TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/2 W191 2139090-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 02.01.2020
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Entscheidungsdatum

02.01.2020

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8
AsylG 2005 §8 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W191 2139090-1/27E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Rosenauer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX Staatsangehörigkeit Indien, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Gustav Eckharter, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 07.10.2016, Zahl 1019582902-14649805, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.02.2018 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 2005 wird XXXX der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 wird XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 02.01.2021 erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

1. Verfahrensgang:

1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein indischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben am 22.05.2014 irregulär und schlepperunterstützt in Österreich ein und stellte am folgenden Tag einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).

Eine EURODAC-Abfrage ergab keine Übereinstimmung bezüglich der erkennungsdienstlichen Daten des BF.

1.2. In seiner Erstbefragung am 23.05.2014 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes und in seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) am 30.03.2016, jeweils im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Hindi, gab der BF im Wesentlichen Folgendes an:

Er stamme aus XXXX , Distrikt Meerut, Bundesstaat Uttar Pradesh, Indien, sei Angehöriger der Volksgruppe/Kaste der Jat, bekenne sich zur Religionsgemeinschaft der Hindus und sei geschieden. Er spreche Hindi und Punjabi und habe zwölf Jahre lang die Schule besucht.

Er habe zwei Söhne und sei von seiner Frau seit April 2012 geschieden. Diese sowie seine Eltern und Geschwister (ein Bruder, eine Schwester) lebten in Indien.

Er sei am 20.04.2014 per Flugzeug von New Delhi nach Dubai und weiter nach Moskau geflogen, von wo er per KFZ und zu Fuß bis nach Österreich gebracht worden sei. Die Reisekosten habe ihm ein Freund bezahlt.

Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er in Indien als Immobilienmakler tätig gewesen sei. Eine Mafiagruppe hätte Geld in sein Geschäft investiert. Er sei in Konkurs gegangen und die Mafiagruppe hätte ihr Geld zurückhaben wollen. Er hätte sein Haus und seinen sonstigen Besitz verkauft und einen Teil zurückzahlen können. Sie hätten ihn aber entführt und für ca. zwei Monate eingesperrt und gefoltert. Ihm sei die Flucht gelungen; als er dabei vom dritten Stock hinuntergesprungen sei, habe er sich beide Beine gebrochen. Er sei weiterhin verfolgt und mit dem Tod bedroht worden, deshalb habe er in verschiedenen Städten in Indien versteckt gelebt und sei schließlich im April 2014 aus dem Land geflüchtet.

1.3. Zu seiner Gesundheit gab der BF an, er sei HIV-positiv und habe Diabetes und Herpes Zoster.

Der BF befand sich von 26.05.2014 bis 10.06.2014 mit Verdacht auf Tuberkulose in stationärer Krankenhausbehandlung. Im Rahmen seiner Untersuchungen wurden weiters HIV, Herpes Zoster und Diabetes mellitus Typ 1 diagnostiziert und für den BF bezüglich des HIV-positiven Befundes ein Ambulanztermin in einem Spital vereinbart.

Mit Bescheid vom 30.05.2014 ordnete die zuständige Bezirkshauptmannschaft (BH) für den BF eine gesundheitliche Überwachung an und verpflichtete ihn aufgrund der vermuteten Tuberkulose-Erkrankung zu Verhaltensmaßregeln und Kontrolluntersuchungen.

Von 18.08.2014 bis 27.08.2014 befand sich der BF wegen der angenommenen Lungentuberkulose erneut in stationärer Krankenhausbehandlung, wobei die Behandlung nach weitergehenden Untersuchungen, wonach von einer durchgemachten, behandelten und nicht mehr aktiven Tuberkulose auszugehen sei, beendet wurde. Es seien regelmäßige Kontrollen in der Immunambulanz erforderlich. Der BF solle weiters eine Diabeteskost einhalten und orale Antidiabetika regelmäßig einnehmen. Da zurzeit noch keine HIV-spezifischen Befunde vorliegen würden, sei noch keine antiretrovirale Therapie eingeleitet worden.

1.4. Das BFA richtete am 14.03.2016 eine Anfrage an die Staatendokumentation und ersuchte angesichts des Krankheitsbildes des BF um Informationen zu Behandlungsmöglichkeiten in seiner Heimatstadt; deren Beantwortung langte am 22.08.2016 ein, wurde dem BF aber vor Bescheiderlassung nicht zur Kenntnis gebracht.

1.5. Mit Bescheid vom 07.10.2016 wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 23.05.2014 gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien nicht zu (Spruchpunkt II.) und verband diese Entscheidung in Spruchpunkt III. gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG mit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt. Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Indien gemäß § 46 FPG zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.).

In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Indien.

Der BF leide an Diabetes und HIV, jedoch gebe es in Indien medizinische Vorrichtungen und Behandlungsmöglichkeiten, die teilweise kostenlos angeboten werden würden. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde. Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Indien.

Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Indien wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.

Seine Fluchtgeschichte habe der BF aufgrund mehrerer Unstimmigkeiten und Unplausibilitäten in seinem Vorbringen, zumal er auch keinerlei Beweismittel dafür vorgelegt habe, nicht glaubhaft gemacht.

1.6. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben seines rechtsanwaltlichen Vertreters vom 25.10.2016 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wegen "Gesetzwidrigkeit seines Inhalts, Rechtswidrigkeit in Folge Verletzung von Verfahrensvorschriften sowie Begründungsmängel [...]" ein.

In der Beschwerdebegründung wurde zusammengefasst ausgeführt, dass die belangte Behörde durch Außerachtlassung ihrer Ermittlungspflichten sowie durch gänzliche Verkennung der Sach- und Rechtslage den angefochtenen Bescheid mit Rechtswidrigkeit behaftet habe.

1.7. Am 15.02.2017 legte der BF zum Beweis seines Vorbringens mehrere Unterlagen mit deutscher Übersetzung vor, darunter Kaufverträge und Schuldscheine, medizinische Atteste und Behandlungsbestätigungen sowie Wechsel und Schecks.

Zusätzlich beantragte er die Einholung eines Erhebungsberichtes durch die ÖB (Österreichische Botschaft) Delhi.

1.8. Mit Schreiben vom 15.01.2018 teilte der Magistrat der Stadt Wien mit, dass der BF am 04.01.2018 das Gewerbe "Güterbeförderung mit Kraftfahrzeugen [...]" angemeldet habe.

1.9. Das BVwG führte am 05.02.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Hindi durch, zu der der BF in Begleitung seines gewillkürten Vertreters erschien.

