TE Bvwg Erkenntnis 2019/10/9 W173 2188981-1

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Veröffentlicht am 09.10.2019
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Entscheidungsdatum

09.10.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W173 2188998-1/15E

W173 2188964-1/10E

W173 2188991-1/10E

W173 2188981-1/10E

W173 2189001-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Margit MÖSLINGER-GEHMAYR als Einzelrichterin über die Beschwerden von 1)

XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, 2) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, 3) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, 4) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan und 5) XXXX , geb. am XXXX , StA. Afghanistan, alle vertreten durch den Rechtsanwalt Dr. Gregor Klammer, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl jeweils vom 2.2.2018, zu den Zahlen 1) 1090995101 - 151539075,

2) 1090995907 - 151539199, 3) 1090996207 - 151539130, 4) 1128129207 - 161193375 und 5) 1090994910 - 151538940 nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23.7.2019 zu Recht:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 sowie XXXX und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status von Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX und XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. XXXX (in der Folge 1.BF), XXXX (in der Folge 2.BF), XXXX (in der Folge 3.BF) und XXXX (in der Folge 5.BF) reisten im Oktober 2015 illegal und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellten am 12.10.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Für die minderjährigen Beschwerdeführer (2.BF und 3.BF) stellte die 1.BF als deren gesetzliche Vertreterin ebenso am 12.10.2015 die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

2. Bei ihrer Erstbefragung durch die Landespolizeidirektion Salzburg am 13.10.2015 gab die 1.BF an, der Volksgruppe der Paschtunen anzugehören und sunnitischen Glaubens zu sein. Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die 1.BF an, dass sie nach Österreich geflüchtet seien, weil es in Afghanistan keine Sicherheit, sondern ständig Krieg gebe. Von einer Seite hätten die Amerikaner angegriffen und von der anderen Seite die Taliban. Sie seien genau in der Mitte gewesen. Ihre Schule sei verbrannt worden und es sie ihnen verboten worden, dass sie den Kindern das Schreiben beibringen. Sie habe zu Hause die Kinder ehrenamtlich lehren müssen. Dies sei den Taliban bekannt gewesen. Aufgrund dessen sei sie mit der Todesstrafe bedroht worden. Weitere Fluchtgründe habe sie nicht. Im Fall der Rückkehr befürchte sie, von den Taliban oder den Amerikanern infolge Bomben getötet zu werden.

Der 5.BF gab im Zuge seiner Erstbefragung am 13.10.2015 an, Paschtune sunnitischen Glaubens zu sein. Er habe fünf Jahre die Schule besucht. Zu seinen Fluchtgründen führte er aus, dass in Afghanistan allgemein und insbesondere wo er wohne, ständig Krieg sei. Seine Frau sei Lehrerin und die Taliban hätten sie bedroht, dass sie Kinder und Mädchen in Zukunft nicht mehr lehren dürfe. Schulen würden verbrannt und die Menschen könnten nicht in Ruhe leben. Seine Kinder würden nicht ruhig schlafen können, weil überall geschossen werde. Er habe jede Nacht gedacht, dass jemand eine Bombe auf sein Haus werfen werde. Weitere Fluchtgründe habe er nicht.

Für die minderjährigen 2.BF und 3.BF wurden von ihren Eltern (1.BF und 5.BF) keine Fluchtgründe vorgebracht.

3. Für die am XXXX nachgeborene XXXX (4.BF) wurde vom 5.BF als ihr gesetzlicher Vertreter am 30.8.2016 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

4. In der Einvernahme durch Organe des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Regionaldirektion Oberösterreich, am 13.12.2017, führte die 1.BF aus, sie sei in XXXX im Distrikt Shindad in der Provinz Herat geboren, gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und sei sunnitischen Glaubens. Sie sei mit dem 5.BF verheiratet und sei dies ihr zweiter Ehemann. Als sie ein kleines Kind gewesen sei, sei ihr Vater getötet worden und sie sei mit der restlichen Familie in den Iran geflüchtet. Dort habe sie gelebt und sieben Jahre lang die Schule besucht. Sie sei dann nach Afghanistan zurückgekehrt. Sie sei von zwei Schuldirektoren zu Hause unterrichtet worden und habe dann zwei Jahre lang in Herat die Schule besucht. Dann habe sie geheiratet. Als die Taliban an die Macht gekommen seien, habe es keine Schule gegeben. Nach deren Machtverlust hätten auch die Frauen wieder zur Schule gehen können. Sie habe geheiratet und ihr Mann sei gestorben. Danach habe sie für ein weiteres Jahr die Schule besucht und dann begonnen, im Dorf XXXX als Lehrerin zu arbeiten. Sie habe Mädchen unterrichtet. Es habe sich aber die Lage langsam verschlechtert, weil die Taliban dagegen gewesen seien. Sie sei etwa zehn oder elf Jahre als Lehrerin beschäftigt gewesen. In den Nachbardörfern seien zwei Schulen von den Taliban zur Gänze zerstört worden. Sie habe während des Unterrichts die Taliban gehört und flüchten können. Etwa ein bis zwei Monate vor der Ausreise habe sie sich entschlossen, Afghanistan zu verlassen. Über ihre Fluchtgründe befragt, gab die 1.BF an, dass sie als Lehrerin Mädchen in einer Mädchenschule unterrichtet habe. Die Taliban seien gegen diese Tätigkeit gewesen und hätten die Schule geschlossen. Sie sei mehrmals bedroht worden, dass sie umgebracht würde, wenn sie weiter Mädchen unterrichten würde. Sie sei von den Taliban aufgefordert worden, in die Moschee zu kommen und zu reden, warum sie daheim Mädchen unterrichtet habe. Sie habe das gemacht, weil es einige Mädchen gegeben habe, die großes Interesse an Bildung gehabt hätten. Von der Moschee sei der Mullah gekommen und habe gesagt, dass sie sich verstecken oder ausreise solle, weil die Taliban sehr böse auf sie wären und bald kommen würden. Da hätten sie beschlossen zu flüchten. In Afghanistan erwarte sie der Tod. Sie sei auch aktiv gewesen, als Präsident Karzai an die Macht gekommen sei und habe bei der Austeilung der Wahlkarten geholfen. Bei der NGO SRS habe sie auch sechs Monate gearbeitet und sei dort als Lehrerin beschäftigt gewesen. Sie habe dort Frauen unterrichtet, die über 18 Jahre alt gewesen seien. Sie habe für die NGO auch Leuten beigebracht, Teppiche zu knüpfen und sei für Frauen zuständig gewesen, die ihren Ehemann verloren hätten. Die NGO habe aufgehört, in ihr Dorf zu kommen, nachdem die Taliban stärker geworden seien. Ihr Ehemann habe keine eigenen Fluchtgründe. Unterlagen über ihre Arbeit bei der NGO habe sie aus Angst vor den Taliban vernichtet. Persönlich habe sie keinen Kontakt zu den Taliban gehabt. Als diese in die Schule gekommen seien, seien sie geflüchtet. Sie hätten den Schulwärter geschlagen und alles zerstört, aber sie habe noch flüchten können. Die Taliban seien informiert worden, dass sie daheim Mädchen unterrichte und bei NGOs gearbeitet habe. Sie seien in der Moschee, 20 Meter von ihrem Haus entfernt, gewesen und hätten die 1.BF aufgefordert, zu ihnen zu kommen. Die 1.BF sei nicht gekommen und habe extreme Angst bekommen. Befragt, ob in den zwei Monaten vor ihrer Ausreise noch etwas vorgefallen sei, gab die 1.BF an, dass zwei, drei Lehrer und auch die zuständige Person im Bildungsministerium für Shindad getötet worden seien. Sonst sei nichts vorgefallen, sie sei meist zu Hause gewesen und habe das Haus nicht verlassen. Sie habe in Angst gelebt. Konkret sei sie vom Dorfimam aufgefordert worden, mir ihm zu den Taliban in die Moschee zu kommen. Dieser habe den Taliban dann mitgeteilt, dass sie gerade nicht daheim seien und die Taliban hätten gesagt, dass sie in zwei Tagen noch einmal kommen würden. Nach zwei Tagen hätten sie dann nochmals den Imam geschickt und seien nicht persönlich gekommen. Sie habe wegen der Taliban Angst um ihr Leben. In Österreich sei sie in Sicherheit und könne in Ruhe schlafen. Sie habe den Kurs A1 absolviert und besuche gerade einen A2-Kurs. Ihr Leben hier sei sehr gut, sie habe österreichische Freunde, lerne Deutsch und nehme an Veranstaltungen der Schule teil. Sie bemühe sich, auch hier Lehrerin zu werden, wofür aber die Matura erforderlich sei. Von der 1.BF wurden im Zuge der Einvernahme mehrere Teilnahmebestätigungen für Kurse, ihre Tazkira sowie Tazkiras der übrigen Antragsteller, ein Zertifikat über ein "Teacher Training Program" und einen Identitätsausweis, jeweils ausgestellt vom afghanischen "Ministry of education", vorgelegt.

