Entscheidungsdatum
07.11.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W142 2128741-1/18E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Irene HOLZSCHUSTER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.06.2016, Zl.:
1051737904-150163255, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.10.2019 zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der bei seiner Einreise nach Österreich minderjährige, nunmehr volljährige Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger von Afghanistan und stellte am 13.02.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich.
2. Bei seiner Erstbefragung am selben Tag gab der BF an, er sei am
XXXX in Parwan geboren und ledig. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei schiitischer Moslem und gehöre der Volksgruppe der Hazara an. Er habe keine Ausbildung und sei Analphabet. Zuletzt sei er Arbeiter gewesen. Sein Vater sei verschollen. Seine Mutter, und zwei Brüder würden in Afghanistan leben.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass vor ca. 11 Jahren der Bruder seines Vaters getötet worden sei. Daraufhin hätten sie in den Iran flüchten müssen. Sein Vater sei vor einem Jahr im Iran verschollen. Vor 8 Monaten sei er mit seiner Mutter zurück nach Afghanistan/Kabul gereist. Die Leute, die seinen Onkel vor 11 Jahren getötet hätten, hätten auch den BF umbringen wollen. Einmal seien die Leute in der Nacht gekommen und hätten ihn töten wollen. Er sei davongekommen. Als sie es das zweite Mal versuchen hätten wollen, sei er geflüchtet. Wer die Leute seien, wisse er nicht. Er wisse nur, dass es drei Männer seien. Diese seien Freunde des Onkels gewesen. Bei einer Rückkehr habe er Angst um sein Leben.
3. Am 27.02.2015 wurde beim BF die Bestimmung des Knochenalters durchgeführt, wobei das Ergebnis "Finales Stadium Schmeling3, GP 30" festgehalten wurde.
4. In weiterer Folge wurde ein medizinischer Sachverständiger zur Beurteilung des Alters des BF bestellt. In dem medizinischen Sachverständigengutachten vom 30.03.2015 wurde geschlussfolgert, dass der BF zum Zeitpunkt der Asylantragstellung 17.2 Jahre alt gewesen sei, das "fiktive Geburtsdatum" sei daher der XXXX .
5. Am 03.05.2016 wurde der BF beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) niederschriftlich in der Sprache Dari einvernommen. Der BF gab an, gesund zu sein und sich weder in ärztlicher Behandlung zu befinden, noch Medikamente einzunehmen. Er fühle sich psychisch und physisch dazu in der Lage fühle die Fragen zu beantworten. Er habe bei der Erstbefragung die Wahrheit gesagt, aber es würde zwei Fehler in der Niederschrift geben. Zum Fluchtgrund sei zu korrigieren, dass die Leute nie Freunde des Onkels gewesen seien. Zudem sei das Ereignis nicht vor 11, sondern vor 9-10 Jahren gewesen. Er habe in Afghanistan keine Schule besucht. Im Iran habe er in einem Metallbearbeitungsbetrieb gearbeitet. Im Heimatland habe er in Kabul und in der Provinz Parwan gelebt. In Afghanistan habe er keine Verwandten. Er wisse auch nicht, wo sich seine Mutter und die Brüder befinden. Sein Vater sei im Iran verhaftet und nach Afghanistan abgeschoben worden. Seitdem habe er keinen Kontakt mehr zu ihm. Vor 5 Monaten habe er zuletzt mit der Mutter gesprochen, damals sei sie in Parwan aufhältig gewesen. Dann habe er die Telefonnummer verloren und könne seine Familie seitdem nicht mehr anrufen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er von den Feinden umgebracht zu werden. Er habe Probleme mit reichen und einflussreichen Leuten gehabt.
Zu seinen Fluchtgründen befragt, gab der BF wie folgt an (Schreibfehler korrigiert):
[...]
Bevor wir in den Iran gezogen sind haben wir bei meinem Onkel im Haus in Kabul gelebt. Mein Vater und mein Onkel haben dieses Haus gemeinsam gekauft. Meine Mutter hat mir erzählt, dass vor ca. 11 Jahren eine Gruppe von Leuten behauptet hat, dass das Haus ihnen gehört. Es gab deshalb Streitigkeiten und mein Onkel wurde von diesen Leuten umgebracht. Mein Vater wurde ebenfalls mit dem Tod bedroht. Wir sind dann in den Iran geflohen und das Haus wurde von diesen Leuten beschlagnahmt. Wir lebten dann 7 Jahre im Iran. Die Polizei hat dann meinen Vater wiederum nach Afghanistan abgeschoben und wir sind wieder nach Afghanistan zurückgereist. Wir wohnten ca. 1 Monat im Bezirk XXXX in einem Zimmer in einem Haus in Kabul. Nach ca. 1 Woche nachdem wir nach Kabul gezogen sind, sind Leute in der Nacht zu uns ins Haus gekommen. Ich habe geschlafen. Meine Mutter hat gesehen, dass sich Leute im Hof aufhielten. Unser Zimmer haben Sie nicht betreten. Meine Mutter schrie um Hilfe und danach kamen die Nachbarn und die Leute sind sofort gegangen.
LA: Woher wissen Sie, warum die Leute hinter Ihnen und Ihrer Familie her waren.
VP: Meine Mutter hat einen der Leute im Hof erkannt, dort hat ein Licht gebrannt.
LA: Erzählen Sie weiter.
