TE Bvwg Erkenntnis 2019/11/28 W238 2217199-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 28.11.2019
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Entscheidungsdatum

28.11.2019

Norm

BBG §40
BBG §41
BBG §45
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W238 2217199-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Claudia MARIK als Vorsitzende und die Richterin Mag. Julia JERABEK sowie den fachkundigen Laienrichter Dr. Ludwig RHOMBERG als Beisitzer über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien, vom 26.03.2019, OB XXXX betreffend Abweisung des Antrags auf Ausstellung eines Behindertenpasses zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 1 und 2 VwGVG, §§ 1 Abs. 2, 40 Abs. 1 und 2, 41 Abs. 1, 42 Abs. 1 und 2 sowie 45 Abs. 1 und 2 BBG Folge gegeben und der angefochtene Bescheid wie folgt abgeändert:

Mit einem festgestellten Grad der Behinderung von fünfzig von Hundert (50 v.H.) erfüllt XXXX die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses, sodass seinem darauf gerichteten Antrag vom 04.01.2019 stattzugeben ist.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer beantragte am 04.01.2019 unter Vorlage medizinischer Beweismittel die Ausstellung eines Behindertenpasses.

2. Seitens des Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien (im Folgenden als belangte Behörde bezeichnet), wurde daraufhin ein Sachverständigengutachten einer Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie eingeholt. In dem - aufgrund der Aktenlage am 22.02.2019 erstatteten - Gutachten vom 25.02.2019 wurden als Ergebnis der Begutachtung die Funktionseinschränkungen den Leidenspositionen

Lfd. Nr.

Bezeichnung der körperlichen, geistigen oder sinnesbedingten Funktionseinschränkungen, welche voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden

Pos.Nr.

GdB%

1

Benzodiazepinabhängigkeit, Insomnie, Depressio Zwei Stufen über unterem Rahmensatz, da Therapie erforderlich.

03.08.01

30

2

Deg. Veränderungen WS, Knie, Sprunggelenke Unterer Rahmensatz, da radiologische Veränderungen.

02.01.01

10

zugeordnet und

nach der Einschätzungsverordnung ein Gesamtgrad der Behinderung von 30 v.H. festgestellt. Begründend wurde diesbezüglich ausgeführt, dass Leiden 2 den führenden Behinderungsgrad nicht erhöhe, weil keine ungünstige wechselseitige Leidensbeeinflussung bestehe. Es handle sich um einen Dauerzustand.

3. Das Gutachten wurde mit Schreiben der belangten Behörde vom 25.02.2019 dem Parteiengehör unterzogen. In seiner Stellungnahme vom 09.03.2019 erhob der Beschwerdeführer Einwendungen gegen das Ergebnis des Ermittlungsverfahrens und legte weitere Befunde vor.

4. Zu den Einwendungen des Beschwerdeführers erstattete die mit der Erstellung des Gutachtens befasste Sachverständige am 25.03.2019 eine Stellungnahme, in der mit näherer Begründung an der bisherigen Einschätzung festgehalten wurde.

Zu dieser gutachterlichen Stellungnahme wurde dem Beschwerdeführer kein Parteiengehör eingeräumt.

5. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom 26.03.2019 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß §§ 40, 41 und 45 BBG abgewiesen, da er mit dem festgestellten Grad der Behinderung von 30 v.H. die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses nicht erfülle. Die wesentlichen Ergebnisse des ärztlichen Begutachtungsverfahrens seien dem Sachverständigengutachten zu entnehmen, das einen Bestandteil der Begründung bilde. Aufgrund der im Zuge des Parteiengehörs erhobenen Einwände sei eine nochmalige Durchsicht aller Befunde vorgenommen, jedoch an der bisherigen Einschätzung festgehalten worden. Der Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses sei daher abzuweisen. Als Beilagen zum Bescheid wurden dem Beschwerdeführer das Gutachten vom 25.02.2019 und die gutachterliche Stellungnahme vom 25.03.2019 übermittelt

6. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde. Darin wurde ausgeführt, dass die Befunde, die der Einschätzung zugrunde gelegt worden seien, schon fast drei Jahre alt seien. Der Zustand des Knochenapparates habe sich drastisch verschlechtert. Das amtsärztliche Gutachten (Anmerkung: gemeint wohl vom 29.06.2018) sei bezüglich der Psyche des Beschwerdeführers auf einem relativ aktuellen Stand. Zwecks Beurteilung seines Anliegens begehrte der Beschwerdeführer eine Untersuchung.

7. Die Beschwerde und der bezughabende Verwaltungsakt wurden dem Bundesverwaltungsgericht von der belangten Behörde am 09.04.2019 vorgelegt.

8. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 11.04.2019 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass aus seiner Beschwerde nicht klar hervorgeht, inwieweit bzw. aus welchen Gründen er den im Bescheid festgestellten Grad der Behinderung für unzutreffend erachtet. In Wahrung des Parteiengehörs wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit eingeräumt, binnen zwei Wochen eine Stellungnahme abzugeben, sofern er mit der Höhe des Gesamtgrades der Behinderung nicht einverstanden ist. In diesem Zusammenhang wurde der Beschwerdeführer ersucht, ein Beschwerdevorbringen nachzureichen, welches geeignet ist, die durch eine fachärztliche Sachverständige festgestellten Funktionseinschränkungen bzw. die von ihr getroffene Einschätzung zu entkräften. Dem Beschwerdeführer wurde diesbezüglich freigestellt, aussagekräftige Befunde oder ein Gegengutachten eines Sachverständigen seiner Wahl beizubringen.

