TE Bvwg Erkenntnis 2019/8/13 W261 2189451-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 13.08.2019
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Entscheidungsdatum

13.08.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W261 2189451-1/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK! Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, vom 22.02.2018, Zahl: XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und dem Beschwerdeführer wird gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Gang des Verfahrens:

Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsbürger, reiste nach seinen Angaben am 03.12.2015 irregulär in Österreich ein und stellte einen Antrag auf internationalen Schutz.

In seiner Erstbefragung am selben Tag durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Tirol gab der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Farsi im Wesentlichen Folgendes an:

Er sei Paschtune. Er habe Afghanistan verlassen, weil zwei seiner Brüder getötet worden seien, er selbst habe Drohungen der Personen, welche seine Brüder getötet hätten, erhalten, diese hätten viel Macht und Waffen.

Am 09.01.2018 fand die Einvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Tirol (im Folgenden belangte Behörde oder BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu statt. Er sei in der Provinz Kabul geboren und traditionell verheiratet. Seine Frau lebe bei seinen Eltern, er habe keine Kinder. Er habe zwölf Jahre lang die Schule besucht und habe in weiterer Folge zwei Jahre lang das XXXX besucht und habe an einer IT-Hochschule in XXXX ein Studium abgeschlossen. Er sei als selbstständiger Busfahrer beruflich tätig gewesen. Seine Familie, zu der er regelmäßigen Kontakt habe, lebe in Kabul. Er habe Afghanistan verlassen, weil er von Blutrache bedroht werde. Sein Bruder sei durch die vier Söhne der Familie XXXX getötet worden, weil einer der Söhne vermutet habe, dass dieser Bruder ein Verhältnis mit deren Schwester, welche einem anderen Mann versprochen sei, hätte. Die Familie des BF habe den Vorfall zur Anzeige gebracht. Der Polizei sei es gelungen, einen der Söhne festzunehmen, dieser sei zu einer Freiheitsstrafe von 16 Jahren verurteilt worden, sei jedoch dank seiner Beziehungen nach vier Jahren wieder freigekommen. Seine Familie habe im Jahr 2015, noch vor der Freilassung des Mannes, das Gespräch mit dessen Familie gesucht, um Frieden zu schließen. Diese habe das Angebot nicht akzeptiert. Drei Monate danach sei der Mann dann vorzeitig aus der Haft entlassen worden und habe Rache geschworen. Er habe den älteren Bruder des BF zwei Mal angerufen und diesen bedroht. Eine Woche nach der zweiten Drohung habe jemand auf das Auto, in welchem der BF mit seinem Bruder saß, geschossen. Nach diesen Schüssen hätte sich der BF mit seinen Brüdern zu Hause versteckt, und er habe nicht mehr gearbeitet. Vier Monate nach den Schüssen hätte der BF mit seinen Brüdern Afghanistan verlassen. Auf der Reise sei er von seinen zwei Brüdern getrennt worden. Er könne nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren, weil er von Blutrache bedroht sei.

Am 16.02.2018 fand eine weitere Einvernahme des BF der belangten Behörde im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu statt. Im Zuge dieser Einvernahme präzisierte der BF auf Befragung der Vertreterin der belangten Behörde sein Fluchtvorbringen. Sein Bruder sei im Jahr 2009 getötet worden. Drei Monate nach dessen Tod sei die Familie des BF mit einer Handgranate angegriffen worden. Nach dem Anschlag sei der BF ca. einen Monat lang im Krankenhaus gewesen. Die Familie sei dann in die Stadt gezogen. Ca. sechs Monate nach dem Tod des Bruders sei dessen Mörder verhaftet worden. Die Brüder des Mannes seien in den Iran geflüchtet. 2015 habe er den Führerschein bekommen und habe dann sechs Monate als Busfahrer gearbeitet.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.) und erließ gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG, gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt IV.). Die belangte Behörde stellte fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI).

In der Begründung des angefochtenen Bescheides traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Es stehe fest, dass der BF in seiner Heimat weder aufgrund der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Gesinnung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe von staatlicher Seite verfolgt/bedroht werde. Er habe auch keine Probleme wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit gehabt. Die von ihm angegebenen Gründe für das Verlassen des Heimatlandes seien unglaubwürdig. Es stehe fest, dass der BF niemals persönlich von Privatpersonen verfolgt worden sei, insbesondere nicht aus den in der GFK aufgezählten Gründen. Es würden daher weder die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes vorliegen, noch erfülle der BF die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes. Dem BF stehe als innerstaatliche Fluchtalternative eine Rückkehr in die Stadt Mazar-e Sharif offen, wo es ihm möglich sein werde, eine Lebensgrundlage zu finden. Die Voraussetzungen für ein humanitäres Bleiberecht würden nicht vorliegen, weswegen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen gewesen sei.

Gegen diesen Bescheid brachte der BF, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, fristgerecht mit Eingabe vom 13.03.2018 das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein und legte eine Vertretungsvollmacht vor. In der Beschwerdebegründung führte der BF aus, dass der Bescheid zur Gänze angefochten werde. Der BF habe Afghanistan aufgrund der wohlbegründeten Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure verlassen. Die afghanischen Behörden seien nicht in der Lage, den BF vor dieser Bedrohung zu schützen. Das Vorbringen des BF entspreche den wahren Gegebenheiten, und sei die Verfolgungsgefahr auch im Lichte der Länderinformationen nachvollziehbar. Der BF sei von Blutrache betroffen, dies sei asylrelevant, er gehöre der sozialen Gruppe der Familie an, welche von privaten Akteuren bedroht werde. Eine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative stehe dem BF nicht zur Verfügung. Auch Mazar- e Sharif sei als nicht sicher zu bewerten. Sollte dem BF kein internationaler Schutz gewährt werden, so wäre ihm jedenfalls subsidiärer Schutz zuzuerkennen.

Die belangte Behörde legte die Beschwerde samt Akt mit Schreiben vom 12.03.2018 (richtig: 13.03.2018) dem BVwG vor, wo dieser am 16.03.2018 einlangte.

Der BF legte durch seine bevollmächtigte Vertretung mit Eingabe vom 02.05.2018 eine Urkunde vor, wonach die XXXX Landesregierung dem BF zum XXXX Meistertitel 2017 im Boxen, XXXX, gratuliere, und eine Kopie eines Ansteckers.

Mit Eingabe vom 08.05.2018 übermittelte die belangte Behörde dem BVwG einen Abschluss-Bericht der Landespolizeidirektion XXXX, wonach beim BF der Verdacht auf sexuelle Belästigung und öffentliche geschlechtliche Handlungen bestehe.