Auf richterliche Befragung gab der BF im Wesentlichen an, dass es sich bei seinen Gläubigern um Politiker handle und auch die Polizei mit ihnen zusammenarbeite. Seine Gläubiger hätten auch seinen Bruder gefoltert und sei dieser mittlerweile an einem Herzinfarkt gestorben, da sie ihm solche Probleme gemacht hätten. Diese Leute würden auch seine Eltern aufsuchen und verlangen, dass sie das Geld zurückzahlen. Sein Leben sei in Indien gefährdet, zudem sei er krank und nehme regelmäßig Medikamente.

Der Vertreter des BF brachte vor, dass es sich bei den Gläubigern des BF um hochrangige Regionalparlamentsabgeordnete handle, die Macht über Polizei und Sicherheitskräfte verfügen würden, sodass sie jederzeit jede Art von Verfolgung gegen den BF starten könnten, ohne persönlich daran beteiligt sein zu müssen.

Der BF brachte im Rahmen der mündlichen Verhandlung mehrere Dokumente in Vorlage, darunter ein ärztliches Schreiben, wonach der BF wegen seiner chronischen HIV-Erkrankung behandelt werde. Derzeit liege ein stabiler und guter Immunstatus vor und sei auch im Hinblick auf seine vergangene Tuberkulose keine neue Therapie erforderlich. Auch die Diabetes-Erkrankung bleibe unter der aktuellen Therapie gut kontrolliert. Um den guten Gesundheitszustand zu erhalten, seien regelmäßige Kontrollen in einem spezialisierten Kompetenzzentrum lebenslang notwendig.

1.10. Mit Schreiben vom 06.02.2018 übermittelte das BVwG dem BF einen Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Indien und räumte ihm die Möglichkeit einer Stellungnahme dazu ein.

Mit Stellungnahme seines Vertreters vom 21.02.2018 brachte der BF weitere Urkunden in Vorlage, darunter seine Geburtsurkunde, Geburtsurkunden seiner Söhne, Sterbeurkunden seiner Brüder, das Scheidungsurteil sowie Berichte über HIV-Behandlungen in Indien. Der BF brachte vor, dass es sich bei seinen Verfolgern um sehr einflussreiche Personen handle, und ersuchte um Einholung entsprechender Erhebungen durch die ÖB Delhi. Weiters sei eine Abschiebung aufgrund seiner Erkrankungen jedenfalls unzulässig, da HIV-Behandlungen grundsätzlich nur von privaten Krankenhäusern angeboten werden würden, deren Kosten er jedoch nicht finanzieren könne. Da er auch über keine Aadhaar-Karte verfüge, habe er auch keinen Anspruch auf staatliche Leistungen für die medizinische Betreuung und sei von jedweder Grundversorgung ausgeschlossen. Seine Erkrankungen seien daher in Indien de facto nicht behandelbar.

1.11. Das BVwG richtete in der Folge am 08.03.2018 eine Anfrage an die Staatendokumentation des BFA und ersuchte um Überprüfung der Angaben des BF sowie des Zugangs zur Grundversorgung für medizinische Leistungen und Kontrollen in spezialisierten Kompetenzzentren und Behandlungsmöglichkeiten seiner Erkrankungen. Die Beantwortung der Staatendokumentation wurde am 22.03.2018 übermittelt, weitere Informationen wurden am 24.04.2018 nachgereicht.

Dem Investigation Report der ÖB New Delhi vom 03.04.2018 ist zu entnehmen, dass die vom BF gemachten Angaben zu seiner Herkunft, seinen Familienverhältnissen und seinen Lebensumständen zutreffen. Die vom BF angegebenen Verfolgungsgründe konnten jedoch nicht verifiziert werden.

Diese Ergebnis wurde den Verfahrensparteien mitgeteilt.

1.12. Mit Schreiben vom 03.05.2018 ersuchte das BVwG den BF um genauere Informationen zum Stadium seiner Erkrankungen und zu den ihm verschriebenen Medikamenten und Therapien.

Mit Stellungnahme vom 13.06.2018 übermittelte der BF aktuelle medizinische Unterlagen und brachte vor, dass es in Indien keine adäquate Behandlung und medizinische Versorgung gebe. In dem vorgelegten Behandlungsbericht vom 11.06.2018 eines Wiener Krankenhauses wurde ausgeführt, dass der BF an einer schweren chronischen erworbenen Immunschwäche leide, bereits HIV-assoziierte Komplikationen erlebt habe und zusätzlich einen wahrscheinlich bald Insulin-pflichtigen Diabetes mellitus Typ 2 erworben habe. Aus diesen Gründen benötige der BF, der eine sehr gute Compliance und Therapieadhärenz zeige, eine regelmäßige fachärztliche Kontrolle und eine kontinuierliche Behandlung. Bei einer Unterbrechung der Versorgung mit einer effektiven antiretroviralen Therapie bestehe das Risiko einer Reaktivierung der Tuberkulose bis hin zur Organstreuung und Miliartuberkulose.

1.13. Mit Schreiben vom 20.06.2018 stellte das BVwG eine neuerliche Anfrage an die Staatendokumentation und ersuchte angesichts der vorgelegten Befunde um genauere Informationen zu Behandlungsmöglichkeiten in Indien. Die Beantwortung der Anfrage wurde am 11.09.2018 übermittelt.

1.14. Mit Schreiben vom 20.09.2018 übermittelte das BVwG dem BF die Anfragebeantwortung der Staatendokumentation und räumte ihm die Möglichkeit einer Stellungnahme ein.

Mit Stellungnahme vom 16.10.2018 brachte der BF vor, dass in der Medikamenten- und Behandlungsliste nur ein Krankenhaus in New Delhi angeführt werde, welches jedoch die Behandlungen und die Medikamentenverschreibungen ausschließlich an Privatpersonen vornehme. Der BF müsse täglich Medikamente einnehmen und sei der Zugang zu einer antiretroviralen Therapie in Indien lediglich für etwa die Hälfte der Menschen, die ein solche benötigen würden, zugänglich.

