Entscheidungsdatum
06.11.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W161 2196931-1/15E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Monika LASSMANN als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX alias XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für
Fremdenwesen und Asyl vom 08.05.2018, Zl.: 1111830010-160547948, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.06.2019 zu
Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der volljährige Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger von Afghanistan und stellte am 17.04.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Bei seiner Erstbefragung am 18.04.2016 gab der BF an, er sei am
XXXX in Baghlan geboren und ledig. Seine Muttersprache sei Paschtu. Er bekenne sich zum Ilsam und gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an. Er habe keine Berufsausbildung. Sein Vater sei bereits verstorben. Seine Mutter, eine Schwester und ein Bruder würden in Afghanistan leben. Er habe in Baghlan gelebt.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass in Afghanistan Krieg herrsche. Die Taliban hätten ihm gesagt, dass er mit ihnen zusammenarbeiten solle. Er habe dies aber nicht gewollt und daher Afghanistan verlassen. Bei einer Rückkehr fürchte er um sein Leben.
3. Am 28.04.2016 wurde beim BF eine Bestimmung des Knochenalters durchgeführt. Als Ergebnis wurde "Schmeling 4, GP 31" festgehalten.
4. Aus dem vom BFA beauftragtem Sachverständigengutachten zur Volljährigkeitsbeurteilung geht hervor, dass der BF zum Untersuchungszeitpunkt (09.06.2016) ein höchstmögliches Mindestalter von 19 Jahren hatte. Als spätmöglichstes "fiktives" Geburtsdatum wurde der XXXX festgestellt und ergibt sich daraus für den Zeitpunkt der Asylantragstellung ein Mindestalter von 18,85 Jahren.
5. Am 12.12.2016 wurde der BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Zuge des durchgeführten Dublinverfahrens niederschriftlich in der Sprache Paschtu einvernommen. Der BF gab an, an keinen Krankheiten zu leiden und keine Medikamente zu benötigen. Nach Vorhalt des BFA, dass der BF laut dem Sachverständigengutachten volljährig sei, gab der BF an minderjährig zu sein. Weiters gab er an, bei seiner Erstbefragung die Wahrheit gesagt zu haben und er nichts hinzuzufügen habe. Er habe alles gesagt.
6. Mit Bescheid des BFA vom 19.12.2016 wurde in Spruchpunkt I. der Antrag auf internationalen Schutz des BF vom 18.04.2016 ohne in die Sache einzutreten gem. § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen. Weiters wurde ausgesprochen, dass für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz gem. Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin-III-VO Ungarn zuständig sei. In Spruchpunkt II. wurde gem. § 61 Abs. 1 Z 1 FPG gegen die BF die Außerlandesbringung angeordnet und ausgesprochen, dass demzufolge gem. § 61 Abs. 2 FPG seine Abschiebung nach Ungarn zulässig sei.
7. Gegen diesen Bescheid brachte der BF fristgerecht eine Beschwerde ein und wurde der Beschwerde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 06.03.2017, GZ W153 2144654-1/7E, gem. § 21 Abs. 3 erster Satz BFA-VG stattgegeben und der bekämpfte Bescheid (wegen Ablauf der Überstellungsfrist) behoben.
8. Am 24.04.2018 wurde der BF erneut vor dem BFA in der Sprache Paschtu einvernommen. Er gab an, Medikamente wegen seines Magens und Lutschtabletten wegen seinem Hals zu nehmen. Er fühle sich psychisch und physisch dazu in der Lage die an ihn gestellten Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten. Er habe bis dato die Wahrheit gesagt, es sei ihm alles rückübersetzt und korrekt protokolliert worden. Er sei Paschtune und sunnitischer Moslem. Er habe keine Schule besucht und sei Analphabet. Er sei anfangs Hilfsarbeiter gewesen, später habe er Obst und Gemüse verkauft. Er habe in der Nähe ihres Hauses ein Geschäft gehabt und sich so sein Leben finanziert. Er habe mit seiner Mutter, seiner Schwester und seinem Bruder in Baghlan gelebt. Die Ausreise habe er sich selbst finanziert, sein Bruder habe sie organisiert. Sie seien gemeinsam ausgereist, hätten sich aber im Iran verloren. Es sei ihm bis jetzt nicht gelungen den Kontakt zu seinem Bruder herzustellen. Seine Familie besitze ein landwirtschaftliches Grundstück, er habe zu seiner Familie aber keinen Kontakt. Bei einer Rückkehr in die Heimat würde er getötet werden. Er habe im Herkunftsland keine Straftaten begangen und dort keine Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Stellen. Auch sei kein Gerichtsverfahren gegen ihn anhängig. Er sei nicht Mitglied einer Partei, parteiähnlichen oder terroristischen Organisation Er sei von den Taliban festgenommen worden.
Zu seinen Fluchtgründen gab der BF wie folgt an:
"Die Taliban haben mich angesprochen, während ich in meinem Geschäft arbeitete. Sie boten mir an, diverse Sachen für sie zu erledigen. Ich lehnte jedoch. Nachdem ich ein paar Mal ablehnte, wurde ich durch diese bedroht. Sie sagten, wenn ich nicht für sie arbeite, würden sie mich entführen. Einmal kamen die Taliban um 03:00 Uhr nachts und durchsuchten das Haus. Ich konnte mich jedoch verstecken, sodass sie mich nicht finden konnten. Es wurde sogar geschossen. Am nächsten Tag, kamen die Sicherheitsleute der Regierung, jedoch konnte sie die Täter nicht finden, da diese geflohen waren. Nach diesem Vorfall, war das Leben für mich und meine Familie dort sehr schwer. Aus diesem Grund habe ich mein Heimatland verlassen. Mein Neffe wurde auch getötet. Er kam in die Schießerei, welche ich vorher erwähnte. Mein Bruder wurde von den Taliban verfolgt, weil er mit einem minderjährigen männlichen Opfer Unzucht betrieben hat. Die Taliban haben den minderjährigen Jungen getötet und mein Bruder wurde dabei am Arm getroffen.