Mit Eingabe vom 15.05.2018 übermittelte der BF durch seine bevollmächtigte Vertretung ein Gratulationsschreiben des Landeshauptmannes von Tirol vom 09.05.2018.

Mit Eingabe vom 22.08.2018 übermittelte die belangte Behörde die Verständigung der Behörde von der Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft XXXX vom 06.08.2018, und teilte gleichzeitig mit, dass mit 17.08.2018 ein Bescheid gemäß § 13 Abs. 2 Z 2 und eine Verfahrensanordnung § 13 Verlust des Aufenthaltsrechtes an den BF zugestellt worden sei.

Am 11.09.2018 fand vor dem BVwG eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu statt, zu der der BF persönlich gemeinsam mit seinem bevollmächtigten Rechtsvertreter erschien. Die belangte Behörde nahm an der mündlichen Verhandlung entschuldigt nicht teil. Der BF gab dabei auf richterliche Befragung zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen das Gleiche an, was er bereits in seinen bisherigen Einvernahmen ausgesagt hatte. Er legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor. Das BVwG legte das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 22.08.2018 und die Schnellrecherche der vor Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 07.06.2017 vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu eine schriftliche Stellungnahme innerhalb einer bestimmten Frist abzugeben.

Die belange Behörde gab mit Eingabe vom 27.09.2108 eine ausführliche Stellungnahme ab, und wies insbesondere auf die Widersprüche der Aussagen des BF bei seinen Einvernahmen vor der belangten Behörde und dem BVwG hin. Unter Hinweis auf die der Stellungnahme beigelegten Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 19.01.2018 zu AFGHANISTAN: Stammeskonflikte, Blutrache, Paschtunwali ergebe sich, dass das bloße "Anlächeln" ein zu niederschwelliges Motiv wäre, um Anlass für Blutrache zu sein. Selbst wenn man davon ausginge, dass der BF von Blutfehde betroffen sei, stehe ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Es gebe keine Hinweise darauf, dass die verfeindete Familie provinzübergreifend Einfluss habe, und den BF finden können. Es werde daher beantragt, die Beschwerde abzuweisen, und die Entscheidung der belangten Behörde vollinhaltlich zu bestätigen. Zudem werde angeregt, mit der Entscheidung bis zur Hauptverhandlung im Strafverfahren abzuwarten. Die belangte Behörde würde im Falle eines Schuldspruches ein Einreiseverbot prüfen, und gegebenenfalls dem erkennenden Gericht nachreichen. Zudem würde ein Schuldspruch auch die Glaubwürdigkeit des BF in Anbetracht der vor der erkennenden Richterin gemachten Angaben zusätzlich erschüttern.

Der BF gab am 01.10.2018 durch seine bevollmächtigte Vertretung eine schriftliche Stellungnahme ab. Der BF befürchte im Falle seiner Rückkehr den Tod. Seine Verfolger würden der Volksgruppe der Paschtunen angehören, aufgrund der konkreten Verfolgung durch Paschtunen könne er im Falle der Rückkehr mit keiner Unterstützung rechnen. Die Verfolgung sei noch immer aufrecht, und er könne mit keiner staatlichen Unterstützung rechnen. Er gehöre nach den zitierten Länderinformationen zur Gruppe der von Blutfehde betroffenen Personen. Eine Rückkehr nach Afghanistan sei dem BF nicht möglich.

Das BVwG übermittelte den Parteien des Verfahrens die jeweilig andere Stellungnahme am 03.10.2018 im Rahmen des Parteiengehörs bzw. zur Information.

Die belangte Behörde übermittelte dem BVwG am 25.10.2018 die gekürzte Urteilsausfertigung des Bezirksgerichtes XXXX), wonach der BF vom Verdacht der Begehung der oben genannten strafbaren Handlungen rechtskräftig freigesprochen worden sei.

Das BVwG übermittelte den Parteien des Verfahrens mit Schreiben vom 05.06.2019 das aktuelle Länderinformationsblatt in der Fassung vom 04.06.2019, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018, Auszüge aus den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 und den Bericht zur Sicherheitslage und sozioökonomischen Lage in Herat und Masar-e Sharif, ECOI.net vom 30.04.2019 und räumte eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme ein.

Das BVwG führte am 06.06.2019 eine Abfrage im Strafregister durch, wonach für den BF keine Verurteilungen aufscheinen.

Laut Speicherauszug aus dem Betreuungssystem, den das BVwG ebenfalls am 06.06.2019 abfragte, befindet sich der BF seit 04.12.2015 in der aufrechten vorübergehenden Grundversorgung.

Der BF gab durch seine bevollmächtigte Vertretung am 27.06.2019 eine Stellungnahme ab und legte weitere Integrationsunterlagen vor. Demnach erfülle der BF das Risikoprofil laut UNCHR der von Blutfehde betroffenen Personen. Dier Verfolgungsgefahr bestehe weiterhin fort. Der BF würde im Falle einer Rückkehr in eine existenzbedrohende Lage kommen.

Mit Eingabe vom 08.07.2019 legte der BF durch seine bevollmächtigte Vertretung eine weitere Teilnahmebestätigung vor.

Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.

Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Zu Spruchpunkt A)

1. Feststellungen:

1.1 Zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX , geb. am XXXX , im Dorf XXXX Distrikt XXXX in der Provinz Kabul und ist afghanischer Staatsbürger. Der BF gehört zur Volksgruppe der Paschtunen an und ist sunnitischer Moslem. Er gehört dem Stamm der XXXX an. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, er spricht auch Dari.

Der BF verbrachte die ersten Lebensjahre in seinem Geburtsdorf. Bis zur sechsten Klasse besuchte er dort die Schule. Von der siebenten bis zur neunten Klasse besuchte er die Schule in XXXX . Im Jahr 2009 wurde der Zwillingsbruder des BF, XXXX , gewaltsam getötet. Sechs Monate nach diesem Vorfall zog die ganze Familie des BF in die Stadt Kabul, wo diese im Stadtteil XXXX in einem gemieteten Haus lebte. Ab der 10. Klasse bis zur zwölften Klasse besuchte er die Schule im Stadteil XXXX in der Stadt Kabul. Er schloss die Schule auch dort im Jahr 1389 (2010) ab. Nach der Schule besuchte der BF zwei Jahre lang das Institut XXXX (2010 bis 2012). Danach besuchte er drei Jahre lang die XXXX -Hochschule in Kabul, in XXXX (2012 bis 2015) und schloss auch diese ab. Der BF war insgesamt acht Monate im Jahr 2015 als selbstständiger Busfahrer in Kabul tätig.

