TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/6 W180 2176771-1

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Veröffentlicht am 06.11.2019
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Entscheidungsdatum

06.11.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W180 2176794-1/13E

W180 2176798-1/13E

W180 2176801-1/13E

W180 2176771-1/13E

IM NAMEN DER REPUBLIK

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Georg PECH über die Beschwerden von

1. XXXX , geb. XXXX ,

2. XXXX , geb. XXXX ,

3. XXXX , geb. XXXX und

4. XXXX , geb. XXXX ,

alle StA. Afghanistan, 3. und 4. gesetzlich vertreten durch die Mutter 1., alle vertreten durch RA Mag. Ronald Frühwirth, Grieskai 48, 8020 Graz, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.10.2017, 1. Zl. XXXX , 2. Zl. XXXX , 3. Zl. XXXX und

4. Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde von XXXX wird stattgegeben und ihr gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

II. Der Beschwerde von XXXX wird stattgegeben und ihr gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

III. Der Beschwerde von XXXX wird stattgegeben und ihm gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

IV. Der Beschwerde von XXXX wird stattgegeben und ihm gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin (Zl. W180 2176794-1), eine afghanische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Hazara, reiste mit ihrer damals minderjährigen Tochter, der Zweitbeschwerdeführerin (Zl. W180 2176798-1), und ihrem minderjährigen Sohn, dem Viertbeschwerdeführer (Zl. W180 2176771-1), in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte gemeinsam mit diesen am 15.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Ihr zweiter älterer, ebenfalls minderjähriger Sohn, der Drittbeschwerdeführer (Zl. W180 2176801-1), reiste getrennt ein und stellte am 01.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. In ihrer Erstbefragung am 16.12.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen an, sie sei verheiratet. Sie sei auf der Reise von ihrem Ehemann getrennt worden und wisse nicht, wo sich dieser derzeit aufhalte. Weiters habe sie eine weitere, ältere Tochter, die mit deren Familie getrennt gereist sei. Zu ihrem Fluchtgrund gab die Erstbeschwerdeführerin an, in Afghanistan sei Krieg gewesen, darum seien sie in den Iran ausgewandert. Im Iran hätten sie illegal gelebt, deshalb seien sie wieder nach Afghanistan zurückgekehrt. Ihr Ehemann sei von den Taliban entführt und gefoltert worden, daraufhin seien sie wieder in den Iran geflohen. Die letzten neun Jahre hätten sie im Iran illegal gelebt, bis zur Flucht nach Europa. Ihre Kinder hätten nicht auf die öffentliche Schule gehen dürfen. Ihr Mann habe nur sehr schwer Arbeit gefunden, da er nicht erwischt werden hätte dürfen.

Die Erstbefragung der Zweitbeschwerdeführerin durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes erfolgte ebenfalls am 16.12.2015.

Die Erstbefragung des Drittbeschwerdeführers erfolgte am 01.12.2015.

3. Die Erstbeschwerdeführerin gab bei ihrer niederschriftlichen Einvernahme vor der belangten Behörde am 03.10.2017 im Wesentlichen an, sie stamme aus der Provinz Ghazni, Distrikt XXXX , XXXX . Sie habe in Afghanistan fünf Jahre die Schule besucht, auch habe sie die Koranschule besucht. Gearbeitet habe sie nie, sie sei immer nur Hausfrau gewesen. Sie habe großes Interesse an der Schneiderei und beherrsche dies auch ein wenig. Sie habe ihren jetzigen Ehemann geheiratet und ein Jahr später hätten sie erstmals Afghanistan verlassen, da damals Krieg geherrscht habe. Sie seien gemeinsam in den Iran gereist. Dort seien ihre beiden Töchter geboren worden. Dann habe es familiäre Probleme gegeben und sie seien auf Aufforderung des Schwiegervaters der Erstbeschwerdeführerin wieder nach Afghanistan in den Heimatdistrikt zurückgekehrt. Die Schwester ihres Ehemannes sei nämlich mit dem Bruder der Erstbeschwerdeführerin verheiratet gewesen, ihr Bruder sei jedoch mit seiner Frau und der Familie nicht klar gekommen. Etwa zwei Wochen nach der Ankunft der Erstbeschwerdeführerin in Afghanistan habe sich ihr Bruder von seiner Frau scheiden lassen. Dies sei der Familie des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin nicht recht gewesen und diese hätten gewollt, dass sich die Erstbeschwerdeführerin und ihr Mann auch scheiden lassen sollten, was sie aber abgelehnt hätten. Dann hätten jahrelang Familienstreitigkeiten geherrscht und der Schwiegervater habe die Erstbeschwerdeführerin sehr oft geschlagen. Sie seien etwa vier Jahre in Afghanistan geblieben, wo ihr älterer Sohn geboren worden sei. Davon abgesehen seien eines Tages drei unbekannte bewaffnete Männer zur Familie der Erstbeschwerdeführerin nach Hause gekommen und hätten ihren Ehemann mitgenommen. Die Erstbeschwerdeführerin wisse nicht, ob das die Taliban gewesen seien oder andere Leute. Sie selbst und ihr Schwiegervater hätten die Entführung verhindern wollen. Die Erstbeschwerdeführerin sei dabei verletzt worden und bewusstlos geschlagen worden. Nach fünf Tagen habe man ihren Ehemann wiedergebracht. Er habe erzählt, dass er gefoltert worden sei und dass man ihm Spionage vorgeworfen habe, aus Mangel an Beweisen sei er aber zurückgebracht worden. Ihr Mann sei verletzt gewesen und sie hätten ihn ins Krankenhaus gebracht, wo er etwa drei Monate geblieben sei. In der Folge sei die Erstbeschwerdeführerin mit ihrem Mann und ihren Kindern wieder in den Iran gezogen, wo sie neun Jahre lang gelebt hätten, bevor sie nach Europa aufgebrochen seien. Ihr Mann lebe jedoch nach wie vor im Iran, da er bei der Flucht nicht mehr vor der türkischen Grenze durchgekommen sei. Sie habe immer noch Kontakt zu ihrem Mann. Im Fall einer Rückkehr habe die Erstbeschwerdeführerin Angst vor ihrem Schwiegervater und auch wegen des Vorfalles mit der Entführung ihres Mannes.

