TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/27 W192 2186794-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.01.2020
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Entscheidungsdatum

27.01.2020

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §52
FPG §55

Spruch

W192 2186794-1/9E

W192 2186804-1/9E

W192 2186789-1/8E

W192 2186809-1/9E

W192 2186800-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Ruso als Einzelrichter über die Beschwerden von XXXX , alle StA. Russische Föderation, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 1.) 15.01.2018 und 2.) - 5.) 13.01.2018, Zahlen 1.) 1076570809-150802592, 2.) 1076571000-150802649, 3.) 1166727405-171026691, 4.) 1166727710-171030193, 5.) 1166725705-171030479 zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden gemäß den §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z. 3, 57 AsylG 2005 i.d.g.F., § 9 BFA-VG i.d.g.F. und §§ 52, 55 FPG i. d.g.F. als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1.1. Der Erstbeschwerdeführer reiste mit seinem damals minderjährigen Sohn, dem Zweitbeschwerdeführer im Juli 2015 nach Österreich ein, wo beide am 06.07.2015 Anträge auf internationalen Schutz stellten. Bei der Erstbefragung am 08.07.2015 brachte der Erstbeschwerdeführer vor, dass sie Mitte April 2015 den Entschluss zur Ausreise gefasst hätten und von ihrem Wohnort in Tschetschenien mit einem Bus über die Ukraine und weitere Staaten mit Schlepperunterstützung nach Österreich gereist seien.

Als Grund der Ausreise gab er an, dass der Zweitbeschwerdeführer nach dem Training in einem Fitness Studio von Leuten von Kadyrov belästigt und geschlagen worden sei. Er habe sich zuerst nicht ins Krankenhaus getraut. Erst als die Schmerzen unerträglich geworden seien, habe er sich behandeln lassen. Er habe operiert werden müssen und leide seither ständig an Beschwerden. Die Personen, die ihn geschlagen hätten, hätten bald danach wieder nach ihm gesucht, deshalb habe er gemeinsam mit ihm das Land verlassen. Im Falle einer Rückkehr befürchte er, dass sein Sohn den Leuten wieder begegne, die ihn bereits einmal geschlagen hätten.

Der Zweitbeschwerdeführer machte bei der Erstbefragung am selben Tag im Wesentlichen gleichlautende Angaben.

1.2. Im September 2017 reisten die Ehegattin des Erstbeschwerdeführers, die Drittbeschwerdeführerin, und die beiden gemeinsamen minderjährigen Töchter, die Viertbeschwerdeführerin und die Fünftbeschwerdeführerin, auf der Grundlage von italienischen Schengen-Visa nach Österreich ein und stellten am 05.06.2017 Anträge auf internationalen Schutz.

Bei der niederschriftlichen Erstbefragung brachte die Drittbeschwerdeführerin vor, dass sie nach Österreich gekommen seien, weil sie am 04.07.2017 in ihrem Haus von unbekannten maskierten uniformierten Männern mit Pistolen bedroht worden sei. Die Drittbeschwerdeführerin habe Mitte Mai 2017 ein Schreiben an die örtliche Polizei versendet, in dem sie die Unschuld ihres Sohnes und den Vorfall aus dem Jahr 2015 geschildert habe. Die Drittbeschwerdeführerin vermute, dass diese Männer aus diesem Grund zu ihr nach Hause gekommen seien und Sie und ihre Tochter mit dem Umbringen bedroht hätten. Die Viertbeschwerdeführerin gab dazu an, dass im Juli des Jahres drei maskierte Männer gekommen seien und ihre Mutter töten hätten wollen. Sie kenne den genauen Grund dafür nicht und es habe ihre Mutter aus Angst beschlossen, zu ihrem Bruder und Vater nach Österreich zu flüchten.

