TE Bvwg Erkenntnis 2019/7/16 I408 2007858-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.07.2019
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Entscheidungsdatum

16.07.2019

Norm

BFA-VG §19
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 2
EMRK Art. 3
EMRK Art. 8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52
FPG §52 Abs5
FPG §52 Abs9
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3 Z1
FPG §55 Abs2
StGB §105 Abs1
StGB §107 Abs1
StGB §125
StGB §126 Abs1
StGB §127
StGB §133
StGB §146
StGB §147 Abs1
StGB §15
StGB §164
StGB §229
StGB §241e Abs1
StGB §83 Abs1
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I408 2007858/48E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Harald NEUSCHMID über die Beschwerde von XXXX, StA. Marokko, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.07.2016, GZ 350342402/150714205 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Mit dem verfahrensgegenständlichen Bescheid vom 29.07.2016 wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 5 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.), festgestellt, dass seine Abschiebung nach Marokko zulässig ist (II.), gegen ihn ein auf die Dauer von 3 Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (III.) und ihm eine Frist von zwei Wochen zur freiwilligen Ausreise eingeräumt (Spruchpunkt IV.)

Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben, die sich gegen alle Spruchpunkte richtet.

Der Sachverhalt wurde mit dem Beschwerdeführer in zwei mündlichen Verhandlungen erörtert.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der volljährige Beschwerdeführer ist marokkanischer Staatsbürger. Im Mai 2007 reiste er legal mit seiner Schwester zu seinen bereits in Österreich lebenden Eltern ins Bundesgebiet ein. Seine Identität steht fest und er verfügt über einen Aufenthaltstitel Daueraufenthalt -EU.

Der Beschwerdeführer leidet an komplexen Traumafolge- und Impulskontrollstörungen und ist in seinem Sozialverhalten beeinträchtigt, die sich in einem aggressiven Verhalten niederschlagen. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer drogenabhängig ist. Sonstige schwerwiegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen liegen nicht vor. Diese gesundheitlichen Störungen sind behandelbar. Zuletzt war der Beschwerdeführer haft- und damit auch arbeitsfähig.

Sein aggressives Verhalten belastete schon früh das Familienleben und führte zu einer Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Familienwohnung, verbunden mit einem Betretungsverbot, woran sich der Beschwerdeführer nicht hielt, aber auch zu Übergriffen gegenüber seinen Eltern und seiner Schwester. So kam es u.a. 26.02.2014 kam in der Wohnung seiner Eltern zu einem Handgemenge zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Vater (AS 563) und am 03.03.2014 beschädigte er bei Versuchen in die Wohnung zu gelangen, das Türschloss bzw. das Auto seines Vaters durch Schläge mit seinem Skateboard (AS 659).

Seit 2011 sind wiederholte polizeiliche Aufgriffe u.a. wegen Ladendiebstahl, Sachbeschädigung, Raub, Körperverletzung, Veruntreuung, Verstoß gegen das Waffengesetz und Suchtmittelvergehen dokumentiert.

Zwischenzeitlich weist der Beschwerdeführer in Österreich sieben Vorstrafen auf:

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 09.01.2015, XXXX, wurde der Beschwerdeführer wegen §§ 15, 105 Abs. 1 und 15, 127 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe vom 2 Monaten verurteilt. Er versuchte von seiner Mutter mit einem 30 Zentimeter langen Messerschleifer die Herausgabe von € 150 zu erzwingen und seine Schwester zur Abänderung ihres Aussageverhaltens in diesem Strafverfahren zu nötigen. Außerdem wurde er beim Diebstahl einer Herrenhose betreten.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 03.06.2016, XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen §§ 133 Abs. 1, 107 Abs. 1, 164 Abs. 2 StGB, § 55 Abs. 1 Z 3 WaffG, §§ 15, 105 Abs. 1 StGB, § 83 Abs. 1 StGB, §§ 15, 269 Abs. 1 StGB, §§ 14, 127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten, davon 8 Monate bedingt, verurteilt. Diese Verurteilung lagen gefährliche Drohungen mit der Zufügung von Körperverletzungen gegenüber unterschiedlichen Personen am 27.06.2015, 26.02.2016 und 27.06.2015, eine versuchte Körperverletzung am 26.02.2016, Besitz einer verbotenen Waffe (Butterfly-Messer mit einer Klingenlänge von 12 cm), Nichtrückgabe einer anvertrauten Uhr im Wert von € 2.000, Hehlerei von gestohlenen Sachen am 22.02.2016 und Diebstähle von Lebensmittel und Drogerieartikel am 23.02.016 und 26.02.2016 zu Grunde.