In Österreich gefalle es ihr sehr gut, sie könne sich frei bewegen und sei in Sicherheit. Sie besuche regelmäßig den Deutschkurs und gehe mit anderen spazieren oder laufen. Sie sei auch bereit, jede Art von Arbeit anzunehmen.

Die Erstbeschwerdeführerin machte als gesetzliche Vertreterin für ihre minderjährigen Kinder keine eigenen Fluchtgründe geltend.

Die Erstbeschwerdeführerin legte u.a. Deutschkurs-Teilnahmebestätigungen, eine Teilnahmebestätigung für einen Werte- und Orientierungskurs, Arztbefunde und ein Empfehlungsschreiben vor.

Die Zweitbeschwerdeführerin wurde ebenfalls am 03.10.2017 vor der belangten Behörde niederschriftlich einvernommen.

Für die polizeiliche Erstbefragung des Viertbeschwerdeführers und die Einvernahme vor der belangten Behörde bezüglich der Dritt- und Viertbeschwerdeführer wird auf den Verfahrensgang der Erstbeschwerdeführerin verwiesen. In den Akten der minderjährigen Kinder befinden sich keine eigenen Einvernahmeprotokolle.

4. Mit den angefochtenen Bescheiden vom 10.10.2017 wies die belangte Behörde die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen die Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

5. Mit Schreiben vom 09.11.2017 erhoben die Erst- bis Viertbeschwerdeführer fristgerecht Beschwerde in vollem Umfang gegen die genannten Bescheide und beantragten die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten, in eventu der subsidiär Schutzberechtigten, in eventu die Rückkehrentscheidungen für auf Dauer unzulässig zu erklären und Aufenthaltstitel zu erteilen, in eventu die Zurückverweisung, sowie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

6. Am 28.05.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari bzw. Farsi statt, bei welcher die Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen und kurz die Dritt- und Viertbeschwerdeführer im Beisein ihrer Rechtsvertretung einvernommen wurden. Die belangte Behörde blieb der Verhandlung entschuldigt fern. In Ergänzung der bereits vorgelegten Unterlagen wurden weitere Dokumente vorgelegt (u.a. Deutschkursbesuchsbestätigungen sowie Teilnahmebestätigung für eine Elterngruppe und eine Schulbesprechung sowie Arztbefunde betreffend die Erstbeschwerdeführerin, ÖSD-Sprachzertifikat Niveau A2 und Schulbesuchsbestätigungen der Zweitbeschwerdeführerin, Schulbesuchsbestätigungen betreffend die Dritt- und Viertbeschwerdeführer, Empfehlungsschreiben).

Im Rahmen der Verhandlung wurden die Erstbeschwerdeführerin und die Zweitbeschwerdeführerin u.a. ausführlich zu ihrer Identität, ihrer Herkunft und Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, ihrem Leben in Afghanistan und im Iran, ihren Familienverhältnissen, ihren Fluchtgründen, ihrem Leben in Österreich sowie zu ihrer Lebenseinstellung befragt.

7. Mit Schreiben vom 18.06.2018 wurde eine Stellungnahme eingebracht. Darin wurde auf die schlechte Lage der Frauen in Afghanistan hingewiesen. Die Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen seien mit den in der afghanischen Kultur fest verwurzelten Moralvorstellungen in keiner Weise einverstanden, sondern würden auf ihren Rechten bestehen. Die der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung verpflichtete Einstellung der Beschwerdeführer, insbesondere der Beschwerdeführerinnen, lasse sich neben ihrem umfassenden Vorbringen auch an ihrem Erscheinungsbild, ihrer offenen und aufgeschlossenen Art, auch mit ihnen nicht bekannten Personen, an der Wichtigkeit, die sie der Ausbildung und der Berufstätigkeit von Frauen zukommen ließen, und vieler weiterer Merkmale erkennen. Die Erstbeschwerdeführerin habe in Afghanistan Zeit ihres Lebens Schwierigkeiten mit dem in Afghanistan vorherrschenden Frauenbild gehabt. Sie habe nichts selbst entscheiden dürfen, sich nicht kleiden dürfen, wie sie wollte, sich ihren Partner nicht aussuchen dürfen und sei den schweren und jahrelang andauernden Misshandlungen ihrer Schwiegerfamilie und schließlich jenen der Taliban schutzlos ausgeliefert gewesen. Es sei für die Beschwerdeführer nicht vorstellbar, die vorherrschende Wertehaltung in Afghanistan zu akzeptieren, vielmehr hätten sie den Wunsch, ein eigenständiges Leben frei von sozialen Zwängen zu führen. Bereits aufgrund ihrer Lebenseinstellung drohe den Erst- und Zweitbeschwerdeführerinnen Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der "westlich" eingestellten Frauen.

8. Mit Schreiben vom 11.10.2018 wurde eine weitere Stellungnahme eingebracht.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer und zu ihren Fluchtgründen:

Alle Beschwerdeführer sind Staatsangehörige von Afghanistan und gehören der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islam an. Ihre Muttersprache ist Dari.