Aus einer beigelegten Stellungnahme der behandelnden Ärztin des BF vom 12.10.2018 geht hervor, dass eine Abschiebung den Gesundheitszustand des BF maßgeblich gefährden würde und davon auszugehen sei, dass eine medizinische Versorgung in Indien wahrscheinlich nicht ohne Unterbrechungen der antiretroviralen Therapie und der medizinisch-diagnostischen Kontrollen möglich sein werde. Eine tägliche strikte Einnahme der antiretroviralen Therapie sei jedoch erforderlich, um die Wirksamkeit zu gewährleisten. Die Folge einer unregelmäßigen Versorgung sei, dass es zu einer Verschlechterung der immunologischen Situation und zu einem Anstieg der Virusmenge käme und dadurch wieder eine Infektiosität gegeben wäre, weiters wäre ein Wiederauftreten der Tuberkulose wahrscheinlich. Beide Faktoren seien für den BF letztlich lebenslimitierend. Es werde aus medizinischen Gründen darum ersucht, von der Abschiebung des Patienten Abstand zu nehmen.

1.15. Laut Bericht der Polizeidirektion Wien vom 17.09.2019 wurde der BF am 19.07.2019 beim Versuch, mit unlauteren Mitteln eine Deutschprüfung zu absolvieren, betreten und wegen des Verdachts der Begehung der Delikte des Gebrauches fremder Ausweise und der versuchten mittelbar unrichtigen Beurkundung oder Beglaubigung angezeigt.

1.16. Mit Schreiben seines Vertreters vom 12.11.2019 legte der BF ergänzende medizinische Belege (Dokumentation Otto-Wagner-Spital) vor.

Daraus geht hervor, dass die gesundheitliche Situation des BF - so wie vom Sozialmedizinischen Zentrum Baumgartner Höhe, Otto Wagner-Spital am 26.11.2018 zusammengefasst - nach wie vor aufrecht gegeben ist.

Die im Beschwerdeverfahren eingeholten Berichte und Informationen wurden jeweils dem BFA zur Kenntnis gebracht, es hat dazu keine Stellungnahme abgegeben.

2. Beweisaufnahme:

Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:

* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 23.05.2014 und der Einvernahmen vor dem BFA am 30.03.2016 sowie die Beschwerde vom 25.10.2016

* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (offenbar Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aktenseiten 321 bis 357)

* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 08.08.2017

* Einsicht in die vom BVwG in das Verfahren eingebrachten Länderberichte und Anfragebeantwortungen zum Herkunftsstaat des BF sowie in den Investigation Report der ÖB New Delhi vom 03.04.2018

* Einsicht in die vom BF im Beschwerdeverfahren zahlreich vorgelegten medizinischen Dokumente

* Einsicht in notorische Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:

* Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA vom 04.02.2019

3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):

Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:

3.1. Zur Person des BF:

3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist indischer Staatsangehöriger, stammt aus XXXX , Distrikt Meerut, Bundesstaat Uttar Pradesh, bekennt sich zur Glaubensgemeinschaft der Hindus und gehört der Volksgruppe/Kaste der Jat an. Der BF ist geschieden und hat zwei Söhne, die in den Jahren 2000 und 2002 geboren sind und bei seiner Ex-Frau leben. In Indien leben weiters seine Eltern und seine Schwester, zwei Brüder sind bereits verstorben. Der BF hat zwölf Jahre die Schule besucht und war als Immobilienmakler tätig.

3.1.2. Der BF leidet an einer HIV-Infektion im Stadium C1 nach CDC, definiert durch Mykobakterium tuberculosis pulmoral (symptomatische Phase mit dem Vollbild AIDS). Der BF leidet somit an einer schweren, chronisch erworbenen Immunschwäche, hat bereits HIV-assoziierte Komplikationen erlebt (Erkrankung an Tuberkulose) und leidet zusätzlich an einem wahrscheinlich bald Insulin-pflichtigen Diabetes mellitus Typ 2. Aus diesen Gründen benötigt der BF, der eine sehr gute Compliance und Therapieadhärenz zeigt, eine regelmäßige fachärztliche Kontrolle und eine kontinuierliche Behandlung. Derzeit liegt ein stabiler und guter Immunstatus vor, und ist auch im Hinblick auf seine vergangene Tuberkulose keine neue Therapie erforderlich. Auch die Diabetes-Erkrankung bleibt unter der aktuellen Therapie gut kontrolliert.

Um diesen Gesundheitszustand zu erhalten, sind regelmäßige Kontrollen in einem spezialisierten Kompetenzzentrum lebenslang notwendig. Zusätzlich ist eine tägliche strikte Einnahme der antiretroviralen Therapie erforderlich, um die Wirksamkeit zu gewährleisten. Die Folge einer unregelmäßigen Versorgung wären eine Verschlechterung der immunologischen Situation und ein Anstieg der Virusmenge, wodurch wieder eine Infektiosität gegeben wäre. Bei einer Unterbrechung der Versorgung mit einer effektiven antiretroviralen Therapie besteht das Risiko einer Reaktivierung der Tuberkulose bis hin zur Organstreuung und Miliartuberkulose.

3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:

3.2.1. Der BF hat sein Vorbringen, dass er Schulden bei einflussreichen Gläubigern habe und von diesen verfolgt werde, nicht glaubhaft gemacht.

3.2.2. Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert und ist nicht vorbestraft.

3.2.3. Der BF hat nicht glaubhaft gemacht, dass er im Falle seiner Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus den oben genannten Gründen ausgesetzt wäre.

3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:

Grundsätzlich ist in Indien kostenlose antiretrovirale Behandlung (ART) seit 2004 erhältlich und sind alle relevanten Behandlungen in Indien verfügbar. Auch sind alle medizinischen Dienstleistungen in staatlichen Einrichtungen und Medikamente auf der Liste der lebenswichtigen Medikamente kostenlos. Personal- und Materialmangel schränken jedoch den Zugang zur Pflege stark ein, und geht aus einem Report der WHO hervor, dass nur knapp der Hälfte der Personen, die an HIV leiden, Zugang zu einer Behandlung haben.

Im Fall einer Rückkehr des BF nach Indien ist der faktische Zugang zu einer kostenlosen antiretroviralen Therapie daher nicht ausreichend gesichert. Eine Unterbrechung der Versorgung mit einer effektiven antiretroviralen Therapie führt zu dem Risiko einer Reaktivierung der Tuberkulose bis hin zur Organstreuung und Miliartuberkulose.

Der BF leidet an multiplen gesundheitlichen Problemen, die in ihrer Gesamtheit exzeptionelles Ausmaß erreichen. Er steht in regelmäßiger medizinischer Behandlung und wäre bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat in akuter Gefahr, in eine lebensbedrohliche Situation zu geraten.

