TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/14 W191 2183689-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 14.11.2019
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Entscheidungsdatum

14.11.2019

Norm

AsylG 2005 §10
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §52
FPG §55

Spruch

W191 2183689-1/34E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.12.2017, Zahl 1066931902-150448241, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26.09.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10 und 57 Asylgesetz 2005, § 9 BFA-VG sowie §§ 46, 52 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte nach irregulärer und schlepperunterstützter Einreise in das Bundesgebiet nach Anhaltung im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle am 01.05.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

1.2. In seiner am 02.05.2015 durchgeführten Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Paschtu im Wesentlichen Folgendes an:

Er heiße XXXX , stamme aus XXXX , Khewa, Provinz Nangarhar, Afghanistan, sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitischer Moslem und ledig. Er habe sieben Jahre die Grundschule besucht.

Seine Ausreise habe er vor ca. 40 Tagen, organisiert durch seinen Onkel, begonnen und sei über Iran, Türkei, Bulgarien und Serbien bis nach Österreich gereist. Zu Hause lebten noch seine Eltern und Geschwister.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass die Taliban ihm nicht erlaubt hätten, die Schule zu besuchen. Sie hätten auch seine Brüder verschleppt und die Familie zwingen wollen, am Jihad teilzunehmen. Da er das nicht gewollt hätte, sei er geflüchtet.

1.3. Laut Mailverkehr des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) stellte sich am 19.05.2015 heraus, dass auch der Bruder des BF, XXXX , geboren am 06.02.1997, einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte.

1.4. In der Folgezeit wurden zum Verhalten des BF wiederholt Meldungen bezüglich strafrechtlich relevanter Handlungen erstattet:

* 17.05.2015 Rauferei mit einem anderen Asylwerber

* 05.09.2016 Anzeige Verdacht auf Schwere Körperverletzung wegen Raufhandel am 15. und 16.08.2016 - Tatausgleich

* 11.03.2017 - Versuchter Widerstand gegen die Staatsgewalt § 269 Strafgesetzbuch - StGB und Gefährliche Drohung - § 107 StGB, dafür Freiheitsstrafe von drei Monaten bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren mit Urteil des Landesgerichts Linz vom 19.07.2017, Zahl 22 Hv 60/17i - 12

* 17.06.2017 Besitz von Cannabiskraut/Marihuana

1.5. Laut Betreuungsvereinbarungen vom März bzw. Juni 2016 war der BF in Jugendwohnhäusern für Unbegleitete Minderjährige Fremde (UMF) der Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung (FMB) wohnhaft.

1.6. Bei seiner Einvernahme am 03.10.2017 vor dem BFA, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu, bestätigte der BF die Richtigkeit seiner bisher gemachten Angaben. Seinen Namen korrigierte er auf XXXX . Afghanistan habe er gemeinsam mit seinem Bruder verlassen. Er gehöre zur Volksgruppe der Pashai, in der Familie hätten sie zuhause aber Paschtu gesprochen.

Der BF beantwortete Fragen zu seinen Personalia, zu seiner Ausreise und zu seinen Lebensumständen. Seine Familie lebe aktuell in Peshawar (Pakistan).

Zu seinem Fluchtgrund befragt gab der BF an, dass die Taliban einen älteren Bruder wegen dessen Weigerung, mit ihnen zu kämpfen, erschossen hätten, und gab dazu auf zahlreiche Nachfragen (bezüglich der genaueren Umstände dieses angegebenen Vorfalls, bezüglich der Beerdigung etc.) knappe Antworten. Deswegen seien er und sein Bruder XXXX auf Geheiß ihres Vaters geflüchtet.

Der BF legte eine Schulbesuchsbestätigung als außerordentlicher Schüler in einer Polytechnischen Schule in Österreich sowie Deutschkursbesuchsbestätigungen vor.

Dem BF wurden die "landeskundlichen Länderinformationsblätter zu Afghanistan" ausgehändigt und einer "2 wöchige" Frist zur Stellungnahme eingeräumt (im Verwaltungsakt liegt das vollständige Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA vom 02.03.2017 in der damals aktuellen Fassung ein). Er gab keine Stellungnahme dazu ab.