9. Am 23.04.2019 langte eine Beschwerdeergänzung samt Befunden beim Bundesverwaltungsgericht ein. Vorgebracht wurde, dass dem Beschwerdeführer ein beruflicher Einsatz nicht zugemutet werden könne. Die Schmerzen am Knochenapparat hätten sich in den letzten zwei Jahren massiv verschlechtert. Vermutlich sei die Coxarthrose maßgeblich fortgeschritten. Seit Anfang 2016 liege ein chronischer E-Coli Virus vor, der rezidivierende schwere Blasenentzündungen verursache. Im Jahr 1990 sei Hepatitis C diagnostiziert worden, welche 1997 behandelt worden sei und seitdem ruhe. Dennoch sei sein Immunsystem aufgrund seines exzessiven Lebens und der Lebererkrankung schwer angeschlagen, weshalb er die Öffentlichkeit meide.

10. Seitens des Bundesverwaltungsgerichtes wurde eine Begutachtung des Beschwerdeführers durch einen Arzt für Allgemeinmedizin veranlasst. In dem auf Basis einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers erstellten Sachverständigengutachten vom 07.10.2019, in dem auch eine gesonderte Einschätzung unter Außerachtlassung der Neuerungsbeschränkung und Berücksichtigung der bei der Untersuchung am 11.06.2019 vorgelegten Befunde erfolgte, wurde auszugsweise Folgendes ausgeführt:

"Status Präsens:

Allgemeinzustand: gut

Ernährungszustand: gut

Größe: 190 cm, Gewicht: 85 kg

Caput/Hals: unauffällig, keine Lippenzyanose, Sprache unauffällig, keine Halsvenenstauung, Schilddrüse schluckverschieblich.

Cor reine Herztöne, rhythmische Herzaktion, Blutdruck: 110/60.

Pulmo: V.A., sonorer KS, Basen atemversch., keine Sprechdyspnoe, keine maßgebliche Kurzatmigkeit bei Bewegungsprüfung im Untersuchungszimmer, Abdomen: unauffällig, weich, keine Druckpunkte, keine path. Resistenzen palp., Leber am Ribo palp., Milz n.p., Darmgeräusche normal und unauffällig, Nierenlager bds. frei.

HWS: Kopfdrehung und -seitneigung: nach rechts und links frei, Inkl. und Rekl. fei.

BWS: gerade.

LWS: Rumpfdrehung und -seitneigung endlagig eingeschränkt.

Extremitäten:

Obere Extremitäten:

Schultergelenk rechts: Beweglichkeit frei, Nackengriff frei, Schürzengriff frei durchführbar.

Schultergelenk links: Beweglichkeit frei, Nackengriff durchführbar, Schürzengriff durchführbar.

Ellenbogengelenk rechts: Beugung und Streckung frei.

Ellenbogengelenk links: Beugung und Streckung frei.

Handgelenke frei beweglich, Fingergelenke bds. frei, Daumengelenke bds. frei, Faustschluss bds. komplett durchführbar, Zangengriff bds. durchführbar, Greif- und Haltefunktion beidseits gut durchführbar.

Untere Extremitäten:

Hüftgelenk rechts: Flexion frei, Abd. und Add. altersentsprechend frei.

Hüftgelenk links: Flexion frei, Abd. und Add. altersentsprechend frei.

Kniegelenk rechts: Beugung und Streckung frei, bandstabil.

Kniegelenk links: Beugung und Streckung frei, bandstabil.

Sprunggelenk links frei, Fußheben und -senken links frei durchführbar.

Sprunggelenk rechts: frei, Fußheben und -senken rechts frei durchführbar.

Zehenbeweglichkeit unauffällig, Hocke durchführbar, beide UE können 60° von der Unterlage abgehoben werden, Beinpulse beidseits tastbar, Fußpulse beidseits tastbar.

Venen: unauffällig.

Ödeme: keine.

Psych.: Anamneseerhebung und Kommunikation unauffällig und gut möglich. Klar, wach, in alle Qualitäten orientiert. Stimmung etwas gedrückt. Denkziel wird erreicht.

Gang: ohne Hilfsmittelverwendung unauffälliges, flüssiges und sicheres Gangbild. Freies Stehen gut möglich. Aufstehen aus sitzender und liegender Körperhaltung unauffällig und gut möglich. Treppen zum Empfangsschalter werden unauffällig begangen, trägt Konfektionssportschuhe.

Einschätzung und Beantwortung der gestellten Fragen:

1. Einschätzung des Grades der Behinderung:

1) Benzodiazepinabhängigkeit bei Depressio mit Schlafstörungen 03.08.01 30 %

Zwei Stufen über dem unteren Rahmensatz, da etablierte fachärztlich-medikamentöse Therapiemaßnahmen, Fehlen rezenter stationärer Aufnahmen an einer Fachabteilung.

2) Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule 02.01.01 10 %

Unterer Rahmensatz dieser Position, da rezidivierende Beschwerdesymptomatik bei geringgradigen funktionellen Einschränkungen in der Lendenwirbelsäule und in den übrigen Segmenten freie Funktion.

3) Degenerative Veränderungen der Hüft-, Knie- und Sprunggelenke beidseits g.Z. 02.02.01 10 %

Unterer Rahmensatz dieser Position, da Fehlen maßgeblicher funktioneller Einschränkungen.

4) Rezidivierende Infektionen der ableitenden Harnwege g.Z. 08.01.06 10 %

Wahl dieser Position, da wiederkehrende Infektionen mit berichteter Harnentleerungsstörung, mit dem unteren Rahmensatz, da Fehlen einer dokumentierten Restharnbildung.

2. Gesamtgrad der Behinderung: 30 %

Die Leiden 2 und 3 wirken nicht auf maßgebliche Weise funktionell negativ mit dem führenden Leiden 1 zusammen und erhöhen nicht weiter. Leiden 4 wirkt mit dem führenden Leiden 1 nicht maßgeblich wechselseitig negativ zusammen und erhöht nicht weiter.