Der BF heiratete Anfang 2015 seine Ehefrau, XXXX , welche ca. 24 Jahre alt ist. Sie ist seine Cousine. Der BF lebte gemeinsam mit seiner Ehefrau und seiner Familie in dem genannten gemieteten Haus in der Stadt Kabul. Die Ehe ist kinderlos.

Der Vater des BF hieß XXXX , er verstarb im Juli 2018, er war über 80 Jahre alt. Die Mutter des BF heißt XXXX und ist über 70 Jahre alt. Die Mutter des BF ist Hausfrau und lebt nach wie vor in dem Mietshaus in Kabul.

Der BF hat vier Schwestern, XXXX , XXXX , XXXX und XXXX , welche allesamt bereits verheiratet sind, eine eigene Familie haben und in der Provinz Kabul bzw. in der Stadt Kabul leben. Der BF hat vier Brüder, XXXX , er war älter als der BF, er war Polizist und wurde vor Jahren getötet, XXXX , er war der Zwillingsbruder des BF, er wurde im Jahr 2009 getötet, XXXX und XXXX , beide sind älter als der BF. Seine beiden Brüder sind verheiratet und haben drei bzw. zwei Kinder. Die Brüder des BF sind verschollen. Deren Ehefrauen leben mit den Kindern nach wie vor gemeinsam mit der Mutter des BF in Kabul. Die Familie lebt vom Einkommen aus dem Bus, welcher vom Schwager des BF, der gleichzeitig sein Cousin väterlicherseits ist, betrieben wird. Der BF hat regelmäßigen Kontakt zu seiner Familie. Der BF hat noch weitere Verwandte in Afghanistan. Die finanzielle Situation der Familie ist durchschnittlich, die Familie lebt in der Mittelschicht.

Die Familie besitzt noch ein Haus und Grundstücke im Heimatdorf des BF.

Der BF hat eine Cousine mütterlicherseits, XXXX , sie ist österreichische Staatsbürgerin und lebt in Innsbruck, und einen Cousin väterlicherseits, XXXX , er ist anerkannter Flüchtling und lebt in Wien. Ein Onkel mütterlicherseits, XXXX , lebt als deutscher Staatsbürger in Deutschland. Der BF hat Kontakt zu seinen Verwandten in Europa. Der BF war in seinem Herkunftsstaat kein Mitglied einer politischen Partei. Der BF ist in seinem Heimatstaat strafrechtlich unbescholten. Der BF ist Zivilist.

Der BF reiste im November 2015 gemeinsam mit seinen Brüdern aus Afghanistan aus und stellte am 03.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.

Der BF absolvierte Deutschkurse, zuletzt auf Niveau A2. Er spricht bereits sehr gut Deutsch. Er arbeitet drei Mal pro Woche in XXXX am Bauhof der Gemeinde, es handelt sich dabei um freiwillige Dienstleistungen im Sinne des § 7 Grundversorgungsgesetz (Erwerbstätigkeit für Asylwerber). Der BF ist Mitglied in einem Boxverein und gewann bereits mehrfach Wettkämpfe. Er ist XXXX Meister 2017 seiner Gewichtsklasse und erreichte den 4. Platz bei den österreichischen Meisterschaften 2017 bzw. den 3. Platz bei den Österreichischen Meisterschaften der XXXX Boxer. Er trainiert und betreut die Jugendlichen des Boxvereins. Er absolvierte diverse Kurs, unter anderem einen Erste-Hilfe-Kurs beim Roten Kreuz im Dezember 2017 und einen Kurs zur Ausbildung als Workshop Leiter im Projekt " XXXX " im Februar 2017. Der BF ist Inhaber der XXXX Integrations Kompass und besuchte im Rahmen dieses Dienstes zahlreiche Veranstaltungen. Er absolvierte gemeinnützige Dienste in einem Flüchtlingsheim.

Mit rechtskräftigem Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 16.10.2018, rechtskräftig seit 19.10.2018), Zl. XXXX , wurde der BF von der ihn mit Strafantrag vom 03.08.2018, Zl. XXXX erhobenen Anklage freigesprochen. Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

Der BF wird von seinen Vertrauenspersonen als verlässlich, bemüht sich zu integrieren und sich einzugliedern, korrekt, verlässlich, vorbildhaft, ehrgeizig, mit Kampfgeist und Freude am Sport, höflich, zuvorkommend, pünktlich, sympathisch, fleißig, angenehm, interessiert und als großartiger Repräsentant des Landes XXXX beschrieben.

1.2 Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Am Freitag, dem 24.07.1388 (das ist der 16.10.2009) wurde der Zwillingsbruder des BF, XXXX , von den Söhnen des Nachbarn des BF in deren Heimatdorf, XXXX , XXXX , XXXX und XXXX , Söhne des XXXX , getötet. Die Familie des BF lebte als unmittelbare Nachbarn der Familie XXXX .

Anlass dafür war, dass einer dieser Brüder, XXXX , davor seinen eigenen Cousin getötet hatte. Die beiden betroffenen Familien einigten sich darauf, als Wiedergutmachung (Baad) durch die Verheiratung der Schwester des XXXX mit einem Familienmitglied der Familie dieses Cousins Frieden zu schließen. Diese Schwester wurde an einem Tag von ihrem Bruder XXXX dabei beobachtet, als sie XXXX , der gerade das Haus verließ, zulächelte. XXXX schloss daraus, dass die beiden ein Verhältnis hätten, und sah die Familienehre verletzt.

Der Bruder des BF, XXXX , wurde in einen Hinterhalt gelockt und getötet. Die Familie des BF zeigte das Verschwinden des XXXX bei der Polizei an, und diese unterstütze die Familie bei der Suche nach dem Bruder bzw. Sohn. Der Bruder des BF wurde schließlich in einem Brunnen im Dorf XXXX gefunden. Die Leiche wurde gerichtsmedizinisch untersucht. Sechs Monate nach diesem Vorfall nahm die Polizei XXXX als Täter und somit als Mörder des XXXX fest. XXXX Brüder verließen einige Tage nach dem Vorfall das Heimatdorf und lebten bis zum Mai 2012 im Iran. Sie kehrten dann wieder nach Afghanistan zurück. XXXX wurde wegen dieses Vorfalles von einem Gericht II. Instanz zu einer 16- jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Er verbüßte seine Haftstrafe im Gefängnis in XXXX , er wurde jedoch bereits nach vier Jahren entlassen.

Ca. drei Monate nach dem gewaltsamen Tod des XXXX wurde das Haus der Familie mit einer Handgranate beworfen, wobei der BF sich gerade im Innenhof aufhielt und verletzt wurde. Die Familie des BF verließ daraufhin das Heimatdorf und zog nach Kabul Stadt.