Die Erstbeschwerdeführerin ist verheiratet und Mutter der ledigen Zweit- bis Viertbeschwerdeführer. Die Zweitbeschwerdeführerin ist nunmehr volljährig und war im Zeitpunkt ihrer Asylantragstellung minderjährig. Die Dritt- und Viertbeschwerdeführer sind nach wie vor minderjährig. Die Erstbeschwerdeführerin hat eine weitere volljährige Tochter.

Die Erstbeschwerdeführerin wurde in Afghanistan in der Provinz Ghazni, im Distrikt XXXX , geboren und hat zunächst auch dort gelebt. Sie ist in einer traditionellen Familie aufgewachsen. Sie besuchte die Koranschule und fünf Jahre lang die Schule. Danach hielt sie sich vorwiegend zu Hause auf, sie durfte nicht sehr oft das Haus verlassen, und wenn doch, musste sie sich verschleiern. Die Erstbeschwerdeführerin hat keine Berufsausbildung und hat nie gearbeitet, sie war immer Hausfrau. Sie durfte sich ihren Ehemann nicht selbst aussuchen und wurde von ihren Eltern verheiratet. Ihr Ehemann stammt ursprünglich aus der Provinz XXXX und ist dann in das Dorf der Erstbeschwerdeführerin gezogen, wo die beiden auch geheiratet haben. Ihr Mann hat gearbeitet und für den Lebensunterhalt der Familie gesorgt. Ein Jahr nach der Heirat haben die beiden das erste Mal Afghanistan verlassen und sind in den Iran gezogen. Im Iran wurden die beiden Töchter der Erstbeschwerdeführerin und ihres Mannes geboren. Nach sechs Jahren ist die Familie wieder nach Afghanistan in den Heimatdistrikt zurückgekehrt, wo sie in der Folge etwa vier Jahre lang gelebt haben. In Afghanistan wurde der Drittbeschwerdeführer geboren. Dann ist die Familie erneut in den Iran gezogen, wo der Viertbeschwerdeführer geboren wurde. Nach etwa neun Jahren hat die Familie die Ausreise nach Europa angetreten und in Österreich die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz gestellt, abgesehen vom Ehemann der Erstbeschwerdeführerin, der nicht über die Grenze gelangte und nach wie vor im Iran lebt. Die Erstbeschwerdeführerin und ihre Familie haben zu ihm mehrmals in der Woche Kontakt.

Die Erstbeschwerdeführerin hat in Afghanistan keine Verwandten mehr. Sie hat zwei Schwestern und einen Bruder im Iran; zu ihren Schwestern hat sie Kontakt. Weiters hat sie zwei Tanten mütterlicherseits im Iran und eine weitere Tante in Belgien; zu letzterer hat sie Kontakt. In Afghanistan leben noch Verwandte des Ehemannes der Erstbeschwerdeführerin.

Die Erst- bis Viertbeschwerdeführer leben in Österreich im gemeinsamen Haushalt. Die älteste, oben erwähnte Tochter der Erstbeschwerdeführerin lebt mit ihrer Familie ebenfalls in Österreich, die beiden Familien leben jedoch getrennt. Die Erst- bis Drittbeschwerdeführer sind in Österreich strafrechtlich unbescholten. Der Viertbeschwerdeführer ist strafunmündig. Alle Beschwerdeführer nehmen Leistungen aus der Grundversorgung in Anspruch.

Die Erstbeschwerdeführerin lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und lebt in Österreich nicht nach dieser Tradition. Erst in Österreich konnte sie sich von den Einschränkungen befreien, denen sie in Afghanistan unterworfen war und hier kann sie ihr Leben unabhängig und nach ihren Vorstellungen gestalten. Da sich ihr Ehemann nach wie vor im Iran aufhält, obliegen der Erstbeschwerdeführerin alleine die Betreuung und Erziehung ihrer Kinder, die selbständige Gestaltung des Alltags der Familie und die Führung des Haushalts. Die Erstbeschwerdeführerin trifft wichtige Entscheidungen alleine. Sie wird von ihrem im Iran lebenden Ehemann nicht finanziell unterstützt. Sie verwaltet das Geld, das der Familie im Rahmen der Grundversorgung zur Verfügung steht, und entscheidet, für welche Dinge Geld ausgegeben wird. Die Erstbeschwerdeführerin besucht regelmäßig den Deutschkurs und hat sich auch in vorhergehenden Kursen bereits Deutschkenntnisse angeeignet. Sie hat an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen und weiters im Rahmen eines Projektes an einer mehrmonatigen Elterngruppe für AsylwerberInnen. Die Erstbeschwerdeführerin und die Zweitbeschwerdeführerin haben eine Zeit lang im Asylwerberheim Reinigungsarbeiten verrichtet und dafür einen finanziellen Beitrag erhalten. Die Erstbeschwerdeführerin hat im Iran Schneiderkenntnisse erlernt und interessiert sich auch für diesen Beruf. Sie möchte berufstätig sein und kann sich eine Tätigkeit in diesem, aber auch in einem anderen Bereich vorstellen. Die Erstbeschwerdeführerin begleitet ihre jüngeren Kinder zu Arztterminen und nimmt an Besprechungen in der Schule teil. Sie hat Radfahren gelernt und sie und ihre Familie beteiligen sich an verschiedenen Unternehmungen und Freizeitaktivitäten der Asylunterkunft und der Heimatgemeinde, wie etwa Wandern, Ausflüge, Kinobesuche, Radfahren, Workshops und Feste. Die Familie erhält Hilfe und Unterstützung von verschiedenen Familien und Personen und wird auch von anderen nach Hause eingeladen. Die Erstbeschwerdeführerin wünscht sich eine gute Ausbildung für ihre Kinder und erzieht ihre Kinder liberal. Sie hat ihre älteste Tochter ihren Ehemann selbst wählen lassen und wird auch ihren weiteren Kindern die Partnerwahl überlassen, wobei es etwa für sie keine Rolle spielen würde, welcher Religion der künftige Partner ihrer Kinder angehören würde. Die Erstbeschwerdeführerin kleidet sich modisch und schminkt sich. Sie trägt ein Tuch locker über dem Kopf, sodass der Haaransatz sichtbar ist.