Nachsatz: Eine Erhöhung des PSA-Wertes ohne eindeutigen Hinweis auf Tumorleiden erreicht per se keinen Behinderungsgrad. Ein Zustand nach Teilentfernung der Ohrspeicheldrüse nach gutartigem Tumor ohne Hinweis auf Komplikationen erreicht keinen Behinderungsgrad. Eine behinderungsrelevante Störung des Immunsystems ist durch diesbezügliche Befunde nicht eindeutig belegt und erreicht bei Fehlen maßgeblicher Komplikationen sowie wiederkehrender außergewöhnlicher Infektionen keinen Behinderungsgrad. Ein Zustand nach Hepatitis C Virus-Infektion mit nach antiviraler Therapie fehlendem Hinweis auf Virusaktivität sowie ohne Hinweis auf chronische Entzündung der Leber und maßgeblicher Leberfunktionsstörung erreicht keinen Behinderungsgrad.

3. Der Gesamtgrad der Behinderung ist ab Antragstellung am 4. Januar 2019 anzunehmen.

4. Stellungnahme zu den im Lauf des Verfahrens vorgelegten Unterlagen und Befunden:

...

5. Stellungnahme zu den Einwendungen im Rahmen des Parteiengehörs vom 9. März 2019:

Laut Stellungnahme per Mail vom 9. März 2019 sei das Sachverständigengutachten von Dr. XXXX nicht ausreichend berücksichtigt worden. Auch würde der BF nicht in der Lage sein, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Eine Hepatitis C und ein infolgedessen geschwächtes Immunsystem seien nicht berücksichtigt worden.

Wie bereits in der nervenärztlichen Stellungahme von Frau Dr. XXXX vom 25. März 2019 angeführt, erfolgte die Einschätzung auf Basis der vorgelegten Befunde. Auch das Sachverständigengutachten von Dr. XXXX /Magistratsabteilung 15 vom 29. Juni 2018 wurde berücksichtigt. Aus aktueller gutachterlicher Sicht erscheint die Einschätzung des nervenärztlichen Leidens unter Positionsnummer 1 im erstinstanzlichen Gutlachten nachvollziehbar und es ergeben sich keine Änderungen. Hinsichtlich der Hepatitis C-Infektion beschreibt das fachärztliche Gutachten von Herrn Dr. XXXX vom 29. Juni 2018 einen Zustand nach Hepatitis C mit antiviraler Therapie 1999 bei gegenwärtig fehlendem Virusnachweis. Aus aktueller gutachterlicher Sicht erreicht ein Zustand nach Hepatitis C Virus-Infektion mit Zustand nach antiviraler Therapie bei aktuell fehlendem Virusnachweis keinen Behinderungsgrad, da eine chronische Entzündung der Leber aktuell nicht belegt ist und zudem maßgebliche Leberfunktionsstörungen nicht dokumentiert sind.

6. Stellungnahme zu den Einwendungen im Rahmen der Beschwerde vom 8. April 2019 und der Beschwerdeergänzung vom 23. April 2019:

Laut E-Mail vom 08.04.2019 seien die Befunde fast drei Jahre alt, es habe sich der Zustand des Knochenapparates drastisch verschlechtert. Bezüglich der Psyche habe er ein amtsärztliches Gutachten. Aus Sicht des BF sei eine neuerliche Untersuchung erforderlich. Vorliegend ist eine schriftliche Stellungnahme vom 22. April 2019, eingelangt am Bundesverwaltungsgericht Republik Österreich am 23. April 2019, in welchem der BF anführt, dass sich ein höherer Grad der Behinderung ergeben würde und ihm zudem keine berufliche Einsetzbarkeit zugemutet werden könne. Die Schmerzen des Knochenapparates hätten sich in den letzten zwei Jahren massiv verschlechtert. Er vermute, dass sich die laut Befund von 2016 beschriebene angehende Coxarthrose (Hüftgelenksabnützung) verschlechtert habe, da es ihm mit schweren Schmerzen möglich sei, sich fortzubewegen. Seit Anfang 2016 sei ein chronischer Harnwegsinfekt bekannt und es komme immer wieder zu schweren Blasenentzündungen, welche mit Antibiotika behandelt werden müssen. Die Infekte würden in immer kürzer werdenden Abständen wiederkehren und er müsse in der Nacht eine Windel tragen. Auch sei 1990 eine Hepatitis C diagnostiziert worden, die seither ruhend sei. Das Immunsystem sei aufgrund des exzessiven Lebens und der Lebererkrankung schwer angeschlagen.

Unter Berücksichtigung der radiologischen Befunde sowie der nunmehr durchgeführten klinischen Untersuchung erfolgt eine Änderung des Sachverständigengutachtens im Vergleich zum Vorgutachten von Frau Dr. XXXX vom 25. Februar 2019. So werden nunmehr die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule sowie die degenerativen Veränderungen der Hüft-, Knie- und Sprunggelenke in jeweils eigener Position (Leiden Nummer 2 und 3) eingeschätzt. Zudem belegen die vorliegenden Befunde einen rezidivierenden Harnwegsinfekt, sodass es zu einer Neuaufnahme von Leiden Nummer 4 kommt.

Ein Zustand nach Hepatitis C Virus-Infektion mit nach antiviraler Therapie fehlendem Hinweis auf Virusaktivität sowie ohne Hinweis auf chronische Entzündung der Leber und maßgebliche Leberfunktionsstörung erreicht keinen Behinderungsgrad. Eine behinderungsrelevante Störung des Immunsystems ist durch diesbezügliche Befunde nicht eindeutig belegt und erreicht bei Fehlen maßgeblicher Komplikationen sowie wiederkehrender außergewöhnlicher Infektion keinen Behinderungsgrad.