Ca. drei bis vier Monate bevor XXXX aus der Haft entlassen wurde, versuchte die Familie des BF mit der Familie XXXX Frieden zu schließen. Das Friedensangebot wurde vom Cousin väterlicherseits des BF, welcher das Familienoberhaupt der Familie des BF ist, der Familie XXXX unterbreitet. Die Familie XXXX war jedoch nicht bereit, dieses Friedensangebot anzunehmen.

Nach seiner Haftentlassung rief XXXX den Bruder des BF, XXXX , an und bedrohte ihn. Eine Woche nach dieser Bedrohung wurden auf den BF und sein Bruder XXXX im Auto geschossen. Die Familie zeigte den Vorfall bei der Polizei an, welche mitteilte, dass sie die Familie nicht beschützen kann. Der BF konnte in weiterer Folge seiner Arbeit nicht mehr nachgehen und sich auch nicht mehr frei bewegen. Daraufhin schickten die Eltern den BF und seine zwei noch lebenden Brüder fort.

Ein Onkel väterlicherseits des BF ist eine Verwandtschaft mit der Familie XXXX eingegangen.

Der BF ist als Mitglied seiner Familie mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit von Blutrache und Ehrenmord durch die Familie XXXX betroffen.

1.3 Zur Situation im Falle der Rückkehr des Beschwerdeführers

Dem BF droht im Falle seiner Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr eines Eingriffes in seine körperliche Unversehrtheit durch die Familie XXXX , welche sich in ihrer Ehre verletzt sehen. Die afghanischen Behörden sind nicht dazu in der Lage, den BF ausreichend vor dieser physischen und/oder psychischen Gewalt durch XXXX und seine Familie zu schützen. Dem BF steht keine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative in Afghanistan offen.

1.4 Zur Situation im Herkunftsstaat

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 04.06.2019 (LIB), in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018 (UNHCR), in den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 (EASO), die in der Schnellrecherche der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 07.07.2017 zu Afghanistan: Blutrache und Blutfehde (SFH) und die in der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation AFGHANISTAN:

Stammeskonflikte, Blutrache, Paschtunwali vom 19.01.2018 (Staatendokumentation) enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.4.1 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren. (LIB)

1.4.1.1 Herkunftsprovinz Kabul

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt, die Herkunftsprovinz des BF. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa. im Osten an Laghman, an Nangarhar im Südosten, an Logar im Süden und an (Maidan) Wardak im Südwesten. Die Provinz Kabul besteht aus folgenden Einheiten: Bagrami, Chaharasyab/Char Asiab, Dehsabz/Deh sabz, Estalef/Istalif, Farza, Guldara, Kabul Stadt, Kalakan, Khak-e Jabbar/Khak-i-Jabar, Mirbachakot/Mir Bacha Kot, Musayi/Mussahi, Paghman, Qarabagh, Shakardara, Surobi/Sorubi. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.679.648 geschätzt.

In der Hauptstadt Kabul leben unterschiedliche Ethnien: Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem sunnitischen Glauben an, dennoch lebt eine Anzahl von Schiiten, Sikhs und Hindus nebeneinander in Kabul Stadt.

Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen, die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben. Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen. In den letzten Jahren kam es zu mehreren "high-profile"-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte.

Regelmäßig werden in der Hauptstadt Sicherheitsoperationen durch die Regierung in unterschiedlichen Gebieten ausgeführt. Im Rahmen des neuen Sicherheitsplanes sollen außerdem Hausdurchsuchungen ausgeführt werden. Um die Sicherheitslage in Kabul-Stadt zu verbessern, wurden im Rahmen eines neuen Sicherheitsplanes mit dem Namen "Zarghun Belt" (der grüne Gürtel), der Mitte August 2017 bekannt gegeben wurde, mindestens 90 Kontrollpunkte in den zentralen Teilen der Stadt Kabul errichtet. Die afghanische Regierung deklarierte einen Schlüsselbereich der afghanischen Hauptstadt zur "Green Zone" - dies ist die Region, in der wichtige Regierungsinstitutionen, ausländische Vertretungen und einige Betriebe verortet sind. Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt. Die neue Strategie beinhaltet auch die Schließung der Seitenstraßen, welche die Hauptstadt Kabul mit den angrenzenden Vorstädten verbinden; des Weiteren, werden die Sicherheitskräfte ihre Präsenz, Personenkontrollen und geheimdienstlichen Aktivitäten erhöhen. Damit soll innerhalb der Sicherheitszone der Personenverkehr kontrolliert werden. Die engmaschigen Sicherheitsmaßnahmen beinhalten auch eine erhöhte Anzahl an Sicherheitskräften und eine Verbesserung der Infrastruktur rund um Schlüsselbereiche der Stadt. Insgesamt beinhaltet dieser neue Sicherheitsplan 52 Maßnahmen, von denen die meisten nicht veröffentlicht werden. Auch übernimmt die ANA einige der porösen Kontrollpunkte innerhalb der Stadt und bildet spezialisierte Soldaten aus, um Wache zu stehen. Des Weiteren soll ein kreisförmiger innerer Sicherheitsmantel entstehen, der an einen äußeren Sicherheitsring nahtlos anschließt - alles dazwischen muss geräumt werden.

UNHCR stellt fest, dass Zivilisten, die in Kabul tagtäglich ihren wirtschaftlichen oder sozialen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer der allgegenwärtigen in der Stadt bestehenden Gefahr zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe; sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen. (LIB)

Die Provinz Kabul zählt laut EASO zu jenen Provinzen Afghanistans, wo willkürliche Gewalt stattfindet und allenfalls eine reelle Gefahr festgestellt werden kann, dass der BF ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie nehmen könnte - vorausgesetzt, dass er aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse von derartigen Risikofaktoren konkret betroffen ist. (EASO)

1.4.2 Ethnische Minderheiten und Religion

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Ethnische Paschtunen, wie es der BF ist, sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pasht. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden, und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen. (LIB)

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten, wie es der BF einer ist.

1.4.3 Blutrache und Blutfehde

Ehre und Vergeltung bei Ehrverletzungen (badal) spielen zentrale Rolle im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) und sind vielfach zusätzlicher Auslöser für Gewalt. UNHCR weist mit Bezug auf verschiedene Quellen darauf hin, dass Vergeltung durch Blutrache auf einem traditionellen Verständnis von Verhalten und Ehre beruht. Eine Blutfehde besteht zwischen zwei Familien, wobei Mitglieder der einen Familie solche der anderen zur Vergeltung einer Tat töten. Unter Familie ist dabei mancherorts nicht nur die biologische Verwandtschaft zu verstehen, sondern auch ein Clan. Im Wertesystem vieler streng traditioneller Gesellschaften hängt die "gesellschaftliche Ehre" der gesamten Familie auch vom normgerechten Verhalten aller Angehörigen ab. Aufgrund der sozialen Struktur in den von Ehrenmorden betroffenen Ländern werden Ehrverletzungen vom sozialen Umfeld sehr streng sanktioniert und nach diesen Vorstellungen kann nur der Tod dessen, der den Makel in die Familie getragen hat, diese wieder von diesem befreien. Es handelt sich dabei um eine Familienangelegenheit.