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich mithin um eine eigenständige und selbstbewusste Frau, deren persönliche Haltung über die Lebensverhältnisse und die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen steht, denen Frauen dort hinsichtlich Bewegungsfreiheit und Zugang zu Erwerbstätigkeit mehrheitlich unterworfen sind. Die nunmehrige Lebensweise der Erstbeschwerdeführerin und ihrer Familienangehörigen sowie die Erziehung ihrer Kinder in Österreich sind als "westlich", sohin an einem auf ein selbstbestimmtes Leben ausgerichteten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert, zu bezeichnen. Die von der konservativ-afghanischen Tradition geprägten Lebensumstände, welchen die Erstbeschwerdeführerin in Afghanistan unterworfen war und auch künftig wieder unterworfen wäre, stünden mit jenen, welche sie sich aus freiem Willen zu gestalten wünscht bzw. bereits gestaltet hat, ganz offenkundig in unüberwindbarem Gegensatz. Die Erstbeschwerdeführerin kann es sich nicht vorstellen, wieder nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben.

Die Zweitbeschwerdeführerin besuchte zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht einen Lehrgang an einer Fachschule für wirtschaftliche Berufe, hat das ÖSD-Sprachzertifikat Deutsch Niveau A2 absolviert und einen Gitarrenkurs besucht. Sie möchte Krankenschwester werden und die Matura absolvieren. Der Drittbeschwerdeführer besuchte zum Zeitpunkt der Verhandlung eine Polytechnische Schule und spielte Fußball in einem Verein. Er hat das ÖSD-Sprachzertifikat Deutsch Niveau A1 absolviert und - ebenso wie die Zweitbeschwerdeführerin - einen Werte- und Orientierungskurs besucht. Er möchte Fußballspieler, Mechaniker oder Elektriker werden. Der Viertbeschwerdeführer besuchte zunächst die Volksschule und danach die Neue Mittelschule. Er möchte Fußballspieler oder Architekt werden.

Gründe, nach denen ein Ausschluss der Beschwerdeführer hinsichtlich der Asylgewährung zu erfolgen hat, sind im Verfahren nicht hervorgekommen.

1.2. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Afghanistan (02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 30.01.2018; Auszüge)

1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

KI vom 30.01.2018: Angriffe in Kabul (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

Landesweit haben in den letzten Monaten Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (The Guardian; vgl. BBC 29.1.2018). Die Gewalt Aufständischer gegen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen hat in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban erhöhen ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (Asia Pacific 30.1.2018).

Im Stadtzentrum und im Diplomatenviertel wurden Dutzende Hindernisse, Kontrollpunkte und Sicherheitskameras errichtet. Lastwagen, die nach Kabul fahren, werden von Sicherheitskräften, Spürhunden und weiteren Scannern kontrolliert, um sicherzustellen, dass keine Sprengstoffe, Raketen oder Sprengstoffwesten transportiert werden. Die zeitaufwändigen Kontrollen führen zu langen Wartezeiten; sollten die korrekten Papiere nicht mitgeführt werden, so werden sie zum Umkehren gezwungen. Ebenso werden die Passagiere in Autos von der Polizei kontrolliert (Asia Pacific 30.1.2018).

Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie 29.1.2019

Am Montag den 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der Islamische Staat bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).

Quellen zufolge operiert der IS in den Bergen der östlichen Provinz Nangarhar (The Guardian 29.1.2018); die Provinzhauptstadt Jalalabad wird als eine Festung des IS erachtet, dessen Kämpfer seit 2015 dort aktiv sind (BBC 24.1.2018). Nachdem der IS in Ostafghanistan unter anhaltenden militärischen Druck gekommen war, hatte dieser immer mehr Angriffe in den Städten für sich beansprucht. Nationale und internationale Expert/innen sehen die Angriffe in den Städten als Überlappung zwischen dem IS und dem Haqqani-Netzwerk (einem extremen Arm der Taliban) (NYT 28.1.2018).

Angriff im Regierungs- und Diplomatenviertel in Kabul am 27.1.2018

Bei einem der schwersten Angriffe der letzten Monate tötete am Samstag den 27.1.2018 ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 28.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (The Guardian 27.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Der Vorfall ereignete sich im Regierungs- und Diplomatenviertel und wird als einer der schwersten seit dem Angriff vom Mai 2017 betrachtet, bei dem eine Bombe in der Nähe der deutschen Botschaft explodiert war und 150 Menschen getötet hatte (Reuters 28.1.2018).

Die Taliban verlautbarten in einer Aussendung, der jüngste Angriff sei eine Nachricht an den US-amerikanischen Präsidenten, der im letzten Jahr mehr Truppen nach Afghanistan entsendete und Luftangriffe sowie andere Hilfestellungen an die afghanischen Sicherheitskräfte verstärkte (Reuters 28.1.2018).

Angriff auf die NGO Save the Children am 24.1.2018

Am Morgen des 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden dabei getötet und zwölf weitere verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich 50 Mitarbeiter/innen im Gebäude. Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018).