1.3. Am 11.12.2017 erfolgte die niederschriftliche Einvernahme des Erstbeschwerdeführers und des Zweitbeschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA). Dabei brachte der Zweitbeschwerdeführer vor, dass er Chemotherapie erhalte. Er sei operiert worden und habe neuerliche Termine an der Klinik. Zu den Gründen der Ausreise brachte er vor, dass er gemeinsam mit einem Freund ein Fitnesscenter besucht habe. Nach dem Training sei er ins Zentrum des Dorfes gegangen, wo sich die Jugend treffe. Dort sei ein Militärauto gekommen, maskierte Männer hätten nach den Namen der Anwesenden gefragt und hätten die Mobiltelefone kontrollieren wollen. Er und andere hätten die Mobiltelefone nicht zeigen wollen. Er sei in das Militärfahrzeug gezerrt, in ein Haus gebracht und dort vernommen worden. Es sei ihm das Foto eines Mannes gezeigt worden, den der Zweitbeschwerdeführer flüchtig aus dem Fitnesscenter gekannt habe. Diesen Mann habe das Militär mit dem Terror in Verbindung gebracht und es habe dieser Mann die Telefonnummer des Zweitbeschwerdeführers in seinem Mobiltelefon gespeichert gehabt. Der Zweitbeschwerdeführer sei dann geschlagen worden, habe aber von nichts gewusst. Ihm sei vorgeworfen worden, für diesen Mann zu arbeiten. Er sei 24 Stunden festgehalten und dann mit einem Auto in die Nähe des Dorfes gebracht und hinausgeworfen worden. Danach habe er ständig Schmerzen im Genitalbereich gehabt und sei mit seiner Mutter in das Krankenhaus des Bezirkshauptortes gefahren. Man habe ihn dort nicht behandeln wollen, vermutlich, weil er von der Polizei angehalten worden sei. Später sei er mit seinem Vater nach Moskau in ein Krankenhaus gefahren. Eine Geschwulst sei schon faustgroß gewesen und er sei dort operiert worden und habe zwei Einheiten Chemotherapie erhalten. Währenddessen habe das Militär im Dorf ständig nach ihm gefragt. In Moskau habe er mit seinem Vater eine Wohnung nehmen müssen, um die Therapie machen zu können. Nach 2 bis 3 Monaten in Moskau habe er mit seinem Vater Ausweispapiere und ärztliche Unterlagen geholt und sie seien in die Ukraine und in weiterer Folge mit Schlepperunterstützung nach Österreich gereist. Im Falle einer Rückkehr führte er, dass er wieder festgenommen werde. Zuletzt, als seine Mutter noch in Tschetschenien gewesen sei, sei oft nach ihm gefragt worden. Das erste Mal sei im Sommer 2015, als der Zweitbeschwerdeführer im Krankenhaus gewesen sei, nach ihm gefragt worden, worüber ihm seine Mutter telefonisch erzählt habe. Die Personen hätten nur gefragt, wo der Beschwerdeführer und sein Vater seien. Der Zweitbeschwerdeführer wisse nicht, was die Mutter dem Militär gesagt habe.

Der Erstbeschwerdeführer brachte bei der niederschriftlichen Einvernahme am selben Tag vor, dass er im Herkunftsstaat mit einem Freund ein eigenes Unternehmen betrieben habe, aus dem er vor der Ausreise seinen Anteil herausgenommen habe. Über die Gründe der Ausreise gab er an, dass sein Sohn verschleppt worden sei, wobei er nicht dabei gewesen sei. Er tätigte mit den Angaben des Zweitbeschwerdeführers im Wesentlichen gleichlautende Angaben über die Verschleppung und Misshandlung durch Personen in einem Militärwagen und dessen Freilassung. Im Spital des Bezirkshauptorts habe man den Sohn nicht ordentlich behandeln wollen. Der Erstbeschwerdeführer habe sich dann zur Inanspruchnahme von medizinischer Behandlung mit dem Zweitbeschwerdeführer gemeinsam in Moskau aufgehalten. Er brachte vor, dass während des Aufenthaltes in Moskau seine Frau zu Hause von "einer schwarz gekleideten, vermummten Polizisten" befragt worden sei, wo der Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführer seien. Die Frau habe Angst bekommen und sei mit den Töchtern zu ihrer Mutter geflüchtet. Der Erstbeschwerdeführer und Zweitbeschwerdeführer seien dann von Moskau zurück in den Herkunftsort gekommen und von dort über die Ukraine nach Österreich gereist. Über die medizinische Behandlung in Moskau brachte der Erstbeschwerdeführer vor, dass dem Zweitbeschwerdeführer ein Hoden entfernt worden sei und Chemotherapie vorgenommen worden sei. Er sei kein Arzt, aber er vermute, dass die erforderliche Behandlung in einem Zusammenhang mit der nach einer Verschleppung durch Militärangehörige erlittenen Verletzung des Sohnes stehe.