3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA vom 04.02.2019, zuletzt aktualisiert am 09.08.2019, Schreibfehler teilweise korrigiert):

"[...] 2. Politische Lage

Indien ist mit über 1,3 Milliarden Menschen und einer multireligiösen und multiethnischen Gesellschaft die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt (CIA Factbook 23.01.2019; vgl. AA 18.09.2018). Die Zentralregierung hat im indischen Föderalsystem deutlich größere Kompetenzen als die Regierungen der Bundesstaaten. Indien verfügt über 29 Bundesstaaten und sechs Unionsterritorien (AA 11.2018a). Im Einklang mit der Verfassung haben die Bundesstaaten und Unionsterritorien ein hohes Maß an Autonomie und tragen die Hauptverantwortung für Recht und Ordnung (USDOS 20.04.2018). Die Hauptstadt New Delhi hat einen besonderen Rechtsstatus (AA 11.2018a).

Die Gewaltenteilung zwischen Parlament und Regierung entspricht britischem Muster (AA 18.09.2018, der Grundsatz der Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist durchgesetzt (AA 11.2018a). Die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit, die über einen dreistufigen Instanzenzug verfügt, ist verfassungsmäßig garantiert (AA 18.09.2018). Das oberste Gericht (Supreme Court) in New Delhi steht an der Spitze der Judikative und wird gefolgt von den High Courts auf Länderebene (GIZ 3.2018a). Die Pressefreiheit ist von der Verfassung verbürgt, jedoch immer wieder Anfechtungen ausgesetzt (AA 9.2018a). Indien hat zudem eine lebendige Zivilgesellschaft (AA 11.2018a).

Indien ist eine parlamentarische Demokratie und verfügt über ein Mehrparteiensystem und ein Zweikammerparlament (USDOS 20.04.2018). Darüber hinaus gibt es Parlamente auf Bundesstaatsebene (AA 18.09.2018).

Der Präsident ist das Staatsoberhaupt und wird von einem Wahlausschuss gewählt, während der Premierminister Leiter der Regierung ist (USDOS 20.04.2018). Das Präsidentenamt bringt vor allem repräsentative Aufgaben mit sich, im Krisenfall verfügt der Präsident aber über weitreichende Befugnisse. Seit Juli 2017 ist Präsident Ram Nath Kovind indisches Staatsoberhaupt (AA 11.2018a). Das wichtigste Amt innerhalb der Exekutive bekleidet aber der Premierminister (GIZ 3.2018a).

Wahlen zum Unterhaus finden nach einfachem Mehrheitswahlrecht ("first-past-the-post") alle fünf Jahre statt, zuletzt im April/Mai 2014 mit knapp 830 Millionen Wahlberechtigten (AA 18.09.2018). Dabei standen sich drei große Parteienbündnisse gegenüber: Die United Progressive Alliance (UPA) unter Führung der Kongresspartei, die National Democratic Alliance (NDA) unter Führung der Bharatiya Janata Party (BJP - Indische Volkspartei) und die sogenannte Dritte Front, die aus elf Regional- und Linksparteien besteht, sowie die aus einem Teil der India-Against-Corruption-Bewegung hervorgegangene Aam Aadmi Party (AAP) (GIZ 3.2018a; vgl. FAZ 16.05.2014). Abgesehen von kleineren Störungen verliefen die Wahlen korrekt und frei (AA 18.09.2018). Als deutlicher Sieger mit 336 von 543 Sitzen löste das Parteienbündnis "National Democratic Alliance" (NDA) mit der "Bharatiya Janata Party" (BJP) als stärkste Partei (282 Sitze) die Kongress-Partei an der Regierung ab (AA 18.09.2018). Die BJP holte sie nicht nur die absolute Mehrheit, sie ließ auch den bislang regierenden Indian National Congress (INC) weit hinter sich. Der INC kam nur noch auf 46 Sitze und erlitt die schlimmste Niederlage seit der Staatsgründung 1947. Wie es mit dem INC mit oder ohne die Familie Gandhi weitergeht, wird abzuwarten sein. Die Gewinne der Wahlen im Punjab, Goa und Manipur sowie das relativ gute Abschneiden in Gujarat sind jedenfalls Hoffnungsschimmer, dass die Zeit der Kongresspartei noch nicht vorbei ist (GIZ 13.2018a). Die Anti-Korruptionspartei (AAP), die 2013 bei der Wahl in Delhi 28 von 70 Sitzen erringen konnte, errang 2014 landesweit nur vier Sitze (GIZ 3.2018; vgl. FAZ 16.05.2014). Der BJP-Spitzenkandidat, der bisherige Ministerpräsident von Gujarat, Narendra Modi, wurde zum Premierminister gewählt und steht seither einem 26-köpfigen Kabinett (mit zusätzlichen 37 Staatsministern) vor (AA 18.09.2018).

In Indien wird im Zeitraum zwischen April und Mai 2019 wiedergewählt. Der genaue Zeitplan ist jedoch noch unklar. In den Umfragen liegt der hindu-nationalistische Premier Narendra Modi mit seiner BJP vorne (DS 01.01.2019).

Die seit 2014 im Amt befindliche neue Regierung will nicht nur den marktwirtschaftlichen Kurs fortsetzen, sondern ihn noch intensivieren, indem bürokratische Hemmnisse beseitigt und der Protektionismus verringert werden soll. Ausländische Investoren sollen verstärkt aktiv werden (GIZ 3.2018b).

Unter Premierminister Modi betreibt Indien eine aktive Außenpolitik. Der außenpolitische Kernansatz der "strategischen Autonomie" wird zunehmend durch eine Politik "multipler Partnerschaften" ergänzt. Wichtigstes Ziel der indischen Außenpolitik ist die Schaffung eines friedlichen und stabilen globalen Umfelds für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes und als aufstrebende Gestaltungsmacht die zunehmende verantwortliche Mitgestaltung regelbasierter internationaler Ordnung (AA 11.2018b). Ein ständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat ist dabei weiterhin ein strategisches Ziel (GIZ 3.2018a). Gleichzeitig strebt Indien eine stärkere regionale Verflechtung mit seinen Nachbarn an, wobei nicht zuletzt Alternativkonzepte zur einseitig sino-zentrisch konzipierten "Neuen Seidenstraße" eine wichtige Rolle spielen. In der Region Südasien setzt Indien zudem zunehmend auf die Regionalorganisation BIMSTEC (Bay of Bengal Initiative for Multi-Sectoral Technical and Economic Cooperation). Indien ist Dialogpartner der südostasiatischen Staatengemeinschaft und Mitglied im "Regional Forum" (ARF). Überdies nimmt Indien am East Asia Summit und seit 2007 auch am Asia-Europe Meeting (ASEM) teil. Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) hat Indien und Pakistan 2017 als Vollmitglieder aufgenommen. Der Gestaltungswille der BRICS-Staatengruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) schien zuletzt abzunehmen (AA 11.2018b).