LA: Wann war das erste Mal, als Sie die Taliban in Ihrem Geschäft aufsuchten?
VP: Es war an einem Freitag.
LA: Welches Datum, Monat Jahreszeit?
VP: Im Frühling 2016
LA: Was genau wurde Ihnen von den Taliban gesagt?
VP: Ich wurde meistens am Abend von denen belästigt. Sie haben die Schulen zerstört. Sie haben mehrere Menschen belästigt.
LA: Die Frage wird wiederholt?
VP: Sie forderten mich auf, das Geschäft zu verlassen und ich sollte mich anschließen und mit ihnen zusammenarbeiten. Ich sagte, dass ich das nicht möchte.
LA: Wie reagierten die Taliban auf Ihre Ablehnung? Was wurde von diesen gesagt?
VP: Sie haben mich bedroht.
LA: Wie sah diese Bedrohung genau aus?
VP: Sie haben mir gesagt, dass sie mich mit Ihren Gewehren töten wollen. Ich sagte jedoch, dass es mir egal wäre. Dann sind die Taliban wieder gegangen.
LA: Wann kamen die Taliban wieder?
VP: In der Nacht, ein paar Tage später zu mir nachhause.
LA: Haben die Taliban im Geschäft demnach nur einmal aufgesucht?
VP: Ja.
LA: Beschreiben Sie mir den Vorfall bei Ihnen zuhause?
VP: Sie wollten uns töten. Mich konnten sie nicht finden. Mein Neffe wurde getötet und mein Bruder wurde verletzt.
LA: Schildern Sie mir diesen Vorfall etwas genauer?
VP: Ich wurde aufgefordert mit ihnen zusammenzuarbeitet. Als ich das verneinte, kamen die Taliban zu ihnen nachhause und wollten mich umbringen.
LA: Haben Sie die Haustüre an diesem Abend geöffnet?
VP: Die Taliban kamen über die Mauer.
LA: Wo waren Sie zu diesem Zeitpunkt?
VP: Ich versteckte mich im Ofen.
LA: Haben Sie die Taliban gesehen?
Nein
LA: Wie kamen Sie demnach darauf, dass Sie sich verstecken müssen?
VP: Es wurde auf das Haus geschossen. Meine Mutter sagte, dass ich mich verstecken muss.
LA: Wo war Ihr Bruder zu diesem Zeitpunkt.
VP: Er war zu diesem Zeitpunkt bei einem Freund.
LA: Was war mit Ihrem Neffen?
VP: Er war bei uns zuhause und kam wegen den Schüssen ums Leben.
LA: Waren die Taliban auch im Haus?
VP: Nachher kamen die Taliban auch ins Haus.
LA: Was wurde mit Taliban besprochen?
VP: Ich habe nichts gehört.
LA: Hat Ihre Mutter mit den Taliban gesprochen?
VP: Ja.
LA: Was verlangten die Taliban?
VP: Sie fragten nach mir und meinem Bruder.
LA: Was wollten die Taliban von Ihrem Bruder?
VP: Sie wollten ihn wegen seinem Vergehen mit einem Minderjährigen bestrafen.
LA: Wann war dieses Vergehen?
VP: Das war am 15 Tag im ersten Monat 2016.
LA. Warum wissen Sie das so genau?
VP: Weil ich dabei war.
LA: Sie waren während der Misshandlung dabei?
VP: Nicht direkt, aber etwas weiter davon entfernt.
LA: Was haben Sie beobachtet?
VP: Es wurde dort geschossen. Mehr habe ich nicht beobachtet. Ich habe meinen Bruder nur verletzt gesehen. Es war etwas weiter von unserem Haus entfernt.
LA: Haben Sie den toten Minderjährigen auch gesehen?
VP: Nein. Ich habe es nur später erfahren.
LA: Warum waren Sie dort bei diesem Vorfall?
VP. ich habe überwacht, dass niemand kommt.
LA: Wer gab ihnen den Auftrag dazu?
VP: Mein Bruder.
LA: Hat er ihnen gesagt wozu Sie überwachen müssen?
VP: Er wollte mit diesem Minderjährigen Sex haben.
LA: Hat Ihr Bruder dies schon einmal früher gemacht?
VP: Ja mit demselben Jungen hatte er schon öfter Sex. Der Junge hat meinen Bruder immer angerufen, dass er mit meinem Bruder Sex haben wollte. Es ist nicht ausgeschlossen, dass mein Bruder auch mit anderen Jungen Sex hatte.
LA: Wie alt war der Minderjährige?
VP: 18 oder 19 Jahre.
LA: Haben Sie selbst einmal Sex mit einem Jungen bzw. wurden Sie schon einmal dazu aufgefordert?
VP: Nein.
LA: Wie haben die Taliban darüber erfahren?
VP: Die Taliban haben Beide gesehen und haben auf beide geschossen.
LA: Wie konnten Sie und Ihr Bruder von dort fliehen?
VP: Es war vielleicht Bestimmung. Wir konnten zu Fuß fliehen und versteckten uns in einer Straße.
LA: Wie lange nach diesem Vorfall, sind die Taliban bei Ihnen zuhause aufgetaucht?
VP: Ca. 10-15 Tage später. Die Taliban wollten uns töten.
LA: Warum ist Ihrer Mutter nichts passiert?