Über Probleme seiner Gattin nach der eigenen Flucht brachte der Beschwerdeführer vor, dass es einmal an der Haustüre geklopft habe und die Gattin dann die Töchter durch den Hintereingang zu Nachbarn geschickt habe. Dann sei die Luft geschossen worden, damit die Leute Angst bekamen. Die Gattin sei geflohen, nachdem sie zuletzt nicht mehr zu Hause sondern bei ihrer Mutter gewohnt habe. Ihr Fehler sei gewesen, dass sie an die Staatsanwaltschaft geschrieben habe.

1.4. Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 08.01.2018 gab die Drittbeschwerdeführerin an, dass sie nach einer entsprechenden Ausbildung seit 1992 im Krankenhaus des Bezirkshauptortes als Laborantin, zuletzt als Cheflaborantin gearbeitet habe. Zu den Gründen der Ausreise brachte sie vor, dass ihr Sohn mit seinem Vater 2015 nach Österreich geflohen sei. Der Sohn habe Krebs und Polizei/Militär suche nach ihm. Die Drittbeschwerdeführerin habe einen Brief an die Polizei geschrieben und erklärt, dass ihr Sohn nicht volljährig und unschuldig sei, weiters dass er krank sei. Am 04.07.2017 am Abend sei sie im Hof ihres Hauses aufhältig gewesen. Drei maskierte Personen seien hereingestürmt und einer habe ihr eine Pistole an den Kopf gehalten und sie bedroht. Er habe sie zu dem Brief befragt. Sie habe nicht schreien wollen, damit sie ihre im Haus befindlichen Töchter nicht verschrecke. Der Mann habe ihr Mobiltelefon auf den Boden geschmissen und sie gefragt ob sie alleine zu Hause sei, was sie bejaht habe. Dann seien die Personen wieder gegangen. Währenddessen seien ihre Töchter zum Nachbarn gegangen. Danach habe sie die Entscheidung getroffen, das Land zu verlassen. Sie wolle in Österreich bei ihrem Mann und Sohn bleiben und habe bei einer Rückkehr Angst um die Sicherheit ihrer Töchter.

Dies sei der einzige Übergriff gewesen der stattgefunden habe, aber sie sei öfter, alle zwei Monate, angerufen und nach ihrem Sohn gefragt worden. Sie sei immer von einer männlichen unbekannten Person angerufen worden. Die drei maskierten Männer seien alle bewaffnet gewesen, aber es habe nur einer die Waffe gezogen. Der Übergriff habe sich am 04.07.2017, ca. 21:00 Uhr ereignete, wobei es schon fast finster gewesen sei. Die Männer hätten eine schwarze Uniform getragen, dies sei die Uniform des Militärs, und hätten sich nicht vorgestellt. Die Drittbeschwerdeführerin denke, dass sie bedroht worden sei, weil sie Mitte Mai 2017 den Brief an die Polizei geschrieben habe. Sie wisse nicht, warum man immer wieder nach dem Sohn gefragt habe und man hätte sie auch in der Arbeit fragen können. Nach dem Übergriff am 04.07.2017 um ca. 22:00 Uhr sei sie mit ihren Töchtern zu ihrer Mutter gefahren, nicht mehr zurückgekehrt und sei vom Wohnort ihrer Mutter zur Arbeit gefahren.

Die ältere Tochter der Drittbeschwerdeführerin, die Viertbeschwerdeführerin, gab zum angesprochenen Vorfall an, dass sie im Juli 2017 aus dem Fenster des Hauses der Familie drei maskierte Männer gesehen habe, während ihre Schwester am Computer gespielt habe. Ihre Mutter habe immer gesagt, wenn jemand komme, sollte sie mit ihrer Schwester zum Nachbarn laufen. Sie seien durch den Hinterausgang zum Nachbarn gelaufen. Danach habe die Drittbeschwerdeführerin sie von dort abgeholt. Die Ereignisse hätten am Abend, genau könne sie es nicht sagen, stattgefunden.