7. Begründung einer allfälligen zu den angefochtenen Sachverständigengutachten vom 25. Februar 2019 sowie zur Stellungnahme vom 25. März 2019 abweichende Beurteilung:

Im Vergleich zum Vorgutachten werden die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule und die degenerativen Veränderungen der Gelenke der unteren Extremitäten in eigenen Positionen eingeschätzt (Leiden Nummer 2 und 3). Zudem erfolgt eine Neuaufnahme von Leiden 4 bei rezidivierender Infektion der ableitenden Harnwege. Siehe oben.

8. Stellungnahme, ob bzw. wann eine Nachuntersuchung erforderlich ist:

Eine Nachuntersuchung ist nicht erforderlich."

"Einschätzung unter Außerachtlassung der Neuerungsbeschränkung und Berücksichtigung der bei der Untersuchung am 11.06.2019 vorgelegten Befunde:

Im Rahmen der durchgeführten persönlichen Untersuchung wurden zahlreiche weitere Befunde vorgelegt. Die vorgelegten Befunde dokumentieren nervenärztliche Kontrollen in den Jahren 2014, 2015, 2016 sowie 2017. Die vorgelegten Befunde belegen eine rezidivierende depressive Erkrankung bei Benzodiazepinabhängigkeit sowie eine engmaschige und durchgehende fachärztliche Betreuung. Auch beschreiben diese Befunde, dass es trotz adäquater Therapie bisher zu keiner maßgeblichen Remission gekommen ist. Bei Außerachtlassung der Neuerungsbeschränkung und Berücksichtigung auch der neu vorgelegten Befunde würde sich hinsichtlich des psychischen Leidens eine geänderte Beurteilung ergeben. So würde eine Depressio mit Schlafstörungen bei Benzodiazepinabhängigkeit im Vergleich zum erstinstanzlichen Gutachten unter geänderter Rahmensatzposition eingeschätzt und bei Fehlen einer maßgeblichen Remission trotz Therapiemaßnahmen einen Behinderungsgrad von 50 % erreichen.

Einschätzung:

Depressio mit Schlafstörungen bei Benzodiazepinabhängigkeit 03.06.02 50 %

Wahl dieser Position mit dem unteren Rahmensatz, da anhaltend bei laufender ärztlicher Behandlung, Fehlen einer maßgeblichen Remission mit Behandlungsreserven bei vorgesehenem rehabilitativem Aufenthalt sowie Etablierung einer Psychotherapie.

Durch die Anhebung des Behinderungsgrades hinsichtlich des psychischen Leidens würde sich auch der Gesamtgrad der Behinderung auf 50 % erhöhen."

11. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichtes vom 21.10.2019 wurden der Beschwerdeführer und die belangte Behörde über das Ergebnis der Beweisaufnahme informiert und ihnen in Wahrung des Parteiengehörs die Gelegenheit eingeräumt, dazu binnen zwei Wochen eine Stellungnahme abzugeben. Weiters wurde in diesem Zusammenhang mitgeteilt, dass das Bundesverwaltungsgericht in Aussicht nehme, über die Beschwerde ohne Abhaltung einer mündlichen Verhandlung aufgrund der Aktenlage zu entscheiden, sofern die Beschwerdeführerin eine mündliche Verhandlung vor Gericht nicht ausdrücklich beantrage.

12. Die Verfahrensparteien ließen dieses Schreiben unbeantwortet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer stellte am 04.01.2019 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses.

Der Beschwerdeführer hat seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt im Inland.

Beim Beschwerdeführer bestehen folgende Funktionseinschränkungen, die voraussichtlich länger als sechs Monate andauern werden:

1) Depressio mit Schlafstörungen bei Benzodiazepinabhängigkeit, anhaltend bei laufender ärztlicher Behandlung, Fehlen einer maßgeblichen Remission mit Behandlungsreserven bei vorgesehenem rehabilitativem Aufenthalt sowie Etablierung einer Psychotherapie;

2) Degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, rezidivierende Beschwerdesymptomatik bei geringgradigen funktionellen Einschränkungen in der Lendenwirbelsäule, in den übrigen Segmenten freie Funktion;

3) Degenerative Veränderungen der Hüft-, Knie- und Sprunggelenke beidseits ohne maßgebliche funktionelle Einschränkungen;

4) Rezidivierende Infektionen der ableitenden Harnwege mit berichteter Harnentleerungsstörung ohne dokumentierte Restharnbildung.

Hinsichtlich der beim Beschwerdeführer bestehenden Funktionseinschränkungen, deren Ausmaßes, medizinischer Einschätzung und wechselseitiger Leidensbeeinflussung werden die diesbezüglichen Beurteilungen im Sachverständigengutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin vom 07.10.2019 der nunmehrigen Entscheidung zugrunde gelegt.

Der Gesamtgrad der Behinderung des Beschwerdeführers hat ein Ausmaß von 50 v.H.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Das Datum der Einbringung des Antrags stützt sich auf den Akteninhalt.

2.2. Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer seinen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, ergibt sich aus einem vom Bundesverwaltungsgericht erstellten Auszug aus dem Zentralen Melderegister.

2.3. Der festgestellte Gesamtgrad der Behinderung basiert auf dem vom Bundesverwaltungsgericht eingeholten Gutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin vom 07.10.2019. Darin wird auf die Art der Leiden des Beschwerdeführers, deren Ausmaß und wechselseitige Leidensbeeinflussung vollständig, nachvollziehbar und widerspruchsfrei eingegangen. Das Gutachten setzt sich auch umfassend und nachvollziehbar mit den vom Beschwerdeführer vorgelegten (und nachgereichten) Befunden, den in der Beschwerde erhobenen Einwendungen und dem von der belangten Behörde eingeholten Sachverständigengutachten auseinander. Die getroffenen Einschätzungen stimmen mit den im Rahmen einer klinischen Untersuchung des Beschwerdeführers festgestellten Funktionsbeeinträchtigungen überein und wurden entsprechend den Bestimmungen der Einschätzungsverordnung richtig zugeordnet.