VP: Meine Mutter hat den Taliban erlaubt, dass ich und mein Bruder im Falle einer Festnahme durch die Taliban getötet werden.
LA: Nachdem die Taliban bei Ihnen zuhause waren, wie ging es weiter?
VP: Nach diesem Vorfall, sagte mein Bruder, dass wir ausreisen sollen.
LA: nach diesem Vorfall, als die Taliban bei Ihnen zuhause waren, wie viel Zeit verging, bis Sie und Ihr Bruder Ihr Heimatland verließen?
VP: 2-3 Tage. Danach waren wir auch noch 5-6 Tage in Kabul.
LA: Warum blieben Sie nicht in Kabul?
VP. Wie hatten niemanden in Kabul und kannten uns dort auch nicht aus. Außerdem sagte mein Bruder, dass wir weiterziehen werden.
LA: In Kabul wären Sie jedoch bereits in Sicherheit gewesen?
VP: Nein dort ist es nicht sicher. Die Taliban hätten uns auch dort finden können. Sie haben unsere Fotos.
LA: Glauben Sie wirklich, dass die Taliban mit einem Fotoalbum durch die Stadt laufen und jeden aufhalten und die Gesichter mit den Fotos vergleichen?
VP: Die Taliban würden mich finden.
....
LA: Haben Sie alle Fluchtgründe genannt?
VP: Ja
LA: Sind Sie wegen dem Vergehen Ihres Bruders geflohen oder aus einem anderen Grund?
VP: Ja, weil ich dort dabei war.
LA: Sie gaben vorher an, dass Sie von den Taliban festgenommen wurde. Jetzt haben Sie bei Ihrer Fluchtgeschichte nichts mehr darüber erzählt. Wie können Sie mir das erklären?
VP: Als die Taliban bei meinem Geschäft auftauchten, haben Sie mich festgenommen und mich 3 Tage festgehalten.
LA: Warum haben Sie das nicht schon früher erzählt. Das ist doch ein sehr großer. Eingriff in Ihre Privatsphäre. Auch habe Ich Sie vorher gefragt ob die Taliban, nur einmal bei Ihren Geschäft waren.
VP: Das war viel früher und aus einem anderen Grund.
LA: Erzählen Sie mir die Wahrheit?
VP: Ich bin hier aus Sicherheitsgründen. Meine Sicherheit war in Afghanistan nicht gegeben."
...
Zu seinem Leben in Österreich gab der BF an, von der Grundversorgung zu leben, einen Deutsch A1-Kurs sowie einen Alphabetisierungskurs gemacht zu haben. Er könne aber keine Prüfung machen, da sein Hirn zu schwach sei. Weiters habe er gemeinnützige Arbeiten geleistet. Verwandte habe er in Österreich nicht und er sei auch kein Mitglied in Vereinen oder Organisationen.
Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme legte der BF folgende Unterlagen vor:
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Fotografien von Medikamenten (Pantoprazol Genericon und Lemoncin);
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Kursbestätigungen Deutsch A1 Teil 1 und Teil 2 für Asylwerber;
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Bestätigung, wonach der BF im Rahmen der Freizeit- und Lernbetreuung an einem Deutschkurs für Fortgeschrittene teilgenommen habe;
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Bestätigung, wonach der BF von November 2016 bis März 2018 in einer Gemeinde gemeinnützige Hilfstätigkeiten ausgeübt habe.
9. Aus der im Akt einliegenden Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 30.01.2018 geht hervor, dass Medikamente mit den Wirkstoffen Ginkgo Biloba, Pantoprazol, Amitriptylin und Sertralin in Mazar-e Sharif und Herat erhältlich seien und die Behandlung von gastroenterologischen Störungen in Afghanistan in staatlichen sowie privaten Institutionen möglich sei.
10. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 08.05.2018 wurde der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde der Antrag des BF bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde dem BF unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). In Spruchpunkt VI. wurde festgehalten, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Das Bundesamt stellte fest, dass der BF afghanischer Staatsangehöriger sei, sich zum muslimischen Glauben bekenne und der Volksgruppe der Paschtunen angehöre. Seine Identität habe nicht festgestellt werden können. Eine asylrelevante Verfolgung habe er nicht glaubhaft machen können.
Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass der BF in der Erstbefragung noch angegeben habe, dass sein Bruder in Afghanistan leben würde und er auch bei seinen Angaben zur Ausreise bzw. beim Fluchtgrund keine Angaben zu seinem Bruder gemacht habe; während er in der Einvernahme dann behauptete, gemeinsam mit dem Bruder ausgereist zu sein und dass auch dieser von den Taliban verfolgt worden sei. Der BF habe seine Angaben somit erheblich gesteigert. Weiters habe der BF in der Einvernahme einerseits davon gesprochen, dass er für die Taliban diverse Dinge hätte erledigen sollen, während er später wiederum davon gesprochen habe, die Taliban hätten gewollt, dass er sein Geschäft verlasse und mit ihnen zusammenarbeite. Auch habe er zuerst von einer angedrohten Entführung, dann von einer Todesdrohung gesprochen. Es sei auch realitätsfremd, dass Mitglieder der Taliban nach einer abgelehnten Aufforderung einfach wieder gehen würden. Weiters habe der BF zunächst behauptet von den Taliban festgenommen worden zu sein, während er dieses Detail an späterer Stelle dann nicht mehr erwähnte. Auch der vom BF geschilderte Vorfall im Haus sei völlig unlogisch und sei auch nicht glaubwürdig, dass die Taliban ein Foto des BF besitzen oder diesen in ganz Afghanistan suchen würden. Letztlich sei auch das neue Vorbringen in der Einvernahme, wonach sein Bruder wegen seiner sexuellen Neigungen von den Taliban verfolgt worden sei, nicht glaubwürdig. Diesbezüglich sei auch seltsam, dass der BF das genaue Datum des Vergehens seines Bruders nennen habe können, er gleichzeitig aber auch angegeben habe, Analphabet zu sein. Seinem gesamten Vorbringen sei daher die Glaubwürdigkeit zu versagen.
