TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/18 G313 2177243-1

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Veröffentlicht am 18.11.2019
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Entscheidungsdatum

18.11.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs1a
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3

Spruch

G313 2177243-1/8E

G313 2177245-1/6E

G313 2177249-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Birgit WALDNER-BEDITS als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, (BF1), XXXX alias XXXX, geb. XXXX, (BF2), und XXXX alias XXXX, geb. XXXX, (BF3), alle StA. Irak, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.10.2017, Zl. XXXX (BF1), XXXX (BF2), und XXXX (BF3), zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Mit den oben im Spruch angeführten Bescheiden des Bundesasylamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) wurden die gegenständlichen Anträge der BF vom 29.05.2015 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ihre Anträge bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkt II.), den BF ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 jeweils nicht erteilt, gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG gegen die BF jeweils eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß 46 FPG in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt III.), und ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise der BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).

2. Gegen diese Bescheide wurde fristgerecht Beschwerde erhoben.

3. Am 21.11.2017 langten beim BVwG die gegenständlichen Beschwerden samt dazugehörigen Verwaltungsakten ein. Mit Beschwerdevorlage wurde beantragt, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

4. Mit Schreiben des BVwG von August 2019 wurden den BF die aktuellen Länderfeststellungen vorgehalten.

5. Eine Stellungnahme dazu ist innerhalb der den BF dazu gewährten Frist beim BVwG jedenfalls nicht eingelangt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die BF sind Staatsangehörige vom Irak und stammen aus Mossul. Der BF1 ist der Ehegatte der BF2, und der BF3 der Bruder der BF2 und damit Schwager des BF1.

1.2. Fest steht, dass die BF, die in Österreich keine berücksichtigungswürdigen Bezugspersonen haben, in Mossul, ihrer Heimatstadt, noch familiäre Anknüpfungspunkte haben. In der Nähe des Elternhauses der BF2 und ihres Bruders, des BF3, gibt es Verwandte, der BF1 hat zudem noch einen Bruder und (fünf) Schwestern in Mossul.

Die BF2 war bereits vor ihrer nunmehrigen Ehe mit dem BF1 einmal verheiratet. Aus dieser Ehe stammen zwei - im März 2004 und im Juli 2007 geborene, nunmehr 15 und 12 Jahre alte - Kinder, die im Irak bei den Großeltern väterlicherseits verblieben sind. Im Jahr 2006 hat sich die BF2 von ihrem ersten Ehegatten scheiden lassen, hat dann bis 2008 bei ihren Eltern gelebt und im Jahr 2008 ihren zweiten Ehegatten, den BF1, geheiratet.

Die Mutter und fünf Brüder der BF2 und BF3 sind in die Türkei und ein weiterer Bruder der BF2 und BF3 nach Deutschland ausgereist. Ein Bruder des BF1 ist nach Amerika ausgereist.

1.3. Die BF sind zusammen im letzten Quartal des Jahres 2014 aus dem Irak ausgereist - wann genau die BF aus ihrem Herkunftsstaat ausgereist sind, konnte nicht festgestellt werden. Sie reisten zunächst nach Syrien, dann von dort in die Türkei, haben sich dort ungefähr ein halbes Jahr aufgehalten und sind dann, um woanders bessere Lebensbedingungen vorzufinden, weitergereist und schlepperunterstützt zunächst nach Griechenland gelangt, wo sie im Mai 2015 wegen unrechtmäßigen Aufenthaltes angehalten und ausgewiesen wurden, und dann über Mazedonien und Serbien weiter nach Ungarn und von dort weiter nach Österreich gefahren.

Dass die BF, wie der BF1 in seiner Erstbefragung am 28.05.2015 anführte, in der Türkei einen Asylantrag gestellt haben, den Ausgang des Asylverfahrens in der Türkei jedoch nicht abwarten wollten und weitergereist sind, konnte nicht festgestellt werden, gab die Ehegattin des BF1, die BF2, in der Erstbefragung doch widersprüchlich dazu ausdrücklich an, in der Türkei keinen Asylantrag gestellt zu haben, sondern dort nur registriert gewesen zu sein. Festgestellt werden kann als Grund für ihre Weiterreise jedenfalls eine woanders erhoffte bessere Lebenssituation. Sie sind auf dem Weg nach Österreich über Griechenland und Ungarn gefahren. Einen Asylantrag haben sie jedoch weder in Griechenland noch in Ungarn gestellt.

1.4. Festgestellt werden kann, dass alle drei BF vor ihrer Ausreise in Mossul erwerbstätig waren:

Der BF1 hatte langjährig mit zwei Brüdern zusammen ein Malergeschäft und hat bis zu seiner Ausreise im Jahr 2014 als Maler gearbeitet.

Die BF2, die Ehegattin des BF1, arbeitete von 2011 bis Juni 2014 privat und öffentlich als Kinderbetreuerin, und der BF3, ihr Bruder, arbeitete bis Mai 2014 als Straßenverkäufer.

1.5. Das Fluchtvorbringen der BF konnte nicht für wahr gehalten werden:

1.5.1. Das Fluchtvorbringen des BF1 vor dem BFA, infolge eines von der irakischen Regierung dem BF1 und seinen Brüdern, die gemeinsam einen Malerbetrieb führten, erteilten Auftrags von IS-Angehörigen bedroht worden zu sein, konnte nicht für glaubwürdig gehalten werden.