1.7. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 11.12.2017 den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 01.05.2015 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt IV. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge FPG). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.)

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Der BF habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Der BF habe eine asylrelevante Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Sein Vorbringen sei recht vage und ohne viele Details erzählt worden. Es sei mehrfach unschlüssig und unplausibel. Die in Ergänzung zur Erstbefragung von seiner Vertretung nachgebrachte Erzählung zum angegebenen Tod des älteren Bruders stehe im Widerspruch zu den Angaben des BF bei seiner Einvernahme (einmal hätte sich der Vorfall in der Nacht, das andere Mal am Tag ereignet).

Der Bruder des BF sei für die Behörde nicht "greifbar" - sein Verfahren sei mit 16.11.2017 eingestellt worden, so dass dessen Einvernahme nicht der Beweissicherung dienen könne.

Zwar ergebe sich aus den Feststellungen hinsichtlich seiner Heimatprovinz Kunar eine relevante Gefährdungslage, jedoch sei eine [zumutbare] innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul gegeben. Der BF sei ein junger, gesunder Mann im erwerbsfähigen Alter, der sein "gesamtes" Leben in Afghanistan verbracht habe, verfüge über eine siebenjährige Schulbildung und habe bereits etwas Berufserfahrung in der Landwirtschaft und als Hilfskraft in einem Hotel. Zudem habe er Verwandtschaft in Afghanistan.

Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.

1.8. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit weitwendigem Schreiben seines Vertreters vom 07.01.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen das Vorbringen des BF im Verfahren zusammengefasst wiederholt. Es enthielt weitgehend allgemeine Ausführungen zu Afghanistan (etwa Auszüge aus und Hinweise auf diverse Berichte, vielfach in englischer Sprache, sowie Judikate), aber kaum konkret den BF betreffenden Angaben. Auch mit der Beschwerde wurden keinerlei Belege für seine Identität oder sein Fluchtvorbringen vorgelegt.

Beigelegt war der Beschwerde eine "Psychologische Stellungnahme" einer Klinischen- und Gesundheitspsychologin, derzufolge der BF Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung zeige (besonders aufdrängende Erinnerungen, emotionaler Rückzug, Angst, Aggressionen, Schlaflosigkeit und Vermeidung). Eine weiterführende psychologische Behandlung werde dringend empfohlen. Ein Arzt für Allgemeinmedizin verordnete - ohne Diagnose - ein Antidepressivum.

Beantragt wurde unter anderem die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

1.9. In der Folge wurde der BF erneut wiederholt wegen des Verdachts der Begehung strafrechtlich relevanter Handlungen auffällig:

* Laut Meldung des Stadtpolizeikommando Linz vom 01.07.2018 wurde der BF beim Besitz einer Packung Marihuana betreten

* Mit Urteil des Landesgerichts Wels vom 08.01.2019, Zahl 38 Hv 69/18m - 19, wurde der BF wegen des Verdachtes der Begehung der Vergehen Nötigung (§ 105 StGB) und Dauernde Sachentziehung (§ 135 StGB) am 13.10.2018 mangels Schuldbeweis freigesprochen

* Laut Meldung des Stadtpolizeikommando Linz vom 05.03.2019 wurde der BF am 28.01.2019 in 4020 Linz beim Besitz von zehn Klemmsäckchen Marihuana betreten

* Laut Meldung des Stadtpolizeikommando Linz vom 05.04.2019 wurde der BF am 01.04.2019 in Linz, Hauptbahnhof, beim Besitz von sechs Klemmsäckchen Marihuana betreten

* Laut Verständigung der Staatsanwaltschaft Steyr vom 25.04.2019 wurde von der Verfolgung des BF wegen § 27 SMG (Suchtmittelgesetz) vorläufig zurückgetreten

* Laut Meldungen des Stadtpolizeikommando Linz vom 13. und 14.05.2019 wurde der BF an diesen beiden Tagen erneut in Linz, Hauptbahnhof, beim Besitz von Klemmsäckchen Marihuana betreten