Betreffend die Nichtzuerkennung des subsidiären Schutzes wurde ausgeführt, dass der BF jung, gesund und arbeitsfähig sei. Er leide an keinen lebensbedrohlichen Krankheiten. Das Medikament "Pantoprazol" sei in laut der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 30.01.2018 in Afghanistan erhältlich. Seine Heimatprovinz Baghlan sei als volatil einzustufen, es stehe ihm aber eine IFA in der Stadt Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif offen.
Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass der BF illegal eingereist sei und keine nahen Familienangehörigen und keine sonstigen intensiven sozialen Kontakte in Österreich habe. Er lebe von der Grundversorgung, sei nicht berufstätig und nicht selbsterhaltungsfähig. Eine besondere Integrationsverfestigung bestehe nicht.
11. Gegen den Bescheid des BFA richtet sich die vollumfängliche Beschwerde, welche unrichtige rechtliche Beurteilung sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens geltend macht und ausführt, dass der BF einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt sei und diese in seiner Heimatprovinz nach wie vor aktiv seien. Der afghanische Staat könne ihm keinen Schutz vor den Taliban bieten. Dem BF würde bei einer Rückkehr kein soziales Auffangnetz zur Verfügung stehen und sei er mit den örtlichen und strukturellen Gegebenheiten in Kabul oder Mazar-e Sharif nicht vertraut. Er würde dort auch keine Arbeit finden. Die vorherrschende Versorgungslage und die allgemeinen Lebensbedingungen seien generell ungenügend. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei somit insgesamt nicht zumutbar und würde er in eine existenzbedrohende Notlage geraten.
12. Am 14.05.2019 brachte der BF folgende Unterlagen in Vorlage:
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Befund eines Universitätsklinikums (ambulanter Besuch am 07.09.2018), Diagnose: "Cephalea in Abklärung", empfohlene Untersuchungen: MRT inkl. MR-Angiographie, Kopfschmerztagebuch, Kontrolle bei FA für Neurologie und Hausarzt, ggf.
Abdomensonographie; Therapieempfehlung: Seractil bei Kopfschmerzen, Dexibuprofen;
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Laborbefund vom 20.09.2018;
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Unauffälliger MRT-Befund (MRT Gehirnschädel und MR-Angiographie der intracraniellen Arterien) vom 10.10.2018 (Zuweisungsdiagnose:
RF? Aneurysma?), Nebenbefund: Geringe Schleimhautschwellungen in den miterfassten Nasennebenhöhlen;
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Bericht einer Fachärztin für Psychiatrie vom 16.11.2018, Diagnosen: "Leicht bis mittelgrad. Depressive Episode mit somatischen Symptomen", derzeitige Medikation: Sertralin und Saroten;
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Kurzarztbrief Psychiatrie vom 27.12.2018, Diagnosen bei
Entlassung: "Schwere depressive Episode F32.2, PTSD mit dissoziativen Symptomen F43.1, chronische Kopfschmerzen", empfohlene
Medikation: Seroquel und Venlafaxin. Weitere empfohlene Maßnahmen:
Fachärztliche Kontrollen, 1/4 jährliche Labor-, Gewichts-, RR/Pulsdu EKG-Kontrollen unter lfd. Psychopharmaka-Medikation beim Hausarzt erbeten;
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Entlassungsbrief Pflege betreffend einen stationären Aufenthalt vom 28.12.2018;
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Anwesenheitsbestätigungen bei einer Fachärztin für Psychiatrie vom 08.01.2019 und 10.04.2019;
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Kurzarztbrief eines Krankenhauses (Abteilung für Neurologie) vom 30.01.2019, Diagnose: "V.a. dissoziativer Anfall, chronischer Kopfschmerz, schwere depressive Episode (vordiagnostiziert), PTSD mit dissoziativen Symptomen (vordiagnostiziert)", empfohlene Medikation: Seroquel, Sertralin, Venlafaxin und Saroten; weitere empfohlene Maßnahmen: regelmäßiger Kontakt mit betreuender Psychologin, Anbindung an Freizeitaktivitäten bzw. soziale Interaktion und Tagesstruktur. Weiters wurde eine Kontrolle beim niedergelassenen Psychiater zeitnah bezüglich der Reduktion der psychiatrischen Medikation sowie die Durchführung einer MRT-Schädel im ambulanten Bereich bei chronischen Kopfschmerzen angeordnet.
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Altersentsprechend unauffälliger MRT-Befund vom 28.02.2019 (Zuweisungsdiagnose: re. z Kopfschmerzen);
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Anmeldebestätigung und Teilnahmebestätigung für die Bildungsveranstaltung Deutsch A1 Modul A;
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Teilnahmebestätigung für einen Deutschkurs für Jugendliche-Stufe A1/2.
13. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.06.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, in der der BF in Anwesenheit seiner Vertreterin ausführlich zu seinen Fluchtgründen, zu seinen persönlichen Umständen im Herkunftsstaat sowie seiner Integration in Österreich befragt wurde. Ein Vertreter des BFA nahm an der Verhandlung nicht teil. Die Verhandlungsmitschrift wurde der Erstbehörde übermittelt.