In den Beziehungen zum gleichfalls nuklear gerüsteten Nachbarn Pakistan haben sich in den Jahrzehnten seit der Unabhängigkeit wiederholt Phasen des Dialogs und der Spannungen bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzung abgelöst. Größtes Hindernis für eine Verbesserung der Beziehungen ist weiterhin das Kaschmir-Problem (AA 11.2018b).

Indien ist durch das Nuklearabkommen mit den USA ein Durchbruch gelungen. Obwohl es sich bis heute weigert, dem Atomwaffensperrvertrag beizutreten, bedeutet das Abkommen Zugang zu Nukleartechnologie. Ebenfalls positiv hat sich das Verhältnis Indiens zu China entwickelt. Zwar sind die strittigen Grenzfragen noch nicht geklärt, aber es wurden vertrauensbildende Maßnahmen vereinbart, um zumindest in dieser Frage keinen Konflikt mehr herauf zu beschwören. Auch ist man an einer weiteren Steigerung des bilateralen Handels interessiert, der sich binnen eines Jahrzehnts mehr als verzehnfacht hat (GIZ 3.2018a).

Die Beziehungen zu Bangladesch sind von besonderer Natur, teilen die beiden Staaten doch eine über 4.000 km lange Grenze. Indien kontrolliert die Oberläufe der wichtigsten Flüsse Bangladeschs und war historisch maßgeblich an der Entstehung Bangladeschs während seines Unabhängigkeitskrieges beteiligt. Schwierige Fragen wie Transit, Grenzverlauf, ungeregelter Grenzübertritt und Migration, Wasserverteilung und Schmuggel werden in regelmäßigen Regierungsgesprächen erörtert. Die Beziehungen des Landes zur EU sind vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht von besonderer Bedeutung. Die EU ist der größte Handels-und Investitionspartner Indiens. Der Warenhandel in beide Richtungen hat sich faktisch stetig ausgeweitet (GIZ 3.2018a).

3. Sicherheitslage

Indien ist reich an Spannungen entlang von Ethnien, Religionen, Kasten und auch Lebensperspektiven, die sich oft in kommunal begrenzten Ausschreitungen entladen (GIZ 3.2018a). Terroristische Anschläge in den vergangenen Jahren (Dezember 2010 in Varanasi, Juli 2011 in Mumbai, September 2011 in New Delhi und Agra, April 2013 in Bangalore, Mai 2014 in Chennai und Dezember 2014 in Bangalore) und insbesondere die Anschläge in Mumbai im November 2008 haben die Regierung unter Druck gesetzt. Von den Anschlägen der letzten Jahre wurden nur wenige restlos aufgeklärt, und die als Reaktion auf diese Vorfälle angekündigten Reformvorhaben zur Verbesserung der indischen Sicherheitsarchitektur wurden nicht konsequent umgesetzt (AA 24.04.2015). Aber auch im Rest des Landes gab es Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund. Im März 2017 platzierte eine Zelle des "Islamischen Staates" (IS) in der Hauptstadt des Bundesstaates Madhya Pradesh eine Bombe in einem Passagierzug. Die Terrorzelle soll laut Polizeiangaben auch einen Anschlag auf eine Kundgebung von Premierminister Modi geplant haben (BPB 12.12.2017).

Die Spannungen im Nordosten des Landes gehen genauso weiter wie die Auseinandersetzung mit den Naxaliten (GIZ 3.2018a). Das staatliche Gewaltmonopol wird gebietsweise von den Aktivitäten der "Naxaliten" in Frage gestellt (AA 18.09.2018).

Das South Asia Terrorism Portal verzeichnet in einer Aufstellung für das Jahr 2016 insgesamt 898 Todesopfer durch terrorismus-relevante Gewalt. Im Jahr 2017 wurden 803 Personen durch terroristische Gewalt getötet und im Jahr 2018 wurden 935 Menschen durch Terrorakte getötet. Bis zum 13.01.2019 wurden zwölf Todesopfer durch terroristische Gewaltanwendungen registriert [Anmerkung: die angeführten Zahlen beinhalten Zivilisten, Sicherheitskräfte und Terroristen] (SATP 13.01.2019).

Konfliktregionen sind Jammu und Kashmir, die nordöstlichen Regionen und der maoistische Gürtel. In Jharkhand und Bihar setzten sich die Angriffe von maoistischen Rebellen auf Sicherheitskräfte und Infrastruktur fort. In Punjab kam es bis zuletzt durch gewaltbereite Regierungsgegner immer wieder zu Ermordungen und Bombenanschlägen. Neben den islamistischen Terroristen tragen die Naxaliten (maoistische Untergrundkämpfer) zur Destabilisierung des Landes bei. Von Chattisgarh aus kämpfen sie in vielen Unionsstaaten (von Bihar im Norden bis Andrah Pradesh im Süden) mit Waffengewalt gegen staatliche Einrichtungen. Im Nordosten des Landes führen zahlreiche Separatistengruppen (United Liberation Front Assom, National Liberation Front Tripura, National Socialist Council Nagaland, Manipur People's Liberation Front etc.) einen Kampf gegen die Staatsgewalt und fordern entweder Unabhängigkeit oder mehr Autonomie. Der gegen Minderheiten wie Moslems und Christen gerichtete Hindu-Radikalismus wird selten von offizieller Seite in die Kategorie Terror eingestuft, sondern vielmehr als "communal violence" bezeichnet (ÖB 12/2018).

Gegen militante Gruppierungen, die meist für die Unabhängigkeit bestimmter Regionen eintreten und/oder radikalen Auffassungen anhängen, geht die Regierung mit großer Härte und Konsequenz vor. Sofern solche Gruppen der Gewalt abschwören, sind in der Regel Verhandlungen über ihre Forderungen möglich. Gewaltlose Unabhängigkeitsgruppen können sich politisch frei betätigen (AA 18.09.2018).

[...]

