung und Fortsetzung der Verhandlung sowie Erstattung der Schlussanträge wurde das gegenständliche Erkenntnis gemäß § 29 Abs. 2 VwGVG samt den wesentlichen Entscheidungsgründen mündlich verkündet und die Rechtsmittelbelehrung erteilt.

Sodann beantragte der Beschwerdeführer sogleich die schriftliche Ausfertigung des gegenständlichen Erkenntnisses.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer führt die im Spruch angeführte Identität (Namen und Geburtsdatum) als Verfahrensidentität, ist Staatsangehöriger des Irak, Angehöriger der Volksgruppe der Kurden und bekennt sich zum moslemischen Glauben sunnitischer Ausrichtung. Seine Muttersprache ist Kurdisch-Sorani (vgl etwa Erstbefragung vom 02.10.2015, AS 11 ff; Niederschrift Bundesamt vom 09.11.2017, AS 147 ff; Verhandlungsprotokoll vom 10.09.2019, S 3 ff).

Der Beschwerdeführer ist gesund, arbeitsfähig, ledig und hat keine Kinder. Er führt mit XXXX, einer deutschen Staatsangehörigen, die in Österreich ihr unionsrechtliches Freizügigkeitsrecht in Anspruch nimmt, hier studiert und bei einem Flüchtlingsprojekt arbeitet, seit Februar 2019 eine Beziehung. Bis auf einen Onkel in XXXX, der dort seit über zehn Jahren lebt, hat der Beschwerdeführer sonst keine familiären oder verwandtschaftlichen Bindungen in Österreich oder Europa. Ein Abhängigkeitsverhältnis zum Onkel liegt nicht vor (vgl etwa Erstbefragung vom 02.10.2015, AS 11 ff; Niederschrift Bundesamt vom 09.11.2017, AS 147 ff; Verhandlungsprotokoll vom 10.09.2019, S 3 ff; Angaben der Zeugin, Verhandlungsprotokoll vom 10.09.2019, AS 11 f).

Der Beschwerdeführer ist in Kirkuk geboren, wo er auch sein erstes Lebensjahr verbrachte. In der Folge lebte er mit seinen Eltern, einem Bruder und zwei Schwestern in Suleimaniya, Kurdistan, wo er auch die Schule (sechs Jahre Grundschule und zwei Jahre Hauptschule) besuchte und bis zur Ausreise zweieinhalb Jahre als Autowäscher erwerbstätig war, womit er monatlich rund EUR 90,-- verdiente. Die Eltern, der Bruder und die beiden Schwestern leben nach wie vor in der Provinz Suleimaniya, im Ort XXXX. Sie bewohnen dort ein Haus und haben Kleintiere wie Hühner und Gänse. Der Vater des Beschwerdeführers arbeitet als Polizist, die Mutter und die Geschwister gehen keiner Beschäftigung nach, wobei die Schwestern des Beschwerdeführers noch zur Schule gehen. Der Bruder ist 19 Jahre alt, musste zwei Schulstufen wiederholen und ist drei Jahre gar nicht zur Schule gegangen. Nunmehr besucht er ein Abendgymnasium. Zur Mutter hat der Beschwerdeführer regelmäßig telefonischen Kontakt. Darüber hinaus leben in der Provinz Suleimaniya auch noch die Großeltern sowie Onkel des Beschwerdeführers mütterlicherseits (vgl etwa Erstbefragung vom 02.10.2015, AS 11 ff; Niederschrift Bundesamt vom 09.11.2017, AS 147 ff; Verhandlungsprotokoll vom 10.09.2019, S 3 ff).

Der Beschwerdeführer verließ seinen Herkunftsstaat Irak zu einem nicht näher feststellbaren Zeitpunkt legal vom Flughafen Erbil aus und flog nach Istanbul in der Türkei, wo er sich etwa für zwei Monate in einer Wohnung mit weiteren Kurden aufhielt und dann schlepperunterstützt mit einem Schlauchboot nach Griechenland und über dem Beschwerdeführer unbekannte Länder weiter bis nach Ungarn und schließlich nach Österreich reiste, wo er am 01.10.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte (vgl etwa Erstbefragung vom 02.10.2015, AS 11 ff; Niederschrift Bundesamt vom 09.11.2017, AS 151 ff; Verhandlungsprotokoll vom 10.09.2019, S 12).