14. Am 28.06.2019 brachte der BF durch seine Rechtsvertreterin eine Stellungnahme ein. Darin wird im Wesentlichen ausgeführt, dass in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht der Nachfluchtgrund der Homosexualität des BF bekannt geworden sei. Der BF habe seine Anziehung zu Männern in Afghanistan unterdrücken müssen, da er sonst von den Dorfbewohnern bei den Taliban angezeigt worden und folglich umgebracht worden wäre. Er habe seine sexuelle Orientierung nicht ausleben können und sei gezwungen gewesen, diese zu unterbinden. Sein Fluchtgrund hänge auch mit seinem Nachfluchtgrund zusammen, denn der homosexuelle Bruder habe ebenfalls seine sexuelle Orientierung nicht ausleben dürfen und habe mit einem Mann Geschlechtsverkehr gehabt, wobei der BF Wache gestanden habe. Es sei nicht anzunehmen, dass der BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan seine sexuelle Orientierung nicht ausleben würde und drohe ihm daher physische und psychische Gewalt. Er wäre gezwungen seine sexuelle Orientierung weiterhin im Geheimen - unter ständiger Angst entdeckt zu werden - zu halten. Aus den in das Verfahren eingeführten Länderberichten gehe hervor, dass homosexuelle Handlungen in der afghanischen Gesellschaft vollkommen tabu seien und nach der Scharia wie nach afghanischen Gesetzen illegal seien und homosexuelle Männer in Afghanistan dem Risiko von körperlicher Gewalt durch staatliche und nichtstaatliche Akteure ausgesetzt seien. Der BF habe aus Scham und Angst vor Entdeckung lange gezögert von seiner Homosexualität zu berichten und habe dies erst in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll gegeben. Vor dem BFA habe er seine Orientierung deswegen nicht bekannt gegeben, da er vom Beamten angeschrien und nicht eingehend befragt worden sei. Es sei davon auszugehen, dass dem BF aufgrund seiner sexuellen Orientierung (Homosexualität) im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen drohen würden. Auch eine IFA stehe ihm nicht offen. Der Stellungnahme wurde ein Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe "Afghanistan: Homosexualität, Gesetze, Rechts- und Alltagspraxis, Auskunft der SFH-Länderanalyse" vom 12.09.2006 beigefügt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des BF:
Der volljährige BF ist ein Staatsangehöriger Afghanistans, bekennt sich zum muslimischen Glauben (Sunnit) und gehört der Volksgruppe der Paschtunen an. Der BF hat keine Kinder und ist nicht verheiratet.
Die Muttersprache des BF ist Paschtu.
Seine Identität steht nicht fest.
Der BF wuchs in Afghanistan in der Provinz Baghlan auf, wo er gemeinsam mit seiner Mutter, seinem Bruder und seiner Schwester bis zu seiner Ausreise lebte. Der Vater des BF ist bereits vor langer Zeit verstorben. Der BF hat schon seit längerer Zeit keinen Kontakt zu seiner Familie in Afghanistan.
Der BF besuchte keine Schule. Er hat in Afghanistan Obst und Gemüse verkauft und sich so seinen Lebensunterhalt verdient. Zudem hat er auch als Hilfsarbeiter gearbeitet.
Beim BF wurden laut den vorgelegten medizinischen Unterlagen (aktuellster Befund vom 30.01.2019) die Diagnosen: "V.a. dissoziativer Anfall, chronischer Kopfschmerz, schwere depressive Episode (vordiagnostiziert), PTSD mit dissoziativen Symptomen (vordiagnostiziert)" erstellt. Er ist seit Ende 2018 bei einer Fachärztin für Psychiatrie in Behandlung und nimmt Medikamente (Antidepressiva bzw. Kopfschmerztabletten: Seroquel, Sertralin, Venlafaxin und Saroten) ein. In den Städten Herat und Mazar-e Sharif sind die vom BF benötigten Medikamente verfügbar und seine gesundheitlichen (psychischen) Probleme behandelbar.
Der BF leidet an keiner schwerwiegenden oder lebensbedrohlichen Krankheit. Er ist arbeitsfähig.
1.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Es ist nicht glaubhaft, dass der BF von den Taliban bedroht bzw. entführte worden wäre oder die Taliban ihn hätten zwangsrekrutieren wollen.
Auch das Vorbringen, wonach der Bruder des BF Unzuchtshandlungen mit einem Minderjährigen begangen hätte und der BF und sein Bruder deswegen im Heimatland verfolgt worden wären, ist nicht glaubwürdig.
Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF wegen einer homosexuellen Veranlagung in Afghanistan verfolgt worden wäre und er wegen dieser sexuellen Orientierung in seinem Heimatland Afghanistan einer psychischen oder physischen Gewalt ausgesetzt wäre.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in Afghanistan eine an seine Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder seine politische Überzeugung anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität droht.
Er hatte bis zu seiner Ausreise mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder aufgrund seiner Rasse, Nationalität, seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwo Probleme. Er war nie politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.
Dem BF droht individuell und konkret, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan, weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban oder die afghanische Regierung.
Der BF hat mit seinem Vorbringen keine Verfolgung iSd GFK glaubhaft gemacht.
1.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Überstellung in seine Herkunftsprovinz Baghlan aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif kann der BF jedoch grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen, ohne in eine auswegslose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF im Fall einer Rückkehr in die Städte Mazar-e Sharif oder Herat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde.