4. Rechtsschutz/Justizwesen

In Indien sind viele Grundrechte und -freiheiten verfassungsmäßig verbrieft, und die verfassungsmäßig garantierte unabhängige indische Justiz bleibt vielmals wichtiger Rechtegarant. Die häufig überlange Verfahrensdauer aufgrund überlasteter und unterbesetzter Gerichte sowie verbreitete Korruption, vor allem im Strafverfahren, schränken die Rechtssicherheit aber deutlich ein (AA 18.09.2018). Eine systematisch diskriminierende Strafverfolgungs- oder Strafzumessungspraxis lässt sich nicht feststellen, allerdings sind vor allem die unteren Instanzen nicht frei von Korruption. Vorurteile z.B. gegenüber Angehörigen niederer Kasten oder Indigenen dürften zudem eine nicht unerhebliche Rolle spielen (AA 18.09.2018).

Das Gerichtswesen ist von der Exekutive getrennt (FH 27.01.2018). Das Justizsystem gliedert sich in den Supreme Court, das Oberste Gericht mit Sitz in Delhi; das als Verfassungsgericht die Streitigkeiten zwischen Zentralstaat und Unionsstaaten regelt. Es ist auch Appellationsinstanz für bestimmte Kategorien von Urteilen wie etwa bei Todesurteilen. Der High Court bzw. das Obergericht besteht in jedem Unionsstaat. Es ist Kollegialgericht als Appellationsinstanz sowohl in Zivil- wie auch in Strafsachen und führt auch die Dienst- und Personalaufsicht über die Untergerichte des Staates aus, um so die Justiz von den Einflüssen der Exekutive abzuschirmen. Subordinate Civil and Criminal Courts sind untergeordnete Gerichtsinstanzen in den Distrikten der jeweiligen Unionsstaaten und nach Zivil- und Strafrecht aufgeteilt. Fälle werden durch Einzelrichter entschieden. Richter am District und Sessions Court entscheiden in Personalunion sowohl über zivilrechtliche als auch strafrechtliche Fälle (als District Judge über Zivilrechtsfälle, als Sessions Judge über Straffälle). Unterhalb des District Judge gibt es noch den Subordinate Judge, unter diesem den Munsif für Zivilsachen. Unter dem Sessions Judge fungiert der 1st Class Judicial Magistrate und unter diesem der 2nd Class Judicial Magistrate, jeweils für minder schwere Strafsachen (ÖB 12.2018).

Das Gerichtswesen ist auch weiterhin überlastet und verfügt nicht über moderne Systeme zur Fallbearbeitung. Der Rückstau bei Gericht führt zu langen Verzögerungen oder der Vorenthaltung von Rechtsprechung. Eine Analyse des Justizministeriums für 2015 bis 2016 ergab eine Vakanz von 43 Prozent der Richterstellen an den Obergerichten (USDOS 20.04.2018). Die Regeldauer eines Strafverfahrens (von der Anklage bis zum Urteil) beträgt mehrere Jahre; in einigen Fällen dauern Verfahren bis zu zehn Jahre. Auch der Zeugenschutz ist mangelhaft. Dies führt dazu, dass Zeugen vor Gericht häufig nicht frei aussagen, da sie bestochen oder bedroht worden sind (AA 18.09.2018).

Insbesondere auf unteren Ebenen der Justiz ist Korruption weit verbreitet, und die meisten Bürger haben große Schwierigkeiten, ihr Recht bei Gericht durchzusetzen. Das System ist rückständig und stark unterbesetzt, was zu langer Untersuchungshaft für eine große Zahl von Verdächtigen führt. Vielen von ihnen bleiben so länger im Gefängnis, als es der eigentliche Strafrahmen wäre (FH 27.01.2018). Die Dauer der Untersuchungshaft ist entsprechend zumeist exzessiv lang. Außer bei von Todstrafe bedrohten Delikten soll der Haftrichter nach Ablauf der Hälfte der drohenden Höchststrafe eine Haftprüfung und eine Freilassung auf Kaution anordnen. Allerdings nimmt der Betroffene mit einem solchen Antrag in Kauf, dass der Fall über lange Zeit gar nicht weiterverfolgt wird. Mittlerweile sind ca. 70 Prozent aller Gefangenen Untersuchungshäftlinge, viele wegen geringfügiger Taten, denen die Mittel für eine Kautionsstellung fehlen (AA 18.09.2018).

In der Verfassung verankerte rechtsstaatliche Garantien (z.B. das Recht auf ein faires Verfahren) werden durch eine Reihe von Sicherheitsgesetzen eingeschränkt. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u.a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt (AA 18.09.2018).

Die Inhaftierung eines Verdächtigen durch die Polizei ohne Haftbefehl darf nach den allgemeinen Gesetzen nur 24 Stunden dauern. Eine Anklageerhebung soll bei Delikten mit bis zu zehn Jahren Strafandrohung innerhalb von 60, in Fällen mit höherer Strafandrohung innerhalb von 90 Tagen erfolgen. Diese Fristen werden regelmäßig überschritten.

Festnahmen erfolgen jedoch häufig aus Gründen der präventiven Gefahrenabwehr sowie im Rahmen der Sondergesetze zur inneren Sicherheit, z.B. aufgrund des Gesetzes über nationale Sicherheit ("National Security Act", 1956) oder des lokalen Gesetzes über öffentliche Sicherheit ("Jammu and Kashmir Public Safety Act", 1978). Festgenommene Personen können auf Grundlage dieser Gesetze bis zu einem Jahr ohne Anklage in Präventivhaft gehalten werden. Auch zur Zeugenvernehmung können gemäß Strafprozessordnung Personen über mehrere Tage festgehalten werden, sofern eine Fluchtgefahr besteht. Fälle von Sippenhaft sind dem Auswärtigen Amt nicht bekannt. (AA 18.09.2018).

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass unerlaubte Ermittlungsmethoden angewendet werden, insbesondere um ein Geständnis zu erlangen. Das gilt insbesondere bei Fällen mit terroristischem oder politischen Hintergrund oder solchen mit besonderem öffentlichem Interesse. Es gibt Fälle, in denen Häftlinge misshandelt werden. Ein im Mai 2016 von der renommierten National Law University Delhi veröffentlichter empirischer Bericht zur Situation der Todesstrafe in Indien zeichnet ein düsteres Bild des indischen Strafjustizsystems. So haben bspw. 80 Prozent aller Todeskandidaten angegeben, in Haft gefoltert worden zu sein. Nach glaubwürdigen, vertraulichen Schätzungen des IKRK Internationales Komitee des Roten Kreuz) kommt es weiterhin zu systematischer Folter in den Verhörzentren in Jammu und Kaschmir (AA 18.09.2018).