2. Mit den angefochtenen Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz jeweils gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten (Spruchpunkte I.) und gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation (Spruchpunkte II.) abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkte III.), gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass deren Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkte V.) und die Frist für deren freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkte VI.).

Im entsprechenden angefochtenen Bescheid wurden das Vorbringen des Erstbeschwerdeführers mit den als Beweiswürdigung bezeichneten Angaben als nicht glaubhaft beurteilt, dass man sich "vielleicht etwas kooperativ verhalten sollte, wenn das Militär oder die Polizei etwas wissen wolle." Spätestens wenn man "ihm androht, ihn mitzunehmen und zu verhören, wird er schnellsten sein Handy zücken und es dem Militär aushändigen. Daraus resultierend kann nicht geglaubt werden, dass Ihr Sohn, diese Verletzungen im Genitalbereich durch einen Fußtritt erlitten hat, denn er wird aufgrund Krebs behandelt." Auch werde es so sein, "dass Ihre Gattin alles getan hat um ihrem Sohn die bestmögliche Therapie zu beschaffen, wie nur möglich." Im an den Zweitbeschwerdeführer ergangenen angefochtenen Bescheid wurde die Beurteilung der vorgebrachten Verfolgungsbehauptungen als nicht glaubhaft auf eine im Wesentlichen gänzlich gleichlautende als Beweiswürdigung bezeichneten Formulierung gestützt.

Das Vorbringen der Drittbeschwerdeführerin wurde als nicht glaubhaft bezeichnet und dazu in einem als Beweiswürdigung bezeichneten Abschnitt ausgeführt, dass nicht geglaubt werde, dass ihr Sohn in der russischen Föderation gesucht werde. Wenn dem so wäre, hätte man den Sohn "ohne viel Aufheben in Moskau ausfindig gemacht. Zweieinhalb Jahre würden sie lediglich alle zwei Monate einen Anruf bekommen, dass man nach Ihrem Sohn fragen würde. Drei Monate nachdem Sie einen Brief an die Polizei geschrieben hätten, würde man sie erst, mit drei maskierten Männer, bedrohen. Sie bringen dann Ihre Tochter zu ihrer Mutter, die noch dazu in der Nähe, ihrer Wohnadresse, wohnt und arbeiten noch einen Monat weiter. Die Behörde geht er davon aus, dass sie als Cheflaborantin im Krankenhaus vom [Bezirkshauptort], sehen konnten, dass ihr Sohn dort nicht die richtige Behandlung für sein Krebsleiden erwarten hätte können und sie, als liebende Mutter, nur die bestmögliche Behandlung für ihren Sohn wollte. Diese dann zunächst in Moskau fanden. Diese Therapie wurde abgebrochen und kurz nach der Einreise, ihres Sohnes in Österreich, bis heute fortgesetzt."

Das Vorbringen der Viertbeschwerdeführerin wurde mit einer im Wesentlichen gleichlautenden als Beweiswürdigung bezeichneten Formulierung im an sie ergangenen angefochtenen Bescheid als nicht glaubhaft beurteilt.

In den als Beweiswürdigung bezeichneten Abschnitten der an die Viertbeschwerdeführerin und die Fünftbeschwerdeführerin ergangenen angefochtenen Bescheide wurde der Zweitbeschwerdeführer aufgrund der wortgleichen Übernahme der entsprechenden Formulierung jeweils als "Ihr Sohn" (der Viertbeschwerdeführerin bzw. der Fünftbeschwerdeführerin) bezeichnet.

Die Weiterbehandlung der Krebserkrankung des Zweitbeschwerdeführers in der russischen Föderation sei möglich, zumal er dort bereits Behandlung in Anspruch genommen habe. Gegen die Erlassung von Rückkehrentscheidungen würden keine Hinderungsgründe vorliegen.

3. Gegen diese Bescheide brachten die Beschwerdeführer durch ihren Rechtsvertreter mit gleichlautenden Schriftsätzen vom 17.02.2018 fristgerecht Beschwerde ein. In der Beschwerde wurde der Beweiswürdigung der angefochtenen Bescheide begründet entgegengetreten und vorgebracht, dass der Zweitbeschwerdeführer aufgrund seiner gesundheitlichen Beeinträchtigung im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat gefährdet werde. Aufgrund der vorliegenden Familienverfahren hätten die Beschwerdeführer jeweils Anspruch auf denselben Schutz.