1.5.2. Die BF2 stützte sich vor dem BFA auf die von ihrem Ehegatten, dem BF1, angeführten Fluchtgründe. Diese konnten jedoch nicht für glaubwürdig gehalten werden.

1.5.3. Das Fluchtvorbringen des BF3 vor dem BFA, im Zuge seiner Tätigkeit als Straßenverkäufer CD¿s verkauft zu haben und damit in Zusammenhang von IS-Anhängern bedroht worden zu sein, konnte ebenso wenig wie das Fluchtvorbringen des BF1 für glaubwürdig gehalten werden.

1.5.4. Fest steht, dass keiner der BF jemals strafrechtlich verfolgt wurde, und auch der BF1 aufgrund seiner ehemaligen Mitgliedschaft bei der Baath-Partei keine Probleme anführen konnte.

1.6. Die BF leben im Bundesgebiet von Leistungen aus der Grundversorgung, konnten in ihrem Herkunftsstaat jedoch ihren Lebensunterhalt mit Einkommen aus eigener Erwerbstätigkeit bestreiten.

1.7. Von den BF wurden keine berücksichtigungswürdigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen - weder in physischer noch in psychischer Hinsicht - vorgebracht und nachgewiesen.

2. Zur Lage im Irak wird festgestellt:

2.1. Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich, seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde, verbessert (CRS 4.10.2018; vgl. MIGRI 6.2.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv, die Sicherheitslage ist veränderlich (CRS 4.10.2018).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich, das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen, aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten, zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten, Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.2.2018).

Quellen:

-AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak,

-CRS - Congressional Research Service (4.10.2018): Iraq: Issues in the 115th Congress, https://fas.org/sgp/crs/mideast/R45096.pdf, Zugriff 29.10.2018

2.1.1. Islamischer Staat (IS)

Seitdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor, hat er drei Phasen durchlaufen: Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Jetzt versucht der IS, die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Gleichzeitig verstärkt er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (Joel Wing 3.7.2018). Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (Joel Wing 6.10.2018).

Mit Stand Oktober 2018 waren Einsätze der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninewa, Diyala und Salah al-Din im Gang. Ziel war es, den IS daran zu hindern sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Presseberichte und Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (CRS 4.10.2018; vgl. ISW 2.10.2018, Atlantic 31.8.2018, Jamestown 28.7.2018, Niqash 12.7.2018). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (CRS 4.10.2018). Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben. Es gibt Gebiete, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und IS-Kämpfer, die sich tagsüber offen zeigen. Dies geschieht trotz ständiger Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind (Joel Wing 6.10.2018). Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (Niqash 12.7.2018; vgl. WP 17.7.2018).

Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt und die Bevölkerung eingeschüchtert wird (Joel Wing 6.10.2018). Sie kooperiert aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften. Im vergangenen Jahr hat sich der IS verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist auch zu jenen Taktiken zurückgekehrt, die ihn 2012 und 2013 zu einer Kraft gemacht haben: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (Atlantic 31.8.2018).

Quellen:

-

Atlantic (31.8.2018): ISIS Never Went Away in Iraq, https://www.theatlantic.com/international/archive/2018/08/iraq-isis/569047/

-

CRS - Congressional Research Service (4.10.2018): Iraq: Issues in the 115th Congress, https://fas.org/sgp/crs/mideast/R45096.pdf, Zugriff 29.10.2018

-

ISW - Institute for the Study of War (2.10.2018): ISIS's Second Resurgence,

https://iswresearch.blogspot.com/2018/10/isiss-second-resurgence.html, Zugriff 30.10.2018

-

Jamestown Foundation (28.7.2018): Is Islamic State Making Plans for a Comeback in Iraq?,

https://jamestown.org/program/is-islamic-state-making-plans-for-a-comeback-in-iraq/, Zugriff 30.10.2018

-

Joel Wing - Musings on Iraq (3.7.2018): June 2018 Islamic State Rebuilding In Rural Areas Of Central Iraq, https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/07/june-2018-islamic-state-rebuilding-in.html, Zugriff 30.10.2018

-

Joel Wing - Musings on Iraq (6.10.2018): Islamic State Returns To Baghdad While Overall Security In Iraq Remains Steady, https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/10/islamic-state-returns-to-baghdad-while.html, Zugriff 30.10.2018

-

Niqash (12.7.2018): Extremists Intimidate, Harass, Dislocate Locals In Salahaddin, Then Take Over, http://www.niqash.org/en/articles/security/5951/, Zugriff 30.10.2018

-

WP - Washington Post (17.7.2018): ISIS is making a comeback in Iraq just months after Baghdad declared victory, https://www.washingtonpost.com/world/isis-is-making-a-comeback-in-iraq-less-than-a-year-after-baghdad-declared-victory/2018/07/17/9aac54a6-892c-11e8-9d59-dccc2c0cabcf_story.html?noredirect=on&utm_term=.8ebfcea17e9f, Zugriff 30.10.2018

, Zugriff 30.10.2018

2.2. Sicherheitskräfte und Milizen

Im ganzen Land sind zahlreiche innerstaatliche Sicherheitskräfte tätig. Zivile Behörden haben über einen Teil der Sicherheitskräfte keine wirksame Kontrolle ausgeübt (USDOS 20.4.2018).