5. Der 5.BF gab in seiner Einvernahme durch das BFA am 13.12.2017 an, er sei in XXXX im Distrikt Shindad in der Provinz Herat geboren, gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an und sei sunnitischen Glaubens. Er sei mit der 1.BF verheiratet und habe mit ihr drei minderjährige Kinder ( XXXX und XXXX ). Er habe vier Jahre lang die Schule besucht. Er habe im Familienbetrieb in der Hühnerfarm und im Lebensmittelgeschäft gearbeitet. Er habe auch seinem Vater in der Landwirtschaft geholfen. Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der

5. BF an, dass seine Ehefrau Lehrerin gewesen sei und sie deswegen von den Taliban bedroht worden seien. Sie habe Kinder und Mädchen in der Schule unterrichtet. Die Taliban seien gekommen und hätten die Schule zerstört. Weil seine Frau Lehrerin gewesen sei, sei auch sein Leben in Gefahr gewesen. Sie seien wegen der Tätigkeit seiner Frau über die Moschee bedroht worden. Die Taliban seien in der Moschee gewesen und hätte gesagt, seine Frau unterrichte Mädchen und bekomme dafür Geld. Die Taliban seien dagegen gewesen und hätten die Meinung vertreten, dass es sich um einen falschen Weg bei Mädchen handle. Weil er seine Frau immer unterstützt habe, sei auch sein Leben in Gefahr und aus diesem Grund sei er ausgereist. Dies seien seine sämtlichen Fluchtgründe. Die Mädchenschule in XXXX sei 15 bis 20 Minuten zu Fuß von ihrem Haus entfernt gewesen. Persönlich habe er nie Kontakt zu den Taliban gehabt. Bei seiner letzten Bedrohung durch die Taliban seien diese zur Zeit des Abendgebets in der Moschee gewesen. Die Taliban hätten gesagt, dass die 1.BF keine Mädchen unterrichten dürfe, Das entspreche nicht dem Gesetz. Es handle sich um einen falschen Weg für Mädchen. Ein Dorfbewohner habe ihnen mitgeteilt, dass das in der Moschee gesprochen worden sei und sie seien aufgefordert worden, zu der 100 Meter entfernten Moschee zu kommen. Sie seien nicht hingegangen. Die Aufforderung in die Moschee zu kommen habe ein Dorfbewohner mitgeteilt, der vom Imam der Moschee geschickt worden sei. Dieser Dorfbewohner heiße XXXX . Die Moschee sei etwa hundert Meter vom Haus der Familie entfernt. Der Vater habe ihn darüber informiert, dass sie nicht zu Hause seien. Sie würden aber wieder gekommen. Der Vater habe bei einer Besprechung die Meinung vertreten, zu zahlen oder getötet zu werden. Drei Tage später seien sie geflohen. Nach der Rückübersetzung merkte der 5.BF an, dass nicht XXXX , sondern der Imam von der Moschee gekommen sei. Er habe gedacht, dass es XXXX sei, aber jetzt wisse er, dass es der Imam gewesen sei.

6. Die belangte Behörde hat mit den oben im Spruch angeführten Bescheiden vom 2.2.2018 die gegenständlichen Anträge der Beschwerdeführer (1.BF bis 5.BF) auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 wurde den Beschwerdeführern (1.BF bis 5.BF, in der Folge BF) subsidiärer Schutz zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 2.2.2019 erteilt (Spruchpunkte II. und III.).

Begründend wurde zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass eine Bedrohung durch Aufständische wie den Taliban aufgrund der beruflichen Tätigkeit der 1.BF nicht glaubhaft gemacht werden habe können. Die Schilderungen der 1.BF seien widersprüchlich gewesen. Die 1.BF habe vorgebracht, dass sie von den Taliban mehrmals bedroht worden sei und diese mit dem Umbringen gedroht hätten. Sie habe aber auf Nachfrage jedoch einen persönlichen Kontakt mit den Taliban verneint. Die Schilderung des letzten und fluchtauslösenden Vorfalls sei sehr vage und teils nicht plausibel gewesen. Es sei nicht nachvollziehbar, warum die Taliban von der Moschee aus einen Botschafter ins nur 20 Meter entfernte Haus der BF schicken würden. Die 1.BF habe den Imam als Überbringer der Bedrohungsbotschaft genannt. Der 5.BF habe im Widerspruch dazu jedoch den weitschichtig Verwandten XXXX als Überbringer der Nachricht genannt. Hierzu sei noch interessanter und aufschlussreicher, dass der 5.BF XXXX in der Einvernahme genannt habe, dies auch nach Rückübersetzung bestätigt habe. Nach einer Pause, in der der BF5 die Möglichkeit gehabt habe, im Aufenthaltsbereich mit der 1.BF Kontakt aufzunehmen, habe der BF 5 jedoch seine Aussage revidiert und sei auf die Version der Geschichte der 1.BF "umgestiegen". Dies habe den Verdacht einer Absprache erweckt. Auch sei nicht nachvollziehbar, dass die 1.BF angegeben habe, die Taliban hätten gedroht in zwei Tagen noch einmal zu kommen, aber die 1.BF nach dem Entschluss zur Flucht noch ein bis zwei Monate in Afghanistan geblieben wäre. Dies sei auch widersprüchlich zu den Aussagen des 5.BF, der angegeben habe, dass sie vor der Wiederkehr der Taliban ausgereist seien und dies am dritten Tag nach dem Entschluss zur Ausreise geschehen wäre. Ein Erklärungsversuch des BF 5 zu den zwei Monaten zwischen dem Entschluss und der Ausreise sei nicht überzeugend gewesen. Die Behörde sei daher zum Schluss gekommen, dass die 1.BF eine persönliche Bedrohung durch Aufständische wie die Taliban aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit nicht erlebt habe.

Hinsichtlich Spruchpunkt II. und III. wurde festgestellt, dass der

1. BF und dem 5.BF zwar eine Rückkehr zumutbar, eine Rückkehr im Familienverband mit drei, teils nicht gesunden, Kindern im Moment aber nicht möglich sei.

7. Gegen die im Spruch angeführten Bescheide vom 2.2.2018 wurde am 6.3.2018 von den BF (1.BF bis 5.BF), vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, jeweils fristgerecht eine gleichlautende Beschwerde erhoben und die gegenständlichen Bescheide hinsichtlich Spruchpunkt I. angefochten. In der Beschwerde wird ausgeführt, dass die BF an der Ermittlung des asylrelevanten Sachverhaltes mitgeholfen und auf Nachfrage sehr wohl konkrete Angaben gemacht hätten. Sie hätten über die Tätigkeit als Lehrerin, über die Drohungen durch den Dorfimam, sowie über die Drohungen durch die Taliban und ihr Leben in Afghanistan Erklärungen abgegeben. Die 1.BF sei von den Taliban mit dem Tod bedroht würden, falls sie ihre Tätigkeit Mädchen zu unterrichten nicht stoppen würde. Weiters wird in der Beschwerde auf die starke Talibanpräsenz im Heimatdorf der BF sowie die speziellen Probleme für Frauen und Töchter in Afghanistan eingegangen. Die Taliban seien gegen einen Schulbesuch von Mädchen. Wer dagegen handle, werde streng bestraft. Auf den Fall XXXX werde verwiesen. Es sei in Afghanistan aufgrund der traditionellen Geschlechterrollen und des islamisch geprägten Konservatismus weder Schulbesuch noch eine Ausbildung für Frauen möglich. Auch Bewegungsfreiheit gebe es nur mit männlicher Erlaubnis oder Begleitung. In diesem Zusammenhang wurden der Beschwerde Berichte von Amnesty International und dem UNHCR angehängt.