4. Mit Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13.05.2019 wurden die gegenständlichen Rechtssachen der bis dahin zuständigen Gerichtsabteilung abgenommen und der nunmehr zuständigen Gerichtsabteilung neu zugewiesen.

5. Am 25.10.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchgeführt, an welcher die Beschwerdeführer sowie ein Vertreter der belangten Behörde teilnahmen. Dabei wurden die Verfolgungsbehauptungen und Rückkehrbefürchtungen der Beschwerdeführerin sowie die Situation in ihrem Herkunftsstaat erörtert. Die Beschwerdeführer legten Unterlagen betreffend den Gesundheitszustand des Zweitbeschwerdeführers sowie die Integrationsbemühungen der Beschwerdeführer vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, Angehörige der tschetschenischen Volksgruppe sowie des islamischen Glaubens und führen die im Spruch ersichtlichen Personalien. Der Erstbeschwerdeführer ist der Ehemann der Drittbeschwerdeführerin, der volljährige Zweitbeschwerdeführer und die minderjährigen Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen sind deren gemeinsame Kinder.

Der Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführer stellten nach illegaler Einreise in das Bundesgebiet am 06.07.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Die Drittbeschwerdeführerin reiste 2016 auf Grundlage eines vom 05.10.2016 bis 30.10.2016 gültigen italienischen C-Visums nach Österreich, wo sie den krebskranken Zweitbeschwerdeführer im Spital besuchte und wieder in die Russische Föderation zurückkehrte. Im August 2017 reiste die Drittbeschwerdeführerin mit der Viert- und der Fünftbeschwerdeführerin auf der Grundlage von italienischen C-Visa auf dem Luftweg nach Italien und in weiterer Folge nach Österreich, wo sie am 06.09.2017 Anträge auf internationalen Schutz stellten.

Beim Zweitbeschwerdeführer wurden bei Vorliegen eines Rhabdomyosarkoms (bösartiger Weichteiltumor) des linken Hodens mit Lymphknotenbefall in einer Klinik in Moskau am 29.04.2015 ein operativer Eingriff (Orchifunikulektomie) und ab 04.06.2015 zwei Chemotherapieblöcke) vorgenommen. Der Zweitbeschwerdeführer war in Österreich nach seiner Einreise wiederholt in stationärer Krankenbehandlung, wobei Chemotherapie und Radiotherapie erfolgte und am 27.03.2017 komplikationslos eine Lymphknotenexstirpation vorgenommen wurde. Am 10.10.2017 erfolgte eine Thorakotomie und Lungenmetastasenentfernung, wobei histologisch keine malignen Zellen festgestellt wurden.

Er befindet sich in onkologischer Nachsorge, wobei keine Therapieempfehlung besteht und lediglich eine sonographische Verlaufskontrolle erforderlich ist.

Beim Erstbeschwerdeführer wurde am 12.04.2019 an einem österreichischen Klinikum eine laparoskopische Nierentumorenukleation komplikationslos durchgeführt, wobei keine Metastasen vorlagen und eine Verlaufskontrolle erforderlich ist.

Die Dritt-, Viert- und Fünftbeschwerdeführerinnen sind gesund.

Der Erstbeschwerdeführer hat gemeinsam mit dem Zweitbeschwerdeführer im Juli 2015 den Herkunftsstaat verlassen, um für den Zweitbeschwerdeführer eine qualitativ bessere medizinische Behandlung in Österreich zu erhalten. Die Drittbeschwerdeführerin ist mit der Viert- und der Fünftbeschwerdeführerin im August 2017 eingereist, um die Familieneinheit herzustellen und bessere Lebensbedingungen vorzufinden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Zweitbeschwerdeführer im Herkunftsstaat einer gezielten staatlichen oder privaten Verfolgung aufgrund eines unterstellten Naheverhältnisses zu einer als Regimegegner bzw. als Terroristen angesehenen Person ausgesetzt sein würde. Die Behauptung des Zweitbeschwerdeführers, von Leuten des Kadyrov verschleppt und misshandelt worden zu sein, war nicht glaubhaft. Die Behauptungen der Drittbeschwerdeführerin, Angehörige der Sicherheitskräfte hätten sie bedroht und nach dem Erstbeschwerdeführer und dem Zweitbeschwerdeführer gefragt, waren nicht glaubhaft.