Quelle:

-

USDOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430110.html, Zugriff 31.10.2018

2.2.1.Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF)

Die irakischen Sicherheitskräfte (ISF, Iraqi Security Forces) bestehen aus Sicherheitskräften, die vom Innenministerium verwaltet werden, Sicherheitskräften, die vom Verteidigungsministerien verwaltet werden, den Volksmobilisierungseinheiten (PMF, Popular Mobilization Forces), und dem Counter-Terrorism Service (CTS). Das Innenministerium ist für die innerstaatliche Strafverfolgung und die Aufrechterhaltung der Ordnung zuständig; es beaufsichtigt die Bundespolizei, die Provinzpolizei, den Dienst für den Objektschutz, den Zivilschutz und das Ministerium für den Grenzschutz. Die Energiepolizei, die dem Ölministerium unterstellt ist, ist für den Schutz von kritischer Infrastruktur in diesem Bereich verantwortlich. Konventionelle Streitkräfte, die dem Verteidigungsministerium unterstehen, sind für die Verteidigung des Landes zuständig, führen aber in Zusammenarbeit mit Einheiten des Innenministeriums auch Einsätze zur Terrorismusbekämpfung sowie interne Sicherheitseinsätze durch. Der Counter-Terrorism Service (CTS) ist direkt dem Premierminister unterstellt und überwacht das Counter-Terrorism Command (CTC), eine Organisation, zu der drei Brigaden von Spezialeinsatzkräften gehören (USDOS 20.4.2018).

Die irakischen Streit- und Sicherheitskräfte dürften mittlerweile wieder ca. 100.000 Armee-Angehörige (ohne PMF und Peshmerga) und über 100.000 Polizisten umfassen. Sie sind noch nicht befähigt, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen. Ohnehin gibt es kein Polizeigesetz, die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten sind sehr weitgehend. Ansätze zur Abhilfe und zur Professionalisierung entstehen durch internationale Unterstützung: Die Sicherheitssektorreform wird aktiv und umfassend von der internationalen Gemeinschaft unterstützt (AA 12.2.2018).

Straffreiheit ist ein Problem. Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen im ganzen Land in Einrichtungen des Innen- und Verteidigungsministeriums. Nach Angaben internationaler Menschenrechtsorganisationen findet Missbrauch vor allem während der Verhöre inhaftierter Personen im Rahmen der Untersuchungshaft statt. Probleme innerhalb der Provinzpolizei des Landes, einschließlich Korruption, bleiben weiterhin bestehen. Armee und Bundespolizei rekrutieren und entsenden bundesweit Soldaten und Polizisten. Dies führt zu Beschwerden lokaler Gemeinden bezüglich Diskriminierung aufgrund ethno-konfessioneller Unterschiede durch Mitglieder von Armee und Polizei. Die Sicherheitskräfte unternehmen nur begrenzte Anstrengungen, um gesellschaftliche Gewalt zu verhindern oder darauf zu reagieren (USDOS 20.4.2018).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf

-

USDOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430110.html, Zugriff 31.10.2018

, Zugriff 31.10.2018

2.2.2.Volksmobilisierungseinheiten (PMF)

Der Name "Volksmobilisierungseinheiten" (al-hashd al-sha'bi, engl.:

popular mobilization units, PMU oder popular mobilization forces bzw. popular mobilization front, PMF), bezeichnet eine Dachorganisation für etwa vierzig bis siebzig Milizen und demzufolge ein loses Bündnis paramilitärischer Formationen (Süß 21.8.2017). Die PMF werden vom Staat unterstützt und sind landesweit tätig. Die Mehrheit der PMF-Einheiten ist schiitisch, was die Demografie des Landes widerspiegelt. Sunnitische, jesidische, christliche und andere "Minderheiten-Einheiten" der PMF sind in ihren Heimatregionen tätig (USDOS 20.4.2018). Es gibt große, gut ausgerüstete Milizen, quasi militärische Verbände, wie die Badr-Organisation, mit eigenen Vertretern im Parlament, aber auch kleine improvisierte Einheiten mit wenigen Hundert Mitgliedern, wie die Miliz der Schabak. Viele Milizen werden von Nachbarstaaten wie dem Iran oder Saudi-Arabien unterstützt. Die Türkei unterhält in Baschika nördlich von Mosul ein eigenes Ausbildungslager für sunnitische Milizen. Die Milizen haben eine ambivalente Rolle. Einerseits wäre die irakische Armee ohne sie nicht in der Lage gewesen, den IS zu besiegen und Großveranstaltungen wie die Pilgerfahrten nach Kerbala mit jährlich bis zu 20 Millionen Pilgern zu schützen. Andererseits stellen die Milizen einen enormen Machtfaktor mit Eigeninteressen dar, was sich in der gesamten Gesellschaft, der Verwaltung und in der Politik widerspiegelt und zu einem allgemeinen Klima der Korruption und des Nepotismus beiträgt (AA 12.2.2018).

