TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/18 G304 2195614-1

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Veröffentlicht am 18.11.2019
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Entscheidungsdatum

18.11.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

G304 2195614-1/32E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Beatrix LEHNER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, StA.: Irak, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.04.2018, Zl. XXXX, nach Durchführung mündlicher Verhandlungen am 18.07.2018 und am 06.06.2019, zu Recht erkannt:

A)

I. Der Beschwerde wird stattgegeben und dem BF gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

II. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass dem BF kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Am 27.10.2015 stellte der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Am 27.10.2015 wurde er von Organen der Sicherheitspolizei einer Erstbefragung unterzogen. Im Zuge dieser gab der BF zu seinem Fluchtgrund wörtlich an:

"Vor zwei Jahren bin ich vom Shiiten Glauben zum Sunniten Glauben gewechselt, worauf es immer zu Bedrohungen gegen mein Leben kam. Es wurde mir auch geraten, das Land zu verlassen. Es handelt sich dabei um eine Gruppierung von Milizen von Schiiten, welche mich bedrohten."

Zu seiner Rückkehrbefürchtung befragt gab der BF an:

"Dass ich von der Gruppe getötet werde."

3. Am 23.03.2018 wurde der BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA oder belangte Behörde) niederschriftlich einvernommen.

Dabei hielt der BF im Wesentlichen sein Fluchtvorbringen aus der Erstbefragung aufrecht und verwies er zunächst auf

"2-3 Fehler: 1. Ich kam nicht mit dem Auto von der Türkei nach Innsbruck, ich wurde jedoch nur bis an die Grenze von Österreich gebracht und ich fuhr mit dem Zug ca. 5-6 Stunden nach Innsbruck; 2. Wir wohnen in (...) und nicht in (...) - beides ist jedoch in Bagdad; 3. Es wurde geschrieben, dass ich Schiit war und Sunnit wurde, aber mein Vater ist Sunnit und meine Mutter Schiitin und ich habe keine Religion."

Befragt, warum der BF dann nach seiner Erstbefragung das Protokoll unterzeichnet hat, gab der BF an:

"Ich war sehr müde und wollte nur schlafen gehen."

Dann schilderte der BF nach Aufforderung dazu seinen Fluchtgrund detaillierter.

4. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 16.04.2018 wurde der Antrag des auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), der Antrag bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak gemäß § 8 Abs. 1 iVm. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.), dem BF gemäß § 57 AsylG 2005 ein Aufenthaltstitel nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen den BF gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm. § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des BF gemäß 46 FPG in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt V.), und ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

5. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben. Dabei wurde beantragt, den angefochtenen Bescheid zu beheben und die Angelegenheit zur Verfahrensergänzung an die belangte Behörde zurückzuverweisen, in eventu eine mündliche Verhandlung durchzuführen und ihm den Status des Asyl-, in eventu den Status des subsidiären Schutzes zuzuerkennen, in eventu die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig zu erklären.

6. Die gegenständliche Beschwerde samt dazugehörigem Verwaltungsakt langte am 17.05.2018 beim Bundesverwaltungsgericht (im Folgenden: BVwG) ein.

7. Am 18.07.2018 wurde vor dem BVwG, Außenstelle Graz, mit dem BF und seinem Vertreter im Beisein eines Dolmetschers für die arabische Sprache eine mündliche Verhandlung durchgeführt.

8. Am 06.06.2019 wurde vor dem BVwG, Außenstelle Graz, mit dem BF und seinem Vertreter im Beisein eines Dolmetschers für die arabische Sprache erneut eine mündliche Verhandlung durchgeführt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der BF ist Staatsangehöriger von Irak und stammt aus Bagdad, und bekennt sich nicht mehr, wie früher, zu seinem sunnitisch-muslimischen Glauben. Geprägt von (diskriminierenden) Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten ist der BF gemischt-ethnischer Abstammung, gehört sein Vater doch der sunnitisch-muslimischen und seine Mutter der schiitisch-muslimischen Glaubensrichtung an, aus innerer Überzeugung gänzlich vom Islam abgefallen.

1.2. Der BF hat in Bagdad noch seine Eltern, ansonsten im Irak jedoch keine familiären Anknüpfungspunkte.

1.3. Das Fluchtvorbringen des BF, im Irak, nachdem er im Zuge seiner Tätigkeit im öffentlichen Sicherheitswachedienst ein von schiitischen Milizangehörigen rechtswidrig an den Tag gelegtes Verhalten seinem Vorgesetzten gemeldet gehabt habe, später auf dem Heimweg von zwei unbekannten schiitischen Milizangehörigen bedroht worden zu sein, vor dieser Bedrohung von der Polizei keinen Schutz erhalten zu haben, sich dann aus Angst vor den schiitischen Milizangehörigen zunächst eine Zeit lang bei seiner Schwester und dann, als er erfahren habe, dass nach ihm gesucht werde, eine Zeit lang bei einem Freund in ländlicher Gegend aufgehalten zu haben und dann ausgereist zu sein, wird für wahr gehalten und gegenständlichen Feststellungen zugrunde gelegt.