Es kann auch sonst nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wären.

Es besteht für die Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Russische Föderation keine reale Bedrohungssituation für das Leben oder die körperliche Unversehrtheit. Diese liefen auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Im Herkunftsstaat halten sich Angehörige der Beschwerdeführer (2 Brüder und 4 Schwestern des Erstbeschwerdeführers und 2 Brüder und 4 Schwestern der Zweitbeschwerdeführerin) auf, welche sie nach einer Rückkehr unterstützen könnten.

In der Russischen Föderation bestehen zugängliche Behandlungsmöglichkeiten für die beim Erstbeschwerdeführer und beim Zweitbeschwerdeführer vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen und ist die erforderliche Nachsorge möglich. Der Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführer haben nicht konkret vorgebracht, dass ihnen eine benötigte Behandlung im Herkunftsstaat in der Vergangenheit verweigert worden wäre oder individuell nicht zugänglich gewesen wäre. Vielmehr ist die Erkrankung des Zweitbeschwerdeführers im Herkunftsstaat bereits erkannt und in der Klinik in Moskau behandelt worden. Der Erstbeschwerdeführer und der Zweitbeschwerdeführer befinden sich in keinem lebensbedrohlichen Krankheitszustand. Sie haben nicht begründet dargelegt, dass eine Rückkehr in den Heimatstaat für sie mit einer signifikant verkürzten Lebenserwartung oder intensivem Leiden infolge einer individuell nicht zugänglichen Behandlung einhergehen würde.

Die Beschwerdeführer sind unbescholten. Sie führen im Bundesgebiet ein Familienleben untereinander, darüber hinaus haben sie keine zum dauernden Aufenthalt berechtigten nahen Angehörigen oder sonst engen sozialen Beziehungen in Österreich. Sie verfügen über einen Freundeskreis.

Der Erstbeschwerdeführer hat sich nachgewiesene Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 angeeignet und am 14.02.2019 die Integrationsprüfung abgelegt. Er ging zu keinem Zeitpunkt einer legalen Beschäftigung nach und lebt wie seine Familienangehörigen von der Grundversorgung. Er hat ein Stellenangebot als LKW-Fahrer vom 14.01.2019 vorgelegt. Er leistet freiwillige Arbeit in einem Sozialmarkt.

Der Zweitbeschwerdeführer hat Deutschkurse besucht und am 08.05.2018 das ÖSD-Sprachzertifikat A2 erworben. Ein Schulbesuch war wegen der Krankenbehandlung nicht möglich.

Die Drittbeschwerdeführerin hat am 08.06.2019 die Integrationsprüfung auf dem Niveau A2 absolviert. Sie besucht einen Schwimmkurs und weiter einen Sprachkurs.

Die Viertbeschwerdeführerin besucht einen Vorbereitungslehrgang zum externen Pflichtschulabschluss und hat an weiteren Kursen und Workshops im Bildungs- und Kulturbereich teilgenommen und einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert.

Die Fünftbeschwerdeführerin hat als außerordentliche Schülerin die vierte Schulstufe einer Volksschule absolviert

1.2. Zur Lage im Herkunftsstaat:

Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern undGerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018EASO - European Asylum Support Office (3.2017):

COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-stateactors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

-

OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

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Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volkschliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

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Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

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Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, dasvollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum"inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

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BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

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Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russischemethoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

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EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-undreisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swpberlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

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Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS- Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS- Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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Caucasian Knot (29.1.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus for 2017 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/42208/, Zugriff 28.8.2018

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Caucasian Knot (21.6.2018): Infographics. Statistics of victims in Northern Caucasus in Quarter 1 of 2018 under the data of the Caucasian Knot, http://www.eng.kavkaz-uzel.eu/articles/43519/, Zugriff 28.8.2018

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DW - Deutsche Welle (25.1.2018): Tschetschenien: "Wir sind beim IS beliebt",

https://www.dw.com/de/tschetschenien-wir-sind-beim-is-beliebt/a-42302520, Zugriff 28.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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