Der BF ist jung und arbeitsfähig. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif oder Herat - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen Ressourcen - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise. Er hat zwar keine Schulausbildung, hat jedoch bereits Berufserfahrung gesammelt und selbstständig Obst und Gemüse verkauft und in Afghanistan als Hilfsarbeiter gearbeitet. Diese Berufserfahrung wird er auch in Mazar-e Sharif oder Herat nutzen können. Es ist dem BF möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in der Stadt Herat oder Mazar-e Sharif läuft er nicht Gefahr, aufgrund seines Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten oder dass sich seine Gesundheit in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern würde. Eine medizinische Versorgung ist in Herat bzw. Mazar-e Sharif vorhanden und sind psychische Erkrankungen dort behandelbar bzw. die notwendigen Medikamente verfügbar.
Er kann die Städte Herat und Mazar-e Sharif von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.
1.4. Zum (Privat) Leben des BF in Österreich:
Der unbescholtene BF hält sich seit etwa drei Jahren und sechs Monaten im Bundesgebiet auf. Er bezieht laufend Leistungen aus der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er hat gemeinnützige Tätigkeiten bei einer Gemeinde verrichtet. Der BF hat in Österreich bereits mehrere Deutschkurse (bis zum Niveau A1/2) und einen Alphabetisierungskurs besucht, Deutschprüfungen hat er aber nicht absolviert. Der BF gehört keinem Verein, keiner religiösen Verbindung und keiner sonstigen Gruppierung in Österreich an. Er hat in Österreich keine Schule besucht. Eine nachhaltige Integration des BF im Sinne einer tiefgreifenden Verwurzelung im Bundesgebiet kann nicht erkannt werden. Der BF führt in Österreich kein Familienleben und hat auch sonst keine sonstigen engen sozialen Bindungen.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
Unter Bezugnahme auf das aktuellste Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand 04.06.2019), die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 und der ACCORD-Anfragebeantwortung vom 31.08.2017 werden folgende entscheidungsrelevante, die Person des BF individuell betreffende Feststellungen zu Lage in Afghanistan getroffen:
1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen KI vom 4.6.2019, politische Ereignisse, zivile Opfer, Anschläge in Kabul, IOM (relevant für Abschnitt 3/Sicherheitslage; Abschnitt 2/Politische Lage; Abschnitt 23/ Rückkehr).
Politische Ereignisse: Friedensgespräche, Loya Jirga, Ergebnisse Parlamentswahl
Ende Mai 2019 fand in Moskau die zweite Runde der Friedensgespräche zwischen den Taliban und afghanischen Politikern (nicht der Regierung, Anm.) statt. Bei dem Treffen äußerte ein Mitglied der Taliban, Amir Khan Muttaqi, den Wunsch der Gruppierung nach Einheit der afghanischen Bevölkerung und nach einer "inklusiven" zukünftigen Regierung. Des Weiteren behauptete Muttaqi, die Taliban würden die Frauenrechte respektieren wollen. Ein ehemaliges Mitglied des afghanischen Parlaments, Fawzia Koofi, äußerte dennoch ihre Bedenken und behauptete, die Taliban hätten kein Interesse daran, Teil der aktuellen Regierung zu sein, und dass die Gruppierung weiterhin für ein islamisches Emirat stünde. (Tolonews 31.5.2019a).
Vom 29.4.2019 bis 3.5.2019 tagte in Kabul die "große Ratsversammlung" (Loya Jirga). Dabei verabschiedeten deren Mitglieder eine Resolution mit dem Ziel, einen Friedensschluss mit den Taliban zu erreichen und den inner-afghanischen Dialog zu fördern. Auch bot Präsident Ghani den Taliban einen Waffenstillstand während des Ramadan von 6.5.2019 bis 4.6.2019 an, betonte aber dennoch, dass dieser nicht einseitig sein würde. Des Weiteren sollten 175 gefangene Talibankämpfer freigelassen werden (BAMF 6.5.2019). Einer weiteren Quelle zufolge wurden die kritischen Äußerungen zahlreicher Jirga-Teilnehmer zu den nächtlichen Militäroperationen der USA nicht in den Endbericht aufgenommen, um die Beziehungen zwischen den beiden Staaten nicht zu gefährden. Die Taliban nahmen an dieser von der Regierung einberufenen Friedensveranstaltung nicht teil, was wahrscheinlich u.a. mit dem gescheiterten Dialogtreffen, das für Mitte April 2019 in Katar geplant war, zusammenhängt. Dort wäre die Regierung zum ersten Mal an den Friedensgesprächen mit den Taliban beteiligt gewesen. Nachdem erstere jedoch ihre Teilnahme an die Bedingung geknüpft hatte, 250 Repräsentanten nach Doha zu entsenden und die Taliban mit Spott darauf reagierten, nahm letztendlich kein Regierungsmitarbeiter an der Veranstaltung teil. So fanden Gespräche zwischen den Taliban und Exil-Afghanen statt, bei denen viele dieser das Verhalten der Regierung öffentlich kritisierten (Heise 16.5.2019).
Anfang Mai 2019 fand in Katar auch die sechste Gesprächsrunde zwischen den Taliban und den USA statt. Der Sprecher der Taliban in Doha, Mohammad Sohail Shaheen, betonte, dass weiterhin Hoffnung hinsichtlich der inner-afghanischen Gespräche bestünde. Auch konnten sich der Quelle zufolge die Teilnehmer zwar bezüglich einiger Punkte einigen, dennoch müssten andere "wichtige Dinge" noch behandelt werden (Heise 16.5.2019).