Die in Bagdad verbliebenen Eltern des BF werden seit Ausreise des BF immer wieder von schiitischen Milizangehörigen aufgesucht und nach dem BF befragt.

Den schiitischen Milizangehörigen der Miliz Asa¿ib Ahl Al-Haqq, die ihn im Bagdad bedroht haben, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit seine gemischt-ethnische Abstammung und sein Abfall vom Islam bekannt worden.

2. Zur Lage im Irak

2.1. Sicherheitslage Bagdad

Die Provinz Bagdad ist die kleinste und am dichtesten bevölkerte Provinz des Irak, mit einer Bevölkerung von mehr als sieben Millionen Menschen. Die Mehrheit der Einwohner Bagdads sind Schiiten. In der Vergangenheit umfasste die Hauptstadt viele gemischte schiitische, sunnitische und christliche Viertel, der Bürgerkrieg von 2006-2007 veränderte jedoch die demografische Verteilung in der Stadt und führte zu einer Verringerung der sozialen Durchmischung sowie zum Entstehen von zunehmend homogenen Vierteln. Viele Sunniten flohen aus der Stadt, um der Bedrohung durch schiitische Milizen zu entkommen. Die Sicherheit der Provinz wird sowohl vom "Baghdad Operations Command" kontrolliert, der seine Mitglieder aus der Armee, der Polizei und dem Geheimdienst zieht, als auch von den schiitischen Milizen, die als stärker werdend beschrieben werden (OFPRA 10.11.2017).

Im Jahr 2016 verzeichnete die Provinz Bagdad noch immer die höchste Zahl an Opfern im gesamten Land. Die Sicherheitslage verbesserte sich jedoch in Bagdad als die Schlacht um Mosul begann. Während Joel Wing im Januar 2016 in Bagdad noch durchschnittlich 11,6 Angriffe pro Tag verzeichnete, sank diese Zahl zwischen April und September 2017 auf durchschnittlich 3 Angriffe pro Tag (OFPRA 10.11.2017; vgl. Joel Wing 8.7.2017, Joel Wing 4.10.2017). Seit 2016 ist das Ausmaß der Gewalt in Bagdad allmählich zurückgegangen. Es gab einen Rückgang an IS-Aktivität, nach den Vorstößen der irakischen Truppen im Nordirak, obwohl der IS weiterhin regelmäßig Angriffe gegen militärische und zivile Ziele durchführt, insbesondere, aber nicht ausschließlich, in schiitischen Stadtvierteln. Darüber hinaus sind sunnitische Bewohner der Gefahr von Übergriffen durch schiitische Milizen ausgesetzt, einschließlich Entführungen und außergerichtlichen Hinrichtungen (OFPRA 10.11.2017).

Terroristische und politisch motivierte Gewalt setzte sich das ganze Jahr 2017 über fort. Bagdad war besonders betroffen. UNAMI berichtete, dass es von Januar bis Oktober 2017 in Bagdad fast täglich zu Angriffen mit improvisierten Sprengkörpern kam. Laut UNAMI zielten einige Angriffe auf Regierungsgebäude oder Checkpoints ab, die von Sicherheitskräften besetzt waren, während viele andere Angriffe auf Zivilisten gerichtet waren. Der IS führte Angriffe gegen die Zivilbevölkerung durch, einschließlich Autobomben- und Selbstmordattentate (USDOS 20.4.2018).

Laut Joel Wing kam es im Januar 2018 noch zu durchschnittlich 3,3 sicherheitsrelevanten Vorfällen in Bagdad pro Tag, eine Zahl die bis Juni 2018 auf durchschnittlich 1,1 Vorfälle pro Tag sank (Joel Wing 3.7.2018). Seit Juni 2018 ist die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle in Bagdad langsam wieder auf 1,5 Vorfälle pro Tag im Juli, 1,8 Vorfälle pro Tag im August und 2,1 Vorfälle pro Tag im September gestiegen. Diese Angriffe bleiben Routine, wie Schießereien und improvisierte Sprengkörper und konzentrieren sich hauptsächlich auf die äußeren südlichen und nördlichen Gebiete der Provinz (Joel Wing 6.10.2018).

