TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/12 W191 2224469-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.11.2019
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Entscheidungsdatum

12.11.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W191 2224469-1/3E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde der minderjährigen XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch ihre Mutter XXXX , geboren am XXXX , diese vertreten durch MigrantInnenverein St. Marx, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.10.2019, Zahl 1245747600-190931515, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.10.2019 zu Recht:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 34 Abs. 2 Asylgesetz 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 Asylgesetz 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Die Beschwerdeführer (in der Folge BF) sind afghanische Staatsangehörige. Frau XXXX , geboren am XXXX (BF1), reiste irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am 18.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG). Sie (bzw. ihr Ehemann) stellte in der Folge auch für ihren am XXXX in Österreich geborenen Sohn XXXX (BF2) und ihre ebenfalls in Österreich am XXXX geborene Tochter XXXX (BF3) Anträge auf internationalen Schutz im Familienverfahren.

Eine EURODAC-Abfrage ergab, dass die BF1 am 29.12.2015 in Mytilini (Griechenland) erkennungsdienstlich behandelt worden war.

1.2. In ihrer Erstbefragung am 19.01.2016 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab die BF1 im Beisein eines Dolmetsch (laut Niederschrift für die Sprache Paschtu, laut Aussage der BF1 in der Beschwerdeverhandlung jedoch in der Sprache Dari) im Wesentlichen Folgendes an:

Sie nannte ihre Personalia und gab an, sie komme aus Kabul, sei Angehörige der Volksgruppe der Paschtunen, sunnitische Muslima und verheiratet.

Die BF1 schilderte ihre Reiseroute überblicksmäßig.

Als Grund für ihre Reise nach Österreich gab die BF1 an, dass sie mit einem Mann verlobt worden sei, von dem sie später erfahren habe, dass er Taliban-Anhänger sei. Nachdem sie ihn abgelehnt und ihren nunmehrigen Ehemann geheiratet habe, seien sie und ihre Familie bedroht worden. Deshalb habe sie ihr Vater nach Europa geschickt.

1.3. Bei ihrer Einvernahme am 18.10.2017 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA), Regionaldirektion Wien, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, bestätigte die BF1 die Richtigkeit ihrer bisher gemachten Angaben und gab im Wesentlichen auf Befragung an, dass sie ihren Ehemann über Facebook kennengelernt und am 19.10.2015 in Kabul - in Abwesenheit ihres Mannes - geheiratet habe.

Die BF1 machte Angaben zu ihren Lebensumständen. Sie habe zwölf Jahre die Schule besucht und mit Matura abgeschlossen. Die Reise habe ihr Onkel väterlicherseits, mit dessen Familie sie gereist sei und die nun in Deutschland lebe, organisiert, ihr Vater habe sie bezahlt. Ihr Zielland sei Österreich gewesen, da sie zu ihrem Mann gelangen hätte wollen.

Die BF1 wiederholte ihre Angaben zu der Bedrohung wegen der Ablehnung ihres Verlobten und führte diese auf Befragung näher aus. In Afghanistan sei sie in Gefahr, auch ihr Vater, der die Verlobung bereits bereut habe, könne sie nicht vor der Rache des abgelehnten Mannes und dessen Familie schützen.

Die BF1 gab an, sie sei hier in Österreich vollkommen frei, trage kein Kopftuch und lerne die Sprache. Sie wolle einen Beruf erlernen und hier arbeiten. Sie könne sich frei bewegen und machen, was sie wolle. Die Frauen seien hier gleichberechtigt, in Afghanistan würden Frauen vielen Zwängen unterliegen. Ihr Mann unterstütze sie in dieser Haltung. Er sei berufstätig und könne das Leben der Familie (samt dem zukünftigen Kind) finanzieren.

Der BF1 wurde die Möglichkeit eingeräumt, in "die Länderfeststellungen des BFA zu Afghanistan" (offenbar das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA, ohne Bezeichnung und Erstellungsdatum) Einsicht und Stellung zu nehmen, worauf sie verzichtete.

Sie legte ihre Tazkira (afghanisches Personaldokument), Deutschkursbestätigungen, einen Mutter-Kind-Pass bezüglich ihrer Schwangerschaft und Fotos zu ihrer Hochzeit vor (unchronologisch im Verwaltungsakt vor der Niederschrift eingeordnet).