Die PMF unterstehen seit 2017 formal dem Oberbefehl des irakischen Ministerpräsidenten, dessen tatsächliche Einflussmöglichkeiten aber weiterhin als begrenzt gelten (AA 12.2.2018). Obwohl die PMF laut Gesetz auf Einsätze im Irak beschränkt sind, sollen, ohne Befugnis durch die irakische Regierung, in einigen Fällen Einheiten das Assad-Regime in Syrien unterstützt haben. Die irakische Regierung erkennt diese Kämpfer nicht als Mitglieder der PMF an, obwohl ihre Organisationen Teil der PMF sind. Alle PMF-Einheiten sind offiziell dem Nationalen Sicherheitsberater unterstellt. In der Praxis gehorchen aber mehrere Einheiten auch dem Iran und der iranischen Revolutionsgarde. Ende 2017 war keine einheitliche Führung und Kontrolle der PMF durch Premierminister und ISF feststellbar, insbesondere nicht der mit dem Iran verbundenen Einheiten. Die Bemühungen der Regierung, die PMF als staatliche Sicherheitsbehörde zu formalisieren, werden fortgesetzt, aber Teile der PMF bleiben "iranisch" ausgerichtet. Das Handeln dieser unterschiedlichen Einheiten stellt zeitweise eine zusätzliche Herausforderung in Bezug auf die Sicherheitslage dar, insbesondere - aber nicht nur - in ethnisch und religiös gemischten Gebieten des Landes (USDOS 20.4.2018). Die Schwäche der ISF hat es vornehmlich schiitischen Milizen, wie den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, den Asa'ib Ahl al-Haqq und den Kata'ib Hisbollah, erlaubt, Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen. Die PMF waren und sind ein integraler Bestandteil der Anti-IS-Operationen, wurden jedoch zuletzt in Kämpfen um sensible sunnitische Ortschaften nicht an vorderster Front eingesetzt. Es gab eine Vielzahl an Vorwürfen von Plünderungen und Gewalttaten durch die PMF. Diese Meldungen haben sich mit dem Konflikt um die umstrittenen Gebiete zum Teil verschärft (AA 12.2.2018).

Die Badr-Organisation ist die älteste schiitische Miliz im Irak und gleichermaßen die mit den längsten und engsten Beziehungen zum Iran. Hervorgegangen ist sie aus dem Badr-Korps, das 1983/84 als bewaffneter Arm des "Obersten Rates für die Islamische Revolution im Irak" gegründet wurde und von Beginn an den iranischen Revolutionsgarden (Pasdaran) unterstellt war [Anm. der "Oberste Rat für die Islamische Revolution im Irak" wurde später zum "Obersten Islamischen Rat im Irak" (OIRI), siehe Abschnitt "Politische Lage"]. Die Badr-Organisation wird von Hadi al-Amiri angeführt und gilt heute als die bedeutendste Teilorganisation und dominierende Kraft der PMF. Sie ist besonders mächtig, weil sie Kontrolle über das irakische Innenministerium und damit auch über die Polizeikräfte besitzt; ein Großteil der bewaffneten Kräfte der Organisation wurde ab 2005 in die irakische Polizei aufgenommen. Sie soll über etwa 20.000 bis 50.000 Mann verfügen und ist Miliz und politische Partei in einem (Süß 21.8.2017).

Die Kata'ib Hizbullah (Bataillone der Partei Gottes, Hizbullah Brigades) wurden 2007 von Abu Mahdi al-Muhandis gegründet und werden auch von diesem angeführt. Die Miliz kann als Eliteeinheit begriffen werden, die häufig die gefährlichsten Operationen übernimmt und vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv ist. Ihre Personalstärke ist umstritten, teilweise ist die Rede von bis zu 30.000 Mann. Die Ausrüstung und militärische Ausbildung ihrer Mitglieder sind besser als die der anderen Milizen innerhalb der PMF. Kata'ib Hizbullah arbeiten intensiv mit Badr und der libanesischen Hizbullah zusammen und gelten als Instrument der iranischen Politik im Irak. Die Miliz wird von den USA seit 2009 als Terrororganisation geführt (Süß 21.8.2017).

Die Asa'ib Ahl al-Haqq (Liga der Rechtschaffenen oder Khaz'ali-Netzwerk, League of the Righteous) wurde 2006 von Qais al-Khaz'ali gegründet und bekämpfte zu jener Zeit die US-amerikanischen Truppen im Irak. Asa'ib Ahl al-Haqq unternahm den Versuch, sich als politische Kraft zu etablieren, konnte bei den Parlamentswahlen 2014 allerdings nur ein einziges Mandat gewinnen. Ausgegangen wird von einer Gruppengröße von mindestens 3.000 Mann; einige Quellen sprechen von 10.000 bis 15.000 Kämpfern. Die Miliz erhält starke Unterstützung vom Iran und ist wie die Badr-Oganisation und Kata'ib Hizbullah vor allem westlich und nördlich von Bagdad aktiv. Sie gilt heute als gefürchtetste, weil besonders gewalttätige Gruppierung innerhalb der Volksmobilisierung, die religiös-politische mit kriminellen Motiven verbindet. Ihr Befehlshaber Khaz'ali ist einer der bekanntesten Anführer der PMF (Süß 21.8.2017). Die Saraya as-Salam (Schwadronen des Friedens, Peace Brigades) wurden im Juni 2014 nach der Fatwa von Großayatollah Ali al-Sistani, in der alle junge Männer dazu aufgerufen wurden, sich im Kampf gegen den IS den Sicherheitskräften zum Schutz von Land, Volk und heiligen Stätten im Irak anzuschließen, von Muqtada as-Sadr gegründet. Die Gruppierung kann de facto als eine Fortführung der ehemaligen Mahdi-Armee bezeichnet werden. Diese ist zwar 2008 offiziell aufgelöst worden, viele ihrer Kader und Netzwerke blieben jedoch aktiv und konnten 2014 leicht wieder mobilisiert werden. Quellen sprechen von einer Gruppengröße von 50.000, teilweise sogar 100.000 Mann, ihre Schlagkraft ist jedoch mangels ausreichender finanzieller Ausstattung und militärischer Ausrüstung begrenzt. Dies liegt darin begründet, dass Sadr politische Distanz zu Teheran wahren will, was in einer nicht ganz so großzügigen Unterstützung Irans resultiert. Das Haupteinsatzgebiet der Miliz liegt im südlichen Zentrum des Irak, wo sie vorgibt, die schiitischen heiligen Stätten zu schützen. Ebenso waren Saraya as-Salam aber auch mehrfach an Kämpfen nördlich von Bagdad beteiligt (Süß 21.8.2017).