Insgesamt kam es im September 2018 in der Provinz Bagdad zu 65 sicherheitsrelevanten Vorfällen. Damit verzeichnete Bagdad die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen im ganzen Land (Joel Wing 6.10.2018). Auch in der ersten und dritten Oktoberwoche 2018 führte Bagdad das Land in Bezug auf die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle an. Wenn man jedoch die Größe der Stadt bedenkt, sind Angriffe immer noch selten (Joel Wing 9.10.2018 und Joel Wing 30.10.2018).

In Bezug auf die Opferzahlen war Bagdad von Januar bis März 2018, im Mai 2018, sowie von Juli bis September 2018 die am schwersten betroffene Provinz im Land (UNAMI 1.2.2018; UNAMI 2.3.2018; UNAMI 4.4.2018; UNAMI 31.5.2018; UNAMI 1.8.2018; UNAMI 3.9.2018; UNAMI 1.10.2018). Im September 2018 verzeichnete UNAMI beispielsweise 101 zivile Opfer in Bagdad (31 Tote, 70 Verletzte) (UNAMI 1.10.2018).

Quellen:

? Joel Wing - Musings on Iraq (8.7.2017): 3,230 Dead, 1,128 Wounded

In Iraq June 2017,

https://musingsoniraq.blogspot.com/2017/07/3230-dead-1128-wounded-in-iraq-june-2017.html, Zugriff 1.11.2018

? Joel Wing - Musings on Iraq (4.10.2017): 728 Dead And 549 Wounded

In September 2017 In Iraq,

https://musingsoniraq.blogspot.com/2017/10/728-dead-and-549-wounded-in-september.html, Zugriff 1.11.2018

? Joel Wing - Musings on Iraq (6.10.2018): Islamic State Returns To Baghdad While Overall Security In Iraq Remains Steady, https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/10/islamic-state-returns-to-baghdad-while.html , Zugriff 30.10.2018

? Joel Wing - Musings on Iraq (9.10.2018): Security In Iraq Oct 1-7, 2018,

https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/10/security-in-iraq-oct-1-7-2018.html, Zugriff 1.11.2018

? Joel Wing - Musings on Iraq (30.10.2018): Security In Iraq Oct 22-28, 2018,

https://musingsoniraq.blogspot.com/2018/10/security-in-iraq-oct-22-28-2018.html, Zugriff 1.11.2018

? OFPRA - Office Français de Protection des Réfugiés et Apatrides (10.11.2017): The Security situation in Baghdad Governorate, https://www.ofpra.gouv.fr/sites/default/files/atoms/files/39_irq_security_situation_in_baghdad.pdf, Zugriff 31.10.2018UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (1.2.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of January 2018,

http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8500:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-january-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

? UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (2.3.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of February 2018, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8643:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-february-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

? UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (4.4.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of March 2018, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=8801:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-march-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

? UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (31.5.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of May 2018, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=9155:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-may-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

? UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (1.8.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of July 2018, http://www.uniraq.org/index.php?

option=com_k2&view=item&id=9402:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-july 2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

? UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (3.9.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of August 2018, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=9542:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-august-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 1.11.2018

? UNAMI - United Nations Assistance Mission in Iraq (1.10.2018): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of September 2018, http://www.uniraq.org/index.php?option=com_k2&view=item&id=9687:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-september-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 31.10.2018

? USDOS - United States Department of State (20.4.2018): Country Report on Human Rights Practices 2017 - Iraq, https://www.ecoi.net/de/dokument/1430110.html , Zugriff 31.10.2018

2.2. Religionsfreiheit

Die Verfassung erkennt das Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit weitgehend an. Gemäß Art. 2 Abs. 1 ist der Islam Staatsreligion und eine Hauptquelle der Gesetzgebung (AA 12.2.2018). Es darf kein Gesetz erlassen werden das den "erwiesenen Bestimmungen des Islams" widerspricht (USDOS 29.5.2018; vgl. RoI 15.10.2005). In Abs. 2 wird das Recht einer jeden Person auf Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf deren Ausübung garantiert. Explizit erwähnt werden in diesem Zusammenhang Christen, Jesiden und Mandäer-Sabäer, jedoch nicht Anhänger anderer Religionen (RoI 15.10.2005; vgl. USDOS 29.5.2018).

Art. 3 der Verfassung legt ausdrücklich die multiethnische, multireligiöse und multikonfessionelle Ausrichtung des Irak fest, betont aber auch den arabisch-islamischen Charakter des Landes (AA 12.2.2018; vgl. UNHCR 15.1.2018).

2.2.1. Atheismus, Agnostizismus, Kritik an konfessioneller Politik

Das irakische Strafgesetzbuch enthält keine Artikel, die eine direkte Bestrafung für Atheismus vorsehen. Es gibt auch keine speziellen Gesetze, die Strafen für Atheisten vorsehen. (Al-Monitor 1.4.2018; vgl. EASO 7.2017, EASO 11.4.2018, Landinfo 29.8.2018). Die irakische Verfassung garantiert Atheisten nicht die freie Glaubensausübung (USDOS 29.5.2018). Im März 2018 wurden in Dhi Qar Haftbefehle gegen vier Iraker aufgrund von Atheismus-Vorwürfen erlassen (Al-Monitor 1.4.2018).