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 14.02.2017, XXXX erfolgte wegen §§ 15, 105 Abs. 1 StGB eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Monaten und wegen §§ 15, 127 StGB und §§ 15, 83 Abs. 1 StGB mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 23.03.2017, XXXX eine unbedingte Freiheitsstrafe von 6 Wochen als Zusatzstrafe. Eine weitere Zusatzstrafe, nochmals eine Freiheitsstrafe von 6 Wochen, folgte mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 17.01.2018, XXXX wegen §§ 125, 126 Abs. 1 StGB. In diesem Fall waren es Sachbeschädigungen des Beschwerdeführers in der Haftanstalt (Verstopfung der Toilette und Überflutung der Zelle, Übergießen der Rufanlage mit Wasser und Herumwerfen mit Fäkalien).

Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 10.08.2018, XXXX wurde der Beschwerdeführer dann wegen § 241e Abs. 1 StGB, §§ 15, 105 Abs. 1 StGB, §§ 229 Abs. 1, 146, 147 Abs. 1 StGB und §127 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 12 Monaten. Hierbei ging es um gefährliche Drohungen im Feber und März 2018, um Diebstähle am 11. und 12. Feber 2018, und die unrechtmäßige Verwendung einer fremden Bankomatkarte und fremder Ausweise bzw. Konten. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 11.01.2019, XXXX erging gegen ihn wegen § 83 Abs. 2 StGB eine weitere Freiheitsstrafe von 2 Monaten als Zusatzstrafe.

Der Beschwerdeführer war von 28.06.2015 bis 13.07.2015, 26.02.2016 bis 07.06.2016, 12.01.2017 bis 23.06.2017 und zuletzt vom 26.02.2018 bis 16.04.2019 in Haft. In der Haft wurde er von seiner Mutter regelmäßig besucht.

Trotz Unterstützung über Jugendwohlfahrt, Jugendcoaching und dem Verein Neustart hat der Beschwerdeführer in Österreich weder die Schule abgeschlossen noch verfügt er über einen Berufsabschluss. Er ist im Bundesgebiet auch nicht in Vereinen oder sonstigen Organisationen aktiv tätig oder eingebunden.

Der Beschwerdeführer ist Vater einer am 22.03.2018 geborenen Tochter. Er war zum Zeitpunkt der Geburt in Haft und hat aber weder zur Kindesmutter noch zu seiner Tochter einen Kontakt und war bisher auch nicht in der Lage, Unterhaltszahlungen zu leisten.

Der Beschwerdeführer beherrscht sowohl die deutsche als auch die arabische Sprache, hat die ersten Lebensjahre bei seinem Großvater in seinem Herkunftsland verbracht und es bestehen in Marokko, auch wenn seine Eltern und seine Schwester in Österreich leben, weiterhin verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte. Er ist ein junger, arbeitsfähiger Mann, der aufgrund seiner Sprachkenntnisse und Auslandserfahrungen in der Lage ist, sich auch in ein einem zwischenzeitlich fremdgewordenen Umfeld zu behaupten.

Marokko verfügt über eine stabile Regierung sowie über funktionierende staatliche Institutionen. Die Grundversorgung der Bevölkerung ist gewährleistet (AA 14.2.2018). König Mohammed VI. und die bisherige Regierung streben eine durchgreifende Modernisierung und Diversifizierung des Landes an, das seine Chancen neben dem Hauptpartner EU verstärkt in Afrika sucht. Gebergemeinschaft, OECD und IWF unterstützen diesen Modernisierungskurs (AA 10.2017c). Formal ist Marokko eine freie Marktwirtschaft. Gleichzeitig sind immer mehr Marokkaner auf Überweisungen aus dem Ausland angewiesen, um zu überleben (GIZ 7.2018c).

Die Arbeitslosigkeit bewegt sich laut offiziellen Zahlen bei 10%, allerdings bei sehr viel höherer Jugendarbeitslosigkeit (25%) (ÖB 9.2015). Der Bevölkerungszuwachs in den aktiven Altersgruppen liegt deutlich höher als die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Die reale Arbeitslosenquote, insbesondere bei Jugendlichen, liegt deutlich über den offiziell angegebenen ca. 9% (AA 10.2017c).