Die Befürworter dieser Praxis sehen darin kein Verbrechen, sondern eine soziale Notwendigkeit, die dem höheren Zweck diene, die Familie zu erhalten. Im Verständnis dieser Kulturen geht es weniger darum, die Person, die Schande über die Familie gebracht hat, zu bestrafen, sondern eher darum, den "Fleck", den "Schmutz" aus der Familie zu entfernen. Die Zielsetzung eines Ehrenmordes ähnelt also der einer Verstoßung.

Die Blutrache sei hauptsächlich eine paschtunische Tradition und im paschtunischen Ehrenkodex (Paschtunwali) verankert, wird aber auch von anderen ethnischen Gruppen praktiziert. Auslöser einer Blutfehde könne ein Mord oder eine ungelöste Streitigkeit sein. Das Recht auf Rache und die Erwartung einer Vergeltung ist zentral für das nichtstaatliche Rechtssystem des Paschtunwali. Die Verantwortung für die Bestrafung von immoralischem Verhalten wie Diebstahl, Vergewaltigung oder Mord liegt nicht bei der Gemeinschaft, sondern beim Opfer, und Rache ist eine akzeptable Reaktion. Die Grenzen der Legitimität der Rache sind durch lokale Traditionen, die öffentliche Meinung und den Paschtunwali bestimmt. Wird keine Rache ausgeübt, kann dies als moralische Schwäche ausgelegt werden, die auf ganze Familienverbände bezogen werden kann. Sowohl das Anzeigen eines Mordes bei den staatlichen Behörden als auch Verhandlungen über finanzielle Entschädigung mit der Täterfamilie können als Schwäche und als Zeichen ausgelegt werden, dass die Familie nicht stark genug ist, ihre Ehre zu verteidigen. Der Familienverband des Opfers hat eine kollektive Verantwortung, Vergeltung zu üben und die Ehre wiederherzustellen. Blutrache ist in Afghanistan sowohl auf dem Land als auch in den Städten einschließlich Kabul und zwischen allen Volksgruppen verbreitet. Blutrache kann auch nach Jahren oder Jahrzehnten ausgeübt werden. Blutrache zielt hauptsächlich auf diejenige Person ab, die einer Tat wie beispielsweise eines Mordes bezichtigt wird, unabhängig von ihrem Alter. Unter bestimmten Bedingungen kann auch die Tötung des Bruders des Täters oder eines anderen Verwandten der väterlichen Linie eine Alternative darstellen. Es gibt keine klaren Regeln für die Ausübung von Blutrache, wie beispielsweise ein Mindestalter, ab dem eine Person Ziel einer Blutrache werden kann. Wenn eine Familie Rache üben wolle, würde sie nach einer Gelegenheit dafür suchen.

Die Gesellschaft ist bemüht, die Konfliktfälle ohne Prestigeverlust für beiden Parteien so schnell wie möglich und friedlich durch die Jirga zu lösen. Im Falle einer Verweigerung wird die Öffentlichkeit, repräsentiert durch die Führungspersönlichkeiten, jedoch die Vermittlungsversuche einstellen. Sie erkennt damit das legitime Interesse der geschädigten Partei auf die Durchführung eines Badal ("Rache nehmen") mit eigenen Kräften und den damit verbundenen Verzicht auf eine friedliche Lösung. (SFH)

Das Versäumnis Vergeltung zu leisten wird als Zeichen moralischer Schwäche verstanden und kann dazu führen, dass ganze Verwandtschaftsgruppen als charakterlos gesehen werden. Wenn z.B. ein Mord den Behörden gemeldet wird, oder eine finanzielle Entschädigung mit der Familie des Täters ausgehandelt wird, kann das als Schwäche interpretiert werden und als Zeichen, dass die Gruppe [Anm.: Familie, Clan, etc.] nicht stark genug ist, ihre Ehre zu verteidigen. Ein Rechtsspruch, der im staatlichen Justizsystem bzgl. eines bestimmten Falles gefällt wurde, schließt nicht aus, dass in dem Fall trotzdem gewaltsam Vergeltung gesucht wird. Es kann weiterhin erwartet werden, dass die Familie des Opfers den Mörder, wenn er entlassen wird, umbringt (es sei denn es kommt zu einer Übereinkunft, in der die Fehde beigelegt wird). Die Gemeinde vor Ort würde einen Blutmord nicht als Straftat ansehen, sondern als durch die Tradition legitimiert.

Morde gehen oft auf bestehende Konflikte zurück. Prinzipiell, können Morde im Zusammenhang mit jederlei Konflikten in Blutrache enden. Jedoch kommen Blutfehden, laut LandInfo, öfter im Zusammenhang mit bestimmten Arten von Konflikten vor als mit anderen. Wenn es beispielsweise in einer bestimmten Gegend zahlreiche Landkonflikte gibt, kommt es auch dementsprechend öfter zu Blutfehden, die auf Landkonflikte zurückzuführen sind. Laut Konfliktanalysen, die von der "Cooperation for Peace and Unity" (CPAU) in fünf verschiedenen Provinzen in Afghanistan durchgeführt wurden, waren Konflikte um Land und Wasser am häufigsten; Familienkonflikte (Ehe/Scheidung, häusliche Gewalt) folgten an zweiter Stelle. Laut Thomas Barfield [Anm. der Staatendokumentation: ein Afghanistan Experte der Boston University], muss die Blutrache normalerweise den Mörder bzw. Täter selbst treffen. Jedoch können unter bestimmten Umständen auch sein Bruder bzw. andere männliche Verwandte als Ersatz ins Visier genommen werden. Die Person, die die Rache ausübt, sollte ein enger männlicher Verwandte des Opfers sein. In Ausnahmefälle können auch angeheuerte Mörder die Rache ausführen. Im Idealfall sollte der Mord "von Mann zu Mann", und "Angesicht zu Angesicht" ausgeführt werden. Jedoch sind Überfälle aus dem Hinterhalt auch zulässig. Blutfehden können lang Zeit ruhen, bis die Familie des Opfers in der Lage ist die Rache auszuüben. Junge Söhne können die Verantwortung übertragen bekommen, ihren ermordeten Vater zu rächen, wenn sie das Erwachsenenalter erreichen. Rache kann nach Monaten, Jahren, in manchen Fällen sogar erst nach Generationen ausgeübt werden. Laut Bericht verfügt LandInfo über keine Informationen, die darauf hindeuten würden, dass "präventive Rache" verbreitet wäre (z.B. dass die männlichen Verwandten eines Opfers auch ermordet würden, um so zu verhindern dass die Familie den ersten Mord rächen könnte). Solche Szenarien sind laut LandInfo unwahrscheinlich, da sie das Paschtunwali verletzen würden und von örtlichen Gemeinden gegebenenfalls als inakzeptabel betrachtet würden.