VP: Ca. 10 Tage nach diesem Vorfall, sind diese Leute wieder gekommen. Ein Nachbar hat einen dieser Leute gesehen, welcher gerade den Hof betreten hatte. Der Nachbar fragte den Mann, was er hier zu suchen hätte. Dieser Mann warf daraufhin einen Zettel auf den Boden und flüchtete. Auf diesem Zettel stand, dass man nichts gegen die anderen Einwohner dieses Hauses hatte, sondern dass man nur meine Familie töten will.
LA: Wo befindet sich dieser Zettel?
VP: Ich weiß es nicht.
LA: Woher wissen Sie dann von dem Inhalt?
VP: Das hat uns der Nachbar vorgelesen. Er heißt XXXX , seinen Familiennamen kenne ich nicht.
LA: Warum sollten gerade Sie und Ihre Familie verfolgt worden sein?
VP: Ich glaube, dass die Leute, die meinen Onkel umgebracht haben, erfahren haben, dass wir zur Familie gehören.
LA: Warum sollten gerade Sie und Ihre Familie noch verfolgt werden, obwohl die Leute damals das Haus schon beschlagnahmt haben?
VP: Meine Mutter meinte, wir sind nach wie vor die Inhaber des Hauses, weil wir nach wir vor die Papiere besaßen und die Leute Angst hätten, dass meine Mutter dadurch wieder Ihren Besitz beanspruchen würde.
Glaube Sie wirklich, dass Leute welche Ihre Familie aus einem Haus vertrieben haben, davor Angst hätten?
VP: Das weiß ich nicht.
LA: Haben Sie oder Ihre Mutter sich an die Polizei gewandt?
VP: Nein
LA: Warum nicht?
VP: Meine Mutter hatte Angst, dass sie von diesen Leuten deswegen umgebracht werden würde. Einige Leute arbeiteten auch für die Regierung und hatten großen Einfluss.
LA: Woher wissen Sie das?
VP: Meine Mutter hat mir das erzählt.
LA: Erzählen Sie weiter.
VP: Wir sind danach nach Parwan gegangen und blieben ca. 2 Monate dort. Während dieser 2 Monate ist nichts mehr geschehen, dennoch sagte meine Mutter, dass ich das Land verlassen soll.
LA: Sie sagten, dass Ihre ganze Familie verfolgt worden sei. Warum ist nicht gleich die ganze Familie ausgereist?
VP: Meine Mutter hat gesagt, ich solle zuerst fliehen, Sie würde dann nachkommen.
LA: Als Sie noch Kontakt mit Ihrer Mutter hatten, über was genau haben Sie mit Ihrer Mutter gesprochen?
VP: Ich habe nur einmal mit meiner Mutter telefoniert. Sie sagte, dass es ihnen gut geht.
LA: Warum sind Sie nicht im Iran geblieben?
VP: Ich hatte dort keine Dokumente.
LA: Wie sind Sie über die Grenze in den Iran gereist?
LA: Ich bin zu Fuß über die Grenze.
LA: Warum Sind Sie nicht zurück nach Kabul gegangen? Die Stadt hat über 5 Millionen Einwohner und es besteht dort keine Meldepflicht. Man würde Sie dort nicht finden.
VP: Ich hatte Angst um mein Leben.
LA: Haben Sie alle Fluchtgründe genannt?
VP: Ja, Ich habe alles gesagt. Wenn ich dort geblieben wäre, hätte man mich zu 100% umgebracht.
[...]
Zu seinem Leben in Österreich gab er an, von der Grundversorgung zu leben. Er mache einen Deutschkurs. Er sei als Analphabet nach Österreich gekommen, habe hier schreiben, lesen und Deutsch gelernt. Zudem habe er österreichische Freunde. Er dolmetsche für andere, die einen Arzt besuchen müssen. Am Wochenende spiele er Fußball mit Afghanen bzw. manchmal mit Österreichern. Zudem spiele er Tennis. Familienangehörige habe er hier keine. Er sei auch nicht Mitglied in Vereinen oder Organisationen.
Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme legte der BF folgende Unterlagen vor:
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Bestätigungen für die Teilnahme an Deutschkursen "Elementar 2" und "Elementar 1 B";
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Bestätigung vom 01.05.2016, wonach der BF als Dolmetscher fungiere und afghanische Familien zum Arzt begleite und für sie dolmetsche;
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Bestätigung eines freiwilligen Deutschlehrers, wonach der BF seit Dezember 2015 am Unterricht teilnehme;
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Bestätigung einer Deutschlehrerin, wonach der BF seit Februar 2016 einen Deutschkurs besuche.
6. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes vom 06.06.2016 wurde der gegenständliche Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.). Unter Spruchpunkt II. wurde der Antrag des BF bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen. Ferner wurde dem BF unter Spruchpunkt III. ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei. In Spruchpunkt IV. wurde festgehalten, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.
Das Bundesamt stellte fest, dass der BF afghanischer Staatsangehöriger sei, sich zum schiitisch-muslimischen Glauben bekenne und der Volksgruppe der Hazara angehöre. Seine Identität habe nicht festgestellt werden können. Er habe keine asylrelevanten Gründe glaubhaft machen können.
