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40/01 VerwaltungsverfahrenNorm
AlVG 1977 §1 Abs1 litaBetreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Klima, LL.M., über die Revision der B S in W, vertreten durch Mag. Franz Schruiff, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Gußhausstraße 14/7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. September 2019, Zl. W141 2222758-2/3E, betreffend Widerruf und Rückforderung von Arbeitslosengeld (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien Wagramer Straße), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis sprach das Bundesverwaltungsgericht - in Bestätigung einer entsprechenden Beschwerdevorentscheidung der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) - aus, dass die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes der Revisionswerberin für die Zeiträume 1. bis 2. Dezember und 5. bis 14. Dezember 2018 gemäß § 24 Abs. 2 AlVG widerrufen und gemäß § 25 Abs. 1 AlVG das unberechtigt Empfangene in Höhe von € 468,-- rückgefordert werde.
2 Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass die Revisionswerberin zuletzt seit 2. Oktober 2018 Arbeitslosengeld bezogen habe. Am 23. November 2018 habe sie dem AMS die Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung in einem Supermarkt mit 24. November 2018 gemeldet. Im Zeitraum 24. November bis 12. Dezember 2018 sei sie dort beschäftigt gewesen, ab 1. Dezember 2018 in einem vollversicherungspflichtigen Dienstverhältnis. Von 30. November bis 4. Dezember 2018 habe sie sich im Krankenstand befunden, weshalb sie von 3. bis 4. Dezember 2018 Krankengeld (bei Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs) bezogen habe.
3 In der Beweiswürdigung führte das Bundesverwaltungsgericht aus, die Feststellung zum vollversicherungspflichtigen Dienstverhältnis gründe sich auf den „Auszug aus dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger mit Stichtag 13.09.2019“ und den von der Revisionswerberin vorgelegten Lohnzettel.
4 Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung ergänzte das Bundesverwaltungsgericht die Feststellungen dahingehend, dass die Revisionswerberin im Zeitraum 1. bis 14. Dezember 2018 ein Nettogehalt von € 355,80 erhalten habe. Das Dienstverhältnis sei für mindestens einen Monat vereinbart gewesen und habe während eines laufenden Monats geendet. Daher - so die rechtliche Schlussfolgerung des Bundesverwaltungsgerichts - sei § 5 Abs. 3 Z 1 ASVG anzuwenden und das Entgelt auf den gesamten Monat hochzurechnen, sodass es die Geringfügigkeitsgrenze übersteige.
5 Da die Revisionswerberin im Dezember 2018 somit insgesamt über der Geringfügigkeitsgrenze verdient habe und dementsprechend auch „vollversichert im Hauptverbandsauszug der österreichischen Sozialversicherungsträger gespeichert“ sei, sei sie im gegenständlichen Zeitraum nicht arbeitslos und daher nicht zum Bezug von Arbeitslosengeld berechtigt gewesen. Vom 13. bis 14. Dezember 2018 habe der Anspruch auf Arbeitslosengeld wegen Bezugs einer Urlaubsersatzleistung geruht.
6 Das demnach zu Unrecht empfangene Arbeitslosengeld sei gemäß § 25 Abs. 1 AlVG zurückzufordern gewesen, weil die Revisionswerberin ihre Meldepflicht verletzt habe, indem sie es unterlassen habe, dem AMS die von ihr geleisteten Überstunden im Ausmaß von 4,10 Stunden und das Ende des Beschäftigungsverhältnisses zu melden.
7 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung sah das Bundesverwaltungsgericht ab, weil der Sachverhalt durch das AMS „nach einem grundsätzlich ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren“ festgestellt worden sei und „den Sachverhaltsfeststellungen, insbesondere jenen in der Beschwerdevorentscheidung, in der Beschwerde bzw. im Vorlageantrag nicht substantiiert entgegen getreten“ worden sei. Zudem liege eine Rechtsfrage von keiner besonderen Komplexität vor.