(Staatendokumentation)

Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen.

(UNHCR)

1.4.4. Afghanische Sicherheitsbehörden

In Afghanistan gibt es drei Ministerien, die mit der Wahrung der öffentlichen Ordnung betraut sind: das Innenministerium (MoI), das Verteidigungsministerium (MoD) und das National Directorate for Security (NDS). Das MoD beaufsichtigt die Einheiten der afghanischen Nationalarmee (ANA), während das MoI für die Streitkräfte der afghanischen Nationalpolizei (ANP) zuständig ist.

Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Die ANP besteht aus der uniformierten afghanischen Polizei (AUP), der afghanischen Nationalpolizei für zivile Ordnung (ANCOP), der afghanischen Kriminalpolizei (AACP), der afghanischen Lokalpolizei (ALP), den afghanischen Kräften zum Schutz der Öffentlichkeit (APPF) und der afghanischen Polizei zur Drogenbekämpfung (CNPA). Auch das NDS ist Teil der ANDSF.

Afghan National Police (ANP) und Afghan Local Police (ALP)

Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit aber auf der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Das Langzeitziel der ANP ist es weiterhin, sich in einen traditionellen Polizeiapparat zu verwandeln. Mit Stand 31. Jänner 2018 betrug das ANP-Personal etwa 129.156 Mann. Im Vergleich zu Jänner 2017 hat sich die Anzahl der ANP-Streitkräfte um 24.841 Mann verringert.

Quellen zufolge dauert die Grundausbildung für Streifenpolizisten bzw. Wächter acht Wochen. Für höhere Dienste dauern die Ausbildungslehrgänge bis zu drei Jahren. Lehrgänge für den höheren Polizeidienst finden in der Polizeiakademie in Kabul statt, achtwöchige Lehrgänge für Streifenpolizisten finden in Polizeiausbildungszentren statt, die im gesamten Land verteilt sind. Die standardisierte Polizeiausbildung wird nach militärischen Gesichtspunkten durchgeführt, jedoch gibt es Uneinheitlichkeit bei den Ausbildungsstandards. Es gibt Streifenpolizisten, die Dienst verrichten, ohne eine Ausbildung erhalten zu haben. Die Rekrutierungs- und Schulungsprozesse der Polizei konzentrierten sich eher auf die Quantität als auf den Qualitätsausbau und erfolgten hauptsächlich auf Ebene der Streifenpolizisten statt der Führungskräfte. Dies führte zu einem Mangel an Professionalität. Die afghanische Regierung erkannte die Notwendigkeit, die beruflichen Fähigkeiten, die Führungskompetenzen und den Grad an Alphabetisierung innerhalb der Polizei zu verbessern.

Die Mitglieder der ALP, auch bekannt als "Beschützer", sind meistens Bürger, die von den Dorfältesten oder den lokalen Anführern zum Schutz ihrer Gemeinschaften vor Angriffen Aufständischer designiert werden. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur lokalen Gemeinschaft wurde angenommen, dass die ALP besser als andere Streitkräfte in der Lage sei, die Sachverhalte innerhalb der Gemeinde zu verstehen und somit gegen den Aufstand vorzugehen. Die Einbindung in die örtliche Gemeinschaft ist ein integraler Bestandteil bei der Einrichtung der ALP-Einheiten, jedoch wurde die lokale Gemeinschaft in einigen afghanischen Provinzen diesbezüglich nicht konsultiert, so lokale Quellen. Finanziert wird die ALP ausschließlich durch das US-amerikanische Verteidigungsministerium und die afghanische Regierung verwaltet die Geldmittel.

Die Personalstärke der ALP betrug am 8. Februar 2017 etwa 29.006 Mann, wovon 24.915 ausgebildet waren, 4.091 noch keine Ausbildung genossen hatten und 58 sich gerade in Ausbildung befanden. Die Ausbildung besteht in einem vierwöchigen Kurs zur Benutzung von Waffen, Verteidigung an Polizeistützpunkten, Thematik Menschenrechte, Vermeidung von zivilen Opfern usw.

Die monatlichen Ausfälle der ANP im vorhergehenden Quartal betrugen mit Stand 26. Februar 2018 ca. 2%. Über die letzten zwölf Monate blieben sie relativ stabil unter 3% .

2. Beweiswürdigung

2.1 Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Die Angaben der persönlichen Verhältnisse des BF ergeben sich aus dem Akt, insbesondere auch aus der persönlichen Einvernahme des BF vor dem BVwG am 11.09.2018. Das BVwG erachtet diese Angaben als glaubhaft. Insoweit es sich um den rechtskräftigen Freispruch des BF handelt, liegt dieser Feststellung der von der belangten Behörde am 25.10.2018 übermittelte Protokolls- und Urteilsvermerk zugrunde (OZ 20). Die Feststellungen zu den Integrationsbemühungen des BF und seinem Familien- und Privatleben beruhen ebenfallsauf seinen Aussagen vor dem BVwG am 11.09.2018 bzw. auf die von ihm im Rahmen des Asylverfahrens vorgelegten diversen Integrationsunterlagen.

2.2 Zu den Feststellungen zur Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Das Vorbringen des BF hinsichtlich konkreten Anlasses des Verlassens des Herkunftslandes wird vom erkennenden Gericht - entgegen den Ausführungen im Bescheid bzw. in der Stellungnahme vom 27.09.2018 der belangten Behörde - als in sich schlüssig, nachvollziehbar und in Summe als glaubhaft angesehen. Der BF zeigte sich in den mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG offen und bemüht, an der Aufklärung des Sachverhaltes mitzuwirken und vermittelte insgesamt einen glaubwürdigen Eindruck. Das diesbezügliche Vorbringen des BF im Verlauf des Verfahrens ist schlüssig, vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Strukturen in Afghanistan plausibel, hinreichend substantiiert, angereichert mit lebensnahen Details sowie im Einklang mit den ins Verfahren eingebrachten Länderberichten.