Beweiswürdigend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass der BF nie eine persönliche Bedrohung bzw. Verfolgung behauptet habe, sondern auf Erzählungen der Mutter gründe. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die Mutter die Gesichter der Männer im Dunkeln wiedererkannt habe bzw. die Familie des BF in der Stadt Kabul mit über 4 Millionen Einwohnern unmittelbar gefunden werde, zumal auch keine Meldepflicht bestehe. Wenn die Leute keine Freunde des Onkels gewesen, sei nicht wahrscheinlicher, dass die Mutter die Männer nach so langer Zeit wiedererkenne. Ebenso sei keine Verfolgungsmotivation erkennbar, da die Leute schon vor 11 Jahren ihr Ziel erreicht hätten und somit keinen Grund hätten, die restliche Familie auszulöschen. Die Behauptung, wonach die Leute Angst hätten, dass die Mutter den Besitz mittels Besitzpapiere beanspruche, sei absurd und hätte der Vater dann das Eigentum schon früher zurückholen können. Wenn diese Leute die Familie hätte umbringen wollen, dann hätten sie dies auch getan und nicht nur eine Nachricht hinterlassen. Weiters sei nicht nachvollziehbar, weshalb die Mutter nicht die Polizei aufgesucht habe. Auch habe der BF bei der Erstbefragung angegeben, dass die Leute ihn beim ersten Aufsuchen töten hätten wollen und er davongekommen sei, bei der Einvernahme des BFA habe er diesbezüglich keine Angaben gemacht. Ebenso habe er bei der Erstbefragung angegeben, dass er beim nächsten Aufsuchen geflohen sei, bei der Einvernahme des BFA habe er angegeben, dass er danach mit der Mutter und den Brüdern nach Parwan gezogen sei. Auch diese Aussagen seien widersprüchlich und daher nicht glaubwürdig. Letztlich sei nicht nachvollziehbar, weshalb er Parwan verlassen habe müssen, wenn er sich dort zwei Monate ohne weitere Vorfälle aufhalten habe können. Der BF sei lediglich aus wirtschaftlichen Gründen nach Österreich gereist. Es sei daher auch nicht glaubwürdig, dass er keinen Kontakt zu seiner Mutter mehr habe.
Betreffend die Nichtzuerkennung des subsidiären Schutzes wurde ausgeführt, dass der BF gesund und arbeitsfähig sei. Er könne sich in Kabul oder Parwan mit Gelegenheitsjobs seinen Unterhalt sichern und würde ihn auch seine Familie finanziell unterstützen können. Er würde nicht in eine existenzbedrohende Notlage geraten.
Zur Rückkehrentscheidung wurde ausgeführt, dass der BF illegal eingereist sei und keine Familienangehörigen in Österreich habe. Er habe Deutschkurse besucht. Eine besondere Integration bestehe nicht. Er sei nicht selbsterhaltungsfähig.
7. Gegen den Bescheid des BFA richtet sich die vollumfängliche Beschwerde, in welcher inhaltliche Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht wurden. Weiters wurde ausgeführt, dass der BF aus Kabul stamme und mit einer verfeindeten reichen Familie ein Grundstücksstreit ausgebrochen sei. Die verfeindete Familie würde bei der Regierung arbeiten und habe im Zuge eines Streites den Onkel des BF straffrei ermordet. Dann habe sich die Familie entschlossen Afghanistan zu verlassen und hätten dann im Iran gelebt. Nach einiger Zeit sei der Vater des BF nach Afghanistan ausgeliefert worden und spurlos verschwunden. Der BF und seine Familie seien dann ebenso nach Afghanistan zurückgekehrt und hätten sich bei Freunden in Kabul versteckt. Etwa eine Woche später seien die Verfolger des BF bewaffnet nachts in den Innenhof des Hauses gekommen und hätten nach dem BF gesucht. Wegen der Anwesenheit der Männer im Innenhof sei es zu einem großen Tumult und lautem Geschrei gekommen, sei die ganze Nachbarschaft alarmiert worden und hätten die Verfolger den Gebäudeblock wieder verlassen. Etwa zehn Tage später sei wieder einer der verfeindeten Familie im Innenhof gesichtet worden. Dieser sei von Hausbewohnern angesprochen worden. Daraufhin habe der Mann einen Zettel fallen lassen und sei weggelaufen. Inhalt des Zettels sei eine konkrete Drohung an den BF und seine Familie gewesen. Man habe gedroht den BF umzubringen und ihn solange zu verfolgen, bis sie ihr Ziel erreicht hätten. Der BF habe große Angst vor seinen Verfolgern gehabt, weshalb er mit seiner Familie nach Parwan geflohen sei und dort noch einige Zeit versteckt gelebt habe. Er sei zu dieser Zeit nur selten außer Haus gegangen, bevor er schließlich seine Flucht nach Europa angetreten habe. Der BF habe seines Wissens nach keinerlei Familie in Afghanistan, die ihn unterstützen und beschützen können. Die restlichen Familienmitglieder hätten zuletzt die Absicht geäußert ebenfalls das Land zu verlassen, da auch sie Angst vor Verfolgung durch die verfeindete Familie hätten. Der BF habe derzeit keinen Kontakt zu seiner Familie. Der BF befürchte darüber hinaus in Afghanistan eine Verfolgung durch die Taliban aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und wegen seiner Religion. Die belangte Behörde hätte dem BF ergänzende Fragen zur Bedrohung seiner Familie und der reichen Nachbarsfamilie stellen müssen bzw. weitere Nachforschungen anstellen müssen. Weiters seien die Länderberichte veraltet und wurde ergänzend auf Berichte zur Sicherheitslage in Afghanistan bzw. Kabul, zur Rückkehr afghanischer Asylsuchender, der Schutzfähigkeit afghanischer Behörden und der medizinischen/sozioökonomischen Lage aus den Jahren 2015 und 2016 verwiesen. Zudem habe das BFA auch eine mangelhafte Beweiswürdigung vorgenommen. Wenn die Behörde vermeine, dass der BF werde von unbekannten Personen verfolgt, so werde vom BF nunmehr richtiggestellt, dass dies nicht stimme. Bei den Verfolgern handle es sich um eine reiche und sehr einflussreiche Familie, welche mit dem der Familie des BF in Grundstücksstreitigkeiten verwickelt sei. Dementsprechend sei auch nachvollziehbar, dass die Mutter des BF die männlichen Mitglieder der verfeindeten Familie im Innenhof des Hauses in Kabul sofort erkannt habe. Die Fluchtgeschichte des BF sei glaubwürdig und nachvollziehbar. Ihm stehe auch keine IFA zur Verfügung. Der BF würde bei einer Rückkehr auch in eine existenzbedrohende Lage geraten, zumal er über keine Ausbildung verfüge und angesichts des angespannten Arbeitsmarktes nicht davon ausgegangen werden könne, dass der BF eine Arbeit finden werde. Er würde auch keine Unterstützung und keine Wohnmöglichkeit erhalten. Er verfüge über keinen sonstigen Anschluss an die afghanische Gesellschaft. Hinsichtlich der Integration des BF wurde darauf hingewiesen, dass dieser große Bemühungen zeige.