1.4. Am 23.10.2017 stellte der "Große Afghanische Kulturverein" in 1150 Wien der BF1 und ihrem Ehemann eine Heiratsurkunde aus und bestätigte, dass die Ehe der Scharia gemäß geschlossen worden sei.

1.5. Am 07.03.2018 stellte der am XXXX in Österreich geborene Sohn der BF1, XXXX (BF2), vertreten durch seinen Vater XXXX , ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren.

1.6. Am 24.04.2018 fand vor dem BFA die Einvernahme der BF1 als gesetzliche Vertreterin des BF2 im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari und des nunmehrigen gewillkürten Vertreters der BF statt.

Die BF1 gab an, sie lebe mit ihrem Mann und dem BF2 in aufrechter Lebensgemeinschaft. Der Sohn sei gesund und habe keine eigenen Fluchtgründe.

1.7. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 26.04.2018 den Antrag des BF2 auf internationalen Schutz vom 07.03.2018 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gemäß § 8 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 34 Abs. 3 AsylG im Familienverfahren den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 07.09.2018 (Spruchpunkt III.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF2 und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor.

Dem BF2 wurde im Familienverfahren abgeleitet von seinem Vater (subsidiärer Schutz seit 07.09.2010, Zahl 09 06.098-BAW) subsidiärer Schutz zuerkannt.

1.8. Mit Bescheid vom 04.05.2018 wies das BFA den Antrag der BF1 auf internationalen Schutz vom 18.01.2016 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.) und erkannte ihr den Status einer Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status einer subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.). In Spruchpunkt III. wurde die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (in der Folge: FPG) gemäß § 9 Abs. 2 und 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt und der BF1 eine Aufenthaltsberechtigung gemäß § 55 Abs. 2 AsylG erteilt.

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person der BF1 und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, die BF1 habe nicht glaubhaft gemacht, dass sie eine "westlich orientierte" (selbstbestimmt leben wollen) Lebensweise angenommen habe. Sie habe auch nicht glaubhaft gemacht, dass sie den Vater ihrer Kinder schon im Jahr 2015 von Kabul aus geheiratet habe, und auch die am 23.10.2017 in Wien vollzogene Eheschließungszeremonie nach dem Recht der Scharia könne auf österreichischem Bundesgebiet keine rechtliche Wirkung entfalten.

Die BF1 sei daher zwar keine Familienangehörige des Vaters ihrer Kinder, ihr werde aber in Abwägung aller Interessen eine Aufenthaltsberechtigung erteilt.

1.9. Gegen diese Bescheide brachten die BF fristgerecht mit Schreiben ihres Vertreters vom 28.05.2018 (BF1) bzw. 29.05.2018 (BF2, in dem auf das Schreiben betreffend die BF1 verwiesen wurde) das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen unrichtigen Feststellungen, "Mangelhaftigkeit des Verfahrens" und unrichtiger rechtlicher Beurteilung ein.

In der Beschwerdebegründung wurde im Wesentlichen moniert, dass die BF1 ganz offensichtlich mit ihrem Verhalten gezeigt habe, dass sie ein selbstbestimmtes Leben führen wolle, zumal sie sich geweigert habe, den ihr zugewiesenen Ehemann zu heiraten, ihren Ehemann selbst ausgesucht habe und alleine zu ihm nach Österreich gereist sei. Die Ausführungen des BFA in der Beweiswürdigung seien überwiegend unzutreffend und unnachvollziehbar.

1.10. Das BFA legte die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor, verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung und beantragte, die Beschwerde als unbegründet abzuweisen.

1.11. Am 12.09.2019 stellte die am XXXX ebenfalls in Österreich (Wien) geborene Tochter der BF1, XXXX (BF2), vertreten durch ihren Vater XXXX , ebenfalls einen Antrag auf internationalen Schutz im Familienverfahren.

Eine weitere Einvernahme fand vor dem BFA nicht statt.

1.12. Mit Bescheid vom 07.10.2019 wies das BFA den Antrag der BF3 auf internationalen Schutz vom 12.09.2019 ebenfalls gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihr gemäß § 8 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 34 Abs. 3 AsylG im Familienverfahren den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 07.09.2020 (Spruchpunkt III.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person der BF3 und zur Lage in ihrem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor.