8. Die gegenständliche Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht am 12.3.2018 von der belangten Behörde vorgelegt.

9. Mit Schreiben vom 1.10.2018 wurde seitens der BF eine Vollmachtbekanntgabe für den MigrantInnenverein St. Marx und den Obmann Rechtsanwalt Dr. Lennart Binder LL.M. vorgelegt.

10. Mit Schreiben vom 28.5.2019 wurde mitgeteilt, dass der Rechtsanwalt Dr. Peter Mair mittels Bescheid der OÖ Rechtsanwaltskammer zum Verfahrenshelfer für die 1.BF bestellt wurde.

11. Mit Schreiben vom 4.6.2019 wurde die Vollmachtsauflösung vom MigrantInnenverein St. Marx und den Obmann Rechtsanwalt Dr. Lennart Binder LL.M. bekanntgegeben.

12. Mit Schreiben vom 10.7.2019 wurde eine Vollmachtserteilung und mit Schreiben vom 12.7.2019 die Vollmachtsauflösung seitens des Vereins Menschenrechte Österreich bekanntgegeben. Begründend wurde ausgeführt, dass die BF nun doch von einem Anwalt vertreten werden würden.

13. Am 23.7.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und des Rechtsvertreters der BF, RA Dr. Gregor Klammer, dieser in Vertretung für RA Edward W. Daigneault, eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am 23.7.2019 wurde die getrennt einvernommene 1.BF umfassend zu ihren persönlichen Umständen, ihrem Fluchtgrund, wie auch zu ihren Werten und gesellschaftlichen Vorstellungen befragt. Sie sei am XXXX geboren. Bei der Erstbefragung habe der Dolmetscher ihre Tazkira falsch umgerechnet und es sei XXXX festgehalten worden. In der Tazkira werde nur das Jahr erwähnt. Sie wisse ihr afghanisches Geburtsdatum XXXX genau, weil sie es von ihrer Mutter erfahren habe und es aufgeschrieben worden sei. Sie sei Paschtunin und für sie persönlich seien Geburtsdaten, wie auch die Daten ihrer Kinder, wichtig. Das Problem sei, dass in Afghanistan die Behörde eine andere Art für die Ausstellung von Geburtsurkunden habe als in Österreich. Sie sei sunnitischen Glaubens und verheiratet. Sie habe zwei Mal geheiratet und sei bei der ersten Ehe minderjährig, ca. 13, 14 Jahre alt, gewesen. Ihr damaliger Ehemann sei getötet worden. Sie habe noch einmal geheiratet und diese Eheschließung sei am 15.11.2009 erfolgt. Bei ihrer ersten Ehe habe ihr Onkel über die Eheschließung entschieden, weil ihr Vater bereits verstorben sei, als sie ein Kleinkind gewesen sei. In ihrer ersten Ehe sei es ihr gut gegangen. Auf die Frage, ob es sie gestört habe, dass ihr Onkel gesagt habe, dass sie ihren Cousin heiraten müsse, gab die 1.BF an, dass in Afghanistan ihre Meinung bei der Eheschließung nicht besonders zähle. Niemand habe sie gefragt, was sie davon halte. Sie finde das nicht positiv und grundsätzlich falsch. Mädchen sollten selbst entscheiden und heiraten, wen sie wollen. Auf die Frage, warum sie sich nicht aufgelehnt habe, gab die 1.BF an, dass sie mit 13, 14 keine Meinung als Mädchen habe äußern können und akzeptieren habe müssen, was entschieden worden sei. Es sei auch bei ihrer zweiten Ehe so vom Onkel entschieden worden. Sie habe einen Cousin heiraten müssen, der viel jünger sei als sie selbst. Sie würde so etwas ihrer Tochter sicherlich nie antun. Mit ihrem ersten Ehemann sei sie fünf Jahre lang verheiratet gewesen. Er sei ein netter, tüchtiger Mensch gewesen. Ihr erster Ehemann und ihr zweiter Ehemann seien Brüder. Es sei eine Tradition, dass man in der Familie bleibe. Besonders Paschtunen würden verhindern wollen, dass junge Frauen andere Volksangehörige heiraten. Auf die Frage, ob ihre Töchter auch nur Paschtunen heiraten dürfen, gab die BF an, dass ihre Töchter heiraten dürften, wen sie wollen. Sie sei grundsätzlich gegen die Tradition von Zwangsheirat. Es gebe viele Punkte in ihrer Tradition und Kultur, die sie nicht weiter praktizieren möge, wie etwa, dass Frauen allgemein keinen Wert hätten und nicht selbständig entscheiden, leben oder verreisen könnten. In ihrem Unterricht habe sie versucht, den Frauen beizubringen, dass man auch durch die Bildung anders leben könne und man über die eigenen vier Wände hinausschauen und selbständig für sein Leben entscheiden müsse. Damit meine sie, dass die Frauen selbstständig über ihr Leben entscheiden, ihre Ehemänner selbst aussuchen, berufstätig werden und eine Ausbildung machen können. Das sei in Afghanistan nicht üblich gewesen.

Sie habe in einer UNICEF-Schule bzw. staatlichen Schule in XXXX unterrichtet. Die Schule habe sechs Klassen gehabt. Sie habe nur Mädchen zwischen sieben und 14 Jahren unterrichtet. Ausnahmsweise habe es sich auch um 14- oder 16-jährige Schülerinnen gehandelt. Manchmal hätten diese auch zu Hause erzählt, was sie gesagt habe. Es habe Beschwerden gegeben, dass ihr Unterricht nicht besonders passend für die Familie sei. Aber die Mädchen hätten auch selbst - je älter sie geworden seien - mehr vom Leben verstanden und bemerkt, dass es nicht gut sei, wenn man nicht selbstständig entscheide. Die Mädchen hätten das sehr gerne angenommen. Probleme habe es mit den Familien gegeben. Manche hätten ganz jung heiraten müssen. Eine ihrer besten Schülerinnen habe einen 30 Jahre älteren Mann heiraten müssen. Auf die Frage, ob sie als Lehrerin nicht habe sagen können, dass dies nicht in Frage komme, gab die 1.BF an, dass sie versucht habe, mit den Müttern von ihren Schülerinnen zu reden. Nur manchmal hätten diese ihr auch gesagt, dass sie keine Macht in der Familie hätten und nicht mitentscheiden dürften bzw. könnten. Eine ihrer Schülerinnen habe es geschafft, an der Universität zu studieren. Viele hätten es trotz bestehenden Willen dazu nicht geschafft. Es sei unterschiedlich gewesen. Auf den Vorhalt, ob sie als zwangsverheiratete Frau nicht gerade ein Vorbild für die Mädchen sei, gab die 1.BF an, dass sie nach dem Tod ihres ersten Mannes gar nicht habe heiraten wollen. Sie sei mit ihrer Beschäftigung als Lehrerin zufrieden gewesen. Nur sei sie unter Druck gewesen, besonders von ihrem Onkel väterlicherseits. Sie habe sich auch immer als Beispiel erwähnt, warum es positiv sei, selbst entscheiden könne. Auch wenn sie mit ihrer zweiten Ehe eine Zwangsheirat hingenommen habe, sei sie bestrebt gewesen, dass andere Frauen nicht ein solches Schicksal hätten. Deswegen habe sie mit ihren Schülerinnen immer wieder gesprochen. Das Verhältnis zu ihrer Familie während ihrer Selbstständigkeit als Lehrerin sei in Ordnung gewesen. Sie habe geheiratet, weil in der Zwischenzeit zwei oder drei Männer um ihre Hand angehalten hätten und die Familie gefürchtet habe, dass sie eine "fremde" Person heiraten müsse. Der gesellschaftliche Druck sei letztendlich sehr groß gewesen.