Das vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte Gutachten vom 07.10.2019 weicht in seiner Einschätzung von dem seitens der belangten Behörde eingeholten Aktengutachten vom 25.02.2019 samt gutachterlicher Stellungnahme vom 25.03.2019 ab:

In dem nunmehr vorliegenden allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachten erfolgte unter Berücksichtigung sämtlicher Befunde eine Anhebung des Behinderungsgrades des führenden Leidens 1 (Depressio mit Schlafstörungen bei Benzodiazepinabhängigkeit) um zwei Stufen. Dies wurde vom befassten Sachverständigen schlüssig damit begründet, dass die im Rahmen der persönlichen Untersuchung vorgelegten Befunde eine rezidivierende depressive Erkrankung bei Benzodiazepinabhängigkeit, eine engmaschige und durchgehende fachärztliche Betreuung und nervenärztliche Kontrollen von 2014 bis 2017 dokumentieren würden. Auch würden die Befunde beschreiben, dass es trotz adäquater Therapie bisher zu keiner maßgeblichen Remission gekommen sei. Des Weiteren kam es im allgemeinmedizinischen Sachverständigengutachten zu einer Neuaufnahme von Leiden 4 (rezidivierende Infektionen der ableitenden Harnwege). Leiden 2 (degenerative Veränderungen der Wirbelsäule) und Leiden 3 (degenerative Veränderungen der Hüft-, Knie- und Sprunggelenke beidseits) wurden unter gesonderten Positionen gleichbleibend eingeschätzt.

Im Ergebnis kam es durch die Anhebung des Behinderungsgrades hinsichtlich des führenden Leidens 1 zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung auf 50 v.H. In Ermangelung eines wechselseitigen negativen Zusammenwirkens der Leiden unterblieb eine weitere Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung.

Das vom Bundesverwaltungsgericht eingeholte Gutachten wurde der belangten Behörde und dem Beschwerdeführer unter Einräumung einer Frist zur Äußerung übermittelt. Keine der Parteien hat Einwände gegen das Sachverständigengutachten erhoben.

Seitens des Bundesverwaltungsgerichtes bestehen keine Zweifel an der Richtigkeit, Vollständigkeit und Schlüssigkeit des vorliegenden Sachverständigengutachtens vom 07.10.2019. Es wird in freier Beweiswürdigung der gegenständlichen Entscheidung zugrunde gelegt.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Die Beschwerde ist rechtzeitig und auch sonst zulässig. Die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes und die Entscheidung durch einen Senat unter Mitwirkung eines fachkundigen Laienrichters ergeben sich aus §§ 6, 7 BVwGG iVm § 45 Abs. 3 und 4 BBG.

Zu A) Stattgebung der Beschwerde:

3.2. Die gegenständlich maßgeblichen Bestimmungen des Bundesbehindertengesetzes (BBG) lauten auszugsweise:

"BEHINDERTENPASS

§ 40. (1) Behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 50% ist auf Antrag vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 45) ein Behindertenpaß auszustellen, wenn

1. ihr Grad der Behinderung (ihre Minderung der Erwerbsfähigkeit) nach bundesgesetzlichen Vorschriften durch Bescheid oder Urteil festgestellt ist oder

2. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften wegen Invalidität, Berufsunfähigkeit, Dienstunfähigkeit oder dauernder Erwerbsunfähigkeit Geldleistungen beziehen oder

3. sie nach bundesgesetzlichen Vorschriften ein Pflegegeld, eine Pflegezulage, eine Blindenzulage oder eine gleichartige Leistung erhalten oder

4. für sie erhöhte Familienbeihilfe bezogen wird oder sie selbst erhöhte Familienbeihilfe beziehen oder

5. sie dem Personenkreis der begünstigten Behinderten im Sinne des Behinderteneinstellungsgesetzes, BGBl. Nr. 22/1970, angehören.

(2) Behinderten Menschen, die nicht dem im Abs. 1 angeführten Personenkreis angehören, ist ein Behindertenpaß auszustellen, wenn und insoweit das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen auf Grund von Vereinbarungen des Bundes mit dem jeweiligen Land oder auf Grund anderer Rechtsvorschriften hiezu ermächtigt ist."

"§ 41. (1) Als Nachweis für das Vorliegen der im § 40 genannten Voraussetzungen gilt der letzte rechtskräftige Bescheid eines Rehabilitationsträgers (§ 3), ein rechtskräftiges Urteil eines Gerichtes nach dem Arbeits- und Sozialgerichtsgesetz, BGBl. Nr. 104/1985, ein rechtskräftiges Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes oder die Mitteilung über die Gewährung der erhöhten Familienbeihilfe gemäß § 8 Abs. 5 des Familienlastenausgleichsgesetzes 1967, BGBl. Nr. 376. Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat den Grad der Behinderung nach der Einschätzungsverordnung (BGBl. II Nr. 261/2010) unter Mitwirkung von ärztlichen Sachverständigen einzuschätzen, wenn

1. nach bundesgesetzlichen Vorschriften Leistungen wegen einer Behinderung erbracht werden und die hiefür maßgebenden Vorschriften keine Einschätzung vorsehen oder

2. zwei oder mehr Einschätzungen nach bundesgesetzlichen Vorschriften vorliegen und keine Gesamteinschätzung vorgenommen wurde oder

3. ein Fall des § 40 Abs. 2 vorliegt.

(2) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind ohne Durchführung eines Ermittlungsverfahrens zurückzuweisen, wenn seit der letzten rechtskräftigen Entscheidung noch kein Jahr vergangen ist. Dies gilt nicht, wenn eine offenkundige Änderung einer Funktionsbeeinträchtigung glaubhaft geltend gemacht wird.

(...)"