Der BF zeichnete insbesondere in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG am 11.09.2018 in seinen Aussagen und seinem Antwortverhalten, das auch authentisch wirkende Emotionen zeigte, ein glaubhaftes Bild der geschilderten Vorfälle und vermittelte den Eindruck, die dargestellten Ereignisse tatsächlich erlebt zu haben. Bei jenen Vorfällen, bei denen er nicht persönlich anwesend war, wies er auch ausdrücklich darauf hin, dass er darüber aus Erzählungen weiß. Daher ist es auch plausibel, dass er nicht jedes Detail der Vorfälle wissen kann. Für die Glaubhaftigkeit der Aussagen des BF spricht auch, dass er während des gesamten Verfahrens in etwa die gleichen Angaben machte, und vor allem in der mündlichen Beschwerdeverhandlung am 11.09.2018 sein Fluchtvorbringen zwar detaillierter ausführte, in den Kernpunkten jedoch nicht übersteigerte.

Es ist der belangten Behörde jedoch zu folgen, wenn diese in deren Stellungnahme vom 27.09.2018 im Wesentlichen ausführt, dass der BF die genauen Umstände des Todes seines Bruders XXXX nicht kennen konnte, weil er bei dessen Tötung nicht persönlich anwesend war. Dementsprechend werden dazu auch keine Feststellungen getroffen, außer, dass dieser Bruder in einen Hinterhalt gelockt und getötet wurde. Wie XXXX zu Tode kam, ist auch nicht entscheidungswesentlich. Es leuchtet auch ein, dass der BF für den gewaltsamen Tod seines Bruders eine Erklärung sucht, und dass in seiner Familie verschiedenste Theorien dazu aufgestellt wurden, und dass viel darüber diskutiert worden sein muss. Dass er diese Theorien in seinen Aussagen vor der belangten Behörde und auch vor dem BVwG wiedergibt, ist menschlich verständlich, wiewohl der belangten Behörde zu folgen ist, dass der BF die genauen Umstände des Todes seines Bruders nicht kennen konnte.

Auch die Suche nach dem Bruder stellte eine dramatische Situation im Leben des BF dar, welche er im Wesentlichen gleichlautend vor der belangten Behörde und vor dem BVwG schilderte. Wesentliche Widersprüche, aufgrund welcher die Glaubwürdigkeit der Person des BF zur Gänze in Frage zu stellen wäre, konnten nicht festgestellt werden.

Für das erkennende Gericht steht fest, dass XXXX von afghanischen Gerichten für den Tod des XXXX zu einer mehrjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, und auch, dass es ihm gelungen ist, vorzeitig entlassen zu werden.

Wenn die belangte Behörde anführt, dass der Anlass für die Ermordung des XXXX , das "Anlächeln" durch das Nachbarmädchen und Schwester des XXXX und seiner Brüder, ein zu niederschwelliges Motiv sei, um den Kreislauf der Blutrache in Gang zu setzen, so ist dem entgegen zu halten, dass diese junge Frau im Rahmen von "baad", einer stammesüblichen Form der Streitbeilegung, der Familie seines Cousins, den XXXX ebenfalls getötet hat, zur Heirat angeboten wurde. XXXX muss es demnach aus Eigeninteresse, nämlich um selbst der Blutfehde der Familie seines Cousins zu entgehen, wichtig gewesen sein, dass seine Schwester nicht durch XXXX , von dem er annahm, dass er ein Verhältnis mit der Schwester haben könnte, in der Ehre verletzt wird. Als Motiv für die Tötung des XXXX ist demnach nach Paschutunwali anzunehmen, dass XXXX den Bruder des BF tötete, um die Ehre seiner Schwester zu bewahren. Wie aus den zitierten Länderinformationen ersichtlich besteht in der afghanischen Gesellschaft, und hier insbesondere unter Paschtunen, ein legitimes Interesse daran, dass geschädigte Parteien (im konkreten Fall XXXX und seine Familie) aus eigenen Kräften Rache für die Ehrverletzung durch XXXX ausüben.

XXXX wurde auf Initiative der Familie des BF von den afghanischen Gerichten für die Tötung des Bruders des BF zur Verantwortung gezogen. Dies wird von der afghanischen Gesellschaft nach den zitierten Länderinformationen als Zeichen der Schwäche der Familie des BF angesehen, welche nicht in der Lage ist, ihre eigene Ehre zu verteidigen.

Dafür spricht auch, dass die Familie des BF aufgrund der Bedrohungen durch die Familie XXXX deren Heimatdorf verließ und sich in der Stadt Kabul in einem Mietshaus niederließ und sich eine neue Existenz aufbaute.

Die Familie des BF war sich dessen bewusst, dass mit der Verhaftung des XXXX der Frieden mit der Familie XXXX noch nicht hergestellt war, und dass der Kreislauf der Blutrache fortgesetzt werden wird. Daher versuchte der Cousin des BF, der das Familienoberhaupt seiner Familie ist, eine Streitbeilegung herbeizuführen, was erfolglos blieb.

Nach dessen Haftentlassung bedrohten XXXX und seine Brüder den BF und seine Brüder, was diese schließlich dazu bewog, Afghanistan zu verlassen. Der BF ist konnte somit schlüssig und nachvollziehbar im Lichte der zitierten Länderinformationen glaubhaft machen, dass er in den Kreislauf der Blutrache gekommen ist.

Der BF hatte in Afghanistan ein verhältnismäßig gutes Leben, er genoss eine gute Ausbildung, war ein selbstständiger Busunternehmer, war in der Lage, mit dem Einkommen sich und seine Familie zu erhalten und hatte kürzlich geheiratet. Auch seine beiden älteren Brüder, welche beide seit der Flucht verschollen sind, ließen ihre Ehefrauen und Kinder in Afghanistan zurück. Hinweise darauf, dass der BF und seine Brüder ihren Herkunftsstaat aus wirtschaftlichen Gründen verlassen haben könnten, liegen nicht vor.

In einer Gesamtschau der Angaben des BF im Verlauf des Verfahrens und aus den dargelegten Erwägungen erscheint das Vorbringen des BF zu seiner Furcht vor XXXX und dessen Familie in Afghanistan insgesamt glaubhaft, plausibel, schlüssig und nachvollziehbar.

2.3 Zur Situation im Falle der Rückkehr des Beschwerdeführers

Die Feststellungen beruhen auf den Aussagen des BF im Asylverfahren unter Berücksichtigung der zitierten Länderinformationen, woraus hervorgeht, dass die afghanischen Behörden nicht in der Lage sind, den BF vor dem ihm drohenden Blutrache zu schützen.