Sie sei 11 Jahre lang zur Schule gegangen. Danach habe sie für vier Jahre jeweils einmal im Jahr eine dreimonatige Ausbildung als Lehrerin gehabt. Die Ausbildungen seien zweimal in ihrem Heimatdorf, einmal in Shindad und einmal in Herat gewesen. Sie sei zu den Ausbildungen entweder von ihrem Schwager oder ihrem Onkel begleitet worden. Sie selbst habe entschieden, Lehrerin zu werden. Sie habe um diese Entscheidung kämpfen müssen, aber es dann durchgesetzt. Ihr Schwager habe etwas dagegen gehabt, aber mit der Zeit hätten sie es alle akzeptiert, weil sie Geld verdient habe. Sie habe einen kleinen Teil des Geldes bekommen, den Rest habe ihr Onkel väterlicherseits einbehalten. Mit ihrem Anteil habe sie sich Kleidung und Bücher gekauft. Manchmal habe sie auch für ihre Schülerinnen Kleinigkeiten wie Kugelschreiber oder Heften erworben. Ausbildung von Frauen sei ihr sehr wichtig, weil sie in einem Gebiet geboren und aufgewachsen sei, in dem die Mehrheit Analphabeten seien. Fast alle Frauen seien damals Analphabeten gewesen und deswegen hätten sie auch nichts anderes als ihr eigenes Leben gekannt. Viele Männer seien drogensüchtig gewesen. Sie sei bestrebt gewesen, dass die Mädchen und jungen Frauen ein anderes Leben kennenlernen würden. Das sei nur über den Bildungsweg möglich gewesen. Sie sei selbst die Tochter einer Analphabetin und wisse, was das alles bedeute. Sie wolle, dass die Frauen selbstständig werden und durch eine Ausbildung könne man besser entscheiden bzw. merke man, was richtig und was falsch sei. Das sei das Gegenteil von Frauen, die nur zu Hause sitzen würden und das Leben außerhalb der eigenen vier Wände nie kennenlernen würden. Der Schlüssel liege in der Bildung. Sie trage dazu etwas bei. Bis die Taliban ihre Schule geschlossen hätten, habe sie Frauen unterrichtet, damit diese selbstständig werden würden. Nachdem es nicht mehr möglich gewesen sei, habe sie noch die Mädchen bei ihr zu Hause gratis unterrichtet. Das habe sie mit der Hilfe von ihrem Ehemann finanziert, weil es ihr sehr wichtig gewesen sei, den jungen Frauen eine Berufsmöglichkeit zu geben. Ihre Mutter und Geschwister seien in Afghanistan. Eine Schwester sei in Österreich und eine andere Schwester befinde sich im Iran. Sie habe als kleines Kind im Iran gelebt, aber es sei ihr nicht bekannt wie lange. Ansonsten sei sie dann immer in Afghanistan gewesen. Sie sei zur Zeit der ehemaligen Sowjetunion im Iran gewesen. Nach dem Abzug der Sowjets seien sie wieder zurück nach Afghanistan und hätten im Heimatdorf XXXX gelebt.

Ihr nunmehriger Mann behandle sie und ihre Kinder gut und es gebe diesbezüglich keine Probleme. Sie würden gemeinsam entscheiden und er sei ein netter Mensch. Das sei vorher in Afghanistan auch so gewesen. Ihr Mann habe in Afghanistan ein Lebensmittelgeschäft und eine Hühnerfarm gehabt. Sie hätten gemeinsam über das verdiente Geld entschieden. Im Unterschied zu Afghanistan könne sie in Österreich selbstständig einkaufen und fortgehen. In Afghanistan habe sie in Begleitung außer Haus gehen müssen. Sie sei bis zur Schule begleitet und wieder abgeholt geworden. Unter den Taliban sei zusätzlich große Angst gewesen, weil es keine Sicherheit auf der Straße gegeben habe. Auf die Frage, ob es den männlichen Begleitungen nicht auf die Nerven gegangen sei, dass sie die 1.BF begleiten hätten müssen, gab diese an, dass das ein Muss sei. Ansonsten würden die Leute sagen, dass die Frau alleine unterwegs sei. Sie sei sehr froh, dass sie in Österreich jetzt auch alleine das Haus verlassen könne. Hier genieße sie ihre Selbstständigkeit. Sie könne die öffentlichen Verkehrsmittel fahren und ohne irgendeinen Gedanken das Haus verlassen. Sie könne selbstständig zu ihrem Deutschkurs fahren. Sie habe jetzt eine Ausbildung. Ab September werde sie auch noch zusätzlich eine Ausbildung als Krankenpflegerin in XXXX machen. Das alles sei eine große Veränderung in ihrem Leben im Vergleich zu Afghanistan. Was ihr Aussehen betreffe, könne sie auch anziehen, was sie möchte. Sie sei gerade in einem B1-Kurs und habe A2 bereits bestanden. Für die Krankenpflegerinnenausbildung müsse man B1 bestanden haben, sie werde in ungefähr zwei Monaten die Prüfung machen. Eine Ausbildung in Österreich sei ihr sehr wichtig, weil sie dadurch eine bessere Jobmöglichkeit für die Zukunft bekomme. Sie habe als Putzkraft im Krankenhaus gearbeitet und auch sehr gut gearbeitet. Aber irgendwann sei sie entlassen worden. Mit einer Ausbildung seien ihre Chancen ganz anders und sie sei dann selbstständig. Es sei ihr wichtig selbstständig zu sein. In diesem Zusammenhang wurde von der 1.BF eine Bestätigung zur Aufnahme zum Vorbereitungslehrgang für Sozialbetreuungsberufe vom 27.5.2019 vorgelegt.

Nach Ansicht der BF 1 sei es sehr wichtig, dass man als Frau eine Ausbildung habe und arbeite. In diesem Fall sei man nicht mehr vom Ehemann abhängig. Sie habe in Afghanistan fünf Stunden am Tag unterrichtet. Am Freitag sei die Schule geschlossen gewesen. Mit ihr seien es fünf Lehrerinnen gewesen. Die Schule habe XXXX geheißen. In diesem Zusammenhang wurde von der 1.BF ein Foto vorgelegt, das nach ihrer Aussage drei Lehrerinnen und eine Schülerin abbilde. Viele andere Fotos seien vernichtet worden.

Befragt, warum die 1.BF aus Afghanistan geflohen sei, gab diese an, dass sie bedroht worden und ihr Leben sei in Afghanistan in Gefahr gewesen. Sie habe als Lehrerin gearbeitet. Aber unter den Taliban habe sich alles geändert, zumal sich die Sicherheitslage sehr verschlechtert habe. Eines Tag seien während des Unterrichts die Taliban in die Schule eingedrungen. Sie hätten zuerst die Schülerinnen retten müssen. Diese hätten sie über die Hintertür rausgeschickt. Dann sei auch sie selbst geflüchtet. Die Taliban hätten die Schule schwer beschädigt und alle Lehrer bedroht und angekündigt, falls sie eine Schülerin oder eine Lehrerin sehen würden, würden diese Personen getötet werden. Während dieser Nacht habe die 1.BF vor lauter Angst nicht schlafen können. Nachher sei sie mehrere Monate arbeitslos gewesen und habe sich letztendlich auf Grund der Nachfrage dazu entschieden, zu Hause zu unterrichten. Sie habe mit Zustimmung ihres Ehemannes und ihres Onkels ca. 20 junge Frauen und Mädchen mehrere Monate jeweils drei Stunden pro Tag unterrichtet. Es habe Probleme gegeben, da die Taliban bemerkt hätten, dass Frauen zu ihr kommen würden und sie einen schlechten Einfluss auf junge Frauen habe. Es seien zwei oder drei Mal Drohbriefe übermittelt worden, in denen sei zur Beendigung des Privatunterrichts aufgefordert worden sei. Nachdem die 1.BF weitergemacht habe, hätten die Taliban in der Moschee eine Ankündigung gemacht und ausdrücklich von der Veranstaltung eines "Wüstengericht" gesprochen, wonach die 1.BF bestraft werden würde. Man müsse bei diesem Ausdruck mit einem Todesurteil rechnen.