Der Beschwerdeführer weist im Bundesgebiet insgesamt von 20.10.2015 bis 06.04.2017 und von 02.05.2017 bis laufend Hauptwohnsitzmeldungen auf (vgl Auszug aus dem Zentralen Melderegister vom 10.09.2019).

Im Bundesgebiet übte der Beschwerdeführer bisher keine legale Beschäftigung aus und lebt von der Grundversorgung. Er engagiert sich nicht in einem Verein oder einer Organisation. Seinen Angaben nach hat er in seiner früheren Wohnortgemeinde freiwillig bei der Straßenreinigung mitgeholfen, darüber hinaus ging er jedoch keinen ehrenamtlichen oder gemeinnützigen Tätigkeiten nach. Er besucht derzeit einen Deutschkurs auf Niveau A1 und kann sich in einfachen Worten auf Deutsch ausdrücken. In Österreich lebt er derzeit in einer Wohngemeinschaft (vgl Niederschrift Bundesamt vom 09.11.2017, AS 147 ff; Verhandlungsprotokoll vom 10.09.2019, S 8 ff).

Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten (vgl Auszug aus dem Strafregister vom 10.09.2019).

Insgesamt konnten keine maßgeblichen Anhaltspunkte für die Annahme einer hinreichenden Integration des Beschwerdeführers in Österreich in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht festgestellt werden.

Ein konkreter Anlass oder Vorfall für das (fluchtartige) Verlassen des Herkunftsstaates konnte nicht festgestellt werden. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt ist oder, dass Gründe vorliegen, die einer Rückkehr oder Rückführung (Abschiebung) in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

Zur entscheidungsrelevanten Lage im Irak:

Zur allgemeinen Lage im Irak werden die vom Bundesverwaltungsgericht zur Vorbereitung der mündlichen Beschwerdeverhandlung mit Schreiben vom 29.08.2019 in das Verfahren eingeführten Länderberichte, nämlich ein Konvolut aus fallbezogen relevanten aktuellen Länderberichten samt den angeführten Quellen auch als entscheidungsrelevante Feststellungen zum endgültigen Gegenstand des Erkenntnisses erhoben.

"1. Sicherheitslage:

1.1. Allgemeine Sicherheitslage:

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde, verbessert (CRS 4.10.2018; vgl. MIGRI 6.2.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv, die Sicherheitslage ist veränderlich (CRS 4.10.2018).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.2.2018).

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.2.2018). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen, die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (MIGRI 6.2.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/de/dokument/1437719.html, Zugriff 19.07.2018

-

BFA Staatendokumentation: Länderinformationsblatt zu Irak, 20.11.2018 mit Kurzinformation vom 25.07.2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2013286.html, mwN (Zugriff am 19.08.2019)

-

CRS - Congressional Research Service (4.10.2018): Iraq: Issues in the 115th Congress, https://fas.org/sgp/crs/mideast/R45096.pdf, Zugriff 29.10.2018

-

MIGRI - Finnische Immigrationsbehörde (6.2.2018): Finnish Immigration Service report: Security in Iraq variable but improving, https://yle.fi/uutiset/osasto/news/finnish_immigration_service_report_security_in_iraq_variable_but_improving/10061710, Zugriff 30.10.2018

1.2. Islamischer Staat (IS):

1.2.1. Islamischer Staat - Stand LIB vom 20.11.2018:

Seitdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor, hat er drei Phasen durchlaufen: Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Jetzt versucht der IS, die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Gleichzeitig verstärkt er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (Joel Wing 3.7.2018). Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (Joel Wing 6.10.2018).

Mit Stand Oktober 2018 waren Einsätze der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninewa, Diyala und Salah al-Din im Gang. Ziel war es, den IS daran zu hindern sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Presseberichte und Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (CRS 4.10.2018; vgl. ISW 2.10.2018, Atlantic 31.8.2018, Jamestown 28.7.2018, Niqash 12.7.2018). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (CRS 4.10.2018).

Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben. Es gibt Gebiete, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und IS-Kämpfer, die sich tagsüber offen zeigen. Dies geschieht trotz ständiger Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind (Joel Wing 6.10.2018).

Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (Niqash 12.7.2018; vgl. WP 17.7.2018).

Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt und die Bevölkerung eingeschüchtert wird (Joel Wing 6.10.2018). Sie kooperiert aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften. Im vergangenen Jahr hat sich der IS verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist auch zu jenen Taktiken zurückgekehrt, die ihn 2012 und 2013 zu einer Kraft gemacht haben: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (Atlantic 31.8.2018).

Quellen:

-

Atlantic (31.8.2018): ISIS Never Went Away in Iraq, https://www.theatlantic.com/international/archive/2018/08/iraq-isis/569047/, Zugriff 30.10.2018

-

BFA Staatendokumentation: Länderinformationsblatt zu Irak, 20.11.2018 mit Kurzinformation vom 25.07.2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2013286.html, mwN (Zugriff am 19.08.2019)

-

CRS - Congressional Research Service (4.10.2018): Iraq: Issues in the 115th Congress, https://fas.org/sgp/crs/mideast/R45096.pdf, Zugriff 29.10.2018

-

ISW - Institute for the Study of War (2.10.2018): ISIS's Second Resurgence,

https://iswresearch.blogspot.com/2018/10/isiss-second-resurgence.html, Zugriff 30.10.2018

-

Jamestown Foundation (28.7.2018): Is Islamic State Making Plans for a Comeback in Iraq?,

https://jamestown.org/program/is-islamic-state-making-plans-for-a-comeback-in-iraq/, Zugriff 30.10.2018

-

Joel Wing - Musings on Iraq (3.7.2018): June 2018 Islamic State Rebuilding In Rural Areas Of Central Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/07/june-2018-islamic-state-rebuildingin.html, Zugriff 30.10.2018

-

Joel Wing - Musings on Iraq (6.10.2018): Islamic State Returns To Baghdad While Overall Security In Iraq Remains Steady, https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/10/islamic-statereturns-to-baghdad-while.html, Zugriff 30.10.2018

-

Niqash (12.7.2018): Extremists Intimidate, Harass, Dislocate Locals In Salahaddin, Then Take Over, http://www.niqash.org/en/articles/security/5951/, Zugriff 30.10.2018

-

WP - Washington Post (17.7.2018): ISIS is making a comeback in Iraq just months after Baghdad declared victory, https://www.washingtonpost.com/world/isis-is-making-a-comebackin-iraq-less-than-a-year-after-baghdad-declared-victory/2018/07/17/9aac54a6-892c-11e8- 9d59-dccc2c0cabcf_story.html?noredirect=on&utm_term=.8ebfcea17e9f, Zugriff 30.10.2018

1.2.2. Islamischer Staat - Stand Kurzinformation vom 09.04.2019:

Der Islamische Staat (IS) ist im Irak weitestgehend auf Zellen von Aufständischen reduziert worden, die meist aus jenen Gebieten heraus operieren, die früher unter IS-Kontrolle standen, d.h. aus den Gouvernements Anbar, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salahaddin. Laut dem Institute for the Study of War (ISW) werden nur die Distrikte Shirqat und Tuz in Salahaddin, Makhmour in Erbil, Hawija und Daquq in Kirkuk, sowie Kifri und Khanaqin in Diyala als umkämpft angesehen (EASO 3.2019). Das ganze Jahr 2018 über führten IS-Kämpfer Streifzüge nach Anbar, Bagdad und Salahaddin durch, zogen sich dann aber im Winter aus diesen Gouvernements zurück. Die Anzahl der verzeichneten Übergriffe und zivilen Todesopfern sank daher im Vergleich zu den Vormonaten deutlich ab (Joel Wing 2.1.2019).

Quellen:

-

BFA Staatendokumentation: Länderinformationsblatt zu Irak, 20.11.2018 mit Kurzinformation vom 25.07.2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2013286.html, mwN (Zugriff am 19.08.2019)

-

EASO - European Asylum Support Office (3.2019): Iraq; Security situation,

https://www.ecoi.net/en/file/local/2004116/Iraq_security_situation.pdf, 13.3.2019

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Joel Wing, Musings on Iraq (2.1.2019): Islamic State Went Into Hibernation In Winter 2018 ,

https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/01/islamic-state-went-into-hibernation-in.html, Zugriff 12.3.2019

1.2.3. Islamischer Staat - Stand Kurzinformation vom 25.07.2019:

Die folgende Karte des Institute for the Study of War (ISW) weist neben Unterstützungszonen des islamischen Staates (IS) im Irak und in Syrien auch Gebiete aus, in denen Angriffe und Manöver vom IS ausgeführt wurden, sowie Gebiete, in denen Änderungen in der Vorgehensweise des IS beobachtet wurden. Weiters werden Gebiete, die sowohl von der kurdischen Regionalregierung als auch von der irakischen Zentralregierung für sich beansprucht werden (die sogenannten "umstrittenen Gebiete") dargestellt (in grau schattierten Linien).