8. Am 03.06.2019 brachte der BF folgende Unterlagen in Vorlage:
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Verbale Beurteilung der Beratungs- und Integrationsbeauftragen einer Landesberufsschule von Mai 2019;
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Empfehlungsschreiben des Betriebes (gewerblichen Metallbaubetriebes), in welchem der BF seit 25.07.2018 als Lehrling beschäftig ist;
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Bericht des Mathematik-Lehrers des BF über dessen positive Entwicklung vom 24.05.2019;
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Jahreszeugnis und Schulbesuchsbestätigung einer freien Waldorfschule für das Schuljahr 2017/18
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ÖSD-Zertifikat Deutsch B1 vom 02.03.2018;
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Karte ÖSD-Zertifikat A1;
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Bestätigung einer Gemeinde vom 07.09.2017, wonach der BF als Aushilfskraft bis zu 20 Stunden/Monat für 3 EUR/Stunde beschäftigt sei;
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Ausschnitt aus der Gemeindezeitung, betreffend die gemeinnützige Tätigkeit von Flüchtlingen;
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Bestätigung eines Pfarramtes, wonach der BF bei der Renovierung des Dachstuhls einer Pfarre freiwillig und ohne Bezahlung mitgeholfen habe;
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Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs A2.2d+;
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Teilnahmebestätigung an einem Werte- und Orientierungskurs des ÖIF vom 28.03.2017;
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Bestätigung über die Teilnahme an einem Deutschkurs A2.2 und A2.1;
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Fotos des BF bei einer Weihnachtsfeier und einem Ausflug in die Weinebene aus dem Jahr 2016;
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Bestätigung vom 24.11.2016, wonach der BF am Grundkurs für die Ausbildung zum Klima & Energie-Botschafter teilgenommen habe;
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Fotos betreffend die Teilnahme an einer Besichtigung im Rahmen eines Umweltprojektes;
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ÖSD-Zertifikat A1 vom 10.11.2016;
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Kursteilnahmebestätigung für einen Anfänger-Deutschkurs bei einer Pfarre;
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Bestätigung für die Teilnahme an einem Deutschkurs für Erwachsene "Elementar 2";
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Bestätigung für die Teilnahme an einem Deutschkurs "Elementar 1 B"
9. Am 18.06.2019 beantragte der BF die Zeugeneinvernahme seiner Arbeitgeberin und brachte ergänzend seinen Lehrvertrag für den Lehrberuf "Metalltechniker, Schweißtechnik", tatsächliche Lehrzeit 25.07.2018 bis 24.01.2022 in Vorlage.
10. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 18.10.2019 in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und im Beisein der Rechtsvertreterin des BF sowie einer Vertreterin der belangten Behörde eine öffentliche mündliche Verhandlung durch. In der Verhandlung wurde weiters auch die Arbeitgeberin des BF als Zeugin einvernommen.
Der BF gab an, gesund zu sein. Er habe keine Verwandten in Afghanistan, seine Mutter lebe mit den beiden Brüdern im Iran. Zu diesen habe er im letzten Jahr zuletzt Kontakt gehabt, da er seine SIM-Karte verloren habe.
Der BF gab weiters wie folgt an:
[...]
R: Wo haben Sie in Afghanistan gelebt?
BF: Eine Zeitlang habe ich auch in Kabul gelebt. Die letzten zwei Monate, bevor ich Afghanistan verlassen musste, habe ich in der Provinz Parwan gelebt.
R: Von wann bis wann haben Sie in Kabul gelebt?
BF: Bevor ich in Kabul gelebt habe, haben wir sieben Jahre im Iran gelebt. Dann sind meine Mutter, meine zwei Brüder und ich nach Afghanistan zurückgekehrt. Ich habe etwa drei Monate in Kabul gelebt.
R: Wo in Afghanistan sind Sie geboren?
BF: In der Provinz Parwan, im Bezirk XXXX , im Dorf XXXX .
R: Dann sind Sie von diesem Dorf XXXX in den Iran gereist, stimmt das?
BF: Ja, von XXXX in den Iran und weiter nach Europa.