Auch die Kata'ib al-Imam Ali (Bataillone des Imam Ali, Imam Ali Batallions) ist eine der Milizen, die im Juni 2014 neu gebildet wurden. Sie sticht hervor, weil sie sich rasant zu einer schlagkräftigen Gruppe entwickelte, die an den meisten wichtigen Auseinandersetzungen im Kampf gegen den IS beteiligt war. Dies lässt auf eine beträchtliche Kämpferzahl schließen. Die Funktion des Generalsekretärs hat Shibl al-Zaidi inne, ein früherer Angehöriger der Sadr-Bewegung. Zaidi steht in engem Kontakt zu Muhandis und den Pasdaran, weshalb die Miliz intensive Beziehungen zur Badr-Organisation, den Kata'ib Hizbullah und den iranischen Revolutionsgarden unterhält. Die Miliz betreibt außerdem wirkungsvolle Öffentlichkeitsarbeit, wodurch ihr Bekanntheitsgrad schnell gestiegen ist. Vor allem der Feldkommandeur Abu Azrael erlangte durch Videos mit äußerst brutalen Inhalten zweifelhafte Berühmtheit. Die Gruppe scheint Gefangene routinemäßig zu foltern und hinzurichten (Süß 21.8.2017).

Rechtsstellung und Aktivitäten der PMF

Obwohl das Milizenbündnis der PMF unter der Aufsicht des 2014 gegründeten Volksmobilisierungskomitees steht und Ende 2016 ein Gesetz in Kraft trat, das die PMF dem regulären irakischen Militär in allen Belangen gleichstellt und somit der Weisung des Premierministers unterstellt, hat der irakische Staat nur mäßige Kontrolle über die Milizen. In diesem Zusammenhang kommt vor allem Badr eine große Bedeutung zu: Die Milizen werden zwar von der irakischen Regierung in großem Umfang mit finanziellen Mitteln und Waffen unterstützt, unterstehen aber formal dem von Badr dominierten Innenministerium, wodurch keine Rede von umfassender staatlicher Kontrolle sein kann. Die einzelnen Teilorganisationen agieren größtenteils eigenständig und weisen eigene Kommandostrukturen auf, was zu Koordinationsproblemen führt und letztendlich eine institutionelle Integrität verhindert (Süß 21.8.2017). Die militärischen Erfolge der PMF gegen den IS steigerten ihre Popularität vor allem bei der schiitischen Bevölkerung, gleichzeitig wurden allerdings auch Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Hinrichtungen, Entführungen und Zerstörung von Häusern veröffentlicht (Süß 21.8.2017). In Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, klagen Einheimische, dass sich die PMF gesetzwidrig und unverhohlen parteiisch verhalten. In Mosul beispielsweise behaupteten mehrere Einwohner, dass die PMF weit davon entfernt seien, Schutz zu bieten, und durch Erpressung oder Plünderungen illegale Gewinne erzielten. PMF-Kämpfer haben im gesamten Nordirak Kontrollpunkte errichtet, um Zölle von Händlern einzuheben. Auch in Bagdad wird von solchen Praktiken berichtet. Darüber hinaus haben die PMF auch die Armee in einigen Gebieten verstimmt. Zusammenstöße zwischen den PMF und den regulären Sicherheitskräften sind häufig. Auch sind Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen der PMF weitverbreitet. Die Rivalität unter den verschiedenen Milizen ist groß (ICG 30.7.2018).

Neben der Finanzierung durch den irakischen, sowie den iranischen Staat bringen die Milizen einen wichtigen Teil der Finanzmittel selbst auf - mit Hilfe der organisierten Kriminalität. Ein Naheverhältnis zu dieser war den Milizen quasi von Beginn an in die Wiege gelegt. Vor allem bei Stammesmilizen waren Schmuggel und Mafiatum weit verbreitet. Die 2003/4 neu gegründeten Milizen kooperierten zwangsläufig mit den Mafiabanden ihrer Stadtviertel. Kriminelle Elemente wurden aber nicht nur kooptiert, die Milizen sind selbst in einem dermaßen hohen Ausmaß in kriminelle Aktivitäten verwickelt, dass manche Experten sie nicht mehr von der organisierten Kriminalität unterscheiden, sondern von Warlords sprechen, die in ihren Organisationen Politik und Sozialwesen für ihre Klientel und Milizentum vereinen - oft noch in Kombination mit offiziellen Positionen im irakischen Sicherheitsapparat. Die Einkünfte kommen hauptsächlich aus dem großangelegten Ölschmuggel, Schutzgelderpressungen, Amtsmissbrauch, Entführungen, Waffen- und Menschenhandel, Antiquitäten- und Drogenschmuggel. Entführungen sindwaren ein wichtiges Geschäft aller Gruppen, dessen hauptsächliche Opfer zahlungsfähige Iraker sind waren (Posch 8.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf

-

ICG - International Crisis Group (30.7.2018): Iraq's Paramilitary Groups: The Challenge of Rebuilding a Functioning State, https://www.crisisgroup.org/middle-east-north-africa/gulf-and-arabian-peninsula/iraq/188-iraqs-paramilitary-groups-challenge-rebuilding-functioning-state, Zugriff 31.10.2018

, Zugriff 31.10.2018

-

Posch, Walter (8.2017): Schiitische Milizen im Irak und in Syrien -Volksmobilisierungseinheiten und andere, per E-mail

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Süß, Clara-Auguste (21.8.2017): Al-Hashd ash-Sha'bi: Die irakischen "Volksmobilisierungseinheiten" (PMU/PMF), in BFA Staatendokumentation: Fact Finding Mission Report Syrien mit ausgewählten Beiträgen zu Jordanien, Libanon und Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1410004/5618_1507116516_ffm-bericht-syrien-mit-beitraegen-zu-jordanien-libanon-irak-2017-8-31-ke.pdf, Zugriff 31.10.2018

-

USDOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430110.html, Zugriff 31.10.2018

2.3.Sunnitische Araber

Die arabisch-sunnitische Minderheit, die über Jahrhunderte die Führungsschicht des Landes bildete, wurde nach der Entmachtung Saddam Husseins 2003, insbesondere in der Regierungszeit von Ex-Ministerpräsident Al-Maliki (2006 bis 2014), aus öffentlichen Positionen gedrängt. Mangels anerkannter Führungspersönlichkeiten fällt es den sunnitischen Arabern weiterhin schwer, ihren Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen. Oftmals werden Sunniten einzig aufgrund ihrer Glaubensrichtung als IS-Sympathisanten stigmatisiert oder gar strafrechtlich verfolgt. Zwangsmaßnahmen und Vertreibungen aus ihren Heimatorten richteten sich 2017 vermehrt auch gegen unbeteiligte Familienangehörige vermeintlicher IS-Anhänger (AA 12.2.2018). Es gab zahlreiche Berichte über Festnahmen und die vorübergehende Internierung von überwiegend sunnitisch-arabischen IDPs durch Regierungskräfte, die PMF und die Peshmerga (USDOS 20.4.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf

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USDOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430110.html, Zugriff 17.8.2018

, Zugriff 19.7.2018

2.4. Ex-Ba'athisten

Nach dem Fall des Regimes Saddam Husseins durchlief der Irak eine Ent-Ba'athifizierung, die die Auflösung der Ba'ath-Partei und verschiedener mit ihr verbundener Organisationen umfasste. Es kam zu Verhaftungen ehemaliger Parteimitglieder, sowie zur Säuberung des Staatsapparates, der Streitkräfte und der öffentlichen Verwaltung. Sunniten stellen die Ent-Ba'athifizierung wiederholt als "Ent-Sunnifizierung" dar und beklagen, dass der Prozess zu einem Instrument konfessioneller Politik geworden ist (UKHO 11.2016; vgl. EUISS 10.2017, ICTJ 3.2013). Eine Vielzahl von ehemaligen Mitgliedern der seit 2003 verbotenen Ba'ath-Partei ist, soweit nicht ins Ausland geflüchtet, häufig aufgrund der Anschuldigung terroristischer Aktivitäten in Haft. Viele von ihnen haben weder Zugang zu Anwälten noch Kontakt zu ihren Familien (AA 12.2.2018). Einige mittel- bis hochrangige Ba'athisten können für schwere, unter dem Saddam Regime begangene Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein. Es ist darüber hinaus auch möglich, dass einige frühere Ba'athisten Verbindungen zum IS oder zu anderen aufständischen Organisationen, wie der "Armee der Männer des Naqshbandi-Ordens" (JRTN, Jaysh Rijal al-Tariqa al-Naqshbandiyya), haben (UKHO 11.2016).

Im Zuge der Ent-Ba'athifizierung von 2003-2013 soll es zu Festnahmen unter dem Anti-Terror-Gesetz, zu Inhaftierungen ohne ordentliche Verfahren und zur Folter von Tausenden von Menschen, die der Mitgliedschaft in der Ba'ath-Partei bezichtigt wurden, gekommen sein (UKHO 11.2016). Schrittweise aufeinander folgende Gesetze zur Entfernung von Ba'athisten aus dem öffentlichen Dienst basierten auf "Schuld durch Assoziation" anstatt individuell begangener und nachgewiesener Verbrechen (EUISS 10.2017). Tausende von Personen wurden so aufgrund ihres Rangs in der Partei und nicht wegen ihres eigentlichen Verhaltens bzw. ihrer Taten entlassen (Al Jazeera 12.3.2013; vgl. ICTJ 3.2013).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf

-

Al Jazeera (12.3.2013): Iraq's de-Baathification still haunts the country,

https://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2013/03/201331055338463426.html, Zugriff 2.10.2018

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EUISS - European Union Institute for Security Studies (10.2017):

Meet Iraq's Sunni Arabs: A strategic profile, https://www.iss.europa.eu/sites/default/files/EUISSFiles/Brief%2026%20Iraq%27s%20Sunnis_0.pdf, Zugriff 2.10.2018

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ICTJ - International Center for Transitional Justice (3.2013): A bitter legacy: Lessons of De-Baathification in Iraq, https://www.ictj.org/sites/default/files/ICTJ-Report-Iraq-De-Baathification-2013-ENG.pdf, Zugriff 2.10.2018

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UKHO - United Kingdom Home Office (11.2016): Country Policy and Information Note - Iraq: Ba'athists, https://www.ecoi.net/en/file/local/1313547/1226_1479893786_cpin-irq-baathists-november-2016.pdf, Zugriff 2.10.2018

, Zugriff 27.9.2018

2.5.Rückkehr

Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig - u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Zu einer begrenzten Anzahl an Abschiebungen in den Zentralirak kommt es jedenfalls aus Deutschland, Großbritannien, Schweden und Australien. Rückführungen aus Deutschland in die Autonome Region Kurdistan finden regelmäßig statt (AA 12.2.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf, Zugriff 12.10.2018

2. Beweiswürdigung:

2.1. Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des BVwG.