* Laut Anzeige der Landespolizeidirektion Linz wurde der BF am 25.05.2019 wegen Ordnungsstörung gemäß § 81 Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz (Raufen in der Bahnhofshalle in Linz, wodurch Passanten am Zugang zur Straßenbahn gehindert wurden) angezeigt

* Laut Meldung der Landespolizeidirektion Linz vom 05.10.2019 wurde der BF am 30.08.2019 in Linz, Hauptbahnhof, im Besitz von einem Klemmsäckchen Marihuana betreten; die Staatsanwaltschaft Linz verständigte das BFA am 16.10.2019 über die Anklageerhebung gegen den BF wegen § 27 Abs. 2 SMG

1.10. Mit Bescheid vom 17.04.2019 stellte das BFA fest, dass der BF gemäß § 13 Abs. 1 Z 2 AsylG ab dem 09.07.2017 das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verloren habe.

Dies sei dem BF mit Verfahrensanordnung vom 05.11.2018 nachweislich an diesem Tag zur Kenntnis gebracht worden. Die Feststellung gründete sich auf die Verurteilung vom 19.07.2017, rechtskräftig am selben Tag, zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten, bedingt auf drei Jahre (siehe oben Punkt 1.4.).

1.11. Das BVwG führte am 23.09.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Paschtu durch, zu der der BF persönlich in Begleitung seiner Vertreterin erschien. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an einer Beschwerdeverhandlung.

Dabei gab der BF auf Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

"[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?

BF: Paschtu. Darüber hinaus spreche ich auch Farsi, etwas Urdu und Englisch.

RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für den BF?

D: In Paschtu.

RI befragt BF, ob er D gut verstehe; dies wird bejaht.

Zur heutigen Situation:

RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?

BF: Ja, gut.

RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?

BF: Ich habe psychische Probleme. Nachgefragt gebe ich an, dass ich schon im Jahr 2017 in Linz auf Rat meiner Betreuerin zum Arzt gegangen bin.

BFV [Vertreterin des BF] legt vor: Diverse medizinische Bestätigungen (Kurzarztbrief Psychiatrie 1) des Kepler Universitäts Klinikum vom 12.03.2017 (Diagnose: aggressive Verhaltensstörung im Rahmen einer Alkoholintoxikation). Diese werden in Kopie zum Akt genommen.

[...]

Zu seiner Integration gibt der BF an:

Ich habe zweimal sechs Monate die Polytechnische Schule besucht und einen Deutschkurs A2/1 besucht.

Darüber sowie über weitere Veranstaltungen (Teilnahmebestätigungen, Fortbildungen und diverse Coachings und Seminare) werden Belege vorgelegt, die in Kopie zum Akt genommen werden.

BF: Ich habe auch eine Weile lange eine Ausbildung gemacht.

RI: Was für eine Ausbildung?

BF: Ich weiß es nicht mehr.

RI: Was haben Sie da gemacht bei dieser Ausbildung?

BF: Das war eine Ausbildung, Basisbildung, in Linz war das.

[...]

Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen

Lebensumständen:

RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?

BF: Ja.

RI: Warum haben Sie bei Ihrer Erstbefragung angegeben, Sie heißen XXXX ?

BF: Da war ich frisch hier, ich kannte mich nicht aus. Daher sagte ich XXXX .

RI: Woher haben Sie XXXX ?

BF: Ich war müde, ich kannte mich nicht aus. Es war falsch.

RI: Haben Sie das erfunden?

BF: Ja. Meine Eltern haben mich auch zu Hause XXXX genannt.

RI: Dann ist das Ganze nicht gefunden.

BF: Dann habe ich meinen Vater angerufen und nachgefragt. Er hat mir gesagt, dass wir im Familiennamen XXXX heißen.

RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF: Wir sind Pashai. Meine Muttersprache ist auch Pashai, aber wir haben alle zu Hause Paschtu gesprochen.

RI: Wieso haben Sie das vorhin bei der Sprache nicht angegeben?

BF: Pashai kann ich aber nicht.

RI: Und trotzdem ist es die Muttersprache?