"§ 42. (1) Der Behindertenpass hat den Vornamen sowie den Familien- oder Nachnamen, das Geburtsdatum eine allfällige Versicherungsnummer und den festgestellten Grad der Behinderung oder der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu enthalten und ist mit einem Lichtbild auszustatten. Zusätzliche Eintragungen, die dem Nachweis von Rechten und Vergünstigungen dienen, sind auf Antrag des behinderten Menschen zulässig. Die Eintragung ist vom Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen vorzunehmen.

(...)"

"§ 45. (1) Anträge auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme einer Zusatzeintragung oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung sind unter Anschluß der erforderlichen Nachweise bei dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen einzubringen.

(2) Ein Bescheid ist nur dann zu erteilen, wenn einem Antrag gemäß Abs. 1 nicht stattgegeben, das Verfahren eingestellt (§ 41 Abs. 3) oder der Pass eingezogen wird. Dem ausgestellten Behindertenpass kommt Bescheidcharakter zu.

(3) In Verfahren auf Ausstellung eines Behindertenpasses, auf Vornahme von Zusatzeintragungen oder auf Einschätzung des Grades der Behinderung hat die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts durch den Senat zu erfolgen.

(4) Bei Senatsentscheidungen in Verfahren gemäß Abs. 3 hat eine Vertreterin oder ein Vertreter der Interessenvertretung der Menschen mit Behinderung als fachkundige Laienrichterin oder fachkundiger Laienrichter mitzuwirken. Die fachkundigen Laienrichterinnen oder Laienrichter (Ersatzmitglieder) haben für die jeweiligen Agenden die erforderliche Qualifikation (insbesondere Fachkunde im Bereich des Sozialrechts) aufzuweisen.

(...)"

"§ 46. Die Beschwerdefrist beträgt abweichend von den Vorschriften des Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetzes, BGBl. I Nr. 33/2013, sechs Wochen. Die Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung beträgt zwölf Wochen. In Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden."

3.3. Zur Anwendung der Neuerungsbeschränkung des § 46 BBG

3.3.1. Mit der Novelle BGBl. I 57/2015 hat der Gesetzgeber für Verfahren nach dem Bundesbehindertengesetz (§ 46 BBG) ein - eingeschränktes - Neuerungsverbot eingeführt, das in den Gesetzesmaterialien als "Neuerungsbeschränkung" bezeichnet wird. Nach dem im Beschwerdefall anwendbaren § 46 dritter Satz BBG dürfen in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht neue Tatsachen und Beweismittel nicht vorgebracht werden.

Die Einführung der Neuerungsbeschränkung erfolgte mit der gleichen Gesetzesnovelle, mit der auch eine (vom VwGVG abweichende) Verlängerung der dem Sozialministeriumservice eingeräumten Frist zur Erlassung einer Beschwerdevorentscheidung festgelegt wurde. Aus den parlamentarischen Materialien folgt, dass der Gesetzgeber zwischen der Schaffung großzügigerer Möglichkeiten der Erlassung von Beschwerdevorentscheidungen einerseits und der Beschränkung neuer Tatsachen und Beweise im verwaltungsgerichtlichen Verfahren einen unmittelbaren Zusammenhang ("im Gegenzug") gesehen hat. Die Regierungsvorlage erläutert dies wie folgt (527 BlgNR 25. GP, 4-5):

"In der Praxis hat sich gezeigt, dass neu vorgelegte medizinische Befunde und die oftmals erforderliche Beiziehung von neuen Sachverständigen häufig einen zeitnahen Abschluss der Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht wesentlich erschweren. Es soll daher die derzeit für Beschwerdevorentscheidungen vorgesehene zweimonatige Entscheidungsfrist auf zwölf Wochen verlängert werden. Hierdurch bleibt es einerseits Menschen mit Behinderung unbenommen, im Verfahren vor dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen bzw. in einer allfälligen Beschwerde gegen einen Bescheid alle Tatsachen und Beweismittel vorzubringen. Außerdem wird es dem Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen ermöglicht in erster Instanz eine fundierte Entscheidung zu treffen, sodass die Menschen mit Behinderung durch eine gesamt zu erwartende kürzere Verfahrensdauer schneller zu ihrem Recht kommen. Im Gegenzug soll eine auf das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht begrenzte Neuerungsbeschränkung geschaffen werden. ..."

Im Gesetzeswortlaut ("in Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht") kommt zum Ausdruck, dass die Neuerungsbeschränkung nicht für das Beschwerdeverfahren als Ganzes (d.h. einschließlich des behördlichen Beschwerdevorverfahrens), sondern erst ab dem Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (somit ab Vorlage an das Bundesverwaltungsgericht und somit nicht bereits im behördlichen Beschwerdevorverfahren) gelten soll. Neuerungen, die bereits in der Beschwerde vorgebracht werden, sind daher von vornherein nicht von der Beschränkung erfasst und können (müssen) auch vom Bundesverwaltungsgericht noch berücksichtigt werden. Besonders klar kommt die entsprechende Gesetzesintention im Ausschussbericht (564 BlgNR 25. GP) zum Ausdruck, wo es heißt:

"Der Ausschuss für Arbeit und Soziales stellt dazu fest, dass dieses Neuerungsverbot nur unmittelbar für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht, nicht jedoch für die Beschwerdevorentscheidung gilt. Weiters geht der Ausschuss davon aus, dass das Sozialministeriumsservice die Möglichkeit der Beschwerdevorentscheidung einschließlich einer allfälligen Beweisergänzung im Sinne einer sozialen Rechtsanwendung und der Verfahrensökonomie nutzen wird, auf jeden Fall jedoch bei Vorbringen neuer Tatsachen oder Beweismittel in der Beschwerde eine Beschwerdevorentscheidung zu ergehen hat."