Der BF3 werde jedoch im Familienverfahren abgeleitet von ihrem Vater ebenfalls subsidiärer Schutz zuerkannt.

1.13. Mit Schreiben ihres Vertreters vom 16.10.2019 brachte auch die BF3 gegen diesen Bescheid das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG wegen unrichtigen Feststellungen, "Mangelhaftigkeit des Verfahrens" und unrichtiger rechtlicher Beurteilung ein.

Bezüglich der Beschwerdebegründung wurde auf die Beschwerde der Mutter der BF3, der BF1, verwiesen.

1.14. Das BVwG führte am 14.10.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der die BF im Beisein des Ehemannes der BF1 (und Vater von BF2 und BF3) sowie ihres gewillkürten Vertreters persönlich erschienen. Die belangte Behörde verzichtete im Vorhinein auf die Teilnahme an der Verhandlung.

Dabei gaben die BF1 (als Partei) und ihr Ehemann (als weiteres Auskunftsperson) auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):

"[...] RI [Richter]: Was ist Ihre Muttersprache?

BF1: Dari. Meine Eltern sind zwar Paschtunen, aber da wir von Jalalabad gekommen sind und in Kabul gelebt haben, haben wir - auch zuhause - Dari gesprochen. Ich spreche auch etwas Paschtu. Ich verstehe auch Farsi.

RI an D [Dolmetsch]: In welcher Sprache übersetzen Sie für die BF1?

D: Dari.

RI befragt BF1, ob sie D gut verstehe; dies wird bejaht.

Zur heutigen Situation:

RI: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der heutigen Verhandlung zu folgen?

BF1: Ja.

RI: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten oder anderen Leiden oder Gebrechen?

BF1: Nein.

[...]

Die BF1 hat bisher ihre Tazkira (afghanisches Personaldokument, aus Nangarhar), ihre Heiratsurkunde sowie Deutschkursbestätigungen vorgelegt.

Heute legt sie weiters vor Zeugnis Integrationsprüfung (A2) vom 07.05.2019 sowie die Geburtsurkunde des neugeborenen Mädchens (am XXXX ).

[...]

Zur Identität und Herkunft sowie zu den persönlichen

Lebensumständen:

RI: Sind die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zu Ihrem Namen und Geburtsdatum sowie zu Ihrer Staatsangehörigkeit korrekt?

BF1: Ja.

RI: Welcher ethnischen Gruppe bzw. Volks- oder Sprachgruppe gehören Sie an?

BF1: Ich bin Paschtunin.

RI: Gehören Sie einer Religionsgemeinschaft an, und wenn ja, welcher?

BF1: Ich bin sunnitische Muslima.

RI: Gehen Sie in die Moschee?

BF1: Nein, ich war nur einmal in der Moschee wegen meiner Heiratsurkunde.

RI an den anwesenden Ehemann der BF1 (VP): Stimmt das?

VP [Vertrauensperson]: Ja.

RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?

BF1: Ja, ich bin verheiratet.

RI: Haben Sie Kinder?

BF1: Ja, zwei.

RI: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schul- oder Berufsausbildung absolviert?

BF1: Ich habe zwölf Jahre die Schule besucht.

RI: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?

BF1: Mein Vater sorgte für mich. Mein Vater hat für Gulagha Sherzai gearbeitet. Er ist Minister in Afghanistan, ich glaube für Grenzangelegenheiten.

RI: Wo leben Ihre Verwandten?

BF1: Meine ganze Familie lebt in Afghanistan (die Kernfamilie in Kabul, die anderen großteils in Jalalabad, aber auch in anderen Gegenden), eine Tante väterlicherseits lebt in Deutschland.

RI: Wann haben Sie Ihren Herkunftsstaat zuletzt genau verlassen?

BF1: Im Jahr 2015, Ende des zehnten Monats. Ich reiste mit der Familie meiner Tante, diese lebt jetzt in Deutschland.

RI: Wie haben Sie Ihren Ehemann kennengelernt und geheiratet?

BF1: Wir haben uns auf Facebook kennengelernt. Wir sind auch entfernte Verwandte. Geheiratet haben wir am 19.10.2015 auf telefonischem Wege zuhause, anwesend waren mein Vater, der Onkel väterlicherseits meines Mannes und der Mullah, der die Ehe geschlossen hat.