Die 1.BF habe mit dem Unterricht aufgehört und habe das Land verlassen müssen. Das "Wüstengericht" sei ihr vom Geistlichen der Moschee mitgeteilt worden. Die Moschee sei 200 Meter von ihrem zu Hause entfernt. Es sei irgendwo in der Einvernahme protokolliert worden, dass es 20 Meter seien. Sie seien aber ca. 150 bis 200 Meter entfernt. Der Geistliche habe bei dieser Ankündigung eine Frist von drei Tagen von den Taliban bekommen. Er habe ihrem Schwiegervater alles mitgeteilt, weil ein Geistlicher im Grunde genommen nicht mit Frauen rede. Der Überfall sei Ende Sommer 2014 gewesen.

Auf den Vorhalt, warum die Taliban sich nicht zu ihr nach Hause getraut hätten, sondern den Weg über die Moschee gewählt hätten, gab die 1.BF an, dass die Taliban sie zuerst per Brief bedroht hätten und dann hätten sie das in der Moschee angekündigt, damit auch sicher andere Menschen davon erfahren würden. Der Geistliche habe von ihnen die Frist von drei Tagen bekommen. Auf die Frage, ob sie glaube, dass die Taliban sich nicht zu ihr nach Hause getraut hätten, gab die 1.BF an, dass die Taliban normalerweise drei Mal die Ankündigung machen würden. Falls nichts es nicht passend sei, würden sie dann direkt nach Hause kommen. Auf den Vorhalt, dass sie ohnehin aufgehört habe, Frauen zu unterrichten, gab die 1.BF an, dass die Taliban das nach dem Abendgebet angekündigt hätten und zu diesem Zeitpunkt keine Frauen bei ihr gewesen seien und sie keinen Unterricht mehr gegeben habe bzw. die Mädchen nicht mehr zu ihr gekommen seien.

Zum Argument, dass die Taliban damit ohnehin ihr Ziel erreicht hätten, gab die 1. BF an, dass es auch andere Vorwürfe gegeben habe. Der Geistliche habe ihrem Mann gesagt, dass er keine Ehre habe und dass er kein richtiger Mann sei, weil seine Frau Privatunterricht zu Hause gebe und einen schlechten Einfluss auf jungen Frauen ausübe. Er habe noch gesagt, dass die Taliban jetzt weg seien, aber sicherlich wiederkommen würden. Sie würden die 1.BF sicherlich beobachten und kontrollieren, was sie in Zukunft machen werde. Die Situation sei für die 1.BF gefährlich gewesen, obwohl sie nicht mehr unterrichtet habe. Auf die Frage, ob die Taliban mit Frauen nicht reden, aber sie schon beobachten würden, gab die 1.BF an, dass die Taliban nicht direkt im Ort anwesend seien. Sie hätten Sympathisanten und Anhänger, die auch unter den Dorfbewohnern leben würden. Diese würden die Taliban benachrichtigen. Somit bekämen die Taliban die Information über jeden Menschen, der ihnen verdächtig vorkomme.

Auf die Frage, ob sich die Taliban nicht ins Dorf trauen würden, weil sie nicht den Mut hätten, gab die 1.BF an, dass sie neben einem Stützpunkt auch Anhänger mit der Aufgabe hätten, Informationen zu sammeln. Persönlich habe sie Taliban gesehen, als sie bei ihr in der Schule gewesen seien. Aber sobald man die Taliban sehe, versuche man als Frau zu flüchten, weil es einfach nicht einschätzbar sei, wie man behandelt werde. Taliban hätten normalerweise einen größeren Turban und längeren Bart. Unterschiede im Aussehen der Taliban im Vergleich zu anderen Männern seien erkennbar. Die Kleidung sei dergestalt, dass sie auf der Straße erkennbar seien. Sie habe kein Problem gehabt, wenn ein solcher Taliban auf der Straße marschiert sei.

Unmittelbar darauf gab die 1.BF, dass an dem Tag an dem dieser Vorfall stattgefunden habe, sie mit den Taliban nicht gesprochen habe, sondern bei den vorhergehenden Begegnungen in der Schule. Sie habe die Taliban gefragt, was sie von ihnen wollen würden, weil es eine reine Frauenschule sei. Sie hätten gesagt, dass es auf jeden Fall verboten sei und sie die Mädchen nicht unterrichten dürften. Dies sei nicht vereinbar mit den religiösen Gesetzen. Die Taliban seien nicht zu den anderen Lehrerinnen gekommen. Die 1.BF sie diejenige gewesen, die gesagt habe, sie werde mit den Taliban reden. Die anderen Lehrerinnen hätten, nachdem die Schule geschlossen gewesen sei, nicht unterrichtet und somit auch diesbezüglich kein Problem mit den Taliban bekommen. Auf den Vorhalt, dass die 1.BF ja auch selbst nicht mehr unterrichtet habe, gab diese an, dass nach dem die Schule geschlossen worden sei, sie ein paar Monate nicht unterrichtet habe. Danach habe sie angefangen zu unterrichten. Das hätten die anderen Lehrerinnen nicht gemacht. Auf den Vorhalt, dass sie dann ja auch aufgehört habe, gab die 1.BF an, dass sie bis zu dem Zeitpunkt, an dem diese Ankündigung stattgefunden habe, noch unterrichtet habe, dann aber den Unterricht beendet habe. Sie habe ca. sechs Monate zu Hause unterrichtet. Sie habe ca. drei Stunden zu Hause unterrichtet und den Unterricht im Sommer 2015 beendet. Nachdem sie mit dem Privatunterricht der Mädchen aufgehört habe, seien sie nach dieser Ankündigung geflüchtet. Sie habe bis ca. drei oder vier Tage vor ihrer Flucht noch zu Hause unterrichtet. Die Drohbriefe der Taliban würden normalerweise während der Nacht in das Haus geschmissen. Es handle sich um keine offiziellen Briefe, die man bei der Tür abgebe. Auf die Frage, woher die 1.BF wisse, dass der Brief von den Taliban sei, zumal die Briefe dem Schicksal überlassen würden und sie auch der Wind wegwehen könne, gab die 1. BF an, dass normalerweise gleichzeitig mit diese Briefen Informationen mitgeteilt würden, die bei den Gebeten in der Moschee mitgeteilt würden. Das heiße, die Talibananhänger oder Sympathisanten würden auch nach dem Gebet in der Moschee über solche Angelegenheiten reden. Das heiße, man bekomme schon mit, dass etwas passieren werde. Die Briefe kämen gleichzeitig mit den Mitteilungen in der Moschee. Dadurch, dass fast alle Dorfbewohner bei diesen gemeinsamen Gebeten in der Moschee anwesend seien, könnten die Taliban so auch davon ausgehen, dass diese Infos und Mitteilungen angekommen seien. Auf die Frage, ob drei Mal in der Moschee Ankündigungen stattgefunden hätten, gab die 1.BF an, dass diese Ankündigungen immer wieder in der Moschee stattfinden würden. Das heiße, die Taliban würden Bescheid wissen, dass man die Ankündigungen mitbekommen habe.

Im Fall ihrer Rückkehr nach Afghanistan habe sie Angst um ihr Leben und das Leben ihrer Kinder, wegen der Probleme, die sie mit den Taliban gehabt habe. Die Kinder hätten dies selben Fluchtgründe, die sie eben geschildert habe. Auf die Frage, was ihre Kinder lernen würden und ob der Lernstoff in Österreich für die 1.BF in Ordnung sei, gab die BF 1 an, dass sie alles kontrollieren würde und ihr Sohn auch ganz gut in der Schule sei. Ihre Tochter gehe im September in die erste Volkschulklassse und somit sei alles in Ordnung. Der Sohn komme in die zweite Klasse. Der Lernstoff sei okay, es passe alles. Sie sei immer bei den Elternsprechabenden und allen Veranstaltungen, bei denen sie eingeladen werde, anwesend. Für ihre Tochter wünsche sie sich, dass die in Freiheit leben, eine Ausbildung machen und berufstätig werden würden. Sie sollten nicht das gleiche Schicksal wie die 1.BF durchleben müssen. Die BF 1 zählte dazu wesentlichen Punkte in ihrem Leben auf, wie zum Beispiel Zwangsheirat oder nicht die Möglichkeit zu haben, einen Beruf auszuüben. Sie hoffe, dass das für ihre Töchter anders sei. Auf die Frage, warum sie trotz drei Kindern in Österreich putzen gegangen sei, gab die 1.BF an, dass für sie Berufstätigkeit sehr wichtig gewesen sei. Sie, auch putzen gegangen.