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The Guardian (24.1.2018)

Der jüngste Angriff auf eine ausländische Hilfseinrichtung in Afghanistan unterstreicht die wachsende Gefahr, denen Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in Afghanistan ausgesetzt sind (The Guardian 24.1.2018).

Das Gelände der NGO Save the Children befindet sich in jener Gegend von Jalalabad, in der sich auch andere Hilfsorganisationen sowie Regierungsgebäude befinden (BBC 24.1.2018). In einer Aussendung des IS werden die Autobombe und drei weitere Angriffe auf Institutionen der britischen, schwedischen und afghanischen Regierungen (Reuters 24.1.2018).

Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul am 20.1.2018

Der Angriff bewaffneter Männer auf das Luxushotel Intercontinental in Kabul, wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018).Fünf bewaffnete Männer mit Sprengstoffwesten hatten sich Zutritt zu dem Hotel verschafft (DW 21.1.2018). Die exakte Opferzahl ist unklar. Einem Regierungssprecher zufolge sollen 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet worden sein. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden(BBC 21.1.2018). Alle Fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).

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The Guardian (22.1.2018)

Wie die Angreifer die Sicherheitsvorkehrungen durchbrechen konnten, ist Teil von Untersuchungen. Erst seit zwei Wochen ist eine private Firma für die Sicherheit des Hotels verantwortlich. Das Intercontinental in Kabul ist trotz des Namens nicht Teil der weltweiten Hotelkette, sondern im Besitz der afghanischen Regierung. In diesem Hotel werden oftmals Hochzeiten, Konferenzen und politische Zusammentreffen abgehalten (BBC 21.1.2018). Zum Zeitpunkt des Angriffes war eine IT-Konferenz im Gange, an der mehr als 100 IT-Manager und Ingenieure teilgenommen hatten (Reuters 20.1.2018; vgl. NYT 21.1.2018).

Insgesamt handelte es sich um den zweiten Angriff auf das Hotel in den letzten acht Jahren (NYT 21.1.2018). Zu dem Angriff im Jahr 2011 hatten sich ebenso die Taliban bekannt (Reuters 20.1.2018).

Unter den Opfern waren ausländische Mitarbeiter/innen der afghanischen Fluggesellschaft Kam Air, u.a. aus Kirgisistan, Griechenland (DW 21.1.2018), der Ukraine und Venezuela. Die Fluglinie verbindet jene Gegenden Afghanistans, die auf dem Straßenweg schwer erreichbar sind (NYT 29.1.2018).

Quellen:

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Asia Pacific (30.1.2018): Taliban and IS create perfect storm of bloodshed in Kabul,

https://www.channelnewsasia.com/news/asiapacific/taliban-and-is-create-perfect-storm-of-bloodshed-in-kabul-9909494, Zugriff 30.1.2018

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BBC (29.1.2018): Kabul military base hit by explosions and gunfire, http://www.bbc.com/news/world-asia-42855374, Zugriff 29.1.2018

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BBC (24.1.2018): Save the Children offices attacked in Jalalabad, Afghanistan, http://www.bbc.com/news/world-asia-42800271, Zugriff 29.1.2018

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BBC (21.1.2018): Kabul: Afghan forces end Intercontinental Hotel siege, http://www.bbc.com/news/world-asia-42763517, Zugriff 29.1.2018

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DW - Deutsche Welle (21.1.2018): Taliban militants claim responsibility for attack on Kabul hotel, http://www.dw.com/en/taliban-militants-claim-responsibility-for-attack-on-kabul-hotel/a-42238097, Zugriff 29.1.2018

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NYT - The New York Times (28.1.2018): Attack Near Kabul Military Academy Kills 11 Afghan Soldiers, https://www.nytimes.com/2018/01/28/world/asia/kabul-attack-afghanistan.html, Zugriff 29.1.2018

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NYT - The New York Times (21.1.2018): Siege at Kabul Hotel Caps a Violent 24 Hours in Afghanistan,

-

Reuters (28.1.2018): Shock gives way to despair in Kabul after ambulance bomb,

https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-blast/shock-gives-way-to-despair-in-kabul-after-ambulance-bomb-idUSKBN1FG086, Zugriff 29.1.2018

-

Reuters (24.1.2018): Islamic State claims attack on Jalalabad in Afghanistan,

https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-blast-claim/islamic-state-claims-attack-on-jalalabad-in-afghanistan-idUSKBN1FD1HC, Zugriff 29.1.2018

-

Reuters (20.1.2018): Heavy casualties after overnight battle at Kabul hotel,

https://www.reuters.com/article/us-afghanistan-attacks/heavy-casualties-after-overnight-battle-at-kabul-hotel-idUSKBN1F90W9, Zugriff 29.1.2018

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The Guardian (29.1.2018): Afghanistan: gunmen attack army post at Kabul military academy,

https://www.theguardian.com/world/2018/jan/29/explosions-kabul-military-academy-afghanistan, Zugriff 29.1.2018

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The Guardian (28.1.2018): 'We have no security': Kabul reels from deadly ambulance bombing,

https://www.theguardian.com/world/2018/jan/28/afghanistan-kabul-reels-bomb-attack-ambulance, Zugriff 29.1.2018

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The Guardian (27.1.2018): Kabul: bomb hidden in ambulance kills dozens,

https://www.theguardian.com/world/2018/jan/27/scores-of-people-wounded-and-several-killed-in-kabul-blast, Zugriff 29.1.2018

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The Guardian (24.1.2018): Isis claims attack on Save the Children office in Afghanistan,

https://www.theguardian.com/world/2018/jan/24/explosion-attack-save-the-children-office-jalalabad-afghanistan, Zugriff 29.1.2018

KI vom 21.12.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2017 (betrifft: Abschnitt 3 Sicherheitslage)

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil - der Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Kräften und Regierungskräften hält landesweit an (UN GASC 20.12.2017). Zur Verschlechterung der Sicherheitslage haben die sich intensivierende Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften beigetragen (SIGAR 30.10.2017; vgl. SCR 30.11.2017).