2.2. Zur Person des BF und seinen individuellen Verhältnissen:

2.2.1. Die im Spruch angeführten, teilweise (Alias-), Identitäten des BF ergaben sich aus den jeweiligen Akteninhalten und dienen nur der gegenständlichen Verfahrensführung.

2.2.2. Die Zugehörigkeit der BF zur arabischen Volksgruppen und sunnitisch-muslimischen Glaubensrichtung ergab sich aus dem diesbezüglich glaubhaften Akteninhalt.

2.2.3. Die Feststellungen zu den familiären Verhältnissen der BF ergaben sich aus dem diesbezüglich glaubhaftem Vorbringen der BF.

Aufgrund diesbezüglich einheitlicher glaubhafter Angaben der BF2 und des BF3 vor dem BFA sind einige Familienangehörige der BF2 und des BF3 in die Türkei und ist ihr Bruder nach Deutschland ausgereist. Dass zwei minderjährige Kinder der BF2 aus ihrer ersten Ehe bei den Großeltern ihres ersten Ehegatten väterlicherseits in Mossul verblieben sind, ergab sich aus den glaubhaften Angaben der BF2 (Niederschrift über Einvernahme vor BFA, S. 3).

Festgestellt werden konnten weitere familiäre Anknüpfungspunkte der BF im Irak.

Zunächst hat sich der BF3 hinsichtlich seines letzten Wohnortes im Irak widersprochen, und zwar insofern, als er in seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 17.07.2017 zunächst angab, zuletzt im Irak bei seiner Mutter und seinen Geschwistern gewohnt zu haben, dann jedoch erklärte, nach dem fluchtauslösenden Vorfall im Mai 2014 bei seinen Verwandten - nahe seiner Eltern - versteckt geblieben zu sein.

Demnach kann noch von Verwandten der BF in der Nähe des Wohnortes der Eltern der BF2 und des BF3 ausgegangen werden.

Festgestellt konnte des Weiteren, dass einer der beiden Brüder des BF1, mit denen er in Mossul ein Malereigeschäft hatte, noch in Mossul lebt, dies aufgrund der glaubhaften Angaben des BF1 in seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 18.07.2017, er habe noch zwei Brüder, die noch am Leben seien (Niederschrift über Einvernahme des BF1 vor dem BFA, S. 4), und seines Vorbringens etwas später in der Einvernahme, der Bruder des BF1, der ihr Geschäft verkauft habe, lebe noch im Irak (Niederschrift über Einvernahme des BF1 vor dem BFA, S. 4). Sein Vorbringen davor, zu dritt mit seinen beiden Brüdern, wovon einer ausgereist und der andere bereits verstorben sei, zusammen einen Malereibetrieb geführt zu haben (Niederschrift über Einvernahme vor dem BFA, S. 3), und sein Vorbringen danach, ein Bruder sei ausgereist, der andere ebenso wie der BF1 bedroht und umgebracht worden (Niederschrift über Einvernahme vor dem BFA, S. 6), und das diesbezügliche Beschwerdevorbringen, einer seiner zwei Brüder sei getötet worden (während der andere ausgereist ist), widerspricht eindeutig seinem glaubhaften Vorbringen vor dem BFA:

"Mein Bruder der noch dort lebt hat das Geschäft verkauft."

(Niederschrift über Einvernahme des BF1, S. 4).

Der BF1 hat sein Vorbringen mitten in der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA, sein "Bruder, der noch dort lebt, hat das Geschäft verkauft", auch nach Rückübersetzung gegen Schluss seiner Einvernahme, nicht korrigiert, sondern angegeben, es sei alles richtig wiedergegeben worden und er habe den Dolmetscher während der gesamten Einvernahme einwandfrei verstanden.

Sein Vorbringen über einen in Mossul lebenden Bruder war somit glaubhaft. Ob die Brüder vor Ausreise des BF1 gemeinsam ihr Geschäft verkauft haben, wie der BF1 zunächst vor dem BFA angab (Niederschrift über Einvernahme des BF1 vor BFA, S. 7), oder das Geschäft nur durch den in Mossul verbliebenen Brüder verkauft worden ist (Niederschrift über Einvernahme des BF1 vor BFA, S. 4), konnte wegen widersprüchlicher Angaben dazu nicht festgestellt werden.

Festgestellt werden konnte jedenfalls, dass das mit den beiden Brüdern des BF1 gemeinsam geführte Geschäft mittlerweile verkauft ist und einer seiner beiden Brüder in Mossul lebt.

Der BF1 hat vor dem BFA zudem glaubhaft vorgebracht, in Mossul noch fünf Schwestern und aufrechten Kontakt zu diesen zu haben. (Niederschrift über Einvernahme des BF1, S. 5)

Mit seinem Beschwerdevorbringen, in Mossul sei kein unterstützendes familiäres oder soziales Netzwerk mehr vorhanden, wollte der BF1 offenbar nur bekräftigen, in Mossul überhaupt keine familiären Anknüpfungspunkte mehr zu haben. Dies ist ihm jedoch nicht gelungen.