Der 5.BF gab ihm Rahmen der mündlichen Verhandlung an, dass er umgerechnet am XXXX oder XXXX geboren sei. Auf den Vorhalt, warum er das in den Einvernahmen nicht erwähnt habe, gab dieser an, dass er es erwähnt habe, aber das eingetragene Datum nicht erwähnt worden sei. Der XXXX sei nicht auf den XXXX oder XXXX geändert worden. Er habe auch seine Tazkira bei der Polizei bei der Erstbefragung vorgelegt. Die 1.BF sei seine Ehefrau und die 2.BF bis 4.BF seien seine leiblichen Kinder. Er habe die 1.BF geheiratet, als er 18 Jahre alt gewesen sei. Sein Vater habe darüber entschieden, dass er seine jetzige Frau, die früher mit seinem Bruder verheiratet gewesen sei, heiraten habe müssen. Er habe sich dem gefügt. Er habe sie vorher als seine Schwägerin gekannt und habe zuerst nicht heiraten wollen. Aber er habe das machen müssen und im Nachhinein würden er und seine Frau sich mögen. Er habe es gut getroffen und liebe sei. Er freue sich, dass sie berufstätig gewesen sei, das habe ihn nicht gestört. Sie würden jetzt in Europa leben und Männer und Frauen seien gleichberechtigt. Jeder würde arbeiten, damit man ein gemeinsames Leben finanzieren und gut miteinander leben könne. In Afghanistan sei es nicht so da, dass beide Ehepartner arbeiten würden. Er kenne die Familie seiner Ehefrau. Seine Schwiegermutter habe nach dem Tod von ihrem Ehemann wieder geheiratet, einer ihrer Schwestern befinde sich in Österreich. Eine andere Schwester lebe im Iran und sei mit seinem Bruder verheiratet. Seine Schwiegermutter habe ihren Schwager, nämlich seine Onkel geheiratet. Falls die Heirat freiwillig erfolgt sei, sei es für ihn okay, sonst finde er es nicht okay. Sein Vater heiße XXXX , seine Mutter heiße XXXX . Beide seien in Afghanistan. Er habe zwei Brüder und zwei Schwestern. Ein Bruder befinde sich in Schweden, einer sei im Iran. Seine zwei Schwestern würden im Iran leben. Als er ein kleines Kind gewesen sei, sei seine Familie auch eine bestimmte Zeit im Iran gewesen. Danach seien sie aber wieder zurück nach Afghanistan. Er habe im Dorf XXXX gelebt. Sein Vater habe Grundstücke, eine Hühnerfarm und ein Lebensmittelgeschäft gehabt und er habe auch dort gearbeitet. Der BF 5 sei in XXXX geboren, Paschtune und sunnitischer Muslim. Über das Familieneinkommen in Afghanistan befragt, gab der 5.BF an, dass er gearbeitet und das Leben seiner Familie finanziert habe. Seine Frau habe gearbeitet. Sie habe in der Schule als Lehrerin gearbeitet. Sie habe dann in der XXXX Schule gearbeitet. Sie habe immer am Vormittag gearbeitet und Mädchen unterrichtet. Sie hat einen Teil für die Familie abgegeben und einen Teil ihres Gehalts für sich genommen. Im Dorf seien einige Personen gewesen, die gegen die Berufstätigkeit seiner Frau gewesen seien. Seine Frau habe in der Schule unterrichtet, bis die Schule geschlossen worden sei. Dann habe sie zu Hause unterrichtet. Sie habe zu Haus Mädchen aus dem Heimatdorf, - ehemalige Schülerinnen - unterrichtet. Tagsüber habe sie zu Hause unterrichtet. Die genaue Uhrzeit wisse er nicht, weil er den ganzen Tag gearbeitet habe. Für den Privatunterricht habe sie kein Geld genommen. Das Geld hätten sie auch nicht gebraucht und er sei damit einverstanden gewesen. Sein Vater sei auch damit einverstanden gewesen. Das Dorf XXXX habe ca. 3000 Häuser und die Moschee sei ca. 200 Meter zu Fuß von ihrem Haus entfernt. Er sei wegen den Taliban nicht so oft zur Moschee gegangen. Es sei eine kleine Moschee und nicht die zentrale Moschee gewesen. Befragt, ob er schon einem Taliban begegnet sei, gab der 4.BF an, dass er Taliban gesehen habe, aber man versuche jede Art von direktem Kontakt zu verhindern. In ihre Hühnerfarm seien immer wieder Talibananhänger gekommen und hätten Schwarzgeld verlangt. Die Taliban seien eine kriminelle Gruppe und würden Gesamtafghanistan erobern wollen. Sie hätten Hühner verlangt ohne etwas dafür zu bezahlen. Sie hätten den LKW mit dem sein Bruder Hühner transportiert habe auf der Straße angehalten und dann von seinem Bruder Hühner bekommen. Das sei immer wieder vorgekommen. Seine Familie habe Afghanistan verlassen, weil ihre Leben in Gefahr gewesen seien. Die Taliban hätten sie bedroht, somit hätten sie das Land verlassen müssen. Das Problem sei die Tätigkeit seiner Frau als Lehrerin gewesen. Diese habe junge Mädchen aus dem Heimatdorf unterrichtet und das sei für die Taliban streng verboten. Auf die Frage, wie diese Talibanbedrohung ausgesehen habe, gab der 5.BF an, dass sie immer wieder durch die Dorfbewohner gehört hätten, dass die Taliban gegen die Tätigkeit seiner Frau seien und sie damit aufhören müsse. Letztendlich habe es eine Ankündigung in der Moschee gegeben, bei der es dann sehr ernst geworden sei. Diese Ankündigung habe in der Moschee stattgefunden, das heiße, die Taliban seien zu den Geistlichen gekommen und hätten nach seiner Frau gefragt. Der Geistliche habe eine Frist von den Taliban bekommen. Er sei dann zu ihnen nach Hause gekommen und habe mit seinem Vater gesprochen. Die Taliban hätten nach seiner Frau verlangt, das heiße, sie hätte sich bei den Taliban in der Moschee melden müssen. Es sei über eine Art von Gerichtsverhandlung seitens der Taliban gesprochen worden. Die Taliban hätten seine Frau persönlich damit konfrontieren wollen, dass sie Mädchen unterrichte. Der Geistliche habe dies bei ihnen zu Hause mit seinem Vater besprochen und die Ankündigung mitgeteilt. Der 5.BF habe persönlich nichts mitbekommen, es sei alles mit seinem Vater besprochen worden. Sie hätten nichts anderes machen können, als zu flüchten. Sie hätten durch andere Dorfbewohner die Drohungen immer wieder bekommen. Sie hätten ihnen mitgeteilt, dass die Taliban gegen die Tätigkeit seiner Frau seien. Nachdem der Imam zu ihnen nach Haus gekommen sei und die Mitteilung der Taliban überbracht habe, habe sein Vater zum Imam gesagt, dass er ein bisschen Zeit brauche, weil die Frau gerade nicht zu Hause sei. Als der Imam weggegangen sei, habe der Vater ihnen die Ankündigung mitgeteilt und sie hätten beschlossen, dass die Situation sehr ernst sei. Gleich am nächsten Tag in der Früh seien sie geflüchtet. Sein Vater habe nach der Flucht mit den Taliban keine Probleme gehabt, weil er ein älterer Mensch sei, mit denen die Taliban nichts zu tun haben wollen würden. Bedroht seien sie aber schon worden, weil der 5.BF und dessen Familie das Land verlassen hätten. Auf den Vorhalt, dass die

1. BF nicht mehr da gewesen sei und nicht mehr unterrichten habe können und was die Taliban daher gestört habe, gab der 5.BF an, dass die Taliban seinem Vater gesagt hätten, dass sie das Land verlassen hätten und sich nicht bei den Taliban gemeldet hätten. Falls sie irgendwo gefunden werden würden, würden sie sicher dafür bestraft werden. Im Fall einer Rückkehr müsse er mit seinem Tod rechnen, weil er in Afghanistan keine Sicherheit habe. Seine Frau und Kinder hätten keine Sicherheit und Frauen und Mädchen hätten in Afghanistan keine Zukunft.