BF: Es war so: mein Großvater war Pashai, aber meine Großmutter war eine Paschtunin. Wir haben zu Hause alle Paschtu gesprochen.

RI: Hat Ihr Mutter Pashai gekonnt?

BF: Ja, auch mein Vater konnte ein wenig Pashai.

RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?

BF: Ich bin sunnitischer Moslem.

RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?

BF: Nein.

RI: Sind Sie verlobt, oder beabsichtigen Sie, in nächster Zeit zu heiraten?

BF: Nein.

RI: Haben Sie Kinder?

BF: Nein.

RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF: Ich besuche ca. neun Jahre die Schule, eine Ausbildung habe ich dort nicht gemacht.

RI: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?

BF: Meine Familie ist jetzt in Mazar-e Sharif.

Frage wird wiederholt.

BF: Wir haben damals in Pakistan gelebt, mein Vater sorgte für uns.

RI: Was hat er gearbeitet?

BF: Er hat in einem Geschäft, in dem Reis verkauft wurde, gearbeitet.

RI: Wo sind Sie geboren, und wo sind Sie aufgewachsen?

BF: Ich bin in Pakistan geboren. Darf ich etwas sagen?

RI: Ja.

BF: Als ich nach Österreich kam, habe ich bei meiner Einvernahme gelogen. Ich wollte hier leben und Asyl bekommen, auf der Flucht habe ich gehört, dass man solche Sachen angeben soll, daher habe ich gesagt, dass wir in Afghanistan waren, das stimmt nicht. Ich war die ganze Zeit in Pakistan. Dort haben wir eine Feindschaft bekommen.

RI: Waren Sie jemals in Afghanistan?

BF: Ja.

RI: Wann und wo?

BF: Ich war in Jalalabad. Ich war öfter dort, einmal im Jahr oder alle zwei Jahre fuhr ich dorthin zum Spazieren und auf Besuch.

RI: Wen haben Sie besucht?

BF: Meine Tanten mütterlicherseits und auch andere Verwandte.

RI: Sie haben angegeben, dass Sie aus XXXX stammen? Ist das ein Ort oder ein Distrikt.

BF: Das ist ein Distrikt.

RI: Wo ist dieser?

BF: In Nangarhar.

RI: Wie kommen Sie auf diesen Distrikt?

BF: Ich war auch schon selbst dort, zwei- bis dreimal.

RI: Kennen Sie den Distrikt Kuzkunar?

BF: Ich kenne den Distrikt, war aber noch nicht dort.

Angemerkt wird, dass eine Recherche des RI ergeben hat, dass es sich bei dem Distrikt Kuzkunar offenbar um einen anderen Namen für den Distrikt Khewa handelt. Im Zentrum dieses Distrikts liegt ein Ort namens KUNAR. Laut Wikipediaeintrag liegt ein Ort KHEWA im Distrikt Darai Nur in der Provinz Nangarhar.

RI: Wieviele Geschwister haben Sie?

BF: Ich habe vier Brüder und eine Schwester. Ein Bruder ist auch in dieser Feindschaft getötet worden.

RI: Wann ist der Bruder getötet worden?

BF: Ich glaube im Jahr 2012 oder 2013, aber ich kann mich nicht mehr genau erinnern.

RI: Wie ist er getötet worden?

BF: Er wurde erschossen.

RI: Wissen Sie irgendwelche Umstände von diesem Mord?

BF: Als ich nach Österreich kam, habe ich bei meiner Erstbefragung gelogen.

RI wiederholt die Frage.

BF: Dieser Bruder von mir hatte eine Freundin. Der Bruder und der Vater des Mädchens haben dann meinen Bruder getötet. Zu diesem Zeitpunkt war mein Bruder im Geschäft. Ich habe deshalb damals bei meiner Einvernahme gelogen, da ich auf der Flucht gehört habe, dass man solche Sachen erzählen soll, dann bekommt man Asyl.

RI: Ihr Bruder XXXX hat bei seiner Befragung gesagt, dass Ihr Bruder vor seinem Geschäft gesessen ist und mit zehn Schüssen getötet worden ist von den Taliban, und es war am 28.08.2014.