Es wird von weiteren Familienangehörigen des BF1 und damit auch der BF2 und BF3 ausgegangen, führte der BF1 doch sowohl in der Erstbefragung als auch in seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 18.07.2017 an, noch fünf Schwestern in Mossul und mit ihnen aufrechten Kontakt zu haben. Seinem nur rund drei Monate später - nach negativer Asylentscheidung des BFA vom 17.10.2017 Ende Oktober 2017 erstatteten Beschwerdevorbringen, es gebe in Mossul kein unterstützendes familiäres oder soziales Umfeld, kann daher nicht geglaubt werden.

2.2.4. Dass der BF1 im Irak mit seinen zwei Brüdern ein Malereigeschäft hatte und bis zu seiner Ausreise im Jahr 2014 als Maler gearbeitet hat, ergibt sich aus seinem diesbezüglich glaubhaften Vorbringen vor dem BFA. (Niederschrift über Einvernahme des BF1 vor BFA, S. 3).

2.3. Zur Ausreise der BF

Die Feststellungen zur Ausreise der BF und ihrem Reiseweg mit den jeweiligen Zwischenhalten bzw. -stationen konnte aufgrund des diesbezüglichen aus den Erstbefragungen der BF hervorgehenden glaubhaften Akteninhalts festgestellt werden.

Nicht festgestellt werden konnte, in welchem Quartalsmonat die BF aus ihrem Herkunftsstaat ausgereist sind, sprach der BF1 doch zunächst davon, im September 2014 seinen Ausreiseentschluss gefasst zu haben und zwei Monate später im November 2014 ausgereist zu sein, gab er jedoch etwas später nach nochmaliger Befragung an, doch bereits im September 2014 ausgereist zu sein und zwei Monate davor seinen Entschluss dazu gefasst zu haben (Niederschrift über Einvernahme des BF1 vor BFA, S. 4).

Der BF1 brachte im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA vor, sie seien zunächst nach Syrien ausgereist. Befragt, ob die Ausreise illegal oder legal gewesen sei, antwortete der BF1:

"Illegal nach Syrien und von Syrien dann weiter." Nach Vorhalt der Angabe des BF1 in seiner Erstbefragung, den Irak legal verlassen zu haben, behauptete der BF1: "Nein, das habe ich nicht gesagt." Weiter befragt, "wieso nach Syrien", gab der BF1 an: "Das geht nicht anders." (Niederschrift über Einvernahme des BF1 vor BFA, S. 4).

Aufgrund des diesbezüglich glaubhaften Vorbringens des BF1 in der Erstbefragung kann jedenfalls von einer legalen Ausreise der BF aus dem Irak ausgegangen werden (Niederschrift über Erstbefragung des BF1, S. 5).

Dass der BF1, wie er vor dem BFA angab, mit den BF2 und BF3 zusammen nicht legal, sondern illegal, ausgereist sein soll, kann aufgrund seines diesbezüglich glaubhaften Vorbringens in der Erstbefragung nicht geglaubt werden, zumal gegen Ende der Erstbefragung ausdrücklich festgehalten wurde, "die aufgenommene Niederschrift wurde mir in einer für mich verständlichen Sprache übersetzt."

Verständigungsprobleme hat der BF1 ausdrücklich ausgeschlossen.

3. Zum Fluchtvorbringen der BF

3.1. Das Fluchtvorbringen des BF1 vor dem BFA, worauf sich auch seine Ehegattin, die BF2, stützte, konnte aufgrund zahlreicher Widersprüche nicht für glaubwürdig gehalten werden.

In der Niederschrift über die Einvernahme des BF1 vor dem BFA wurde zu den vom BF1 vorgebrachten Fluchtgründen Folgendes festgehalten:

"Mein Bruder ist damals bedroht worden und umgebracht. Mein zweiter Bruder ist auch bedroht worden, er reiste aber aus. Ich wurde auch bedroht. Wir haben in einem Bereich der Malerei für Großfirmen gearbeitet. Wir haben eine große Firma gehabt, sodass wir auch für die Regierung gearbeitet und Amtshäuser und ähnliches auch angemalt haben. Das sind Terrorgruppen, die mich und meinen Bruder bedroht haben. Ich wurde zweimal telefonisch bedroht. Ich ging dann zu meinen Schwestern und habe mich dort versteckt....

AW überlegt lange."

Befragt, "und dann", gab der BF1 an, dass er aus Angst geflüchtet sei. (Niederschrift über Einvernahme des BF1 vor BFA, S. 6).

Dieses anfängliche Fluchtvorbringen vor dem BFA war unzusammenhängend, bruchstückhaft und teilweise widersprüchlich:

Der BF1 hat zunächst von einer Bedrohung seiner beiden Brüder berichtet, bevor er eine eigene Bedrohung erwähnte, ist dann kurz auf auch von der "Regierung" übernommene Malerarbeitsaufträge eingegangen, bevor er davon sprach, er selbst und einer seiner Bruder, "mein Bruder", seien von Terrorgruppen bedroht worden, obwohl er anfangs von einer Bedrohung aller drei Personen - des BF1 und seiner beiden Brüder gesprochen hat. Abschließend hat er noch kurzgehalten

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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