ISW - Institute for the Study of War (19.4.2019): ISIS Resurgence Update - April 2019,

https://iswresearch.blogspot.com/2019/04/isis-resurgence-update-apri/-16-2019.html, Zugriff 17.6.2019 [Grafik gelöscht, Anm.]

Obwohl die terroristischen Aktivitäten im Irak deutlich zurückgegangen sind, stellt der islamische Staat (IS) nach wie vor eine Bedrohung dar (SCR 30.4.2019). Nachdem der IS am 23.3.2019 in Syrien das letzte von ihm kontrollierte Territorium verloren hatte (ISW 19.4.2019), kündigte er Anfang April einen neuen Feldzug an, um den Gebietsverlust in Syrien zu rächen (Joel Wing 3.5.2019). Der IS vergrößerte so seine "Unterstützungszonen" [Anm. eine Kategorie des ISW für Gebiete, in denen der IS aktive und passive Unterstützung durch die lokale Bevölkerung lukrieren kann] im Irak und weitete seine Angriffe in bedeutenden Städten, wie Mossul und Fallujah, sowie im irakischen Kurdistan aus (ISW 19.4.2019). Neu wiederorganisierte IS-Zellen verstärkten ihre Operationen und Angriffe in den Gouvernements Anbar, Babil, Bagdad, Diyala, Kirkuk, Ninawa und Salahaddin (UNSC 2.5.2019). Das führte zu einem starken Anstieg der Angriffe in der zweiten Woche des Monats April. So erfolgten alleine in der zweiten Aprilwoche 41 der im gesamten Monat verzeichneten 97 sicherheitsrelevanten Vorfälle. Danach gingen die Vorfälle jedoch wieder auf das niedrige Niveau der Vormonate zurück (Joel Wing 3.5.2019). Für Mai 2019 wurden im Zuge der Frühjahrsoffensive des IS wieder die höchsten monatlichen Angriffszahlen seit Oktober 2018 verzeichnet (Joel Wing 5.6.2019). Es gab tägliche Berichte über IS-Kämpfer, die Hit-and-Run- Angriffe auf Sicherheitspersonal und Infrastruktur sowie Entführungen und Tötungen von lokalen Beamten und Zivilisten in Gebieten mit massiven Sicherheitslücken durchführten - vor allem in den Wüstenregionen Anbars, nahe der Grenze zu Syrien, als auch in den umstrittenen Gebieten, in denen es "Lücken" zwischen den irakischen und kurdischen Truppen gibt (Rudaw 9.5.2019).

Irakische Einheiten führten wiederholt Operationen in Rückzugsgebieten des IS durch (Rudaw 9.5.2019). Beispielsweise am 11.4.2019 in den Hamrin Bergen (ISW 19.4.2019; vgl. Kurdistan 24 11.4.2019) und am 5.5.2019 in den Gouvernements Anbar, Salahaddin und Ninewa (Xinhua 6.5.2019). Solche Operationen hatten jedoch nur begrenzten Erfolg, da sie die Operationsmöglichkeiten des IS nur geringfügig einschränkten. Eine große Herausforderung für die irakischen Streitkräfte besteht in Versäumnissen ihrer Geheimdienste. Unzureichende Ausbildung, Finanzierung, schlechte Kommunikation zwischen den Behörden des Sicherheitsapparats und damit einhergehend die mangelnde Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und zu nutzen, behindern die Aufklärungsarbeit (Rudaw 9.5.2019).

Einem Bericht des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen vom Februar 2019 zufolge kontrolliert der IS immer noch zwischen 14.000 und 18.000 Kämpfer im Irak und in Syrien (UNSC 1.2.2019). Nach Angaben des US-Verteidigungsministeriums, unter Berufung auf Geheimdienstquellen, verfügt der IS noch über 20.000 bis 30.000 Angehörige - Kämpfer, Anhänger und Unterstützer - im Irak und in Syrien (USDOD 7.5.2019).