Die afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte verstärkten deutlich ihre Luftoperationen (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die in 22 Provinzen registriert wurden. So haben sich im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) Luftangriffe um 73% gegenüber dem Vorjahreswert erhöht (UN GASC 20.12.2017). Der Großteil dieser Luftangriffe wurde in der südlichen Provinz Helmand und in der östlichen Provinz Nangarhar erfasst (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die als Hochburgen des IS und der Taliban gelten (SIGAR 30.10.2017). Verstärkte Luftangriffe hatten wesentliche Auswirkungen und führten zu hohen Opferzahlen bei Zivilist/innen und regierungsfeindlichen Elementen (UN GASC 20.12.2017). Zusätzlich ist die Gewalt in Ostafghanistan auf die zunehmende Anzahl von Operationen der ANDSF und der Koalitionskräfte zurück zu führen (SIGAR 30.10.2017).

Landesweit kam es immer wieder zu Sicherheitsoperationen, bei denen sowohl aufständische Gruppierungen als auch afghanische Sicherheitskräfte Opfer zu verzeichnen hatten (Pajhwok 1.12.2017; TP 20.12.2017; Xinhua 21.12.2017; Tolonews 5.12.2017; NYT 11.12.2017).

Den Vereinten Nationen zufolge hat sich der Konflikt seit Anfang des Jahres verändert, sich von einer asymmetrischen Kriegsführung entfernt und in einen traditionellen Konflikt verwandelt, der von bewaffneten Zusammenstößen zwischen regierungsfeindlichen Elementen und der Regierung gekennzeichnet ist. Häufigere bewaffnete Zusammenstöße werden auch als verstärkte Offensive der ANDSF-Operationen gesehen um die Initiative von den Taliban und dem ISKP zu nehmen - in diesem Quartal wurde im Vergleich zum Vorjahr eine höhere Anzahl an bewaffneten Zusammenstößen erfasst (SIGAR 30.10.2017).

Sicherheitsrelevante Vorfälle

Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum (15.9. - 15.11.2017) 3.995 sicherheitsrelevante Vorfälle; ein Rückgang von 4% gegenüber dem Vorjahreswert. Insgesamt wurden von 1.1.-15.11.2017 mehr als 21.105 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, was eine Erhöhung von 1% gegenüber dem Vorjahreswert andeutet. Laut UN sind mit 62% bewaffnete Zusammenstöße die Hauptursache aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs [Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen], die in 17% der sicherheitsrelevanten Vorfälle Ursache waren. Die östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von den südlichen Regionen - zusammen wurde in diesen beiden Regionen 56% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Gezielte Tötungen und Entführungen haben sich im Vergleich zum Vorjahreswert um 16% erhöht (UN GASC 20.12.2017).

Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden vom 1.1.-30.11.2017 24.917 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan registriert (Stand: Dezember 2017) (INSO o.D.).

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(Grafik: Staatendokumentation gemäß Daten aus INSO o.D.)

Zivilist/innen

Im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des letzten Jahres registrierte die UNAMA zwischen 1.1. und 30.9.2017 8.019 zivile Opfer (2.640 Tote und 5.379 Verletzte). Dies deutet insgesamt einen Rückgang von fast 6% gegenüber dem Vorjahreswert an (UNAMA 10.2017); konkret hat sich die Anzahl getöteter Zivilist/innen um 1% erhöht, während sich die Zahl verletzter Zivilist/innen um 9% verringert hat (UN GASC 20.12.2017).Wenngleich Bodenoffensiven auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer waren - führte der Rückgang der Anzahl von Bodenoffensiven zu einer deutlichen Verringerung von 15% bei zivilen Opfern. Viele Zivilist/innen fielen Selbstmordattentaten, sowie komplexen Angriffen und IEDs zum Opfer - speziell in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Kandahar und Faryab (UNAMA 10.2017).

Zivile Opfer, die regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben wurden, sind um 37% zurückgegangen: Von insgesamt 849 waren 228 Tote und 621 Verletzte zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden, um 7%: von den 1.150 zivilen Opfer starben 225, während 895 verletzt wurden. Die restlichen Opfer konnten keiner Tätergruppe zugeschrieben werden (UNAMA 10.2017).

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(UNAMA 10.2017)

High-profile Angriffe:

Am 31.10.2017 sprengte sich ein Selbstmordattentäter in der "Green Zone" der Hauptstadt Kabul in die Luft. Der angebliche Täter soll Quellen zufolge zwischen 12-13 Jahren alt gewesen sein. Mindestens vier Menschen starben bei dem Angriff und ein Dutzend weitere wurden verletzt. Dies war der erste Angriff in der "Green Zone" seit dem schweren Selbstmordattentat im Mai 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017). der IS bekannte sich zu diesem Vorfall Ende Oktober 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017; UN GASC 20.12.2017)

Am 20.10.2017 sprengte sich ein Angreifer in der Shia Imam Zamam Moschee in Kabul in die Luft; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet und 45 weitere verletzt. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017; UN GASC 20.12.2017). In dem Distrikt Solaina, in der westlichen Provinz Ghor, wurde ebenso eine Moschee angegriffen - in diesem Fall handelt es sich um eine sunnitische Moschee. Die tatsächliche Opferzahl ist umstritten: je nach Quellen sind zwischen 9 und 39 Menschen bei dem Angriff gestorben (Independent 20.10.2017; vgl. NYT 20.10.2017; al Jazeera 20.10.2017).