8 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegenden Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem das AMS eine Revisionsbeantwortung erstattet hat, erwogen hat:
9 Die Revisionswerberin bringt unter dem Gesichtspunkt einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vor, dass das Bundesverwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, insbesondere zur Verpflichtung zur Durchführung einer mündlichen Verhandlung, abgewichen sei. Die Revisionswerberin habe zuletzt in ihrem Vorlageantrag eine mündliche Verhandlung beantragt und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sie Mehr- oder Überstunden niemals geleistet und auch keine Überstundenzuschläge bezogen habe. Im Kollektivvertrag für den Handel sei allerdings für die „Weihnachtssamstage“ ein Zuschlag von 100% für jede geleistete Arbeitsstunde vorgesehen, was ihr nicht bekannt gewesen sei. Zur Auszahlung der Zuschläge sei es außerdem nur deshalb gekommen, weil die Revisionswerberin die entsprechenden Stunden auf Grund der Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch den Dienstgeber nicht mehr - wie eigentlich vorgesehen und vereinbart - durch Zeitausgleich abbauen habe können. Da das Bundesverwaltungsgericht dessen ungeachtet - ohne Prüfung des Sachverhalts und ohne Anhörung der Revisionswerberin - von tatsächlich geleisteten 4,10 Überstunden und der vorwerfbar unterbliebenen Meldung durch die Revisionswerberin ausgehe, weiche es wesentlich von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage des Anspruchs auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab.
10 Die Revision ist schon deshalb zulässig und berechtigt, weil die Voraussetzungen für das Absehen von der beantragten mündlichen Verhandlung nicht vorlagen. Wie die Revisionswerberin in ihrer Zulässigkeitsbegründung aufzeigt, konnte weder von einem unstrittigen Sachverhalt noch von einer fehlenden Komplexität der zu behandelnden Rechtsfragen die Rede sein.
11 Es galt nämlich zunächst zu beantworten, ob tatsächlich ein mehr als geringfügig entlohntes und daher die Arbeitslosigkeit ausschließendes Beschäftigungsverhältnis vorlag. Bei dieser Beurteilung hat das Bundesverwaltungsgericht die Rechtslage verkannt, was im Rahmen des Aufhebungsgrundes einer inhaltlichen Rechtswidrigkeit vorrangig aufzugreifen ist.
12 Für die Frage, unter welchen Bedingungen Arbeitslosigkeit vorliegt, ist § 12 AlVG maßgeblich. Nach dem fallbezogen in Betracht kommenden § 12 Abs. 3 lit. a AlVG gilt als arbeitslos nicht, wer in einem Dienstverhältnis steht. Gemäß § 12 Abs. 6 lit. a AlVG gilt jedoch als arbeitslos, wer aus einer oder mehreren Beschäftigungen ein Entgelt erzielt, das die im § 5 Abs. 2 ASVG angeführten Beträge (Geringfügigkeitsgrenze) nicht übersteigt.