R: Sie haben gesagt, Sie haben auch sieben Jahre im Iran gelebt haben. Können Sie mir eine zeitliche Abfolge sagen, wann Sie im Iran gelebt haben und wann in Afghanistan. Wenn Sie sich an die Daten nicht erinnern können, dann geben Sie bitte an, wie alt Sie waren.
BF: Wir waren einige Zeit in unserem Dorf XXXX . Dann sind wir nach Kabul gezogen. Mit acht Jahren bin ich mit meiner Familie in den Iran gegangen. Sieben Jahre habe ich dort gelebt. Also mit ca. 15 Jahren bin ich wieder nach Afghanistan zurückgekehrt und zwar nach Kabul für ca. drei Monate und dann ca. zwei Monate im Dorf XXXX .
R: Wieso sind Sie nach Afghanistan zurückgekehrt, als Sie 15 Jahre alt waren?
BF: Nachdem die iranische Polizei meinen Vater nach Afghanistan abgeschoben hat, hatten wir keine schützende Hand mehr und wir mussten nach Afghanistan zurückgehen.
R: Wo befindet sich Ihr Vater nunmehr?
BF: Seit diesem Zeitpunkt, an dem mein Vater abgeschoben wurde, wissen wir nicht mehr, wo er sich befindet.
R: Wieso haben Sie bei Ihrer Erstbefragung angegeben, dass Ihr Vater im Iran verschollen sei?
BF: Damit hatte ich gemeint, dass wir als Familie bis zu diesem Zeitpunkt, in der er bei der iranischen Polizeistation war, von ihm wussten. Ab diesem Zeitpunkt wussten wir nicht mehr, wo er war. Besonders in dieser Zeit hat der Iran viele Afghanen in den syrischen Krieg geschickt. Da wir nicht sicher waren, ob er tatsächlich nach Afghanistan abgeschoben wurde oder ob er sich im syrischen Krieg befand, habe ich gesagt, er sei verschollen.
R: Zuvor haben Sie gesagt, dass Ihr Vater nach Afghanistan abgeschoben wurde, nunmehr teilen Sie mit, dass Sie nicht wissen, ob er tatsächlich abgeschoben wurde, oder ob er im syrischen Krieg ist. Dies ist ein Unterschied.
BF: Ich habe die Möglichkeit gemeint, dass er entweder nach Afghanistan abgeschoben wurde oder dass er in den syrischen Krieg geschickt worden war.
[...]
R: Haben Sie eine Schule besucht in Afghanistan?
BF: Nein.
R: Haben Sie im Iran eine Schule besucht?
BF: Nein.
R: Haben Sie im Iran gearbeitet?
BF: Im Iran habe ich ca. drei Jahre als Schweißer gearbeitet.
R: Wo haben Sie gearbeitet?
BF: Zuerst in Teheran, dann in Behescht-e-Zahra, genauer in Bazar-e-Ahenmakan.
R: Was ist Behescht-e-Zahra, eine Stadt oder ein Bezirk?
BF: Das ist ein Außenbezirk von Teheran.
R: Also haben Sie, als Sie im Iran waren, in Teheran gelebt?
BF: Ja.
R: Können Sie die genaue Adresse angeben?
BF: XXXX (siehe Beilage ./A).
R: Was war der Grund, weshalb Sie Afghanistan Richtung Europa verlassen haben?
BF: Meinen Sie damit die ganze Geschichte?
R: Ja, bitte.
BF: Ich war ca. acht oder neun Jahre alt, als wir in Kabul ein sehr großes Haus gehabt haben.
R: Dieses Haus hat Ihrem Vater gehört?
BF: Das Haus gehörte meinem Vater und meinem Onkel vs.
R: Wie heißt der Onkel vs.?
BF: Sein eigentlicher Name war XXXX , aber alle Leute kannten ihn unter XXXX .
R: Wieso kannten ihn alle Leute unter " XXXX "? Welche Bedeutung hat das?
BF: Er war der Bürgermeister des gesamten Ortes. So könnte man XXXX beschreiben.
R: Was ist mit diesem Haus geschehen?
BF: Es gab ein paar Nachbarn, die behauptet haben, dass das Haus ihnen gehört hätte.
R: Wie hießen diese Nachbarn?
BF: Die Namen kenne ich nicht. Zwei Familiennamen von ihnen kenne ich, einer ist XXXX und XXXX .
R: Was ist weiter geschehen?
BF: Es ging so weit, dass sie letztendlich meinen Onkel getötet haben. Zwei Gründe dafür waren sicherlich entscheidend. Der erste Grund war das Haus und der zweite Grund war wahrscheinlich der Neid, weil mein Onkel der Bürgermeister war.
R: Wissen Sie, wann Ihr Onkel getötet wurde?
BF: Das genaue Datum weiß ich nicht. Ich habe alles von meiner Mutter mitbekommen. Es ist für mich so wie im Schlaf, ich kann mich nicht genau erinnern. Ich war ca. acht oder neun Jahre alt.
R: Was ist mit dem Haus geschehen? Der Onkel wurde getötet, aber ein Teil des Hauses hat auch Ihrem Vater gehört.
BF: Eines Tages kamen jene Leute, die meinen Onkel getötet hatten zu meinem Vater und warnten ihn, wenn er das Haus nicht verlassen würde, würde er das gleiche Schicksal wie sein Bruder erleiden.
R: Welche Leute kamen?