3.3.2. Eine weitere Einschränkung des Neuerungsverbots ergibt sich aus dem Wesen des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes und dem Rechtsstaatsprinzip (vgl. zu dem Ganzen betreffend § 19 Abs. 1 BEinstG z.B. BVwG 26.01.2016, I402 2115648-1/10E): Unterlässt es die Behörde, ein vollständiges Verfahren zu führen, darf das Neuerungsverbot nicht so verstanden werden, dass es auch diesbezüglich den Weg der gebotenen Bereinigung des Mangels mittels ergänzender Ermittlungen des Verwaltungsgerichtes versperrt. Der Verfassungsgerichtshof ging bei der Beurteilung der Verfassungskonformität eines Neuerungsverbots im Berufungsverfahren von folgenden Überlegungen aus (VfSlg. 17.340/2004 zur AsylG-Novelle 2003, BGBl. I 101/2003): "Nach Ansicht des Verfassungsgerichtshofs erfordert das Rechtsstaatsprinzip, dass ein Verfahren in der Weise gestaltet sein muss, dass es gewährleistet, letztlich zu einem rechtlich richtigen Ergebnis zu führen. Dabei kann die Verfassungsmäßigkeit von Beschränkungen im Rechtsmittelverfahren nicht rein abstrakt für alle denkbaren Fälle beurteilt werden. Beschränkungen, die bloß dazu führen, die Parteien zu einer Mitwirkung an der raschen Sachverhaltsermittlung zu verhalten, stehen im Allgemeinen der Effektivität des Rechtsschutzes nicht entgegen. Es liegt schließlich in der Hand der Parteien selbst, effektiv am Verfahren mitzuwirken und ihr Vorbringen ehestens umfangreich und rechtzeitig zu erstatten, um Rechtsnachteile zu vermeiden. Voraussetzung ist aber die Gewähr, dass die Partei im Verfahren tatsächlich eine solche Möglichkeit effektiv wahrnehmen kann." Daraus folgt, dass eine Auslegung der Neuerungsbeschränkung in der Weise geboten ist, dass im Verfahren der Verwaltungsbehörde unterlaufene Verfahrensmängel vom Verwaltungsgericht jedenfalls ohne Rücksicht auf die Neuerungsbeschränkung korrigiert werden können (müssen).

3.3.3. Mangelhaft war das Verfahren der belangten Behörde im vorliegenden Fall schon deshalb, weil sie dem Beschwerdeführer vor Erlassung des angefochtenen Bescheides kein Parteiengehör im Hinblick auf die gutachterliche Stellungnahme vom 25.03.2019 gewährt hat. Mit der Erstellung des im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachtens und der Einräumung von Parteiengehör dazu ist dieser Mangel des behördlichen Verfahrens behoben. Die noch im Zuge der ärztlichen Begutachtung vom Beschwerdeführer ergänzend vorgelegten Befunde, die unter anderem zu einer Anhebung von Leiden 1 sowie zur Neuaufnahme von Leiden 4 geführt haben, waren noch zu berücksichtigen, weil sie erst im Zuge der Erstellung dieses Gutachtens (und somit im Zuge der Behebung des Verfahrensmangels) eingeflossen sind.

Hingegen würde ein nach diesem Zeitpunkt erstattetes Vorbringen von neuen Tatsachen ebenso wie die Vorlage neuer Beweismittel dem Neuerungsverbot unterfallen, was im Ergebnis dem Zweck dieser Regelung, wie er in der Regierungsvorlage skizziert wurde, entsprechen dürfte. Beschwerdeführer haben jedoch die Möglichkeit, allenfalls neue Befunde oä. - sollten sie daraus ein anderes Verfahrensergebnis (etwa einen höheren Grad der Behinderung) ableiten wollen - im Wege eines neuen Antrags bei der belangten Behörde geltend zu machen.

3.4. Zum festgestellten Grad der Behinderung im Beschwerdefall

3.4.1. Festzuhalten ist, dass der Grad der Behinderung im Beschwerdefall - wie dies auch die belangte Behörde zu Recht annahm - nach der Einschätzungsverordnung einzuschätzen war. Die Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen hat nicht im Wege der Addition der einzelnen Werte der Funktionsbeeinträchtigungen zu erfolgen, sondern es ist bei Zusammentreffen mehrerer Leiden zunächst von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, für welche der höchste Wert festgestellt wurde, und dann ist zu prüfen, ob und inwieweit durch das Zusammenwirken aller zu berücksichtigenden Funktionsbeeinträchtigungen eine höhere Einschätzung des Grades der Behinderung gerechtfertigt ist (vgl. den eindeutigen Wortlaut des § 3 Einschätzungsverordnung sowie die auf diese Rechtslage übertragbare Rechtsprechung, VwGH 17.07.2009, 2007/11/0088; 22.01.2013, 2011/11/0209 mwN). Bei ihrer Beurteilung hat sich die Behörde eines oder mehrerer Sachverständiger zu bedienen, wobei es dem Antragsteller freisteht, zu versuchen, das im Auftrag der Behörde erstellte Gutachten durch die Beibringung eines Gegengutachtens eines Sachverständigen seiner Wahl zu entkräften (vgl. VwGH 30.04.2014, 2011/11/0098; 21.08.2014, Ro 2014/11/0023; 20.05.2015, 2013/11/0200).

Gegenständlich wurde seitens des Bundesverwaltungsgerichtes zwecks Beurteilung des Beschwerdevorbringens ein Sachverständigengutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin eingeholt, das auf Basis einer persönlichen Untersuchung des Beschwerdeführers erstattet wurde und - sowohl hinsichtlich der Einschätzung der einzelnen Funktionseinschränkungen als auch hinsichtlich der Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung - den von der Judikatur (sowie von der Einschätzungsverordnung) aufgestellten Anforderungen entspricht.

3.4.2. Wie unter Punkt II.2.3. eingehend ausgeführt wurde, wird der gegenständlichen Entscheidung das schlüssigen Sachverständigengutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin vom 07.10.2019 zugrunde gelegt, wonach der Grad der Behinderung des Beschwerdeführers - entgegen der Feststellung im angefochtenen Bescheid - 50 v.H. beträgt. Wie ebenfalls bereits im Rahmen der Beweiswürdigung dargelegt, wurde das vorliegenden Gutachten von den Verfahrensparteien nicht bestritten.