Am 14.5.2019 hat die unabhängige Wahlkommission (Independent Electoral Commission, IEC) die Wahlergebnisse der Provinz Kabul für das afghanische Unterhaus (Wolesi Jirga) veröffentlicht (AAN 17.5.2019; vgl. IEC 14.5.2019, IEC 15.5.2019). Somit wurde nach fast sieben Monaten (die Parlamentswahlen fanden am 20.10.2018 und 21.10.2018 statt) die Stimmenauszählung für 33 der 34 Provinzen vervollständigt. In der Provinz Ghazni soll die Wahl zusammen mit den Präsidentschafts- und Provinzialratswahlen am 28.9.2019 stattfinden. In seiner Ansprache zur Angelobung der Parlamentsmitglieder der Provinzen Kabul und Paktya am 15.5.2019 bezeichnete Ghani die siebenmonatige Wahl als "Katastrophe" und die beiden Wahlkommissionen, die IEC und die Electoral Complaints Commission (ECC), als "ineffizient" (AAN 17.5.2019).
Zivile-Opfer, UNAMA-Bericht
Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019
(1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (UNAMA 24.4.2019).
Diese Verringerung wurde durch einen Rückgang der Zahl ziviler Opfer von Selbstmordanschlägen mit IED (Improvised Explosive Devices - unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung/Sprengfallen) verursacht. Der Quelle zufolge könnten die besonders harten Winterverhältnisse in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 zu diesem Trend beigetragen haben. Es ist unklar, ob der Rückgang der zivilen Opfer wegen Maßnahmen der Konfliktparteien zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung oder durch die laufenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien beeinflusst wurde (UNAMA 24.4.2019).
Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche
Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (UNAMA 24.4.2019).
Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 24.4.2019).
Anschläge in Kabul-Stadt
Ende Mai 2019 fanden in Kabul-Stadt einige Anschläge und gezielte Tötungen in kurzen Abständen zu einander statt: Am 26.5.2019 wurde ein leitender Mitarbeiter einer NGO in Kart-e Naw (PD5, Police District 5) durch unbekannte bewaffnete Männer erschossen (Tolonews 27.5.2019a). Am 27.5.2019 wurden nach der Explosion einer Magnetbombe, die gegen einen Bus von Mitarbeitern des Ministeriums für Hadsch und religiöse Angelegenheiten gerichtet war, zehn Menschen verletzt. Die Explosion fand in Parwana-e Do (PD2) statt. Zum Vorfall hat sich keine Gruppierung bekannt (Tolonews 27.5.2019b).
Des Weiteren wurden im Laufe der letzten zwei Maiwochen vier Kontrollpunkte der afghanischen Sicherheitskräfte durch unbekannte bewaffnete Männer angegriffen (Tolonews 31.5.2019b).
Am 30.5.2019 wurden in Folge eines Selbstmordangriffes nahe der Militärakademie Marshal Fahim im Stadtteil Char Rahi Qambar (PD5) sechs Personen getötet und 16 Personen, darunter vier Zivilisten, verletzt. Die Explosion erfolgte, während die Kadetten die Universität verließen (1 TV NEWS 30.5.2019). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zu dem Anschlag (AJ 30.5.2019).
Am 31.5.2019 wurden sechs Personen, darunter vier Zivilisten, getötet und fünf Personen, darunter vier Mitglieder der US-Sicherheitskräfte, verletzt, nachdem ein mit Sprengstoff beladenes Auto in Qala-e Wazir (PD9) detonierte. Quellen zufolge war das ursprüngliche Ziel des Angriffs ein Konvoi ausländischer Sicherheitskräfte (Tolonews 31.5.2019c).
Am 2.6.2019 kam nach der Detonation von mehreren Bomben eine Person ums Leben und 17 weitere wurden verletzt. Die Angriffe fanden im Westen der Stadt statt, und einer davon wurde von einer Klebebombe, die an einem Bus befestigt war, verursacht. Einer Quelle zufolge transportierte der Bus Studenten der Kabul Polytechnic University (TW 2.6.2019). Der IS bekannte sich zu den Anschlägen und beanspruchte den Tod von "mehr als 30 Schiiten und Mitgliedern der afghanischen Sicherheitskräfte" für sich. Die Operation erfolgte in zwei Phasen: Zuerst wurde ein Bus, der 25 Schiiten transportierte, angegriffen, und darauf folgend detonierten zwei weitere Bomben, als sich "Sicherheitselemente" um den Bus herum versammelten. Vertreter des IS haben u.a. in Afghanistan bewusst und wiederholt schiitische Zivilisten ins Visier genommen und sie als "Polytheisten" bezeichnet. (LWJ 2.6.2019). Am 3.6.2019 kamen nach einer Explosion auf der Darul Aman Road in der Nähe der American University of Afghanistan fünf Menschen ums Leben und zehn weitere wurden verletzt. Der Anschlag richtete sich gegen einen Bus mit Mitarbeitern der Independent Administrative Reformand Civil Service Commission (Tolonews 3.6.2019)
US-Angaben zufolge ist die Zahl der IS-Anhänger in Afghanistan auf ca. 5.000 gestiegen, fünfmal so viel wie vor einem Jahr. Gemäß einer Quelle profitiert die Gruppierung vom "zahlenmäßigen Anstieg der Kämpfer in Pakistan und Usbekistan und von aus Syrien geflohenen Kämpfern". Des Weiteren schließen sich enttäuschte Mitglieder der Taliban sowie junge Menschen ohne Zukunftsperspektive dem IS an, der in Kabul, Nangarhar und Kunar über Zellen verfügt (BAMF 3.6.2019). US-Angaben zufolge ist es "sehr wahrscheinlich", dass kleinere IS-Zellen auch in Teilen Afghanistans operieren, die unter der Kontrolle der Regierung oder der Taliban stehen (VOA 21.5.2019). Eine russische Quelle berichtet wiederum, dass ca. 5.000 IS-Kämpfer entlang der Nordgrenze tätig sind und die Nachbarländer bedrohen. Der Quelle zufolge handelt es sich dabei um Staatsbürger der ehemaligen sowjetischen Republiken, die mit dem IS in Syrien gekämpft haben (Newsweek 21.5.2019).