Der Irak ist ein zutiefst religiöses Land, in dem Atheismus selten ist (PRI 17.1.2018; vgl. RDC 31.1.2018). Trotzdem berichten Universitätsstudenten landesweit, dass es noch nie so viele Atheisten im Irak gegeben habe wie heute (WZ 9.10.2018).

Obwohl in der Bevölkerung verschiedene Grade der Religiosität vertreten sind und ein Segment der Iraker eine säkulare Weltanschauung vertritt, ist es dennoch selten, dass sich jemand öffentlich zum Atheismus bekennt. Die meisten Atheisten verstecken ihre Identität. Manchmal sagen sie, dass sie Muslime seien, insgeheim sind sie jedoch Atheisten (EASO 7.2017).

Quellen:

? AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf

? Al-Monitor (1.4.2018): Iraqi courts seeking out atheists for prosecution,

https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2018/03/atheists-iraq-human-rights.html, Zugriff 24.10.2018

? EASO - European Asylum Support Office (11.4.2018): Iraq: COI Query Response on atheism, especially in Baghdad (treatment of atheists by non-state and state actors and militias; state protection), https://www.ecoi.net/en/file/local/1429402/5228_1523539284_66-q-iraq-atheism.pdf, , Zugriff 25.7.2018

? EASO - European Asylum Support Office (7.2017): EASO COI Meeting Report: Iraq; Practical Cooperation Meeting, 25-26 April 2017, Brussels,https://www.ecoi.net/en/file/local/1404903/90_1501570991_easo-2017-07-iraq-meeting-report.pdf, Zugriff 5.11.2018

? Landinfo (29.8.2018): Irak: Apostasi og ateisme, https://www.ecoi.net/en/file/local/1442030/4792_1535643188_irak-respons-apostasi-og-ateisme-grha-29082018.pdf, Zugriff 24.10.2018

? PRI - Public Radio International (17.1.2018): ISIS turned this young Iraqi Christian into an atheist, https://www.pri.org/stories/2018-01-17/isis-turned-young-iraqi-christian-atheist, Zugriff 24.10.2018

? UNHCR - United Nations High Commissioner for Refugees (15.1.2018):

Situation of Christians in Baghdad, http://www.refworld.org/docid/5a66f80e4.html, Zugriff 29.8.2018

? USDOS - United States Department of State (29.5.2018):

International Religious Freedom Report 2017 - Iraq, https://www.state.gov/j/drl/rls/irf/2017/nea/280984.htm, Zugriff 26.7.2018

? WZ - Wiener Zeitung (9.10.2018): Schlüsselland Irak, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/welt/weltpolitik/994916_Schluesselland-Irak.html, Zugriff 24.10.2018

2.2.2. Bestrafung bei Abfall vom Islam

Die im Mai 2012 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus dem Irak des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR), beschreiben, dass es einen Widerspruch zwischen den in der Verfassung verankerten Prinzipien der Religionsfreiheit und dem im Irak geltenden islamischen Recht gebe. Die irakische Verfassung verlange, dass der Staat sowohl die Religionsfreiheit als auch die Prinzipien des Islams, die aus der Sicht vieler islamischer Gelehrter die Todesstrafe bei einem Abfall vom Islam vorsehen würden, aufrechterhalten solle. Das irakische Strafrecht verbiete zwar nicht die Konversion vom Islam zum Christentum - oder zu einer anderen Religion, das irakische Personenstandsgesetz würde allerdings eine gesetzliche Anerkennung bei Änderung der Religionszugehörigkeit nicht vorsehen. Diese offenbaren Widersprüche seien noch nicht vor Gericht angefochten worden, daher bleibe die gesetzliche Situation von KonvertInnen unklar (UNHCR, 31. Mai 2012, S. 28).

Weiters beschreiben die UNHCR-Richtlinien, dass im Irak keine Schari¿a-Gerichte existieren würden, die einen Konvertiten zum Tode verurteilten könnten. Es sei jedoch möglich, dass einzelne Akteure Angelegenheiten selbst in die Hände nehmen und Angriffe auf KonvertInnen verüben. Wie bereits erläutert, bestehe außerdem Unklarheit, wir das irakische Rechtssystem mit Fällen von Apostasie umgehen solle. UNHCR beschreibt dabei insbesondere die entsprechenden widersprüchlichen Artikel in der Verfassung, nämlich Art. 2 - Islamisches Recht als grundlegende Quelle der Gesetzgebung, Art. 2 (2) und 2(1C) - religiöse und Grundfreiheiten und Art. 37 (2) - Schutz vor religiösem Zwang (UNHCR, 31. Mai 2012, S. 140).