BF: Das waren keine Taliban, sondern unsere Feinde.

BFV: Und das Datum 28.08.2014, oder war das auch schon früher?

BF: An das Datum kann ich mich nicht erinnern.

RI: Warum hat Ihr Bruder gesagt, er sei in der Provinz XXXX geboren?

BF: Das weiß ich nicht.

RI: Haben Sie miteinander gesprochen wegen Khewa?

BF: Nein, nicht so.

RI: Wo ist Ihr Bruder XXXX jetzt?

BFV: Der Bruder ist meines Wissens im Vorjahr nach Afghanistan abgeschoben worden.

BF: Er ist mit meiner Familie jetzt in Mazar-e Sharif, meine Familie hat aber vor, in die Türkei zu kommen. Meine Familie lebte früher in Pakistan, jetzt aber in Mazar-e Sharif. Meine Familie wird von anderen Verwandten nicht unterstützt.

RI: Wieviele Brüder haben Sie jetzt noch?

BF: Vier, mit mir sind wir fünf Brüder.

RI: Einer ist doch getötet worden.

BF: Ich hatte eigentlich fünf Brüder.

RI: Dass die Brüder von den Taliban verschleppt worden sind, stimmt?

BF: Nein, es stimmt nicht.

RI: Hat die Familie jemals in XXXX gelebt?

BF: Damals in der Revolutionszeit vielleicht, aber danach nicht.

RI: Ich frage Sie deswegen, weil Sie vor dem BFA gesagt haben: "Der ältere Bruder lebte mit seiner Schwiegermutter damals in Khewa".

BF: Das war gelogen.

RI: Wieso sind Sie und Ihr Bruder XXXX nach Europa gegangen und die zwei weiteren Brüder sind dortgeblieben?

BF: Ich war sehr schlimm, ich hatte immer wieder Streit, deswegen hat mich mich mein Vater nach Europa geschickt. Warum mein Bruder XXXX nach Europa geschickt wurde, weiß ich nicht.

RI: Sie haben hier in Österreich mehrere Straftaten begangen, aber Ihr Bruder hat noch mehr begangen, ist der nicht noch schlimmer gewesen als Sie?

BF: Ja, er hat Drogen verkauft und auch mehrmals Streit gehabt.

RI: Und der Vater hat ihn nicht deshalb weggeschickt, weil er schlimm war?

BF: Mein Bruder XXXX wollte immer nach Europa, er hat sich immer gewünscht, dass er in Europa lebt, deshalb.

RI: Ihr Bruder hat in seinem Verfahren angegeben, dass er leider Drogen konsumiert und Alkohol getrunken hat. Daher hätten alle seine Familienmitglieder den Kontakt mit ihm abgebrochen. Hatten Sie mit ihm Kontakt?

BF: Er hat gelogen, ich und die Familie hatten Kontakt mit ihm. Drogen habe ich konsumiert.

RI: Können Sie heute Dokumente oder andere Beweismittel vorlegen, die Ihre Angaben zu Ihrer Identität belegen (zB. Reisepass, Tazkira)?

BF: Nein.

RI: Wann waren Sie zuletzt in Afghanistan?

BF: Ich kann mich nicht erinnern. Ich glaube, es war im Jahr 2013.

Zur derzeitigen Situation in Österreich:

RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?

BF: Ja, ich habe aber keinen Kontakt mit ihnen. In Österreich leben ein Freund meines Vaters und entfernte Verwandte.

RI: Haben Sie Kontakt zu Österreichern? Haben Sie in Österreich wichtige Kontaktpersonen, und wie heißen diese?

BF: Nein. Ich hatte afghanische Freunde, die habe ich jetzt auch nicht mehr. Sie wollen keinen Kontakt mehr mit mir, ich weiß nicht, warum.

RI: Vielleicht wegen den Straftaten?

BF: Ich habe zwei Freundinnen und einen Freund, die anderen Freunde brauche ich auch nicht mehr.

RI: Sind diese Afghanen?

BF: Die Mädchen sind aus Bosnien und Albanien, und der Freund ist auch Afghane, aber zu diesen Mädchen habe ich jetzt auch keinen Kontakt mehr.

RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.

RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?

BF: Wenn Sie nicht zu schnell sprechen, verstehe ich Sie.

RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und verständlich auf Deutsch beantwortet hat.

RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs, oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?

BF: Deutschkurs besuche ich im Moment keinen, aber im Internet lerne ich Deutsch, bei Instagram.

RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach? Wie ist Ihr Tagesablauf?

BF: Sport mache ich keinen. Ich habe ja gesagt, dass ich keine Freunde mehr habe, außer diese zwei Mädchen und einen Afghanen. Kulturell mache ich auch nichts. Ich sitze herum und denke viel nach, ich mache mir Sorgen. Ich will etwas sagen, aber das würden Sie mir nicht glauben. Mir geht es momentan schlecht.

Die Verhandlung wird um 10:08 Uhr unterbrochen, der BF verlässt den Verhandlungssaal. Die BFV kümmert sich um ihn.

Die Verhandlung wird um 10:19 Uhr fortgesetzt.

RI: Wollen Sie noch etwas über Ihren Tagesablauf erzählen?

BF: Ich sitze den ganzen Tag herum und trinke das Blut meines Herzens.

R an D: Ist das ein Sprichwort?

D: Das sagt man auf Paschtu, wenn man Sorgen und Kummer hat.

RI: Warum haben Sie in Österreich Straftaten verübt?

BF: Die Straftaten haben andere begangen, die Schuld wurde mir in die Schuhe geschoben. Das ist drei- oder viermal so passiert.

RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?

BF: Ja. Wöchentlich ein- bis zweimal telefonisch mit meiner Familie.

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

RI: Um was für eine Feindschaft hat es sich gehandelt, bei der Ihr Bruder getötet worden ist?

BF: Es ging um ein Mädchen. Ich glaube, das Mädchen wurde mit einem anderen verlobt. Das Mädchen war schwanger, und ihre Familie dachte, dass sie von meinem Bruder schwanger ist.

RI: Waren die andere Familie auch Paschtunen?

BF: Sie waren auch Pashai und haben Paschtu gesprochen.

RI: Wo hat sich das abgespielt?

BF: In Pakistan war das.

RI: Was würde Ihnen konkret passieren, wenn Sie jetzt wieder nach Afghanistan zurückkehren müssten?

BF: Ich habe Angst vor meinen Eltern, weil ich dort sehr schlimm war und schlechte Sachen gemacht habe damals dort.

RI Wo ist Ihr Bruder XXXX jetzt?

BF: Bei meiner Familie in Mazar-e Sharif.

RI: Hat er keine Probleme mit den Eltern?

BF schüttelt den Kopf.

Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.

Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.

RI folgt BFV Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihr die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben des BF eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.

BFV: Sie haben gesagt, dass Sie Pakistan gelebt haben, wo genau?

BF: Wir wohnten in Peshawar.

BFV: Sie haben vorher gesagt, Sie machen nicht mehr viel in Ihrer Freizeit, sondern Sie denken viel nach und haben Sorgen. Erzählen Sie davon.

BF: Ich mache mir Sorgen wegen meiner Familie, wegen mir und meiner Zukunft.

BFV: Was für Zukunftssorgen haben Sie, sich selbst betreffend?

BF: Wie die anderen auch über sich denken.

BFV: Ich beantrage eine Frist für eine Stellungnahme zu den Länderberichten und eine ärztliche Bestätigung über den Gesundheitszustand des BF.

RI: Dem BF wird eine Frist von - vier Wochen - zur Vorlage eine Stellungnahme zu den Länderberichten und einer ärztlichen Bestätigung über den Gesundheitszustand des BF eingeräumt.

RI befragt BFV, ob sie noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.

RI befragt BF, ob er noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.

RI befragt BF, ob er D gut verstanden habe; dies wird bejaht.

Weitere Beweisanträge: Keine.

Angemerkt wird, dass der BF einen gedämpften Eindruck erweckt. Er wirkt traurig, kann aber Fragen halbwegs erfassen und beantworten.

BF nach Rückübersetzung: Meine Familie hat vor der Familie des Mädchens Angst.