BF: Ich kenne diese Leute nicht, aber meine Mutter sagte, dass es die gleichen Leute waren, die auch den Onkel getötet haben.
R: Wie hat Ihr Vater darauf reagiert?
BF: Ich weiß nicht, was mein Vater ihnen gesagt hat.
R: Hat er das Haus verlassen oder hat er es verkauft? Was hat er gemacht?
BF: Nach dieser Bedrohung waren wir noch ca. 20 Tage bis einen Monat in diesem Haus. Dann haben meine Eltern alle Gegenstände des Hauses verkauft und dann haben wir das Haus verlassen.
R: Ist das Haus seitens Ihres Vaters verkauft worden?
BF: Nein.
R: Was ist mit dem Haus geschehen?
BF: Ich denke, in dieser Geschichte ging es nicht um das Recht, denn wir waren im Recht, das Haus gehörte uns. Es ging um Einfluss und diese Leute waren einflussreicher, deshalb mussten wir das Haus verlassen.
R: Es wäre doch naheliegend, wenn die ganzen Gegenstände des Hauses verkauft wurden, dass auch das Haus verkauft worden ist, zumal Sie ja Geld benötigten, um in den Iran zu reisen und dort zu leben?
BF: Es ging nicht ums Geld, wir mussten das Haus verlassen.
R: Aber es hat doch Ihrem Vater gehört. Ist das Haus dann leer gestanden?
BF: Nachdem wir das Haus verlassen hatten, war es leer und niemand wohnte darin.
R: Und Sie sind dann mit Ihrer Familie in den Iran gereist, stimmt das?
BF: Ja.
[...]
R: Als Sie das zweite Mal in Afghanistan waren, als Sie vom Iran in Ihr Heimatland zurückgekehrt sind, was war dann der Grund, dass Sie Afghanistan wieder verlassen haben?
BF: Als wir vom Iran in Afghanistan zurück waren, haben wir im Ort XXXX ein Haus gemietet. Nach ca. 10 Tagen sind jene Leute, die meinen Onkel getötet hatten, zu uns gekommen. Ich weiß nicht, wie sie erfahren hatten, dass wir wieder zurückgekehrt waren. In dieser Nacht, als sie gekommen sind, hatte ich tief geschlafen, aber meine Mutter sah diese Leute von ihrem Fenster wie sie in den Hof kamen. Meine Mutter schrie laut. Durch diese Schreie kamen die Nachbarn. Als die Leute die Nachbarn bemerkten, flüchteten sie.
R: Haben Sie diese Leute auch gesehen?
BF: Nein, ich habe geschlafen. Als ich wach geworden war, waren diese Leute schon weg. Ca. eine Woche nach diesem Ereignis kamen diese Leute noch einmal zu uns. Beim zweiten Mal hat ein Nachbar von uns diese Leute gesehen. Der Nachbar fragte diese Leute, wer sie wären und was sie wollen. Sie haben zwar nicht mit ihm gesprochen, aber sie haben ihm einen Zettel überlassen. Ich weiß nicht, ob sie ihm diesen in die Hand gedrückt haben oder auf den Boden geworfen haben.
R: Was stand auf diesem Zettel?
BF: Dieser Nachbar las meiner Mutter vor, was auf dem Zettel stand. Auf diesem Zettel stand, dass die Leute mit den anderen Nachbarn kein Problem hätten und dass sie nur mit uns, nämlich der Familie XXXX , ein Problem hätten.
R: Wie viele Männer hat dieser Nachbar angetroffen, als ihm dieser Zettel überlassen wurde?
BF: Das weiß ich nicht genau, aber es müssen mindestens drei oder vier Leute gewesen sein.
R: Was ist dann weiter passiert?
BF: Deshalb mussten wir dann nach Parwan ziehen. Ca. zwei Monate sind wir in Parwan gewesen. Mein Vater hat in Parwan einen guten Freund gehabt. Meine Mutter ist zu diesem Freund gegangen und hat ihm die ganze Geschichte erzählt, was in Kabul passiert war. Er hat zwar meiner Mutter gesagt, dass er uns in Afghanistan nicht helfen könnte, aber er könnte mir helfen, Afghanistan zu verlassen.
R: Warum sollten nur Sie alleine Afghanistan verlassen? Was war mit Ihrer Mutter und Ihren beiden Brüdern?
BF: Ich weiß nicht, über diese Sachen hat meine Mutter mit dem guten Freund meines Vaters gesprochen.
R: Wie hat dieser gute Freund geheißen?
BF: XXXX . Seinen Familiennamen kenne ich nicht.
R: Haben Sie dann alleine Afghanistan verlassen, um in den Iran zu reisen?
BF: Ja.
R: Wie lange sind Sie dann im Iran geblieben?
BF: Nur zwei Tage.
R: Wissen Sie, wie viel die Reise nach Europa gekostet hat?
BF: Das weiß ich nicht genau.
R: Woher hatte Ihre Mutter so viel Geld?
BF: Mein Vater hat sehr gut verdient als Schweißer und in dieser Zeit haben wir etwas gespart.
R: Wann sind Ihre anderen Familienangehörigen in den Iran gereist?
BF: Das genaue Datum kann ich nicht sagen, aber ich war bereits in Österreich und ich war ca. ein Jahr hier, als ich mitbekommen habe, dass meine Familie in den Iran gegangen ist.
R: Wo befindet sich der Ort XXXX ?