In einer im Jahr 2008 veröffentlichten Analyse zum Umgang mit Apostasie im Irak beschreibt Timothy G. Burroughs im Hofstra Law Review, einer in den USA herausgegebenen wissenschaftlichen Fachzeitschrift, dass von Gewalt durch vigilante Gruppen eine bei weitem größere Gefahr für ApostatInnen ausgehe als von staatlichen Strafmaßnahmen. Der Glaube, dass ein Apostat eine "persona non grate" sei, sei im gesamten Nahmen Osten nach wie vor verbreitet. Extremisten würden sich hierauf berufen, um Mord und militantes Vorgehen zu rechtfertigen. (Burroughs, 2008, S. 555.556).

Quelle:

? ACCORD - Anfragebeantwortung zum Irak: Bestrafung bei Abfall vom Islam und Konversion zum Christentum (a-9511-1), 12.02.2016

2.2.3. Folgen eines Abfalls vom Islam

Gemäß den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus dem Irak von Mai 2012 hat die Konversion eines Muslims/einer Muslimin zum Christentum wahrscheinlich Ausgrenzung und Gewalt durch Gemeinde, Stamm oder Familie zur Folge. Auch sind gemäß dieser Quelle viele religiöse (sunnitische und schiitische) und politische Führer im Irak der Meinung, dass die Abkehr vom Islam mit dem Tod bestraft werden sollte, beziehungsweise die Tötung von Apostaten eine religiöse Pflicht ist. Richtet sich ein Opfer von Belästigung an die Behörden, kann dies zu weiteren Belästigungen oder Gewalt durch Behördenvertreter und Polizei führen.

Quelle:

? Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20 Mai 2016 zu Irak:

Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden

2.3.Rückkehr

Die freiwillige Rückkehrbewegung irakischer Flüchtlinge aus anderen Staaten befindet sich im Vergleich zum Umfang der Rückkehr der Binnenflüchtlinge auf einem deutlich niedrigeren, im Vergleich zu anderen Herkunftsstaaten aber auf einem relativ hohen Niveau. Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig - u.a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. (...) (AA 12.2.2018).

Quelle:

? AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschland-auswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf, Zugriff 12.10.2018

2. Beweiswürdigung:

2.1. Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Inhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des BVwG.

2.2. Zur Person des BF und seinen individuellen Verhältnissen

2.2.1. Die Identität und die Staatsangehörigkeit des BF beruht auf dem diesbezüglich glaubhaften Akteninhalt.

2.2.2. Dass der Vater des BF der sunnitisch-muslimischen und seine Mutter der schiitisch-muslimischen Glaubensrichtung angehört und der BF gänzlich vom Islam abgefallen ist, beruht bereits auf seinem diesbezüglich glaubhaften Vorbringen vor dem BFA (Niederschrift über Einvernahme vor BFA, S. 4). Der BF gab im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA bei der Datenaufnahme an, "ohne Religionsbekenntnis" zu sein, hat in seiner Erstbefragung jedoch seine sunnitisch-muslimische Glaubensrichtung angegeben, mit dieser Angabe jedoch offenbar nur auf seine in Bagdad offiziell bekannte Glaubensrichtung und nicht seine innere religiöse Einstellung Bezug genommen.

In der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 18.07.2018 gab der BF, befragt, ob er einer Religionsgemeinschaft angehöre, glaubhaft an:

"Ich bin ohne Bekenntnis. Ich bin als Muslim geboren. Meine Mutter ist Schiitin und mein Vater ist Sunnit. Ich war bis zu meinem Religionsaustritt Sunnit. (VH-Niederschrift vom 18.07.2018, S. 4)"

Er konnte glaubhaft machen, dass er einer gemischt-ethnischen Ehe entstammt, selbst vom Islam abgefallen ist und bis zu seinem Glaubensabfall seinem Vater folgend der sunnitisch-muslimischen Glaubensrichtung angehört hat.

Der BF brachte in der mündlichen Verhandlung am 18.07.2018 zudem glaubhaft vor, dass für ihn die Religion nie eine Rolle gespielt hat.

Die im Herkunftsstaat erlebten (diskriminierenden) Auseinandersetzungen zwischen Sunniten und Schiiten sind für die Abkehr des BF gemischt-ethnischer Abstammung vom islamischen Glauben mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mitauslösend gewesen.

In der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 18.07.2018 brachte der BF glaubhaft vor:

"Ich habe keine Religion akzeptiert und deswegen habe ich auch die Bezirke nicht ernst genommen, in denen die Sunniten leben. (VH-Niederschrift vom 18.07.2018, S. 7)."