BFV: Sie haben vorher gesagt: "Ich will etwas sagen, aber das würden Sie mir nicht glauben", das war vor der Pause. Wollen Sie das jetzt noch sagen, jetzt haben Sie die letzte Gelegenheit?

BF: Ich habe so ein Gefühl, dass jemand mit mir spricht, dass Dämonen mit mir sprechen, das meinte ich.

BFV: Seit wann haben Sie das Gefühl?

BF: Seit 2017.

BFV: Und was sagen die Dämonen?

BF: Ich bin mit mir so beschäftigt.

BFV: Können Sie versuchen es zu definieren, es ist die letzte Möglichkeit.

RI: Erzählen Sie es genauer.

BF: Ich habe Alpträume.

RI: Sind die Dämonen heute auch da?

BF lacht: Nein. Wenn ich schlafe, dann habe ich Alpträume und ich träume auch von diesen schlechten Taten, bösen Sachen, die ich im Leben gemacht habe. [...]"

Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

1.12. Mit Schreiben seiner Vertreterin vom 21.10.2019 ersuchte der BF um Verlängerung der ihm in der Verhandlung gewährten Nachfrist um weitere zwei Wochen, die ihm gewährt wurde.

1.13. Mit Schreiben seiner Vertreterin vom 04.11.2019 nahm der BF zu den ihm in der Verhandlung ausgefolgten Länderberichten Stellung, die er aber nicht substantiiert bestritt, sondern im Wesentlichen auf die - notorischen - UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 hinwies und daraus zitierte.

Aus der aktuellen Reisewarnung des österreichischen Außenministeriums zu Afghanistan sowie aus diversen Berichten und Judikaten wurde zitiert.

Bezüglich einer allfälligen Fluchtalternative Mazar-e Sharif wurde auf eine bekannte Studie von Friederike Stahlmann (zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen) hingewiesen.

Von der Möglichkeit der Nachbringung einer ärztlichen Bestätigung über den Gesundheitszustand des BF (Diagnose) wurde nicht Gebrauch gemacht und statt dessen der Antrag gestellt, das Gericht möge ein psychiatrisches Sachverständigengutachten - betreffend den Gesundheitszustand des BF - einholen.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 02.05.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 03.10.2017, die Akteninhalte betreffend das strafrechtlich relevante Verhalten des BF, Schriftstücke betreffend seine Gesundheit, die Beschwerde vom 22.05.2018 sowie die ergänzende Stellungnahme vom 04.11.2019

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 25.09.2017, Aktenseiten 337 bis 423)

* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 26.09.2019

* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie in den Provinzen Nangarhar und Balkh (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 04.06.2019)

o Auszug aus: "EASO Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan, Rekrutierungsstrategien der Taliban" (Juli 2012, Seite 42-44) sowie

o Auszug aus Landinfo report Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban, vom 29.06.2017 (Arbeitsübersetzung)

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen (bzw. Pashai) und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch etwas Farsi und Urdu. Er ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF stammt aus einem Dorf in der Provinz Nangarhar. Er lebte zuletzt laut seinen Angaben mit seiner Familie (Eltern, mehrere Brüder, Schwester) in Pakistan. Er hat ca. neun Jahre lang die Schule besucht und Berufserfahrung in der Landwirtschaft und als Aushilfskraft in einem Gastgewerbebetrieb.

Seine Familie - wie auch sein mit ihm nach Österreich gereister und inzwischen nach Afghanistan abgeschobener Bruder - lebt nach den Angaben des BF derzeit in Mazar-e Sharif. Auch weitere Verwandte leben in Afghanistan. Der Vater des BF bestreitet den Lebensunterhalt für die Familie.

3.1.2. Der BF verließ Afghanistan aus - unterschiedlich - angegebenen Gründen und reiste schlepperunterstützt bis nach Österreich, wo er am 01.05.2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.1.3. Der BF ist jung und im erwerbsfähigen Alter. Er hat den Großteil seines Lebens in Afghanistan bzw. Pakistan verbracht und ist mit den kulturellen Traditionen und Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut.