Für Angeklagte gilt die Unschuldsvermutung, ausgenommen bei Anwendung des "Unlawful Activities (Prevention) Amendment Bill", und sie haben das Recht, ihren Anwalt frei zu wählen. Das Strafgesetz sieht öffentliche Verhandlungen vor, außer in Verfahren, in denen die Aussagen Staatsgeheimnisse oder die Staatssicherheit betreffen können. Es gibt kostenfreie Rechtsberatung für bedürftige Angeklagte, aber in der Praxis ist der Zugang zu kompetenter Beratung oft begrenzt (USDOS 20.04.2018). Gerichte sind verpflichtet, Urteile öffentlich zu verkünden, und es gibt effektive Wege der Berufung auf beinahe allen Ebenen der Justiz. Angeklagte haben das Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht schuldig zu bekennen (USDOS 20.04.2018).

Gerichtliche Ladungen in strafrechtlichen Angelegenheiten sind im Criminal Procedure Code 1973 (CrPC, Chapter 4, §§ 61-69), in zivilrechtlichen Angelegenheiten im Code of Civil Procedure 1908/2002 geregelt. Jede Ladung muss schriftlich, in zweifacher Ausführung ausgestellt, vom vorsitzenden Richter unterfertigt und mit Gerichtssiegel versehen sein. Ladungen werden gemäß CrPC prinzipiell durch einen Polizeibeamten oder durch einen Gerichtsbeamten an den Betroffenen persönlich zugestellt. Dieser hat den Erhalt zu bestätigen. In Abwesenheit kann die Ladung an ein erwachsenes männliches Mitglied der Familie übergeben werden, welches den Erhalt bestätigt. Falls die Ladung nicht zugestellt werden kann, wird eine Kopie der Ladung an die Residenz des Geladenen sichtbar angebracht. Danach entscheidet das Gericht, ob die Ladung rechtmäßig erfolgt ist oder ob eine neue Ladung erfolgen wird. Eine Kopie der Ladung kann zusätzlich per Post an die Heim- oder Arbeitsadresse des Betroffenen eingeschrieben geschickt werden. Falls dem Gericht bekannt wird, dass der Betroffene die Annahme der Ladung verweigert hat, gilt die Ladung dennoch als zugestellt. Gemäß Code of Civil Procedure kann die Ladung des Gerichtes auch über ein gerichtlich genehmigtes Kurierservice erfolgen (ÖB 12.2018).

Im ländlichen Indien gibt es auch informelle Ratssitzungen, deren Entscheidungen manchmal zu Gewalt gegen Personen führt, die soziale Regeln brechen - was besonders Frauen und Angehörige unterer Kasten betrifft (FH 27.01.2018).

5. Sicherheitsbehörden

Die indische Polizei (Indian Police Service) ist keine direkte Strafverfolgungs- oder Vollzugsbehörde (BICC 12.2018) und untersteht den Bundesstaaten (AA 18.09.2018). Sie fungiert vielmehr als Ausbildungs- und Rekrutierungsstelle für Führungsoffiziere der Polizei in den Bundesstaaten. Im Hinblick auf die föderalen Strukturen ist die Polizei dezentral in den einzelnen Bundesstaaten organisiert. Die einzelnen Einheiten haben jedoch angesichts eines nationalen Polizeigesetzes, zahlreichen nationalen Strafrechten und der zentralen Rekrutierungsstelle für Führungskräfte eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Allgemein ist die Polizei mit der Strafverfolgung, Verbrechensprävention und -bekämpfung sowie der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung betraut und übt gleichzeitig eine teilweise Kontrolle über die verschiedenen Geheimdienste aus. Innerhalb der Polizei gibt es eine Kriminalpolizei (Criminal Investigation Department - CID), in die wiederum eine Sondereinheit (Special Branch) integriert ist. Während erstere mit nationalen und die Bundesstaaten übergreifenden Verbrechen betraut ist, hat die Sondereinheit Informationsbeschaffung und Überwachung jeglicher subversiver Elemente und Personen zur Aufgabe. In fast allen Bundesstaaten sind spezielle Polizeieinheiten aufgestellt worden, die sich mit Frauen und Kindern beschäftigen. Kontrolliert wird ein Großteil der Strafverfolgungsbehörden vom Innenministerium (Ministry of Home Affairs) (BICC 12.2018).

Ein Mangel an Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Polizei entsteht neben den strukturellen Defiziten auch durch häufige Berichte über Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergerichtliche Tötungen und Drohungen, die mutmaßlich durch die Polizei verübt wurden (BICC 12.2018). Die Polizei bleibt weiterhin überlastet, unterbezahlt und politischem Druck ausgesetzt, was in einigen Fällen zu Korruption führt (USDOS 20.04.2018). Polizeireformen verzögerten sich 2017 erneut (HRW 18.01.2018).

Die Effektivität der Strafverfolgung und der Sicherheitskräfte ist im gesamten Land sehr unterschiedlich ausgeprägt. Während es einerseits Fälle von Polizisten/Beamten gibt, die auf allen Ebenen ungestraft handeln, so gab es andererseits auch Fälle, in denen Sicherheitsbeamte für ihre illegalen Handlungen zur Verantwortung gezogen wurden (USDOS 20.04.2018).

Das indische Militär ist der zivilen Verwaltung unterstellt und hat in der Vergangenheit wenig Interesse an einer politischen Rolle gezeigt. Der Oberbefehl obliegt dem Präsidenten. Ihrem Selbstverständnis nach ist die Armee zwar die "Beschützerin der Nation", aber nur im militärischen Sinne (BICC 12.2018). Das Militär kann im Inland eingesetzt werden, wenn dies zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit notwendig ist (AA 18.09.2018; vgl. BICC 12.2018). Paramilitärischen Einheiten werden als Teil der Streitkräfte, vor allem bei internen Konflikten eingesetzt, so in Jammu und Kaschmir sowie in den nordöstlichen Bundesstaaten. Bei diesen Einsätzen kommt es oft zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen (BICC 12.2018).