BF: Ich weiß nicht, zu welchem Bezirk er gehört, aber ich kann angeben, dass es dort eine sehr berühmte Madressa gibt und XXXX ist in der Nähe dieser Madressa.
R: Meinen Sie, dass XXXX in Kabul war?
BF: Ja.
R: Wenn Sie von Kabul sprechen, sprechen Sie von der Stadt Kabul?
BF: Ja.
R: Warum haben Sie vor dem BFA angegeben, dass Sie Ihr Handy verloren hätten und heute haben Sie angegeben, die SIM-Karte sei abgebrannt?
BF: Ja, das sind zwei verschiedene kurze Geschichten. Als ich vor dem BFA gesagt habe, dass ich mein Handy verloren habe, war das die Wahrheit. Das war meine frühere Nummer und die neue Nummer ist mit der SIM-Karte verbrannt. Die Nummer meiner Mutter war auf dieser SIM-Karte gespeichert und ich habe die Nummer deshalb verloren, weil ich den Code drei oder vier Mal irrtümlich falsch eingegeben habe. Danach hat die SIM-Karte sich automatisch gesperrt und ich konnte nicht mehr darauf zugreifen.
R: Warum haben Sie vor dem BFA angegeben, dass das Haus von den besagten Leuten beschlagnahmt wurde? Heute haben Sie gesagt, das Haus sei einfach leer gestanden.
BF: Nachdem mein Vater oder wir durch ihre Bedrohung das Haus verlassen mussten, bedeutet das eine Art Beschlagnahme. Dieses Haus wird nicht ewig leer bleiben, irgendjemand wird darin wohnen.
R: Warum haben Sie vor dem BFA angegeben, dass auf diesem Zettel gestanden habe, dass man Ihre Familie töten wolle? Heute haben Sie das nicht angegeben.
BF: Sie haben das nicht gefragt.
R: Ich habe Sie sehr wohl gefragt, was auf diesem Zettel gestanden ist.
BF: Ob ich das auch nicht erwähnt habe. Bitte stellen Sie sich vor, wenn ein paar Männer bewaffnet zu Ihnen kommen, das bedeutet doch, dass sie Sie töten wollen.
R: Sie haben vor dem BFA nie angegeben, dass diese Leute bewaffnet waren. Das sagen Sie heute das erste Mal.
BF: Man hat mich nie gefragt, was diese Leute trugen oder ob sie bewaffnet waren. Wenn ich jetzt sage, dass diese Leute bewaffnet waren, das habe ich von meiner Mutter mitbekommen.
R: Es sind immer wieder unterschiedliche Varianten, die Sie uns erzählen. Zumindest die Eckpunkte müssten stimmen.
BF: Natürlich werde ich diese Ereignisse nie vergessen, da haben Sie vollkommen Recht. Es kann sein, dass ich ein ziemlich stressvolles Leben bisher gelebt habe und dass dies zu Vergesslichkeit führt.
R: Vor dem BFA haben Sie angegeben, dass dieser Mann den Zettel auf den Boden geworfen hat und heute haben Sie angegeben, dass Sie es nicht wissen.
BF: Ich war nicht dabei um zu sehen, ob der Nachbar das in die Hand gedrückt bekommen hat oder ob man den Zettel auf den Boden geworfen hat. Bei meiner Einvernahme beim BFA war ich auch nicht sicher, ob der Zettel auf den Boden geworfen worden ist.
R: Sie haben jedoch vor dem BFA konkret angegeben, dass der Mann den Zettel auf den Boden geworfen hat.
R: Was glauben Sie würde Ihnen passieren, wenn Sie nach Afghanistan zurückkehren müssten?
BF: Wenn ich nach Afghanistan zurückkehren müsste, ist es sonnenklar, dass diese besagten Leute wieder auftauchen würden.
R: Was wollen die Leute von Ihnen? Ihre Familie hat das Haus verlassen. Was wollen diese Leute von Ihrer Familie? Das ist bisher aus Ihren Aussagen nicht hervorgekommen.
BF: Genau darüber habe ich meine Mutter befragt. Meine Mutter antwortete, dass der Grund sein könnte, dass wir die offiziellen Papiere für das Haus bei uns haben und sie befürchten, dass wir das Haus zurückverlangen könnten.
R: Wieso haben Sie alleine Afghanistan verlassen und Ihre restliche Familie konnte einige Zeit in Afghanistan leben?
BF: Erstens haben sie in der Provinz Parwan gelebt und zweitens waren sie sicher immer vorsichtig. Sie haben es vermieden, ohne Grund irgendwo hinzugehen.
R: Dann hätten Sie doch bei Ihrer Familie in der Provinz Parwan bleiben können?
BF: Man kann einen Tag, zwei Tage, vier, fünf oder sechs Monate versteckt bleiben, aber ewig geht das doch nicht.
R: Wie lange hat Ihre Familie in der Provinz Parwan gelebt, nachdem Sie nach Europa gereist sind?
BF: So genau weiß ich das nicht.
R: Wo befinden sich die Papiere bezüglich des Hauses?
BF: Die Dokumente hat meine Mutter im Iran.
R: Wovon lebt Ihre Mutter im Iran?
BF: Meine Mutter arbeitet als Putzkraft.
R: Wieso sind Sie nicht mit Ihrer Familie im Iran? Wieso haben Sie sich auf den Weg nach Europa gemacht? Es wäre doch naheliegend gewesen, im Iran zu bleiben mit Ihrer Familie.