Die medizinische Grundversorgung ist vor allem im städtischen Raum weitgehend gesichert. Medizinische Dienste sind kostenpflichtig und werden bei bestehender gesetzlicher Krankenversicherung von dieser erstattet (AA 14.2.2018).

Marokko gilt als sicherer Herkunftsstaat. Ein dorthin zurückkehrender Erwachsener, der arbeitsfähig ist, ist bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat aus in seiner Person gelegenen Gründen oder auf Grund der allgemeinen Lage vor Ort keiner realen Gefahr einer Verletzung der durch Art 2 EMRK, Art 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur EMRK geschützten Rechte oder als Zivilperson einer ernsthaften Bedrohung seines Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes in Marokko ausgesetzt.

2. Beweiswürdigung:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt ergibt sich aus den Erhebungsergebnissen der belangten Behörde, insbesondere auf den zahlreichen polizeilichen Abschlussberichten, den im Akt aufliegenden Strafurteilen, den vorgelegten ärztlichen Befunden und den Stellungnahmen des Beschwerdeführers aufgrund des eingeräumten Parteiengehörs durch die belangte Behörde. Zudem wurde der entscheidungsrelevante Sachverhalt mit dem Beschwerdeführer und seiner Rechtsvertretung in zwei mündlichen Verhandlung erörtert und aus der Haftanstalt die Besucherliste und seine dort aufliegende Krankengeschichte eingeholt.

Seine Identität, Nationalität sowie seine Aufenthaltsberechtigung in Österreich sind unstrittig und zweifelsfrei dokumentiert.

Die Feststellungen zu seinen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, aber auch zu seiner Haft- und daraus abgeleiteten Arbeitsfähigkeit ergeben sich aus den im Behördenakt aufliegenden Befunden, den Angaben des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung und werden über die von der Krankenabteilung der Haftanstalt eingeholten Krankengenschichte bestätigt. Die von der Jugendwohlfahrt und dem Verein Neustart angebotenen und geleisteten Unterstützungen sind ebenfalls im Behördenakt dokumentiert. In der Gesamtschau zeigt es sich, dass die Traumafolge- und Impulskontrollstörungen - bei Mitwirkung des Beschwerdeführers - gut behandelbar sind.

Die Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen, den dabei zu Grunde liegenden Straftaten sowie den Auseinandersetzungen im Familienkreis ergeben sich aus den im Akt aufliegenden Polizeiberichten, den Strafurteilen sowie der Einsichtnahme in das Strafregister. Dass trotzdem familiäre Kontakte zu seinen Eltern bestehen, ist durch die Haftbesuche seiner Mutter dokumentiert.

Die Feststellungen zu seinem fehlenden Schulabschluss, der fehlenden Berufsausbildung und der fehlenden Einbindung in Vereinen oder sonstigen Organisationen ergeben sich aus den Angeben des Beschwerdeführers. Ebenso die Vaterschaft zu einer Tochter sowie der nicht vorhandene Kontakt zu seinem Kind bzw. zur Kindesmutter.

Der Beschwerdeführer räumt selbst ein, dass er sowohl die deutsche als auch arabische Sprache beherrscht. Dass die Sprache seines Herkunftsstaates in den letzten Jahren in den Hintergrund getreten ist und er sie, wie in der mündlichen Verhandlung angeführt, "nur mehr ein bisschen beherrscht", ist nach seinem langjährigen Aufenthalt in Österreich nicht verwunderlich.

Der Beschwerdeführer führt zwar in einem handschriftlichen Schreiben im Vorfeld der mündlichen Verhandlung (OZ 38) sowie in der mündlichen Verhandlung am 08.10.2018 (OZ 39) an, dass er niemanden mehr in Marokko habe, sein Opa verstorben sei und bzw. die Geschwister seiner Eltern alle in Europa leben. Das ist bei der vom Beschwerdeführer selbst angeführten Größe der Familie (15 Geschwister seiner Eltern) unglaubwürdig und es wird davon ausgegangen, dass weiterhin familiäre Anknüpfungspunkte in Marokko bestehen. Unabhängig davon kann von einem volljährigen, jugendlichen Erwachsenen erwartet werden, dass er aus eigenem in der Lage ist, für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.

Die Feststellungen zur allgemeinen Situation und der aktuellen Lage in Marokko beruhen auf dem aktuellen Länderbericht zu Marokko, der zusammengefasst mit dem Beschwerdeführer in der mündlichen Verhandlung erörtert wurde. Alle gängigen Medikamente sind in Marokko erhältlich und es wird primär am Beschwerdeführer liegen, ob er sie regelmäßig einnimmt.