Der BF hat bei der verhandelnden Richterin den Eindruck hinterlassen, dass er sich in Österreich wie befreit fühle, weil man hier auch ohne Religionszugehörigkeit respektiert wird.

Glaubhaft gemacht werden konnte im gegenständlichen Fall, dass der BF von seiner Abwendung vom muslimischen Glauben und seiner innerlichen atheistischen Einstellung fest überzeugt ist.

2.3. Zum Fluchtvorbringen

2.3.1. Das Fluchtvorbringen des BF, im Irak, nachdem er im Zuge seiner Tätigkeit im öffentlichen Sicherheitswachedienst ein von schiitischen Milizangehörigen rechtswidrig an den Tag gelegtes Verhalten seinem Vorgesetzten gemeldet gehabt habe, später auf dem Heimweg von zwei unbekannten schiitischen Milizangehörigen bedroht worden zu sein, vor dieser Bedrohung von der Polizei keinen Schutz erhalten zu haben, sich dann aus Angst vor den schiitischen Milizangehörigen zunächst eine Zeit lang bei seiner Schwester und dann, als er erfahren habe, dass nach ihm gesucht werde, eine Zeit lang bei einem Freund in ländlicher Gegend aufgehalten zu haben und dann ausgereist zu sein, wird für wahr gehalten und gegenständlichen Feststellungen zugrunde gelegt.

Das Vorbringen des BF rund um seine fluchtauslösende Bedrohung vor Ausreise war vor dem BFA und in den nachfolgenden Beschwerdeverhandlungen vor dem BVwG im Wesentlichen gleichlautend und glaubhaft. Die verhandelnde Richterin konnte in den mündlichen Verhandlungen von der persönlichen Glaubwürdigkeit und der Glaubwürdigkeit des Fluchtvorbringens des BF überzeugt werden.

Der BF gab in der mündlichen Verhandlung am 18.07.2018 nach Schilderung des fluchtauslösenden Vorfalles bzw. der Bedrohung durch zwei schiitische Milizangehörige Folgendes glaubhaft an:

"Ich habe mich nicht mehr getraut zu Hause zu bleiben. Am nächsten Tag ging ich zu meiner Schwester. Ich habe mich 4-5 Monate lang bei ihr versteckt und traute mich nicht hinaus zu gehen. (...) Als ich gemerkt habe, dass man nach mir sucht, rief ich meinen besten Freund an, um zu ihm zu kommen. Ich habe dann die Flucht ergriffen und bin 8-9 Monate bei meinem Freund geblieben. Ich habe gesehen, dass ich es nicht mehr aushalte, mich immer zu verstecken und mich als Gefangener zu fühlen. (...) Ich beschloss aus dem Land auszuwandern (...). (VH-Niederschrift, S. 7)."

Dass sich der BF nach der fluchtauslösenden Bedrohung durch zwei schiitische Milizangehörige zunächst bei seiner Schwester und dann bei einem Freund versteckt hat, wurde von ihm auch in seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA vorgebracht (Niederschrift der Einvernahme des BF vor BFA, S. 8).

Dass der BF aus einer gemischt-ethnischen Ehe mit schiitisch-muslimischer Mutter und sunnitisch-muslimischem Vater entstammt, vom Islam gänzlich abgefallen ist und zuletzt vor seinem Glaubensabfall der sunnitisch-muslimischen Glaubensrichtung seines Vaters gefolgt ist, ist den schiitischen Milizangehörigen in Bagdad mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit vor Ausreise des BF bekannt worden.

Aufgrund seines diesbezüglich glaubhaften Vorbringens vor dem BFA (Niederschrift vor dem BFA, S. 9) und in der mündlichen Verhandlung vom 06.06.2019 (VH-Niederschrift vom 06.06.2019, S. 4) konnte festgestellt werden, dass die in Bagdad verbliebenen Familienangehörigen des BF seit seiner Ausreise immer wieder von schiitischen Milizangehörigen aufgesucht und nach ihm gefragt werden.

2.3.2. Am 17.09.2018 langte beim BVwG eine Stellungnahme des Rechtsvertreters des BF ein, in welcher vorgebracht wurde, dass der BF "ohne Religionsbekenntnis" als vom islamischen Glauben abgefallen gelte und damit einer Risikogruppe angehöre, und auf folgenden Länderbericht aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak vom 24.08.2018, S. 125 -169, hingewiesen wurde:

"Es existieren zwar keine Gesetze im irakischen Zivil- oder Strafrecht, die Strafen für Personen vorsehen, die vom islamischen Glauben abfallen, es gibt jedoch Gesetze und Regulierungen, die die Konversion vom islamischen Glauben zu anderen Religionen verhindern. Iraks Muslime sind aber darüber hinaus auch nach wie vor der Scharia, dem islamischen Recht, untergeordnet. Diese verbietet Apostasie, also den Abfall vom islamischen Glauben. Menschen, die den islamischen Glauben ablegen wollen, sind darüber hinaus oft ernsthafter Verfolgung durch die Gesellschaft ausgesetzt, werden zum Teil sogar getötet, oftmals von den eigene Angehörigen / Bekannten. Feindseligkeiten gegenüber den Konvertiten oder Atheisten sind im Irak weit verbreitet (IRB 10.6.2014, vgl. IRB 2.9.2016)."