Dem Argument der belangten Behörde in deren Stellungnahme vom 27.09.2018, wonach nicht anzunehmen sei, dass die Familie XXXX den BF im Falle seiner Rückkehr in einem anderen Teil Afghanistans finden werde, weil es sich um einen privaten Konflikt handle, und die Familie nicht landesweiten Einfluss habe, ist entgegen zu halten, dass ein Onkel des BF eine Verwandtschaft mit der Familie XXXX eingegangen ist, und diese daher über die Familie des BF über dessen Aufenthaltsort Bescheid weiß, bzw. Bescheid wissen wird. Demnach ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Familie XXXX den BF auch in Mazar-e Sharif oder Herat wird finden können, weswegen die Feststellung zu treffen war, dass dem BF keine innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative zur Verfügung steht.

2.4 Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat

Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan beruhen auf den angeführten Quellen und wurden den Parteien des Verfahrens zur Kenntnis gebracht, es wurde allen Parteien mehrfach die Gelegenheit geboten, hierzu Stellung zu nehmen. Bei den genannten Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Afghanistan ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Darstellung zu zweifeln. Insoweit den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat Berichte älteren Datums zugrunde liegen, ist auszuführen, dass sich seither die darin angeführten entscheidungsrelevanten Umstände unter Berücksichtigung der dem Bundesverwaltungsgericht von Amts wegen vorliegenden Berichte aktuelleren Datums für die Beurteilung der gegenwärtigen Situation nicht wesentlich geändert haben.

3. Rechtliche Beurteilung

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß den §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht (vgl. auch die Verfolgungsdefinition in § 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005, die auf Art. 9 der Statusrichtlinie verweist).

Flüchtling iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Im Rahmen der asylrelevanten Fluchtgründe iSd Art 1 Abschnitt A Z 2 GFK stellt das Anknüpfungsmerkmal der soziale Gruppe einen Auffangtatbestand dar, der eine sachlich nicht gerechtfertigte Repression umfasst, die ausschließlich Personen betrifft, die sich durch ein gemeinsames soziales Merkmal auszeichnen und die somit nicht verfolgt würden, wenn sie dieses Merkmal nicht hätten, sei es, dass dieses Merkmal unabänderlich ist, sei es, dass diesem Merkmal eine dermaßen bedeutsame Funktion für die Identitätsstiftung oder Gewissensbildung zukommt, dass den Gruppenmitgliedern ein Verzicht auf dieses Merkmal nicht zugemutet werden kann (vgl. VwGH 20.10.1999, 99/01/0197; VwSlg. 17.225 A/2007, jeweils mwN; vgl. auch Art 10 Abs 1 lit d Statusrichtlinie).

Ein unabänderliches Merkmal, das den Verfolgungstatbestand der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe erfüllt, kann auch die Zugehörigkeit zu einem Familienverband darstellen (s. VfGH 20.2.2014, U1067/2012) und zwar unabhängig davon, ob die Zugehörigkeit zu einem Familienverband den Grund für eine Verfolgung von staatlicher Seite darstellt (s. etwa VwSlg. 15.743 A/2001; VwGH 24.6.2004, 2002/20/0165) oder ob auf Grund der Angehörigeneigenschaft Verfolgung von privater Seite droht, der Staat aber nicht fähig oder willig ist, dem Verfolgten Schutz zu gewähren (s. etwa VwGH 14.1.2003, 2001/01/0508; 16.12.2010, 2007/20/1490). Eine derartige asylrelevante Verfolgung ist gegeben, wenn eine Person auf Grund ihrer Angehörigeneigenschaft zu einem Familienmitglied verfolgt wird, dem seinerseits aus anderen Konventionsgründen, etwa wegen seiner politischen Gesinnung, Verfolgung droht, mithin die Verfolgung auf das Familienmitglied "durchschlägt" (vgl. zur so genannten Sippenhaftung etwa VwSlg. 15.743 A/2001; VwGH 14.1.2003, 2001/01/0508). Der Fluchtgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie kann aber auch dann erfüllt sein, wenn der einzige Grund für die Verfolgung einer Person ihre Angehörigeneigenschaft zu einem Familienmitglied ist, bei dem selbst entweder gar keine asylrelevante Verfolgung oder ebenfalls nur die Zugehörigkeit zum Familienverband als Anknüpfungsmerkmal iSd GFK vorliegt (vgl. VwGH 21.3.2007, 2006/19/0083 bis 0085 mwN; 4.3.2008, 2006/19/0358; 26.5.2009, 2007/01/0077; 16.12.2010, 2007/20/1490; vgl. auch Aleinikoff, Protected characteristics and social perceptions: an analysis of the meaning of 'membership of a particular social group', in: Feller/Türk/Nicholson [Hrsg.], Refugee Protection in International Law, 2003, 263 [306]).

Eine derartige Konstellation, in der die Angehörigeneigenschaft bei sämtlichen verfolgten Familienmitgliedern das einzige Anknüpfungsmerkmal iSd GFK ist, liegt vor, wenn sich die private Verfolgung auf Grund eines Verhaltens, das die Verfolger einem Familienmitglied anlasten, gegen einen unbeteiligten Dritten bloß wegen dessen Abstammung richtet (vgl. zur so genannten Blutrache VwGH 26.2.2002, 2000/20/0517; 22.8.2006, 2006/01/0251).

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/011; VwGH 28.05.2009, 2008/19/1031). Für eine "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" ist es nicht erforderlich, dass bereits Verfolgungshandlungen gesetzt worden sind; sie ist vielmehr bereits dann anzunehmen, wenn solche Handlungen zu befürchten sind (VwGH 26.02.1997, 95/01/0454; VwGH 09.04.1997, 95/01/0555), denn die Verfolgungsgefahr - Bezugspunkt der Furcht vor Verfolgung - bezieht sich nicht auf vergangene Ereignisse (vgl. VwGH 18.04.1996, 95/20/0239; vgl. auch VwGH 16.02.2000, 99/01/097), sondern erfordert eine Prognose.

Verfolgungshandlungen, die in der Vergangenheit gesetzt worden sind, können im Rahmen dieser Prognose ein wesentliches Indiz für eine Verfolgungsgefahr sein (vgl. dazu VwGH 09.03.1999, 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99720/0128); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorherigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein (VwGH 16.06.1994, 94/19/0183; VwGH 18.02.1999, 98/20/0468). Relevant kann aber nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss vorliegen, wenn der Asylbescheid erlassen wird; auf diesen Zeitpunkt hat die Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den genannten Gründen zu befürchten habe (vgl. VwGH 09.03.1999, 98/01/0318; VwGH 19.10

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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