RI an VP: War das so, wie die BF1 das jetzt erzählt hat?

VP: Ja. Ich habe sie auf Facebook gefunden und zunächst mit ihr ca. zwei Monate lang gechattet. Nach ca. sechs Monaten habe ich sie gefragt, ob sie mich heiraten möchte, dann habe ich mit meinem Onkel geredet.

Zur derzeitigen Situation in Österreich:

RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?

BF1: Nein.

RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.

RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch die D verstehen können?

BF1: Ich verstehe sehr viel von dem, was Sie sagen.

RI stellt fest, dass die BF1 die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und verständlich auf Deutsch beantwortet hat.

RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs, oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?

BF1: Ich besuche derzeit den B1-Kurs, viermal pro Woche von 09:00 Uhr bis 12:00 Uhr, es gibt auch eine Kinderbetreuung.

RI: Haben Sie Arbeit in Österreich? Gehen Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nach?

BF1: Nein, ich habe jetzt zwei kleine Kinder.

RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach?

BF1: Im Moment bin ich sehr viel mit meinen Kindern beschäftigt, aber wenn ich Zeit finde, werde ich Sport machen. Ich werde Laufen, Radfahren, Fußball (die Kinder) und Schwimmen.

RI: Sind Sie immer so gekleidet und geschminkt und tragen die Haare so wie heute?

BF1: Ja, ich mag es sehr, mich zu stylen und modisch unterwegs zu sein.

RI: Waren Sie in Afghanistan auch so gekleidet?

BF1: Nein.

RI: Waren Sie in Österreich von Anfang an so gekleidet?

BF1: Nein, als ich nach Österreich kam, habe ich noch ein Kopftuch getragen, bis ich einen Asylantrag gestellt habe.

RI: Also nur einige Tage?

BF1: Ja. Ab dann habe ich die Haare offen getragen.

RI an VP: Was sagen Sie dazu?

VP (auf Deutsch, er kümmert sich gleichzeitig um das neugeborene Kind): Als sie nach Österreich gekommen ist, hat sie ein Kopftuch getragen. Ich wollte, dass sie ohne Kopftuch geht, aber ihre Familie hätte das nicht gewollt. Eine Freundin von meiner Frau, eine hier geborene Afghanin, hat ihr dann gesagt, sie solle in Österreich ohne Kopftuch gehen, was sie dann nach ca. vier Monaten gemacht hat.

RI: Wissen Ihre Eltern, wie Sie hier gekleidet und geschminkt sind?

BF1: Ja, sie wissen es jetzt.

RI: Und was sagen sie dazu?

BF1: Sie mögen es nicht, sie finden das nicht gut.

RI: Wollen Sie, wenn die Kinder größer sind, arbeiten?

BF1: Ja, ich möchte eine Lehre als Kosmetikerin machen, und dann möchte ich in diesem Bereich arbeiten.

Angemerkt wird, dass die BF1 schwarze Stiefeletten, eine modische Damenstrumpfhose, einen Lederrock (weinrot) und ein Oberteil mit Rollikragen (weinrot) trägt. Sie trägt die Haare gefärbt, lange und offen. Sie ist geschminkt und trägt keinen Schmuck.

RI: Warum tragen Sie keinen Schmuck?

BF1: Ich war heute zu spät dran. Normalerweise trage ich Ohrringe, im Sommer eine Fußkette und einen Ring.

RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?

BF1: Nein.

RI: Unterhalten Sie von Österreich aus noch Bindungen an Ihren Herkunftsstaat, insbesondere Kontakte zu dort lebenden Familienangehörigen, Verwandten, Freunden oder zu sonstigen Personen? Wenn ja, wie sieht dieser Kontakt konkret aus (telefonisch, brieflich, per E-Mail), bzw. wie regelmäßig ist dieser Kontakt?

BF1: Ich telefoniere ca. einmal im Monat mit meiner Mutter und mit meiner Schwester.

RI: Warum nicht mit Ihrem Vater?

BF1: Mein Vater ist meistens böse auf mich und will nicht mit mir reden.

RI: Warum nicht?

BF1: Er war mit meiner Ehe nicht einverstanden, er wollte mich mit jemand anderem verheiraten. Bei der Eheschließung hat er nur zugestimmt, weil ich ihn dazu überredet habe.

Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:

RI: Warum haben Sie Afghanistan verlassen?

BF1: Weil mein Leben dort in Gefahr war, ich musste den Mann, dem mein Vater mich versprochen hatte, heiraten, und das wollte ich nicht. Er war Analphabet und lebte in Jalalabad, Surkhrod, und hatte auch mit den Taliban zusammengearbeitet. Er wollte mich heiraten und sagte, wenn ich ihn nicht heirate, würde er mich töten, er hat mich bedroht. Seine Mutter und seine Schwester sind zu uns gekommen und haben uns (meiner Mutter und mir) das gesagt.

RI: Hat Ihr Vater da nicht Sorge um Ihr Leben gehabt, als er der Heirat zugestimmt hat?

BF1: Mein Vater hatte schon Angst, aber mein Vater hat ihnen dann gesagt, dass ich von zuhause weggelaufen wäre. Wenn sie mich erwischten, sollten sie mich bestrafen, aber er könne mich nicht finden.

RI an VP: Was wissen Sie darüber?

VP: Ich hatte vor der Hochzeit keinen Kontakt mit ihren Eltern. Meine Frau hat mir am Telefon dies so erzählt, dass sie Probleme bekommen hat.

RI an VP: Was machen Sie persönlich?

VP: Ich bin seit ca. drei Jahren Küchenhilfe in einem Installateurbetrieb für die Mitarbeiter. Davor habe ich bei Bauhaus und Kuchenbäcker (bei Schwechat) als Reinigungskraft gearbeitet.

RI an VP: Wollen Sie, dass Ihre Frau, wenn die Kinder größer sind, auch arbeiten geht?

VP: Ja sicher, weil es mit einem Einkommen etwas schwierig ist.

Der RI bringt unter Berücksichtigung des Vorbringens des BF1 auf Grund der dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Informationen die dieser Niederschrift beiliegenden Feststellungen und Berichte [...] in das gegenständliche Verfahren ein.

Der RI erklärt die Bedeutung und das Zustandekommen dieser Berichte. Im Anschluss daran legt der RI die für die Entscheidung wesentlichen Inhalte dieser Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat dar.

Da der BF2 laut weint und unruhig ist, verlässt die VP um 10:15 Uhr auf Ersuchen des RI kurz den Verhandlungssaal und kehrt um 10:20 Uhr wieder zurück.

RI folgt BFV [Vertreter der BF] Kopien dieser Erkenntnisquellen aus und gibt ihm die Möglichkeit, dazu sowie zu den bisherigen Angaben der BF1 eine mündliche Stellungnahme abzugeben oder Fragen zu stellen.

BFV: Was machen Sie in Ihrer Freizeit?

BF1: Ich gehe Einkaufen, ich treffe meine Freundinnen, oder ich gehe mit meinen Kleinen zum Spielplatz.

BFV: Schildern Sie Ihren Tagesablauf.

BF1: In der Früh betreue ich meine Kinder. Dann gehe ich zum Kurs, bis 12:00 Uhr. Danach komme ich nachhause und koche für die Familie. Am Nachmittag gehe ich mit den Kindern in den Park, unter der Woche gehe ich mit meinen Kindern in den Park in der Nähe von uns (VP: bei der Ottakringer-Kirche), am Wochenende gehen wir in den Monkeypark - Handelskai, oder Pogipark - 23. Bezirk, danach gehe ich Einkaufen und so weiter.

BFV: Wir haben auch für das zweite Kind der BF1 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, aber bisher keinen Bescheid erhalten. Vor kurzem ist eine behördliche Verständigung per Post eingelangt, vermutlich handelt es sich dabei um den Bescheid.

RI befragt BF1, ob sie noch etwas Ergänzendes vorbringen will; dies wird verneint.

RI befragt BF1, ob sie D gut verstanden habe; dies wird bejaht.

[...]"

Das erkennende Gericht brachte weitere Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF in das Verfahren ein (aufgelistet unter Punkt 2.).