Im Zuge der mündlichen Verhandlung am 06.06.2019 brachte der Rechtsvertreter des BF vor, dass es die Möglichkeit gibt, "dass der BF, weil er eben Atheist ist, bedroht ist, dass sein Leben gefährdet ist, weil es Angriffe gegen Atheisten gibt."

Der Rechtsvertreter des BF legte diesbezüglich Länderberichte vor, und zwar

* 2.3.2.1. ein Schnellrechercheergebnis der SFH-Länderanalyse vom 20. Mai 2016 zu Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden, wonach es bei Abkehr vom islamischen Glauben in der Autonomen Region Kurdistan zu Gewalt, Diskriminierungen, und staatlicher Schutzunwilligkeit, sogar Belästigungen und Gewalt durch Behördenvertreter und Polizei kommen könne, und

* 2.3.2.2. eine ACCORD-Anfragebeantwortung zum Irak vom 12.02.2016:

Bestrafung bei Abfall vom Islam und Konversion zum Christentum (a-9511-1).

3. Zur Lage im Irak

Die Länderfeststellungen beruhen auf dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 20.11.2018 und den vom Rechtsvertreter des BF im Zuge der mündlichen Verhandlung am 06.06.2019 vorgelegten Länderberichten - der ACCORD-Anfragebeantwortung zum Irak vom 12.02.2016: Bestrafung bei Abfall vom Islam und Konversion zum Christentum (a-9511-1), und Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 20. Mai 2016 zu Irak: Gesetzliche Lage für die Abkehr vom Islam in der Autonomen Region Kurdistan, Schutzwille der Behörden.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das Bundesgesetz über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 1 BFA-VG bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

3.2. Zu Spruchteil A):

Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

3.2.1. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG 2005 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318;

09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN;

19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131;

25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 05.11.1992, Zl. 92/01/0792; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt nicht gewährleistet wird (vgl. VwGH 01.06.1994, Zl. 94/18/0263; 01.02.1995, Zl. 94/18/0731). Die mangelnde Schutzfähigkeit hat jedoch nicht zur Voraussetzung, dass überhaupt keine Staatsgewalt besteht - diesfalls wäre fraglich, ob von der Existenz eines Staates gesprochen werden kann -, die ihren Bürgern Schutz bietet. Es kommt vielmehr darauf an, ob in dem relevanten Bereich des Schutzes der Staatsangehörigen vor Übergriffen durch Dritte aus den in der GFK genannten Gründen eine ausreichende Machtausübung durch den Staat möglich ist. Mithin kann eine von dritter Seite ausgehende Verfolgung nur dann zur Asylgewährung führen, wenn sie von staatlichen Stellen infolge nicht ausreichenden Funktionierens der Staatsgewalt nicht abgewendet werden kann (VwGH 22.03.2000, Zl. 99/01/0256).

Verfolgungsgefahr kann nicht ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Einzelverfolgungsmaßnahmen abgeleitet werden, vielmehr kann sie auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 22.10.2002, Zl. 2000/01/0322).

Die Voraussetzungen der GFK sind nur bei jenem Flüchtling gegeben, der im gesamten Staatsgebiet seines Heimatlandes keinen ausreichenden Schutz vor der konkreten Verfolgung findet (VwGH 08.10.1980, VwSlg. 10.255 A). Steht dem Asylwerber die Einreise in Landesteile seines Heimatstaates offen, in denen er frei von Furcht leben kann, und ist ihm dies zumutbar, so bedarf er des asylrechtlichen Schutzes nicht; in diesem Fall liegt eine sog. "inländische Fluchtalternative" vor. Der Begriff "inländische Fluchtalternative" trägt dem Umstand Rechnung, dass sich die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wenn sie die Flüchtlingseigenschaft begründen soll, auf das gesamte Staatsgebiet des Heimatstaates des Asylwerbers beziehen muss (VwGH 08.09.1999, Zl. 98/01/0503 und Zl. 98/01/0648).