13 Ungeachtet dessen, dass § 12 Abs. 3 lit. a AlVG nicht auf das Bestehen der Vollversicherungspflicht, sondern auf das Bestehen eines Dienstverhältnisses abstellt, ist zufolge der Bestimmung des § 12 Abs. 6 lit. a AlVG der Begriff des nicht geringfügig entlohnten Dienstverhältnisses, der sich aus den genannten Bestimmungen des § 12 AlVG in ihrem Zusammenhang ergibt, ident mit dem des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses iSd § 4 Abs. 2 ASVG, an welches § 1 Abs. 1 lit. a iVm Abs. 4 AlVG für die Arbeitslosenversicherungspflicht (u.a.) anknüpft. Es ist daher rechtlich ausgeschlossen, dass für einen bestimmten Zeitraum sowohl das Vorliegen einer Vollversicherungspflicht iSd § 4 Abs. 1 Z 1 iVm Abs. 2 ASVG und § 1 Abs. 1 lit. a AlVG, gleichzeitig aber auch das Vorliegen von Arbeitslosigkeit bejaht werden kann, zumal die maßgebenden Kriterien einer entsprechend entlohnten abhängigen Beschäftigung in beiden Fällen die gleichen sind. Wer in einem nicht geringfügig entlohnten vollversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis tätig ist, kann schon aus diesem Grunde nicht arbeitslos sein. Bei Vorliegen eines rechtskräftigen, die Versicherungspflicht feststellenden Bescheides ist dieser der Beurteilung zugrunde zu legen und das Vorliegen von Arbeitslosigkeit für den gleichen Zeitraum schon deswegen zu verneinen. Der Bescheid über die Versicherungspflicht ist insoweit als Entscheidung einer Vorfrage gemäß § 38 AVG zu werten (vgl. zum Ganzen VwGH 30.6.1998, 98/08/0129).
14 In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem es an einer rechtskräftigen Entscheidung über die Pflichtversicherung fehlt, sind jedoch im Verfahren nach dem AlVG brauchbare Tatsachenfeststellungen über alle relevanten Umstände der in Frage kommenden Erwerbstätigkeit(en) zu treffen, die eine rechtliche Beurteilung betreffend das Bestehen einer die Arbeitslosigkeit ausschließenden Pflichtversicherung ermöglichen. Eine Bindung an die beim Hauptverband der Sozialversicherungsträger tatsächlich geführten Versichertendaten kann dem Gesetz nicht entnommen werden (vgl. VwGH 24.7.2013, 2011/08/0221, 0222) und wäre im Übrigen schon aus Rechtsschutzgründen nicht zulässig.
15 Das AMS und das Bundesverwaltungsgericht hatten daher - ungeachtet der Speicherung eines vollversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses durch den Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger - selbst zu beurteilen, ob ein nicht nur geringfügiges Beschäftigungsverhältnis vorlag.
16 Gemäß § 5 Abs. 2 ASVG idF BGBl. I Nr. 79/2015 gilt ein Beschäftigungsverhältnis als geringfügig, wenn daraus im Kalendermonat kein höheres Entgelt als (im Jahr 2018) € 438,05 erzielt wird. Gemäß § 5 Abs. 3 Z 1 ASVG liegt kein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis vor, wenn das im Kalendermonat gebührende Entgelt den in Abs. 2 genannten Betrag nur deshalb nicht übersteigt, weil infolge Arbeitsmangels im Betrieb die sonst übliche Zahl von Arbeitsstunden nicht erreicht wird (Kurzarbeit) oder die für mindestens einen Monat oder auf unbestimmte Zeit vereinbarte Beschäftigung im Lauf des betreffenden Kalendermonats begonnen oder geendet hat oder unterbrochen wurde.
17 Die Revisionswerberin bezog nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts für Dezember 2018 ein Nettogehalt von € 355,80 (laut im Akt liegendem Lohnzettel € 402,54 brutto). Damit hatte sie die Geringfügigkeitsgrenze von € 438,05 nicht überschritten. Eine Überschreitung der Geringfügigkeitsgrenze könnte sich allerdings aus der Regelung des § 5 Abs. 3 Z 1 ASVG ergeben, auf die sich das AMS und das Bundesverwaltungsgericht gestützt haben.