Der IS hat seine Präsenz in den Gouvernements Ninewa und Anbar durch Kämpfer aus dem benachbarten Syrien erhöht. Auch das Gouvernement Diyala bleibt weiterhin ein Kerngebiet des IS, der sich auf Gebiete im Norden und Osten des Irak fokussiert. Vorfälle in Bagdad und im Süden bleiben sporadisch (Joel Wing 3.5.2019).

Im Mai 2019 hat der Islamische Staat (IS) im gesamten Mittelirak landwirtschaftliche Anbauflächen in Brand gesetzt, mit dem Zweck die Bauernschaft einzuschüchtern und Steuern zu erheben, bzw. um die Bauern zu vertreiben und ihre Dörfer als Stützpunkte nutzen zu können. Das geschah bei insgesamt 33 Bauernhöfen - einer in Bagdad, neun in Diyala, 13 in Kirkuk und je fünf in Ninewa und Salahaddin - wobei es gleichzeitig auch Brände wegen der heißen Jahreszeit und wegen lokalen Streitigkeiten gab (Joel Wing 5.6.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Am 23.5.2019 bekannte sich der Islamische Staat (IS) in seiner Zeitung AI-Nabla zu den Brandstiftungen. Kurdische Medien berichteten zudem von Brandstiftung in Daquq, Khanaqin und Makhmour (BAMF 27.5.2019; vgl. ACLED 18.6.2019). Das irakische Militär und die Koalitionstruppen [Anm. die Truppen der von den USA geführten Koalition westlicher Staaten im Irak] führten eine Reihe von Angriffen gegen den IS durch, insbesondere im Gouvernement Anbar (ACLED 11.6.2019) und in den Hamrin Bergen (ISW 19.4.2019; vgl. Kurdistan 24 11.4.2019; Jane's 1.5.2019).

Quellen:

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ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (18.6.2019): Regional Overview - Middle East 18 June 2019, https://www.acleddata.com/2019/06/18/regional-overview-middle-east-18-june-2019/, Zugriff 18.6.2019

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ACLED - The Armed Conflict Location & Event Data Project (11.6.2019): Regional Overview - Middle East 11 June 2019, https://www.acleddata.com/2019/06/12/regional-overview-middle-east-11-june-2019/, Zugriff 18.6.2019

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BAMF - Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Deutschland) (27.5.2019): Briefing Notes 27. Mai 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010482/briefingnotes-kw22-2019.pdf, Zugriff 18.6.2019

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BFA Staatendokumentation: Länderinformationsblatt zu Irak, 20.11.2018 mit Kurzinformation vom 25.07.2019, https://www.ecoi.net/de/dokument/2013286.html, mwN (Zugriff am 19.08.2019)

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ISW - Institute for the Study of War (19.4.2019): ISIS Resurgence Update - April 2019,

https://iswresearch.blogspot.com/2019/04/isis-resurgence-update-april-16-2019.html, Zugriff 17.6.2019

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Jane's 360 (1.5.2019): USAF reports combat debut for F-35A, https://www.janes.com/article/88186/usaf-reports-combat-debut-for-f-35a, Zugriff 17.6.2019

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Joel Wing, Musings on Iraq (3.5.2019): Islamic State Announces New Offensive But Amounts To Little So Far, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/05/islamic-state-announces-new-offensive.html, Zugriff 14.6.2019

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Joel Wing, Musings on Iraq (5.6.2019): Islamic State's Revenge Of The Levant Campaign In Full Swing, https://musingsoniraq.blogspot.com/2019/06/islamic-states-revenge-of-levant.html, Zugriff 14.6.2019

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Kurdistan 24 (11.4.2019): Iraq launches 'large-scale' anti-ISIS operation in Hamrin Mountains,

https://www.kurdistan24.net/en/news/e2d4b872-d38a-4a00-8de1-fd4a6b93d8f0, Zugriff 17.6.2019

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Rudaw (9.5.2019): Iraq not keeping up with evolving ISIS: US Defense Department,

http://www.rudaw.net/english/middleeast/iraq/090520191, Zugriff 18.6.2019

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SCR - Security Council Report (30.4.2019): May 2019 Monthly Forecast,

https://www.securitycouncilreport.org/monthly-forecast/2019-05/iraq-3.php, Zugriff 1.7.2019