BF: Als ich Afghanistan verlassen habe, waren sie doch alle in Afghanistan. Wie ich schon gesagt habe, hat mir der Freund meines Vaters geholfen, nach Europa zu reisen. Erst dann ist meine Familie in den Iran gegangen. Woher hätte ich das wissen sollen, dass sie in den Iran gehen werden?
R: Wie lange haben Sie in Parwan gelebt, bevor Sie dann in den Iran gereist sind?
BF: Ca. zwei Monate.
R: Glauben Sie nicht, dass Sie beispielsweise in einer anderen Stadt in Afghanistan leben könnten, zB in Mazar-e Sharif oder Herat?
BF: Ich habe vor dieser Familie, die aus vier Brüdern besteht, Angst. Wie bereits gesagt, sie sind einflussreich. Einer ist Kommandant, ein anderer ist "Tagerwall" also ein Militäroberst. Es kommt noch dazu, dass es für mich als Hazara noch schwieriger ist, in einer anderen Stadt zu leben. Das ist eine Tatsache in Afghanistan. Wenn Sie in Österreich über so eine Sache sprechen, wird Ihnen niemand glauben, aber dort ist es so.
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Zu seinem Leben in Österreich gab er an, Deutsch auf B1-Niveau zu sprechen und seit einem Jahr und vier Monaten eine Lehre zu machen. Er sei im zweiten Lehrjahr und es gefalle ihm sehr gut. In seiner Freizeit mache er Sport. Er habe ein paar Freunde mit denen er Fußball spiele oder Feste besuche. Manchmal gehe er auch Bier trinken. Nach seinem Ziel in Österreich befragt, gab er an, zuerst seine Lehre fertig machen zu wollen, dann wolle er den Führerschein machen.
Die befragte Zeugin gab an, dass der BF zuerst ein Praktikum bei ihnen gemacht habe. Sie habe sich seine Deutschkenntnisse, Arbeitswilligkeit und Teamfähigkeit angesehen, dies alles habe bestens funktioniert. Auch von den Kollegen sei der BF akzeptiert worden. Nach dem vierwöchigen Praktikum hätten sie dem Lehrvertrag zugestimmt. Es sei ihnen klar gewesen, dass es beim BF einige Defizite geben könne, da er erst ein Jahr in die Waldorfschule gegangen sei. Sie habe aber einen pensionierten Lehrer des Polytechnikums kontaktiert, welcher dem BF in Mathematik unterstützen solle. Einerseits im Betrieb, andererseits als Vorbereitung für die Berufsschule. Nach Befragung gab die Zeugin noch an, dass sie den BF nach einem positiven Abschluss der Lehre auf alle Fälle weiterbeschäftigen wolle.
Mit dem BF wurden in weiterer Folge das aktuelle Länderinformationsblatt der Staatendokumentation (Stand Juni 2019) und die UNHCR-Richtlinien vom 30.08.2018 erörtert.
Der BF gab dazu an, dass es für ihn als Hazara und schiitischen Moslem schwieriger sei in Afghanistan zu leben.
Der Rechtsvertreter des BF führte weiters aus, dass der BF den größten Teil seines Lebens außerhalb von Afghanistan verbracht habe und zur Gruppe der Rückkehrer zähle, welchen eine Neuansiedelung in den Großstädten Afghanistans nicht möglich sei. Aufgrund der verschlechterten Sicherheitslage würde er einer realen Gefahr einer Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt sein. Eine Rückkehrentscheidung würde das Privatleben des BF verletzen, da dieser Merkmale einer außerordentlichen Integration aufweise. Der BF sei fast fünf Jahre in Österreich aufhältig. In einer Gesamtbetrachtung überwiege das Interesse des BF am Verbleib in Österreich.
Abschließend wurde der BF von der erkennenden Richterin dazu befragt, ob er streng gläubig sei, dazu gab der BF an, er habe bevor er nach Österreich gekommen sei immer gefastet und gebetet. Seit er hier sei, sei es ihm wichtig, dass er ein guter Mensch sei. Nur Mensch sein, sei die perfekte Religion.
Nach der Rückübersetzung gab der BF noch an, dass er nach der Rückkehr nach Afghanistan einen Monat in Kabul und zwei Monate im Dorf XXXX gelebt habe.
Im Zuge der Verhandlung legte der BF folgende Unterlagen vor:
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Jahreszeugnis einer Landesberufsschule für den Lehrberuf "Metalltechnik, Scheißtechnik" für das Schuljahr 2018/19;
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Ausdruck der Sozialversicherung, wonach der BF monatlich 593,95 EUR brutto beziehe.
Weiters wurde in der Verhandlung eine Stellungnahme vorgelegt, worin auf die aktuellen UNHCR-Richtlinien, das Dokumente von ACCORD "Sicherheitslage und sozioökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif" vom 30.04.2019 und "Überblick über die Sicherheitslage in Afghanistan" vom 29.05.2019 sowie die ACCORD-Anfragebeantwortung zu Afghanistan "Folgen der Dürre in den Städten Herat und Mazar-e Sharif: Landflucht als Folge der Dürre; Auswirkungen der Dürre/Landflucht auf die Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln, auf die Wohnraumbeschaffung und die Situation am Arbeitsmarkt für Neuansiedler (insbesondere von RückkehrerInnen)" vom 12.10.2018 verwiesen, woraus hervorgehe, dass Mazar-e Sharif und Herat nicht als IFA in Frage kommen würden. Die Sicherheitslage habe sich in den letzten Monaten massiv verschlech