18 § 5 Abs. 3 Z 1 ASVG setzt jedoch voraus, dass die Geringfügigkeitsgrenze „nur“ deswegen nicht überschritten wird, weil die für mindestens einen Monat oder auf unbestimmte Zeit vereinbarte Beschäftigung im Lauf des betreffenden Kalendermonats begonnen oder geendet hat oder unterbrochen wurde. Im vorliegenden Fall war zwar ein länger als einen Monat dauerndes Beschäftigungsverhältnis vereinbart, das im Lauf des Kalendermonats wieder beendet wurde. Aus den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts geht aber nicht hervor, dass die Geringfügigkeitsgrenze nur wegen dieser vorzeitigen Beendigung nicht überschritten wurde. Das wäre dann abzuleiten, wenn der Dienstnehmerin für den gesamten Monat - unter Hinzurechnung von Entgeltbestandteilen für schon absehbare, verpflichtend zu erbringende Mehrleistungen - ein über der Geringfügigkeitsgrenze liegendes Entgelt zugestanden wäre. Die Revisionswerberin brachte aber schon im Verfahren vor dem AMS und vor dem Bundesverwaltungsgericht vor, dass sie mit dem Dienstgeber ausdrücklich ein nur geringfügiges Beschäftigungsverhältnis vereinbart hatte, in dem das monatliche Entgelt insgesamt nicht die Geringfügigkeitsgrenze überschreiten sollte. Zwar würde eine tatsächlich höhere monatliche Gehaltszahlung bzw. ein höherer Anspruchslohn ungeachtet dieser Vereinbarung zu einer Vollversicherungspflicht führen. Es ist aber unzulässig, das an den Beschäftigungstagen erzielte Entgelt auf den gesamten Monat hochzurechnen, ohne darauf Bedacht zu nehmen, in welchem Ausmaß die Dienstnehmerin noch zu Arbeitsleistungen verpflichtet gewesen wäre. Das gilt umso mehr dann, wenn das an den Beschäftigungstagen erzielte Entgelt auch Zuschläge für Mehrleistungen (hier: für an verkaufsoffenen Samstagen vor Weihnachten ab 13 Uhr geleistete Stunden gemäß Abschnitt 2 lit. G Pkt. 2.7. des Kollektivvertrags für Angestellte und Lehrlinge in Handelsbetrieben) enthält. In einer solchen Konstellation ist vielmehr zu prüfen, ob die Dienstnehmerin im Fall der Aufrechterhaltung des Dienstverhältnisses voraussichtlich zur Erbringung von weiteren Mehrleistungen verpflichtet gewesen wäre oder aber im Gegenteil - wie die Revisionswerberin im vorliegenden Fall behauptet hat - auf Grund einer Vereinbarung mit dem Dienstgeber einen Anspruch auf Abgeltung der Mehrleistungen durch Zeitausgleich gehabt hätte.
19 Entsprechende Feststellungen hat das Bundesverwaltungsgericht aber - in Verkennung der Rechtslage - nicht getroffen. Damit erweist sich der ausgesprochene Widerruf des Arbeitslosengelds ebenso wie die darauf aufbauende Rückforderung des unberechtigt Empfangenen als rechtswidrig.
20 Nur der Vollständigkeit halber sei noch darauf hingewiesen, dass - auch für den Fall, dass die Revisionswerberin die Anspruchsvoraussetzungen für eine Leistung nach dem AlVG im maßgeblichen Zeitraum nicht erfüllt hätte - richtigerweise eine Einstellung gemäß § 24 Abs. 1 AlVG und nicht ein Widerruf gemäß § 24 Abs. 2 AlVG auszusprechen gewesen wäre, weil auch nach den Annahmen des AMS und des Bundesverwaltungsgerichts nicht schon die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes gesetzlich nicht begründet war, sondern die Voraussetzungen dafür erst nachträglich weggefallen sind. Allein darin, dass unzutreffend ein Widerruf statt einer Einstellung ausgesprochen wird, läge aber noch keine Verletzung in subjektiven Rechten (vgl. VwGH 6.7.2011, 2008/08/0093, unter Hinweis auf das grundlegende Erkenntnis 31.5.2000, 96/08/0258).
21 Das angefochtene Erkenntnis war aus den oben ausgeführten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
22 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 20. Februar 2020
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019080156.L00Im RIS seit
04.01.2021Zuletzt aktualisiert am
05.01.2021