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UNSC - UN Security Council (2.5.2019): Implementation of resolution 2421 (2018); Report of the Secretary-General [S/2019/365],

https://www.ecoi.net/en/file/local/2008023/S_2019_365_E.pdf, Zugriff 17.6.2019

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UNSC - United Nations Security Council (1.2.2019): Eighth report of the Secretary-General on the threat posed by ISIL (Da'esh) to international peace and security and the range of United Nations efforts in support of Member States in countering the threat, https://www.un.org/sc/ctc/wp-content/uploads/2019/02/N1901937_EN.pdf, Zugriff 18.6.2019

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USDOD - US Department of Defense (7.5.2019): Operation Inherent Resolve - Lead Inspector General report to the United States Congress, January 1, 2019, March 31, 2019, https://media.defense.gov/2019/May/07/2002128675/-1/-1/1/LIG%20OCO%20OIR%20Q2%20MARCH2019.PDF, Zugriff 18.6.2019

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Xinhua (6.5.2019): 8 IS militants killed in operation in western Iraq desert,

http://www.xinhuanet.com/english/2019-05/06/c_138036239.htm, Zugriff 18.6.2019

1.3. Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen:

1.3.1. Sicherheitsrelevante Vorfälle - Stand LIB vom 20.11.2018:

Der Irak verzeichnet derzeit die niedrigste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 (Joel Wing 5.4.2018). Die Sicherheitslage ist in verschiedenen Teilen des Landes sehr unterschiedlich, insgesamt hat sich die Lage jedoch verbessert (MIGRI 6.2.2018).

So wurden beispielsweise im September 2018 vom Irak-Experten Joel Wing 210 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 195 Todesopfern im Irak verzeichnet. Dem standen im September des Jahres 2017 noch 306 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 728 Todesopfern gegenüber. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen im September 2018 waren Bagdad mit 65 Vorfällen, Diyala mit 36, Kirkuk mit 31, Salah al-Din mit 21, Ninewa mit 18 und Anbar mit 17 Vorfällen (Joel Wing 6.10.2018).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt, im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im zweiten Quartal 2018, nach Provinzen aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im zweiten Quartal 2018, nach Provinzen aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 5.9.2018).

ACCORD (5.9.2018): Irak, 2. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus ACLED,

https://www.ecoi.net/en/file/local/1442566/193015362173742018q2iraq-de.pdf, Zugriff 29.10.2018 [Grafik gelöst, Anm.]

Laut Angaben von UNAMI, der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak, wurden im September 2018 im Irak insgesamt 75 irakische Zivilisten durch Terroranschläge, Gewalt und bewaffnete Konflikte getötet und weitere 179 verletzt (UNAMI 1.10.2018). Insgesamt verzeichneteUNAMI im Jahr 2017 3.298 getötete und 4.781 verwundete Zivilisten. Nicht mit einbezogen in diesen Zahlen waren zivile Opfer aus der Provinz Anbar im November und Dezember 2017, für die keine Angaben verfügbar sind. Laut UNAMI handelt es sich bei den Zahlen um absolute Mindestangaben, da die Unterstützungsmission bei der Überprüfung von Opferzahlen in bestimmten Gebieten eingeschränkt ist (UNAMI 2.1.2018). Im Jahr 2016 betrug die Zahl getöteter Zivilisten laut UNAMI noch 6.878 bzw. die verwundeter Zivilisten 12.388. Auch diese Zahlen beinhalten keine zivilen Opfer aus Anbar für die Monate Mai, Juli, August und Dezember (UNAMI 3.1.2017)

Die folgenden Grafiken von lraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken). Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle, dokumentierte IBC im September 2018 241 zivile Todesopfer im Irak. Im September 2017 betrug die Zahl von IBC dokumentierter ziviler Todesopfer im Irak 490; im September 2016

935. Insgesamt dokumentierte IBC von Januar bis September 2018 2.699 getötete Zivilisten im Irak. Im Jahr 2017 dokumentierte IBC 13.178 zivile Todesopfer im Irak; im Jahr 2016 betrug diese Zahl 16.393 (IBC 9.2018).

IBC - lraq Body Count (9.2018): Database - Documented civilian deaths from violence, https://www.iraqbodycoun t.org/database/, Zugriff 31.10.2018 [Grafik gelöscht, Anm.]

IBC - lraq Body Count (9.2018): Database - Documented civilian deaths from violence, https://www.iragbodycount.org/database/, Zugriff 31.10.2018 [Grafik gelöscht,

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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