Der BF hat zwar angegeben, dass er gesundheitliche - psychische - Probleme habe. Er hat aber - auch innerhalb gewährter Nachfrist - kein ärztliches Attest oder Schreiben vorgelegt, in dem ihm eine krankheitswertige Störung attestiert wird.

3.1.4. Der BF ist in Österreich strafgerichtlich nicht unbescholten. Er wurde mit Urteil des Landesgerichts Linz vom 19.07.2017, Zahl 22 Hv 60/17i - 12, wegen der Begehung der Delikte Versuchter Widerstand gegen die Staatsgewalt und Gefährliche Drohung (§§ 269 und 107 StGB) zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bedingt auf eine Probezeit von drei Jahren verurteilt, weswegen das BFA mit Bescheid vom 17.04.2019 feststellte, dass der BF gemäß § 13 Abs. 1 Z 2 AsylG ab dem 09.07.2017 das Recht zum Aufenthalt im Bundesgebiet verloren habe.

Der BF ist vielfach wegen des Verdachtes der Begehung von Suchtgiftdelikten und mehrfach auch wegen anderer Delikte (Schwere Körperverletzung - Tatausgleich, Raufhändel, Ordnungsstörungen) aufgefallen.

3.1.5. Der damals unbegleitete minderjährige BF wohnte in einer Wohneinrichtung einer Hilfsorganisation und hat anfangs Initiativen zu seiner Integration in Österreich gesetzt (Besuch einer Polytechnischen Schule als außerordentlicher Schüler, Deutschkurse).

In den letzten Jahren hat er keine relevanten Integrationsbemühungen (Bildung, Kultur, Sport, Soziales) oder nähere persönliche Beziehungen mehr angegeben oder belegt.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nicht politisch tätig und gehörte keiner politischen Partei an.

3.2.2. Der BF hat unterschiedliche Angaben zu seinen Fluchtgründen erstattet (Erstbefragung: Verfolgung durch die Taliban wegen

Verweigerung der Rekrutierung zum Jihad, Einvernahme vor dem BFA:

Ermordung seines älteren Bruders durch die Taliban aus diesem Grund;

Einvernahme vor dem BVwG, in Abkehr vom vorhergehenden Vorbringen:

Ermordung seines Bruders in Pakistan im Zuge einer Familienfehde wegen eines Mädchens).

Der BF hat damit nicht glaubhaft gemacht, dass er im Herkunftsstaat begründete Furcht vor Verfolgung aus asylrelevanten Gründen habe.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

3.3.1. Dem BF würde derzeit bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Nangarhar aufgrund der dort vorherrschenden Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen.

3.3.2. Dem BF steht im Fall einer Rückkehr nach Afghanistan eine Ansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif als zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

Er hat nicht glaubhaft gemacht, dass ihm dabei ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde oder er Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Der BF ist jung, im erwerbsfähigen Alter und männlich. Dass sein allgemeiner Gesundheitszustand erheblich beeinträchtigt wäre, hat er im Verfahren nicht belegt.

Es ist daher anzunehmen, dass der BF im Herkunftsstaat in der Lage sein wird, sich notfalls mit Hilfstätigkeiten ein ausreichendes Auskommen zu sichern und daher nicht in eine hoffnungslose Lage zu kommen, zumal er über Schulbildung und Berufserfahrung (in der Landwirtschaft und als Aushilfskraft in einem Gastgewerbebetrieb) verfügt.

Der BF verfügt über Verwandte in Afghanistan, auf deren Unterstützung er als Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen zählen darf, zumal ein Onkel auch seine Ausreise organisiert hat.

Dazu kommt, dass die Familie des BF (wie auch sein nach Afghanistan aus Österreich abgeschobener Bruder) in Mazar-e Sharif aufhältig ist. Der BF hat regelmäßig Kontakt zu seiner Familie, sodass er insbesondere auch auf deren Unterstützung zählen darf.

3.3.3. Der BF kann von Österreich aus die Stadt Kabul und weiter von dort Mazar-e Sharif sicher mit dem Flugzeug erreichen.

3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan vom 29.06.2018 (zuletzt aktualisiert am 04.06.2019, Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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