Die rechtliche Vertretung der BF brachte zu den aktuellen Länderberichten vor, dass in einem Bericht von Human Rights Watch aus dem Oktober 2017 erwähnt werde, dass in Afghanistan Mädchenschulen zerstört werden würden. Auch würden ein weiterer Bericht von Human Rights Watch erwähnen, dass gegen Mädchenschulen auch die Mittel der Drohung und Einschüchterung verwendet werde würden. Diese Berichte würden die Plausibilität des Asylvorbringens der 1.BF und des 5.BF dokumentieren.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Zu den Beschwerdeführern:

Die BF (1.BF bis 5.BF) tragen die im Spruch genannte Namen, sind afghanische Staatsangehörige, gehören der Volksgruppe der Paschtunen an, sind sunnitischen Glaubens und sprechen Dari. Die 1.BF und der

5. BF sind verheiratet und die Eltern der übrigen BF (2.BF bis 4.BF).

Vor ihrer Ausreise lebten die BF im Dorf XXXX in der afghanischen Provinz Herat. Dort wurden auch die minderjährigen BF (2.BF bis 3. BF) geboren. Die 4.BF wurde am XXXX in Österreich geboren. Der

2. BF ist am XXXX und die 3.BF ist am XXXX geboren.

Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

Die 1.BF ist in Afghanistan 11 Jahre lang zur Schule gegangen. Sie hat danach vier Jahre jeweils einmal im Jahr eine dreimonatige Ausbildung zur Lehrerin absolviert. Die 1.BF hat in ihrem Heimatdorf in einer Mädchenschule mit dem Namen " XXXX " als Lehrerin gearbeitet. Die 1.BF hat in Österreich bereits als Reinigungskraft gearbeitet, während ihr Ehemann ihre minderjährigen kleinen Kinder beaufsichtigte. Die 1.BF möchte in Österreich als Krankenpflegerin arbeiten. Von der 1.BF wurde eine Bestätigung der Aufnahme zum Vorbereitungslehrgang für Sozialbetreuungsberufe des Diakoniewerk Oberösterreich, datiert mit dem 27.5.2019, vorgelegt. Diese Ausbildung beginnt am 9.9.2019 und endet am 9.7.2020. Die 1.BF hat bereits eine Deutschprüfung auf dem Niveau A2 abgelegt und plant, bald die Prüfung auf dem Niveau B1 abzulegen, da diese für die Krankenpflegerinnenausbildung notwendig ist. Die 1.BF hat während ihres mehrjährigen Aufenthalts in Österreich eine Lebensweise angenommen, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Ihre persönliche Haltung über die grundsätzliche Stellung der Frau in der Familie und Gesellschaft steht in Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Die 1.BF hat eine Lebensweise angenommen, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Eine solche Lebensführung ist wesentlicher Bestandteil ihrer Identität geworden.

Den übrigen BF (2.BF bis 5.BF) droht in Afghanistan keine konkrete individuelle Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

Insbesondere konnte nicht festgestellt werden, dass die 1.BF wegen ihrer Tätigkeit als Lehrerin im Dorf XXXX persönlich und konkret von den Taliban bedroht worden ist und sich diese Bedrohung durch die Taliban auf alle übrigen Familienmitglieder (2.BF bis 5.BF) erstreckt.

1.2 Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 4.6.2019)

Politische Ereignisse: Friedensgespräche, Loya Jirga, Ergebnisse Parlamentswahl

Ende Mai 2019 fand in Moskau die zweite Runde der Friedensgespräche zwischen den Taliban und afghanischen Politikern (nicht der Regierung, Anm.) statt. Bei dem Treffen äußerte ein Mitglied der Taliban, Amir Khan Muttaqi, den Wunsch der Gruppierung nach Einheit der afghanischen Bevölkerung und nach einer "inklusiven" zukünftigen Regierung. Des Weiteren behauptete Muttaqi, die Taliban würden die Frauenrechte respektieren wollen. Ein ehemaliges Mitglied des afghanischen Parlaments, Fawzia Koofi, äußerte dennoch ihre Bedenken und behauptete, die Taliban hätten kein Interesse daran, Teil der aktuellen Regierung zu sein, und dass die Gruppierung weiterhin für ein islamisches Emirat stünde. (Tolonews 31.5.2019a).

Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den inner-afghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Einer weiteren Quelle zufolge wurden die kritischen Äußerungen zahlreicher Jirga-Teilnehmer zu den nächtlichen Militäroperationen der USA nicht in den Endbericht aufgenommen, um die Beziehungen zwischen den beiden Staaten nicht zu gefährden. Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil, was wahrscheinlich u.a. mit dem gescheiterten Dialogtreffen, das für Mitte April 2019 in Katar geplant war, zusammenhängt. Dort wäre die Regierung zum ersten Mal an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen. Nachdem erstere jedoch ihre Teilnahme an die Bedingung geknüpft hatte, 250 Repräsentanten nach Doha zu entsenden und die Taliban mit Spott darauf reagierten, nahm letztendlich kein Regierungsmitarbeiter an der Veranstaltung teil. So fanden Gespräche zwischen den Taliban und Exil-Afghanen statt, bei denen viele dieser das Verhalten der Regierung öffentlich kritisierten (Heise 16.5.2019).

Anfang Mai 2019 fand in Katar auch die sechste Gesprächsrunde zwischen den Taliban und den USA statt. Der Sprecher der Taliban in Doha, Mohammad Sohail Shaheen, betonte, dass weiterhin Hoffnung hinsichtlich der inner-afghanischen Gespräche bestünde. Auch konnten sich der Quelle zufolge die Teilnehmer zwar bezüglich einiger Punkte einigen, dennoch müssten andere "wichtige Dinge" noch behandelt werden (Heise 16.5.2019).

Am 14.5.2019 hat die unabhängige Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) die Wahlergebnisse der Provinz Kabul für das afghanische Unterhaus (Wolesi Jirga) veröffentlicht (AAN 17.5.2019; vgl. IEC 14.5.2019, IEC 15.5.2019). Somit wurde nach fast sieben Monaten (die Parlamentswahlen fanden am 20.10.2018 und 21.10.2018 statt) die Stimmenauszählung für 33 der 34 Provinzen vervollständigt. In der Provinz Ghazni soll die Wahl zusammen mit den Präsidentschafts- und Provinzialratswahlen am 28.9.2019 stattfinden. In seiner Ansprache zur Angelobung der Parlamentsmitglieder der Provinzen Kabul und Paktya am 15.5.2019 bezeichnete Ghani die siebenmonatige Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen, die IEC und die Electoral Complaints Commission (ECC), als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).

Zivile-Opfer, UNAMA-Bericht

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019 (1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (UNAMA 24.4.2019).Diese Verringerung wurde durch einen Rückgang der Zahl ziviler Opfer von Selbstmordanschlägen mit IED (Improvised Explosive Devices - unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung/Sprengfallen) verursacht. Der Quelle zufolge könnten die besonders harten Winterverhältnisse in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 zu diesem Trend beigetragen haben. Es ist unklar, ob der Rückgang der zivilen Opfer wegen Maßnahmen der Konfliktparteien zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung oder durch die laufenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien beeinflusst wurde (UNAMA 24.4.2019).

Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (UNAMA 24.4.2019).

Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 24.4.2019).