Der Beschwerdeführer ist diesen Feststellungen noch den darin angeführten Quellen substantiiert entgegengetreten. Nach Erörterung in der mündlichen Verhandlung hat er auf eine Stellungnahme verzichtet.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A)

3.1. Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides):

Der Beschwerdeführer verfügt über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU", weshalb die belangte Behörde die Rückkehrentscheidung zu Recht anhand den Voraussetzungen von § 52 Abs. 5 FPG geprüft hat.

Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen, der den erhöhten Schutz vor einer Aufenthaltsbeendigung gemäß § 52 Abs. 5 FPG genießt, ist nur dann zulässig, wenn dieser einen Sachverhalt gesetzt hat, der ein Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 3 FPG rechtfertigt und die Annahme gerechtfertigt ist, dass sein weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen würde.

Der Beschwerdeführer weist sieben strafgerichtliche Verurteilungen auf und befand sich zuletzt vom 26.02.2018 bis 16.04.2019 durchgehend in Haft. Damit hat der Beschwerdeführer einen Sachverhalt gesetzt, der die Voraussetzungen für die Verhängung eines Einreiseverbotes für die Dauer von maximal 10 Jahren gemäß § 53 Abs. 3 Z 1 FPG erfüllt. Es ist daher zu prüfen, ob sein weiterer Aufenthalt eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen würde.

Bei der Prüfung, ob die Annahme einer solchen Gefährdung gerechtfertigt ist, muss eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung vorgenommen werden (VwGH 27.04.2017, Ra 2016/22/0094). Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (VwGH 20.12.2016, Ra 2016/21/0109).

Darüber hinaus ist unter dem Gesichtspunkt von Art 8 EMRK die Verhältnismäßigkeit einer Rückkehrentscheidung am Maßstab des § 9 BFA-VG zu prüfen. Nach dessen Abs. 1 ist (ua) die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, die in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingreift, nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei Beurteilung dieser Frage ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0198).

Gemäß Art 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Art 8 Abs. 2 EMRK legt fest, dass der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft ist, soweit er gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK sind gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG insbesondere Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war (Z 1), das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (Z 2), die Schutzwürdigkeit des Privatlebens (Z 3), der Grad der Integration (Z 4), die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden (Z 5), die strafgerichtliche Unbescholtenheit (Z 6), Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts (Z 7), die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (Z 8) und die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist (Z 9), zu berücksichtigen.

§ 9 Abs. 4 BFA-VG normiert ein Verbot der Erlassung einer Rückkehrentscheidung bei einer Aufenthaltsverfestigung. Demnach darf gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden, wenn ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 StbG verliehen hätte werden können, es sei denn, eine der Voraussetzungen für die Erlassung eines Einreiseverbots von mehr als fünf Jahren gemäß § 53 Abs. 3 Z 6, 7 oder 8 FPG liegt vor (Z 1) oder wenn er von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist (Z 2). § 9 Abs. 5 und 6 BFA-VG enthalten weitere Einschränkungen für die Erlassung von Rückkehrentscheidungen bei langer Aufenthaltsdauer im Inland. Gemäß § 9 Abs. 5 BFA-VG darf gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts bereits fünf, aber noch nicht acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, mangels eigener Mittel zu seinem Unterhalt, mangels ausreichenden Krankenversicherungsschutzes, mangels eigener Unterkunft oder wegen der Möglichkeit der finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft keine Rückkehrentscheidung erlassen werden, wenn er glaubhaft macht, die Mittel zu seinem Unterhalt und seinen Krankenversicherungsschutz durch Einsatz eigener Kräfte zu sichern oder eine eigene Unterkunft beizubringen, und dies nicht aussichtslos scheint. Gemäß § 9 Abs. 6 BFA-VG darf gegen einen Drittstaatsangehörigen, der vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts bereits acht Jahre ununterbrochen und rechtmäßig im Bundesgebiet niedergelassen war, eine Rückkehrentscheidung nur mehr erlassen werden, wenn die Voraussetzungen gemäß § 53 Abs. 3 FPG vorliegen.