Am 19.10.2017 wurde im Rahmen eines landesweit koordinierten Angriffes der Taliban 58 afghanische Sicherheitskräfte getötet: ein militärisches Gelände, eine Polizeistationen und ein militärischer Stützpunkt in Kandahar wären beinahe überrannt worden (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017). Einige Tage vor diesem Angriff töteten ein Selbstmordattentäter und ein Schütze mindestens 41 Menschen, als sie ein Polizeiausbildungszentrum in der Provinzhauptstadt Gardez stürmten (Provinz Paktia) (BBC 21.10.2017). In der Woche davor wurden 14 Offiziere der Militärakademie auf dem Weg nach Hause getötet, als ein Selbstmordattentäter den Minibus in die Luft sprengte in dem sie unterwegs waren (NYT 20.10.2017). Die afghanische Armee und Polizei haben dieses Jahr schwere Verluste aufgrund der Taliban erlitten (BBC 21.10.2017).

Am 7.11.2017 griffen als Polizisten verkleidete Personen/regierungsfeindliche Kräfte eine Fernsehstation "Shamshad TV" an; dabei wurde mindestens eine Person getötet und zwei Dutzend weitere verletzt. Die afghanischen Spezialkräfte konnten nach drei Stunden Kampf, die Angreifer überwältigen. Der IS bekannt sich zu diesem Angriff (Guardian 7.11.2017; vgl. NYT 7.11.2017; UN GASC 20.12.2017).

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(Guardian 7.11.2017)

Bei einem Selbstmordangriff im November 2017 wurden mindestens neun Menschen getötet und einige weitere verletzt; die Versammelten hatten einem Treffen beigewohnt, um den Gouverneur der Provinz Balkh - Atta Noor - zu unterstützen; auch hier bekannte sich der IS zu diesem Selbstmordattentat (Reuters 16.11.2017; vgl. UN GASC 20.12.2017)

Interreligiöse Angriffe

Serienartige gewalttätige Angriffe gegen religiöse Ziele, veranlassten die afghanische Regierung neue Maßnahmen zu ergreifen, um Anbetungsorte zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempeln vor Angriffen zu schützen (UN GASC 20.12.2017).

Seit 1.1.2016 wurden im Rahmen von Angriffen gegen Moscheen, Tempel und andere Anbetungsorte 737 zivile Opfer verzeichnet (242 Tote und 495 Verletzte); der Großteil von ihnen waren schiitische Muslime, die im Rahmen von Selbstmordattentaten getötet oder verletzt wurden. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017).

Im Jahr 2016 und 2017 registrierte die UN Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Seit 1.1.2016 wurden 27 gezielte Tötungen religiöser Personen registriert, wodurch 51 zivile Opfer zu beklagen waren (28 Tote und 23 Verletzte); der Großteil dieser Vorfälle wurde im Jahr 2017 verzeichnet und konnten großteils den Taliban zugeschrieben werden. Religiösen Führern ist es möglich, öffentliche Standpunkte durch ihre Predigten zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017).

ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte

Informationen zur Stärke der ANDSF und ihrer Opferzahlen werden von den US-amerikanischen Kräften in Afghanistan (USFOR-A) geheim gehalten; im Bericht des US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR) werden Schätzungen angegeben:

Die Stärke der ANDSF ist in diesem Quartal zurückgegangen; laut USFOR-A Betrug die Stärke der ANDSF mit Stand August 2017 etwa 320.000 Mann - dies deutet einen Rückgang von 9.000 Mann gegenüber dem vorhergehenden Quartal an. Dennoch erhöhte sich der Wert um

3.500 Mann gegenüber dem Vorjahr (SIGAR 30.10.2017). Die Schwundquote der afghanischen Nationalpolizei war nach wie vor ein großes Anliegen; die Polizei litt unter hohen Opferzahlen (UN GASC 20.12.2017).

Im Rahmen eines Memorandum of Understanding (MoU) zwischen dem afghanischen Verteidigungs- und Innenministerium wurde die afghanische Grenzpolizei (Afghan Border Police) und die afghanische Polizei für zivile Ordnung (Afghan National Civil Order Police) dem Verteidigungsministerium übertragen (UN GASC 20.12.2017). Um sogenanntem "Geisterpersonal" vorzubeugen, werden seit 1.1.2017 Gehälter nur noch an jenes Personal im Innen- und Verteidigungsministerium ausbezahlt, welches ordnungsgemäß registriert wurde (SIGAR 30.10.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Taliban

Der UN zufolge versuchten die Taliban weiterhin von ihnen kontrolliertes Gebiet zu halten bzw. neue Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen - was zu einem massiven Ressourcenverbrauch der afghanischen Regierung führte, um den Status-Quo zu halten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive unternahmen die Taliban keine größeren Versuche, um eine der Provinzhauptstädte einzunehmen. Dennoch war es ihnen möglich kurzzeitig mehrere Distriktzentren einzunehmen (SIGAR 30.10.2017):

Die Taliban haben mehrere groß angelegte Operationen durchgeführt, um administrative Zentren einzunehmen und konnten dabei kurzzeitig den Distrikt Maruf in der Provinz Kandahar, den Distrikt Andar in Ghazni, den Distrikt Shib Koh in der Farah und den Distrikt Shahid-i Hasas in der Provinz Uruzgan überrennen. In allen Fällen gelang es den afghanischen Sicherheitskräften die Taliban zurück zu drängen - in manchen Fällen mit Hilfe von internationalen Luftangriffen. Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es, das Distriktzentrum von Ghorak in Kandahar unter ihre Kontrolle zu bringen - dieses war seit November 2016 unter Talibankontrolle (UN GASC 20.12.2017).