Anschläge in Kabul-Stadt

Ende Mai 2019 fanden in Kabul-Stadt einige Anschläge und gezielte Tötungen in kurzen Abständen zu einander statt: Am 26.5.2019 wurde ein leitender Mitarbeiter einer NGO in Kart-e Naw (PD5, Police District 5) durch unbekannte bewaffnete Männer erschossen (Tolonews 27.5.2019a). Am 27.5.2019 wurden nach der Explosion einer Magnetbombe, die gegen einen Bus von Mitarbeitern des Ministeriums für Hadsch und religiöse Angelegenheiten gerichtet war, zehn Menschen verletzt. Die Explosion fand in Parwana-e Do (PD2) statt. Zum Vorfall hat sich keine Gruppierung bekannt (Tolonews 27.5.2019b).

Des Weiteren wurden im Laufe der letzten zwei Maiwochen vier Kontrollpunkte der afghanischen Sicherheitskräfte durch unbekannte bewaffnete Männer angegriffen (Tolonews 31.5.2019b).

Am 30.5.2019 wurden in Folge eines Selbstmordangriffes nahe der Militärakademie Marshal Fahim im Stadtteil Char Rahi Qambar (PD5) sechs Personen getötet und 16 Personen, darunter vier Zivilisten, verletzt. Die Explosion erfolgte, während die Kadetten die Universität verließen (1 TV NEWS 30.5.2019). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zu dem Anschlag (AJ 30.5.2019).

Am 31.5.2019 wurden sechs Personen, darunter vier Zivilisten, getötet und fünf Personen, darunter vier Mitglieder der US-Sicherheitskräfte, verletzt, nachdem ein mit Sprengstoff beladenes Auto in Qala-e Wazir (PD9) detonierte. Quellen zufolge war das ursprüngliche Ziel des Angriffs ein Konvoi ausländischer Sicherheitskräfte (Tolonews 31.5.2019c).

Am 2.6.2019 kam nach der Detonation von mehreren Bomben eine Person ums Leben und 17 weitere wurden verletzt. Die Angriffe fanden im Westen der Stadt statt, und einer davon wurde von einer Klebebombe, die an einem Bus befestigt war, verursacht. Einer Quelle zufolge transportierte der Bus Studenten der Kabul Polytechnic University (TW 2.6.2019). Der IS bekannte sich zu den Anschlägen und beanspruchte den Tod von "mehr als 30 Schiiten und Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte" für sich. Die Operation erfolgte in zwei Phasen: Zuerst wurde ein Bus, der 25 Schiiten transportierte, angegriffen, und darauf folgend detonierten zwei weitere Bomben, als sich "Sicherheitselemente" um den Bus herum versammelten. Vertreter des IS haben u.a. in Afghanistan bewusst und wiederholt schiitische Zivilisten ins Visier genommen und sie als "Polytheisten" bezeichnet. (LWJ 2.6.2019).

Am 3.6.2019 kamen nach einer Explosion auf der Darul Aman Road in der Nähe der American University of Afghanistan fünf Menschen ums Leben und zehn weitere wurden verletzt. Der Anschlag richtete sich gegen einen Bus mit Mitarbeitern der Independent Administrative Reform and Civil Service Commission (Tolonews 3.6.2019)

US-Angaben zufolge ist die Zahl der IS-Anhänger in Afghanistan auf ca. 5.000 gestiegen, fünfmal so viel wie vor einem Jahr. Gemäß einer Quelle profitiert die Gruppierung vom "zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan und von aus Syrien geflohenen Kämpfern". Des Weiteren schließen sich enttäuschte Mitglieder der Taliban sowie junge Menschen ohne Zukunftsperspektive dem IS an, der in Kabul, Nangarhar und Kunar über Zellen verfügt (BAMF 3.6.2019). US-Angaben zufolge ist es "sehr wahrscheinlich", dass kleinere IS-Zellen auch in Teilen Afghanistans operieren, die unter der Kontrolle der Regierung oder der Taliban stehen (VOA 21.5.2019). Eine russische Quelle berichtet wiederum, dass ca. 5.000 IS-Kämpfer entlang der Nordgrenze tätig sind und die Nachbarländer bedrohen. Der Quelle zufolge handelt es sich dabei um Staatsbürger der ehemaligen sowjetischen Republiken, die mit dem IS in Syrien gekämpft haben (Newsweek 21.5.2019).

Anmerkung der Staatendokumentation: Zur besseren Ortung der oben beschriebenen Vorfälle folgt eine kartografische Darstellung der Staatendokumentation mit der Einteilung der Stadt Kabul in Polizeidistrikte:

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(Quelle: BFA 13.2.2019)

Rückkehr

Die International Organization for Migration (IOM) gewährt seit April 2019 keine temporäre Unterkunft für zwangsrückgeführte Afghanen mehr. Diese erhalten eine Barzuwendung von ca. 150 Euro sowie Informationen über mögliche Unterkunftsmöglichkeiten. Gemäß dem Europäischen Auswärtigen Amt (EAD) nutzten nur wenige Rückkehrer die Unterbringungsmöglichkeiten von IOM (BAMF 20.5.2019).

KI vom 26.3.2019, Anschläge in Kabul, Überflutungen und Dürre, Friedensgespräche, Präsidentschaftswahl (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage; Abschnitt 3/Sicherheitslage; Abschnitt 21/Grundversorgung und Wirtschaft).

Anschläge in Kabul-Stadt

Bei einem Selbstmordanschlag während des persischen Neujahres-Fests Nowruz in Kabul-Stadt kamen am 21.3.2019 sechs Menschen ums Leben und weitere 23 wurden verletzt (AJ 21.3.2019, Reuters 21.3.2019). Die Detonation erfolgte in der Nähe der Universität Kabul und des Karte Sakhi Schreins, in einer mehrheitlich von Schiiten bewohnten Gegend. Quellen zufolge wurden dafür drei Bomben platziert: eine im Waschraum einer Moschee, eine weitere hinter einem Krankenhaus und die dritte in einem Stromzähler (TDP 21.3.2019; AJ 21.3.2019). Der ISKP (Islamische Staat - Provinz Khorasan) bekannte sich zum Anschlag (Reuters 21.3.2019).

Während eines Mörserangriffs auf eine Gedenkveranstaltung für den 1995 von den Taliban getöteten Hazara-Führer Abdul Ali Mazari im überwiegend von Hazara bewohnten Kabuler Stadtteil Dasht-e Barchi kamen am 7.3.2019 elf Menschen ums Leben und 95 weitere wurden verletzt. Der ISKP bekannte sich zum Anschlag (AJ 8.3.2019).

Überflutungen und Dürre

Nach schweren Regenfällen in 14 afghanischen Provinzen kamen mindestens 63 Menschen ums Leben. In den Provinzen Farah, Kandahar, Helmand, Herat, Kapisa, Parwan, Zabul und Kabul, wurden ca. 5.000 Häuser zerstört und 7.500 beschädigt (UN OCHA 19.3.2019). Dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UN OCHA) zufolge waren mit Stand 19.3.2019 in der Provinz Herat die Distrikte Ghorvan, Zendejan, Pashtoon Zarghoon, Shindand, Guzarah und Baland Shahi betroffen (UN OCHA 19.3.2019). Die Überflutungen folgten einer im April 2018 begonnen Dürre, von der die Provinzen Badghis und Herat am meisten betroffen waren und von deren Folgen (z.B. Landflucht in die naheliegenden urbanen Zentren, Anm.) sie es weiterhin sind. Gemäß einer Quelle wurden in den beiden Provinzen am 13.9.2018 ca. 266.000 IDPs vertrieben: Davon zogen 84.000 Personen nach Herat-Stadt und 94.945 nach Qala-e-Naw, wo sie sich in den Randgebieten oder in Notunterkünften innerhalb der Städte ansiedelten und auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (IFRCRCS 17.3.2019).

Friedensgespräche

Kurz nach der Friedensgesprächsrunde zwischen Taliban und Vertretern der USA in Katar Ende Jänner 2019 fand Anfang Februar in Moskau ein Treffen zwischen Taliban und bekannten afghanischen Politikern der Opposition, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere "Warlords", statt (Qantara 12.2.201). Quellen zufolge wurde das Treffen von der afghanischen Diaspora in Russland or

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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