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Sachverhalt ergibt Folgendes:

Wie schon ausgeführt wurde der Beschwerdeführer siebenmal rechtskräftig verurteilt. Aus den Verurteilungen ergibt sich, dass der Beschwerdeführer seit seiner ersten Verurteilung im Jahr 2015 in immer kürzeren Abständen gegen die österreichische Rechtsordnung verstößt. Weder die bisher ergangenen strafgerichtlichen Verurteilungen sowie die Unterstützungsmaßnahmen seitens der Jugendwohlfahrt und anderer diesbezüglicher Organisationen, noch das laufende verwaltungsgerichtliche Verfahren in Bezug auf die erlassene Rückkehrentscheidung verbunden mit einem zweijährigen Einreiseverbot haben beim Beschwerdeführer zu einem Umdenkprozess geführt. Er nimmt all diese Angebote nicht an und nimmt auch die Medikamente nicht wie vorgeschrieben ein.

Mit seinem nunmehrigen Vorbringen, er bereue diese Straftaten begangen zu haben, er habe in diesem Zeitraum seine psychische Erkrankung nicht im Griff gehabt, die verschriebenen Medikamente nicht eingenommen und Drogenprobleme gehabt und wolle nun einen Schul- bzw. Berufsabschluss erreichen, versucht der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine positive Zukunftsprognose geltend zu machen.

Um von einem Wegfall oder einer wesentlichen Minderung der vom Fremden ausgehenden Gefährlichkeit ausgehen zu können, bedarf es jedoch grundsätzlich eines Zeitraums des Wohlverhaltens, wobei in erster Linie das gezeigte Wohlverhalten in Freiheit maßgeblich ist (vgl. VwGH vom 27.04.2017, Ra 2016/22/0094). Der Beschwerdeführer ist derzeit jedoch noch immer in Haft, das letzte Datum der Tag war der 23.02.2017, weshalb jedenfalls von einer Minderung oder Wegfall der ausgehenden Gefährlichkeit des Beschwerdeführers nicht auszugehen ist.

Bei einer Gesamtbetrachtung aller aufgezeigten Umstände und der auf Grund des persönlichen Fehlverhaltens des Beschwerdeführers getroffenen Gefährdungsprognose ist davon auszugehen, dass der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.

Der Tatbestände der §§ 9 Abs. 4, 5 und 6 BFA-VG sind aufgrund der Verurteilungen des Beschwerdeführers nicht erfüllt.

Bei der Beurteilung der Frage, ob die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme aus dem Blickwinkel des § 9 Abs. 1 und Abs. 2 BFA-VG iVm Art. 8 EMRK zulässig ist, ist eine gewichtende Gegenüberstellung des öffentlichen Interesses des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich vorzunehmen:

Der volljährige Beschwerdeführer ist seit Mai 2007 in Österreich rechtmäßig aufhältig. Er hat in dieser Zeit weder einen Schulabschluss erreicht noch eine Berufsausbildung abgeschlossen und geht keiner regelmäßigen Beschäftigungen nach. Der Beschwerdeführer konnte bisher in Österreich nicht Fuß fassen und verfügt, abgesehen von seinen hier lebenden Eltern und seiner Schwester über kein Familienleben. Dieses ist aufgrund seiner Tätlichkeiten gegenüber Familienmitgliedern und ergangener Wegweisungen sowie Betretungsverbote als belastet anzusehen. Zu seiner Tochter, die zwischenzeitlich in Deutschland lebt, hat er keinen Kontakt und leistet auch keinen Unterhalt. Marokko ist ein sicherer Herkunftsstaat und ein arbeitsfähiger, junger Mann, noch dazu mit Fremdsprachkenntnissen ist keiner lebensbedrohlichen Notlage ausgesetzt.

Unter Berücksichtigung aller aufgezeigten maßgeblichen Umstände, insbesondere der zwischenzeitlich insgesamt siebenmaligen Straffälligkeit führt die geforderte Interessenabwägung letztlich zum Ergebnis, dass der Eingriff in das Privatleben im Hinblick auf das Überwiegen des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt ist.

3.2. Zur Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkt II.)

Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hat das BFA mit einer Rückkehrentscheidung gleichzeitig festzustellen, dass eine Abschiebung eines Drittstaatsangehörigen gemäß § 46 in einen oder mehrere bestimmte Staaten zulässig ist, es sei denn, dass dies aus vom Drittstaatsangehörigen zu vertretenden Gründen nicht möglich sei.

Dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr nach Marokko einer Gefährdung im Sinn des Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre oder ihm die Todesstrafe dort drohen könnte, ist nicht ersichtlich und auch in der Beschwerde bzw. der Eingabe des Beschwerdeführers vom 04.07.2017 nicht behauptet worden. Im Hinblick auf die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid gemäß § 52 Abs 9 iVm § 50 FPG getroffene Feststellung sind keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung in den Herkunftsstaat unzulässig wäre. Derartiges wurde weder im Beschwerdeschriftsatz noch in der Eingabe vom 04.07.2017 behauptet.

Da alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung vorliegen, war die Beschwerde gegen Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides abzuweisen.

3.3. Zur Erlassung eines Einreiseverbotes in der Dauer von 2 Jahren (Spruchpunkt III des angefochtenen Bescheides):

Gemäß § 53 Abs. 3 FPG ist ein Einreiseverbot für die Dauer von höchstens zehn Jahren, zu erlassen, wenn bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.

Als bestimmte Tatsache, die bei der Bemessung der Dauer des Einreiseverbotes neben den anderen in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen relevant ist, hat unter anderem nach Z 1 leg. cit. zu gelten, wenn ein Drittstaatsangehöriger von einem Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer bedingt oder teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhenden strafbaren Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist. Dieser Tatbestand ist beim Beschwerdeführer unbestrittenermaßen erfüllt. Im vorliegenden Fall ist somit die Voraussetzung des § 53 Abs 3 Z 1 FPG erfüllt.

Auch die Art und Weise der Begehung der oben angeführten Straftaten sowie der Umstand, dass der Beschwerdeführer bislang kein hinreichendes Schuldbewusstsein erkennen ließ, die zuletzt begangenen Straftaten noch nicht lange zurückliegen, lässt auch auf Grund der wirtschaftlichen Situation des Beschwerdeführers eine Prognose für eine Tatwiederholungsgefahr jedenfalls nicht als unbegründet erscheinen, insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Beschwerdeführer zuletzt obdachlos gemeldet war und er auch über kein geregeltes Einkommen verfügt.

All dies weist unzweifelhaft auch auf eine beträchtliche kriminelle Energie des Beschwerdeführers, der wiederholt auch vor der Ausübung körperlicher Gewalt nicht zurückscheute, hin. Die Verhinderung strafbarer Handlungen stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar. Wie bereits unter Punkt 3.2. ausführlich ausgeführt wurde, muss davon ausgegangen werden, dass weiterhin vom Beschwerdeführer eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit ausgeht.

Das von der belangten Behörde angeordnete Einreiseverbot erweist sich somit dem Grunde nach als zulässig.

Im gegenständlichen Fall belässt der erkennende Richter trotz der weiteren Straffälligkeiten des Beschwerdeführers im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, die zu mehrmonatigen Haftstrafen geführt haben, die Dauer des verhängten Einreiseverbotes bei der von der belangten Behörde festgelegten 2 Jahren. Damit wird dem jugendlichen Alter des Beschwerdeführers und dem Umstand, dass seine Kernfamilie den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in Österreich hat und seine Tochter in Europa lebt, Rechnung getragen. Es wird am Beschwerdeführer selbst liegen, in seinem Herkunftsstaat aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und die nächsten Jahre für seine weitere Zukunft zu nützen

3.4. Zur Frist für die freiwillige Ausreise (Spruchpunkt VI. der angefochtenen Bescheide):

Die Frist für die freiwillige Ausreise beträgt nach § 55 Abs. 2 FPG 14 Tage ab Rechtskraft des Bescheides, sofern nicht im Rahmen einer vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorzunehmenden Abwägung festgestellt wurde, dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hat, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen.

Derartige "besondere Umstände" wurden von den Beschwerdeführern nicht ins Treffen geführt und sind auch im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht hervorgekommen.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.

Schlagworte

Abschiebung, Diebstahl, Einreiseverbot, freiwillige Ausreise, Frist,
Gefährdung der Sicherheit, Gefährdungsprognose, gefährliche Drohung,
Gesamtbetrachtung, Gesamtverhalten AntragstellerIn, Haft,
Haftstrafe, Interessenabwägung, Körperverletzung, mündliche
Verhandlung, öffentliche Interessen, öffentliche Ordnung,
öffentliche Sicherheit, Persönlichkeitsstruktur, Prognose,
Rückkehrentscheidung, Sachbeschädigung, sicherer Herkunftsstaat,
Straffälligkeit, Strafhaft, strafrechtliche Verurteilung, Straftat,
Verhältnismäßigkeit, Vorstrafe

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:I408.2007858.2.00

Zuletzt aktualisiert am

11.03.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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