Grundlegende politische Veränderungen in dem Staat, aus dem der Asylwerber aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung geflüchtet zu sein behauptet, können die Annahme begründen, dass der Anlass für die Furcht vor Verfolgung nicht (mehr) länger bestehe. Allerdings reicht eine bloße - möglicherweise vorübergehende - Veränderung der Umstände, die für die Furcht des betreffenden Flüchtlings vor Verfolgung mitbestimmend waren, jedoch keine wesentliche Veränderung der Umstände iSd. Art. 1 Abschnitt C Z 5 GFK mit sich brachten, nicht aus, um diese zum Tragen zu bringen (VwGH 21.01.1999, Zl. 98/20/0399; 03.05.2000, Zl. 99/01/0359).

3.2.2. Im gegenständlichen Fall wurde der BF vor seiner Ausreise von Angehörigen der schiitischen Miliz Asa¿ib Ahl a-Haqq bedroht. Der fluchtauslösenden Bedrohung des BF, wovor er sich, bevor er ausgereist ist, zunächst bei seiner Schwester und dann, als er erfahren hat, dass nach ihm gesucht wird, anderswo bei einem Freund versteckt gehalten hat, ist eine im Zuge der Tätigkeit im öffentlichen Sicherheitswachedienst vorgenommene Meldung einer rechtswidrigen Handlung schiitischer Milizangehöriger an seinen Vorgesetzten vorangegangen.

Den schiitischen Milizangehörigen ist vor seiner Ausreise mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die gemischt-ethnische Abstammung und der Glaubensabfall des BF, der bis dahin der sunnitischen Glaubensrichtung seines Vaters gefolgt ist, bekannt worden.

Seine im Irak verbliebenen Eltern, die Mutter des BF gehört der schiitisch-muslimischen und sein Vater der sunnitisch-muslimischen Glaubensrichtung an, werden seit Ausreise des BF immer wieder von Angehörigen der schiitischen Miliz Asa¿ib Ahl Al-Haqq nach ihm gefragt, woraus ein nachhaltiges Interesse schiitischer Milizangehöriger an der Person des BF hervorgeht.

Der BF würde bei einer Rückkehr in sein Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit neuerlich durch schiitische Milizangehörige bedroht werden. Vor dem Hintergrund der Verkündung durch den schiitischen Ministerpräsidenten im Juli 2019, dass alle PMF-Milizen nunmehr als untrennbarer Teil der regulären irakischen Streitkräfte operieren sollen, womit die Gruppierungen schiitischer Milizen einen nochmals gesteigerten staatlichen Schutz genießen, ohne dass hiermit gegenwärtig zugleich effektive Einflussmöglichkeiten des irakischen Staates auf das Wirken der Milizen einhergehen (VG Hannover, Urteil vom 25. Juli 2019 - 6 A 2971/17), könnte der BF keinen staatlichen Schutz vor dieser Bedrohung erwarten und aufgrund der Verknüpfungen schiitischer Milizangehöriger im gesamten Staatsgebiet auch keine innerstaatliche Fluchtalternative in Anspruch nehmen.

Dem BF würden in Zusammenhang mit seinem Abfall vom Islam jedenfalls auch in der kurdisch verwalteten autonomen Region Kurdistan / Irak (Erbil), erhebliche Gefahren drohen, würde er doch von der kurdisch-muslimischen Bevölkerung als "Abtrünniger" (Apostat) des islamischen Glaubens oder als "Gefahr für die Gesellschaft" angesehen und verstoßen werden. Die islamistischen Gruppierungen beurteilen im Nordirak den Abfall eines Irakers vom Islam, insbesondere im nichtstaatlichen Bereich, nicht toleranter, als in übrigen Teilen des Iraks (VG Augsburg, Urteil vom 12.01.2017 - Au 5 K 16.31843).

Fest steht im gegenständlich individuellen Fall, dass dem BF im Irak eine asylrechtlich relevante Verfolgung aus religiösen Gründen droht und der BF vor der Bedrohung durch schiitische Milizangehörige keinen staatlichen Schutz erwarten und nicht innerstaatlich fliehen könnte.

Der Beschwerde des BF gegen Spruchpunkt I. war daher spruchgemäß stattzugeben und ihm gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wobei dies gemäß § 3 Abs. 5 mit der Feststellung zu verbinden war, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

3.3. Unzulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 des Verwaltungsgerichtshofgesetzes 1985 (VwGG), BGBl. Nr. 10/1985 idgF, hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision gegen die gegenständliche Entscheidung ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des VwGH ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des VwGH auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Konkrete Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung sind weder in der gegenständlichen Beschwerde vorgebracht worden noch im Verfahren vor dem BVwG hervorgekommen.

Schlagworte

Asylgewährung, asylrechtlich relevante Verfolgung, Religionsausübung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:G304.2195614.1.00

Zuletzt aktualisiert am

09.03.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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