Im Rahmen von Sicherheitsoperationen wurden rund 30 Aufständische getötet; unter diesen befand sich - laut afghanischen Beamten - ebenso ein hochrangiger Führer des Haqqani-Netzwerkes (Tribune 24.11.2017; vgl. BS 24.11.2017). Das Haqqani-Netzwerk zählt zu den Alliierten der Taliban (Reuters 1.12.2017).

Aufständische des IS und der Taliban bekämpften sich in den Provinzen Nangarhar und Jawzjan (UN GASC 20.12.2017). Die tatsächliche Beziehung zwischen den beiden Gruppierungen ist wenig nachvollziehbar - in Einzelfällen schien es, als ob die Kämpfer der beiden Seiten miteinander kooperieren würden (Reuters 23.11.2017).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Der IS war nach wie vor widerstandsfähig und bekannte sich zu mehreren Angriff auf die zivile Bevölkerung, aber auch auf militärische Ziele [Anm.: siehe High-Profile Angriffe] (UN GASC 20.12.2017). Unklar ist, ob jene Angriffe zu denen sich der IS bekannt hatte, auch tatsächlich von der Gruppierung ausgeführt wurden bzw. ob diese in Verbindung zur Führung in Mittleren Osten stehen. Der afghanische Geheimdienst geht davon aus, dass in Wahrheit manche der Angriffe tatsächlich von den Taliban oder dem Haqqani-Netzwerk ausgeführt wurden, und sich der IS opportunistischerweise dazu bekannt hatte. Wenngleich Luftangriffe die größten IS-Hochburgen in der östlichen Provinz Nangarhar zerstörten; hielt das die Gruppierungen nicht davon ab ihre Angriffe zu verstärken (Reuters 1.12.2017).

Sicherheitsbeamte gehen davon aus, dass der Islamische Staat in neun Provinzen in Afghanistan eine Präsenz besitzt: im Osten von Nangarhar und Kunar bis in den Norden nach Jawzjan, Faryab, Badakhshan und Ghor im zentralen Westen (Reuters 23.11.2017). In einem weiteren Artikel wird festgehalten, dass der IS in zwei Distrikten der Provinz Jawzjan Fuß gefasst hat (Reuters 1.12.2017).

Politische Entwicklungen

Der Präsidentenpalast in Kabul hat den Rücktritt des langjährigen Gouverneurs der Provinz Balkh, Atta Mohammad Noor, Anfang dieser Woche bekanntgegeben. Der Präsident habe den Rücktritt akzeptiert. Es wurde auch bereits ein Nachfolger benannt (NZZ 18.12.2017). In einer öffentlichen Stellungnahme wurde Mohammad Daud bereits als Nachfolger genannt (RFE/RL 18.12.2017). Noor meldete sich zunächst nicht zu Wort (NZZ 18.12.2017).

Wenngleich der Präsidentenpalast den Abgang Noors als "Rücktritt" verlautbarte, sprach dieser selbst von einer "Entlassung" - er werde diesen Schritt bekämpfen (RFE/RL 20.12.2017). Atta Noors Partei, die Jamiat-e Islami, protestierte und sprach von einer "unverantwortlichen, hastigen Entscheidung, die sich gegen die Sicherheit und Stabilität in Afghanistan sowie gegen die Prinzipien der Einheitsregierung" richte (NZZ 18.12.2017).

Die Ablösung des mächtigen Gouverneurs der nordafghanischen Provinz Balch droht Afghanistan in eine politische Krise zu stürzen (Handelsblatt 20.12.2017). Sogar der Außenminister Salahuddin Rabbani wollte nach Angaben eines Sprechers vorzeitig von einer Griechenlandreise zurückkehren (NZZ 18.12.2017).

Atta Noor ist seit dem Jahr 2004 Gouverneur der Provinz Balkh und gilt als Gegner des Präsidenten Ashraf Ghani, der mit dem Jamiat-Politiker Abdullah Abdullah die Einheitsregierung führt (NZZ 18.12.2017). Atta Noor ist außerdem ein enger Partner der deutschen Entwicklungshilfe und des deutschen Militärs im Norden von Afghanistan (Handelsblatt 20.12.2017).

In der Provinz Balkh ist ein militärischer Stützpunkt der Bundeswehr (Handelsblatt 20.12.2017).

Quellen:

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al Jazeera (20.10.2017): Deadly attacks hit mosques in Kabul and Ghor,

http://www.aljazeera.com/news/2017/10/dozens-feared-dead-attacks-afghanistan-171020142936566.html, Zugriff 20.12.2017

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BBC (31.10.2017): Kabul Green Zone attacked by suicide bomber, http://www.bbc.com/news/world-asia-41819850, Zugriff 20.12.2017

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BBC (21.10.2017): Afghan suicide mosque attacks kill scores of worshippers, http://www.bbc.com/news/world-asia-41699320, Zugriff 20.12.2017

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BS - Business Standard (24.11.2017): Key Haqqani network leader among dozens killed in Afghanistan, http://www.business-standard.com/article/news-ani/key-haqqani-network-leader-among-dozens-killed-in-afghanistan-117112400292_1.html, Zugriff 21.12.2017

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Guardian (7.11.2017): Kabul TV station defiantly resumes broadcasting moments after Isis attack ends, https://www.theguardian.com/world/2017/nov/07/gunmen-attack-kabul-tv-station-after-explosion, Zugriff 20.12.2017

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Handelsblatt (20.12.2017): Afghanistan stürzt in politische Krise, http://www.handelsblatt.com/politik/international/gouverneurs-abloesung-afgh

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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