Dem BFA wurde die Verhandlungsschrift samt Beilagen übermittelt.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in die dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakten des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 19.01.2016 und der Einvernahmen vor dem BFA am 18.10.2017 (bezüglich BF1) und 24.04.2018 (bezüglich BF2), die vorgelegte Tazkira der BF1, die Heiratsbestätigung, Belege betreffend die Integration der BF1 sowie die Beschwerden vom 28.05.2018 (BF1), 29.05.2018 (BF2) und 16.10.2019 (BF3)

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat der BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation sowie eine - nicht im Wege des Parteiengehörs zuvor den BF zur Kenntnis gebrachte - Anfragebeantwortung der Staatendokumentation [des BFA] - ohne Datum - zu "Ehen in Afghanistan - Registrierung und Gültigkeit", Schreiben eines lokalen Rechtsanwaltes in Kabul vom 03.01.2018, Bescheidseiten 112 bis 114 im - unnummerierten - Verwaltungsakt der BF1)

* Einvernahme der BF1 und Befragung ihres Ehemannes als weiteres Auskunftsmittel im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 14.10.2019 sowie Einsichtnahme die in der Verhandlung vorgelegten Dokumente (Zeugnis Integrationsprüfung, Geburtsurkunde der BF3)

* Einsichtnahme in folgende in der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat der BF:

o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat sowie die Lage der Frauen und Kinder (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, zuletzt aktualisiert am 04.06.2019)

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person der BF:

3.1.1. Die BF führen die Namen XXXX , geboren am XXXX in Afghanistan (BF1), ihr Sohn XXXX , geboren am XXXX in Österreich (BF2), und ihre Tochter XXXX , geboren am XXXX ebenfalls in Österreich (BF3). Sie sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, Angehörige der Volksgruppe der Paschtunen und bekennen sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die BF1 spricht Dari und etwas Paschtu.

3.1.2. Lebensumstände:

Die BF1 ist in Kabul geboren und dort gemeinsam mit ihren aus der Provinz Nangarhar stammenden Eltern aufgewachsen. Sie besuchte zwölf Jahre lang die Schule und schloss sie mit der Matura ab.

Ihr Vater ist als Mitarbeiter eines Ministers der afghanischen Regierung erwerbstätig.

3.1.3. Die BF1 hat Ende 2015 aus angegebenen Gründen Afghanistan verlassen und ist gemeinsam mit der Familie ihres Onkels, die nach Deutschland weitergereist ist, nach Europa gereist, wo sie zu ihrem Ehemann in Österreich gelangen wollte und hier am 18.01.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

3.1.4. Die BF1 bemüht sich um ihre Integration in Österreich. Sie hat die Integrationsprüfung abgelegt (Deutsch-Prüfung A2) und besucht derzeit den Deutschkurs B1.

Sie hat in Österreich zwei Kinder geboren und lebt mit diesen und ihrem Ehemann - und Vater ihrer Kinder -, einem afghanischen Staatsangehörigen, der seit dem Jahr 2010 in Österreich aufhältig ist, den Status eines subsidiär Schutzberechtigten genießt und seit ca. drei Jahren als Küchenhilfe in einem Installateurbetrieb für dessen Mitarbeiter erwerbstätig ist (davor war er bei einem Bauunternehmer und einem Bäckereibetrieb als Reinigungskraft tätig), im gemeinsamen Haushalt.

Die BF1 (wie auch ihr Ehemann) ist strafgerichtlich unbescholten.

3.2. Zu den Fluchtgründen der BF:

3.2.1. Die BF1 ist eine auf Eigenständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild (selbstbestimmt leben zu wollen) orientiert ist. In Österreich kleidet, frisiert und schminkt sich die BF1 nach westlicher Mode, trifft Freundinnen, geht Spazieren und will in Zukunft selbst eine Ausbildung machen bzw. einer Erwerbstätigkeit nachgehen und hat den Wunsch, als Kosmetikerin tätig zu sein. Derzeit betreut sie ihre beiden Kleinkinder, besucht aber dennoch viermal in der Woche drei Stunden lang einen Deutschkurs.

Die BF1 lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, wieder nach dem konservativ-afghanischen Wertebild zu leben. Ihre Einstellung und ihr Lebensstil stehen im Widerspruch zu den nach den Länderfeststellungen im Herkunftsstaat bestehenden traditionalistisch-religiös geprägten gesellschaftlichen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind.

Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden und auch entsprechend verfestigten Änderung ihrer Lebensführung würde die BF1 im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

3.2.2. Für den BF2 und die BF3 wurden keine eigenen Fluchtgründe bzw. Rückkehrbefürchtungen vorgebracht.

3.2.3. Es liegen keine Gründe vor, nach denen die BF von der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten auszuschließen wären.

3.3. Zur Lage im Herkunftsstaat der BF:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:

3.3.1. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", zuletzt aktualisiert am 04.06.2019, Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).

Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).

Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).

Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).

Parlament und Parlamentswahlen

Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).

Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).

Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).

Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).

Parteien

Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).

Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 06.05.2018).

Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 06.05.2018).

Parteienlandschaft und Opposition

Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.01.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.09.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.01.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 03.05.2017). Am 04.05.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 04.05.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung, sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.03.2018).

Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb-e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 06.05.2018).

Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 11.10.2017).

Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.05.2017).

Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 151.2016; vgl. AB 295.2017).

Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 06.05.2018; vgl. AAN 21.08.2017).

Friedens- und Versöhnungsprozess

Am 28.02.2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.03.2018; vgl. TS 28.02.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 07.03.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews 16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.03.2018; vgl. TD 07.03.2018, NZZ 28.02.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.04.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen (vgl. Kapitel 3. "Sicherheitslage").

Am 19.05.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.05.2018).

Am 07.06.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.06.2018 - 20.06.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich Am 04.06.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 07.06.2018; vgl. Reuters 07.06.2018, RFL/RL 05.06.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 05.06.2018). Die Taliban selbst gingen am 09.06.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.06.2018; vgl. TH 10.06.2018, Tolonews 09.06.2018).

[...]

3. Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.02.2018).

Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.)

[...]

Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.02.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 09.03.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert (UNGASC 15.03.2016).

[...]

Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.08.2017).

Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielter Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östliche Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.02.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.02.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.02.2018).

[...]

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 06.06.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.02.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.02.2018).

Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.02.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.02.2018).

Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.02.2018, NZZ 21.03.2018, UNGASC 27.02.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.03.2018).

Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 01.06. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.02.2018; vgl. Slate 22.04.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.03.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.03.2018).

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.01.2018; vgl. BBC 29.01.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.01.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.01.2018).

Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.05.2018; AD 20.05.2018).

Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.02.2018), [...]

Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten

Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei zwölf Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 07.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 07.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 07.11.2017)

Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).

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Angriffe auf Behörden zur Wahlregistrierung:

Seit der Ankündigung des neuen Wahltermins durch den afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani im Jänner 2018 haben zahlreiche Angriffe auf Behörden, die mit der Wahlregistrierung betraut sind, stattgefunden (ARN 21.05.2018; vgl. DW 06.05.2018, AJ 06.05.2018, Tolonews 06.05.2018, Tolonews 29.04.2018, Tolonews 220.4.2018).

[...]

Zivilist/innen

[...]

Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verletzte) - damit wurde ein Rückgang von 9% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres 2016 (11.434 zivile Opfer mit 3.510 Toten und 7.924 Verletzen) festgestellt. Seit 2012 wurde zum ersten Mal ein Rückgang verzeichnet: im Vergleich zum Jahr 2016 ist die Anzahl ziviler Toter um 2% zurückgegangen, während die Anzahl der Verletzten um 11% gesunken ist. Seit 01.01.2009 - 31.12.2017 wurden insgesamt 28.291 Tote und 52.366 Verletzte von der UNAMA registriert. Regierungsfeindliche Gruppierungen waren für 65% aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich; Hauptursache dabei waren IEDs, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken (UNAMA 2.2018). Im Zeitraum 01.01.2018 - 31.03.2018 registriert die UNAMA

2.258 zivile Opfer (763 Tote und 1.495 Verletzte). Die Zahlen reflektieren ähnliche Werte wie in den Vergleichsquartalen für die Jahre 2016 und 2017. Für das Jahr 2018 wird ein neuer Trend beobachtet: Die häufigste Ursache für zivile Opfer waren IEDs und komplexe Angriffe. An zweiter Stelle waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten Tötungen, Blindgängern (Engl. UXO, "Unexploded Ordnance") und Lufteinsätzen. Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.04.2018).

Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben - dies deutet auf einen Rückgang von 3% im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nicht-ziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (UNAMA 2.2018).

Im Jänner 2018 waren 56,3% der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14,5% der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29,2% der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.04.2018).

[...]

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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