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Rückkehr
Die International Organization for Migration (IOM) gewährt seit April 2019 keine temporäre Unterkunft für zwangsrückgeführte Afghanen mehr. Diese erhalten eine Barzuwendung von ca. 150 Euro sowie Informationen über mögliche Unterkunftsmöglichkeiten. Gemäß dem Europäischen Auswärtigen Amt (EAD) nutzten nur wenige Rückkehrer die Unterbringungsmöglichkeiten von IOM (BAMF 20.5.2019).
KI vom 26.3.2019, Anschläge in Kabul, Überflutungen und Dürre, Friedensgespräche, Präsidentschaftswahl (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage; Abschnitt 3/Sicherheitslage; Abschnitt 21/Grundversorgung und Wirtschaft).
Anschläge in Kabul-Stadt
Bei einem Selbstmordanschlag während des persischen Neujahres-Fests Nowruz in Kabul Stadt kamen am 21.3.2019 sechs Menschen ums Leben und weitere 23 wurden verletzt (AJ 21.3.2019, Reuters 21.3.2019). Die Detonation erfolgte in der Nähe der Universität Kabul und des Karte Sakhi Schreins, in einer mehrheitlich von Schiiten bewohnten Gegend. Quellen zufolge wurden dafür drei Bomben platziert: eine im Waschraum einer Moschee, eine weitere hinter einem Krankenhaus und die dritte in einem Stromzähler (TDP 21.3.2019; AJ 21.3.2019). Der ISKP (Islamische Staat - Provinz Khorasan) bekannte sich zum Anschlag (Reuters 21.3.2019). Während eines Mörserangriffs auf eine Gedenkveranstaltung für den 1995 von den Taliban getöteten Hazara-Führer Abdul Ali Mazari im überwiegend von Hazara bewohnten Kabuler Stadtteil Dasht-e Barchi kamen am 7.3.2019 elf Menschen ums Leben und 95 weitere wurden verletzt. Der ISKP bekannte sich zum Anschlag (AJ 8.3.2019).
Überflutungen und Dürre
Nach schweren Regenfällen in 14 afghanischen Provinzen kamen mindestens 63 Menschen ums
Leben. In den Provinzen Farah, Kandahar, Helmand, Herat, Kapisa, Parwan, Zabul und Kabul, wurden ca. 5.000 Häuser zerstört und 7.500 beschädigt (UN OCHA 19.3.2019). Dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UN OCHA) zufolge waren mit Stand 19.3.2019 in der Provinz Herat die Distrikte Ghorvan, Zendejan, Pashtoon Zarghoon, Shindand, Guzarah und Baland Shahi betroffen (UN OCHA 19.3.2019). Die Überflutungen folgten einer im April 2018 begonnen Dürre, von der die Provinzen Badghis und Herat am meisten betroffen waren und von deren Folgen (z.B. Landflucht in die naheliegenden urbanen Zentren, Anm.) sie es weiterhin sind. Gemäß einer Quelle wurden in den beiden Provinzen am 13.9.2018 ca. 266.000 IDPs vertrieben: Davon zogen 84.000 Personen nach Herat-Stadt und 94.945 nach Qala-e-Naw, wo sie sich in den Randgebieten oder in Notunterkünften innerhalb der Städte ansiedelten und auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (IFRCRCS 17.3.2019).
Friedensgespräche
Kurz nach der Friedensgesprächsrunde zwischen Taliban und Vertretern der USA in Katar Ende Jänner 2019 fand Anfang Februar in Moskau ein Treffen zwischen Taliban und bekannten afghanischen Politikern der Opposition, darunter der ehemalige Staatspräsident Hamid Karzai und mehrere "Warlords", statt (Qantara 12.2.201). Quellen zufolge wurde das Treffen von der afghanischen Diaspora in Russland organisiert. Taliban-Verhandlungsführer Sher Muhammad Abbas Stanaksai wiederholte während des Treffens schon bekannte Positionen wie die Verteidigung des "Dschihad" gegen die "US-Besatzer" und die gleichzeitige Weiterführung der Gespräche mit den USA. Des Weiteren verkündete er, dass die Taliban die Schaffung eines "islamischen Regierungssystems mit allen Afghanen" wollten, obwohl sie dennoch keine "exklusive Herrschaft" anstrebten. Auch bezeichnete er die bestehende afghanische Verfassung als "Haupthindernis für den Frieden", da sie "vom Westen aufgezwungen wurde"; Weiters forderten die Taliban die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Führer und die Freilassung ihrer gefangenen Kämpfer und bekannten sich zur Nichteinmischung in Angelegenheiten anderer Länder, zur Bekämpfung des Drogenhandels, zur Vermeidung ziviler Kriegsopfer und zu Frauenrechten. Diesbezüglich aber nur zu jenen, "die im Islam vorgesehen seien" (z.B. lernen, studieren und sich den Ehemann selbst auswählen). In dieser Hinsicht kritisierten sie dennoch, dass "im Namen der Frauenrechte Unmoral verbreitet und afghanische Werte untergraben würden" (Taz 6.2.2019). Ende Februar 2019 fand eine weitere Friedensgesprächsrunde zwischen Taliban und USVertretern in Katar statt, bei denen die Taliban erneut den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan forderten und betonten, die Planung von internationalen Angriffen auf afghanischem Territorium verhindern zu wollen.
Letzterer Punkt führte jedoch zu Meinungsverschiedenheiten: Während die USA betonten, die Nutzung des afghanischen Territoriums durch "terroristische Gruppen" vermeiden zu wollen und in dieser Hinsicht eine Garantie