Mit einem Gesamtgrad der Behinderung von 50 v.H. sind die Voraussetzungen für die Ausstellung eines Behindertenpasses gemäß § 40 Abs. 1 BBG, wonach behinderten Menschen mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Inland und einem Grad der Behinderung oder einer Minderung der Erwerbstätigkeit von mindestens 50 v.H. ein Behindertenpass auszustellen ist, erfüllt.

Der Beschwerde war daher stattzugeben und der angefochtene Bescheid spruchgemäß abzuändern. Die belangte Behörde hat dem Beschwerdeführer folglich einen unbefristeten Behindertenpass mit einem Grad der Behinderung von 50 v.H. auszustellen.

3.5. Zum Entfall einer mündlichen Verhandlung

3.5.1. Nach § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen (§ 24 Abs. 1 VwGVG). Wurde kein entsprechender Antrag gestellt, ist die Frage, ob von Amts wegen eine Verhandlung durchgeführt wird, in das pflichtgemäße - und zu begründende - Ermessen des Verwaltungsgerichts gestellt, wobei die in § 24 Abs. 2, 3, 4 und 5 leg.cit. normierten Ausnahmebestimmungen als Anhaltspunkte der Ermessensübung anzusehen sind (vgl. zur insofern gleichartigen Regelungsstruktur des § 67d Abs. 1 und 2 bis 4 AVG [alte Fassung] die Darstellung bei Hengstschläger/Leeb, AVG [2007] § 67d Rz 17 und 29, mwH). Gemäß Abs. 3 leg.cit. hat der Beschwerdeführer die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Gemäß Abs. 4 leg.cit. kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrages von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958, noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389 entgegenstehen.

Der im Beschwerdefall maßgebliche Sachverhalt ergibt sich aus dem Akt der belangten Behörde und dem im Beschwerdeverfahren eingeholten Sachverständigengutachten eines Arztes für Allgemeinmedizin vom 07.10.2019. Diesem - vom erkennenden Gericht als schlüssig erachteten - Gutachten sind die Verfahrensparteien nicht entgegengetreten. Das Gutachten, das auf die beim Beschwerdeführer bestehenden Gesundheitsschädigungen und auf die Einwendungen in der Beschwerde in fachlicher Hinsicht eingeht, wurde im Rahmen des Parteiengehörs vielmehr unwidersprochen zur Kenntnis genommen. Vor dem Hintergrund dieses schlüssigen, von den Verfahrensparteien letztlich nicht mehr bestrittenen Sachverständigenbeweises ist der entscheidungsrelevante Sachverhalt als geklärt anzusehen, sodass eine mündliche Verhandlung nicht geboten war. Art. 6 EMRK bzw. Art. 47 GRC stehen dem Absehen von einer mündlichen Verhandlung gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG ebenfalls nicht entgegen.

3.5.2. Ergänzend ist im Beschwerdefall aus dem Blickwinkel von Art. 6 EMRK (Art. 47 GRC) auf den Umstand hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer vom Bundesverwaltungsgericht bei Einräumung des Parteiengehörs auf die Möglichkeit hingewiesen wurde, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu beantragen, indem ihm seitens des Verwaltungsgerichtes mitgeteilt wurde, dass - sollte er eine mündliche Verhandlung vor Gericht nicht ausdrücklich beantragen - eine Entscheidung ohne vorherige Verhandlung in Aussicht genommen werde. Der Beschwerdeführer hat sich daraufhin nicht mehr geäußert.

Gemäß § 24 Abs. 3 VwGVG hat der Beschwerdeführer die Durchführung einer Verhandlung bereits in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Zu den einen Entfall der Verhandlung nach Art. 6 EMRK rechtfertigenden Umständen gehört auch der (ausdrückliche oder schlüssige) Verzicht auf die mündliche Verhandlung. Nach der Rechtsprechung kann die Unterlassung eines Antrags auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung von der Rechtsordnung unter bestimmten Umständen als (schlüssiger) Verzicht auf eine solche gewertet werden. Zwar liegt ein solcher Verzicht dann nicht vor, wenn eine unvertretene Partei weder über die Möglichkeit einer Antragstellung belehrt wurde, noch Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie von dieser Möglichkeit hätte wissen müssen (vgl. VfSlg. 16.894/2003 und 17.121/2004; VwGH 26.04.2010, 2004/10/0024; VwGH 12.08.2010, 2008/10/0315; VwGH 30.01.2014, 2012/10/0193). Dies ist hier aber angesichts des erwähnten Umstands eines entsprechenden Hinweises an den Beschwerdeführer und der ihm explizit eingeräumten Gelegenheit zur Antragstellung nicht der Fall. Die unterbliebene Antragstellung kann vor diesem Hintergrund als schlüssiger Verzicht im Sinne der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK gewertet werden.

Zu B) Zulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Dieser Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig. Zwar beruht die Entscheidung hinsichtlich der Kriterien der Beurteilung der Ausstellung eines Behindertenpasses auf der einschlägigen Rechtsprechung (vgl. die unter Spruchpunkt A zitierte Rechtsprechung) bzw. auf einer eindeutigen Rechtslage, sodass diesbezüglich keine Revisionszulässigkeit gegeben wäre. Die Entscheidung hängt jedoch insoweit von der Lösung einer Rechtsfrage ab, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, als es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Neuerungsbeschränkung des § 46 dritter Satz BBG idF BGBl. I 57/2015 fehlt.

Schlagworte

Behindertenpass, Grad der Behinderung, Revision zulässig,
Sachverständigengutachten

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W238.2217199.1.00

Zuletzt aktualisiert am

09.03.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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