Für den Einsatz von Streitkräften - vor allem von Landstreitkräften - in Unruhegebieten und gegen Terroristen wird als Rechtsgrundlage der "Armed Forces Special Powers Act" (AFSPA) zur Aufrechterhaltung von "Recht und Ordnung" herangezogen (USDOS 20.04.2018). Der AFSPA gibt den Streitkräften weitgehende Befugnisse zum Gebrauch tödlicher Gewalt, zu Festnahmen ohne Haftbefehl und Durchsuchungen ohne Durchsuchungsbefehl. Bei ihren Aktionen genießen die Handelnden der Streitkräfte weitgehend Immunität vor Strafverfolgung. Der AFSPA kommt zur Anwendung, nachdem Regierungen der Bundesstaaten ihre Bundesstaaten oder nur Teile davon auf der Basis des "Disturbed Areas Act" zu "Unruhegebieten" erklären. Das umstrittene Sonderermächtigungsgesetz für die Streitkräfte (AFSPA) wurde am 23.04.2018 für den Bundesstaat Meghalaya nach 27 Jahren aufgehoben und im Bundesstaat Arunachal Pradesh auf acht Polizeidistrikte beschränkt. Unverändert in Kraft ist es in folgenden als Unruhegebiete geltenden Staaten: Assam, und Nagaland sowie in Teilen von Manipur. Für Jammu und Kaschmir existiert eine eigene Fassung (AA 18.09.2018).

Die unter anderem auch in den von linksextremistischen Gruppen (sog. Naxaliten) betroffenen Bundesstaaten Zentralindiens eingesetzten paramilitärischen Einheiten Indiens unterstehen zu weiten Teilen dem Innenministerium (AA 18.09.2018). Dazu zählen insbesondere die National Security Guard (Nationale Sicherheitspolizei NSG), aus Angehörigen des Heeres und der Polizei zusammengestellte Spezialtruppe für Personenschutz, auch als "Black Cat" bekannt, die Rashtriya Rifles, eine Spezialtruppe zum Schutz der Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen bei inneren Unruhen und zur Bekämpfung von bewaffneten Rebellionen, die Central Reserve Police Force (CRPF) - die Bundesreservepolizei, eine militärisch ausgerüstete Polizeitruppe für Sondereinsätze - die Border Security Force (BSF - Bundesgrenzschutz) als größte und am besten ausgestattete Miliz zum Schutz der Grenzen zu Pakistan, Bangladesch und Myanmar. Sie wird aber auch zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung in anderen Landesteilen eingesetzt. Weiters zählen die Assam Rifles - zuständig für Grenzverteidigung im Nordosten - die Indo-Tibetan Border Force (ITBP) als Indo-Tibetische Grenzpolizei sowie die Küstenwache, die Railway Protective Force zum Schutz der nationalen Eisenbahn und die Central Industrial Security Force zum Werkschutz der Staatsbetriebe dazu (ÖB 12.2018). Besonders in Unruhegebieten haben die Sicherheitskräfte zur Bekämpfung sezessionistischer und terroristischer Gruppen weitreichende Befugnisse, die oft exzessiv genutzt werden (AA 18.09.2018).

Die Grenzspezialkräfte ("Special Frontier Force)" unterstehen dem Büro des Premierministers. Die sogenannten Grenzspezialkräfte sind eine Eliteeinheit, die an sensiblen Abschnitten im Grenzgebiet zu China eingesetzt werden. Sie agieren im Rahmen der Geheimdienste, des sogenannten Aufklärungsbüros ("Intelligence Bureau" - Inlandsgeheimdienst) und dem Forschungs- und Analyseflügel ("Research and Analysis Wing" - Auslandsgeheimdienst) (War Heros of India, 16.09.2018).

Das Gesetz erlaubt es den Behörden auch, Häftlinge bis zu 180 Tage lang ohne Anklage in Gerichtsgewahrsam zu nehmen (einschließlich der 30 Tage in Polizeigewahrsam). Das Gesetz zur Verhinderung ungesetzlicher Aktivitäten (UAPA) gibt den Behörden die Möglichkeit, Personen in Fällen im Zusammenhang mit Aufständen oder Terrorismus festzuhalten (USDOS 20.04.2018).

6. Folter und unmenschliche Behandlung

Indien hat im Jahr 1997 das VN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe unterzeichnet. jedoch bisher nicht ratifiziert (AA 18.09.2018). Es sind außerdem keine für die Ratifizierung notwendigen Änderungen der nationalen Gesetzgebung eingeleitet worden (BICC 12.2018). Ein Gesetzentwurf zur Bekämpfung der Folter (Bill on the Prevention of Torture), welcher innerstaatliche Voraussetzung der Ratifizierung der VN Anti-Folterkonvention ist, wurde vom Parlament bisher nicht verabschiedet (AA 18.09.2018).

Folter ist in Indien jedoch verboten (AA 18.09.2018), und der indische Staat verfolgt Folterer grundsätzlich und veranstaltet Kampagnen zur Bewusstseinserhöhung der Sicherheitskräfte, doch bleiben Menschenrechtsverletzungen von Polizeibeamten und paramilitärischen Einheiten häufig ungeahndet und führen nicht einmal zu Ermittlungsverfahren. Besonders gefährdet sind Angehörige unterer Kasten und andere sozial benachteiligte Bevölkerungsschichten (ÖB 12.2018). Aufgrund von Folter erlangte Aussagen sind vor Gericht nicht zur Verwertung zugelassen (AA 18.09.2018). Das Gesetz verbietet somit Folter, aber es gibt Berichte von NGOs, dass solche Praktiken verbreitet sind, speziell in Konfliktgegenden (USDOS 20.04.2018). Folter durch Polizeibeamte, Armee und paramilitärische Einheiten bleibt häufig ungeahndet, weil die Opfer ihre Rechte nicht kennen, eingeschüchtert werden oder die Folter nicht überleben (AA 18.09.2018). Menschenrechtsexperten zufolge versuchte die Regierung auch weiterhin, Personen festzunehmen und ihnen einen Verstoß nach dem - aufgehobenen - Gesetz zur Bekämpfung von Terrorismus, terroristischer Akte und zerstörenden Handlungen anzulasten. Dieses Gesetz besagte, dass Geständnisse, die vor einem Polizisten abgelegt wurden, als zulässige Beweise im Gericht behandelt werden (USDOS 20.04.2018).

7. Korruption

Korruption ist weit verbreitet (USDOS 20.04.2018). Indien scheint im Korruptionswahrnehmungsindex (Corruption Perceptions Index) von Transparency International (TI) für das Jahr 2018 mit einer Bewertung von 41 (von 100) (0 sehr korrupt, 100 kaum korrupt) auf dem 78. Rang von 180 Staaten auf (TI 2018). 2017 wurde Indien mit 40 Punkten (Rang 81 von 180 Staaten) bewertet (TI 2018). Im Jahr 2016 wurde Indien ebenfalls mit 40 Punkten bewertet. Das entspricht dem

79. Rang von 176 gelisteten Staaten (TI 2017).

NGOs berichten, dass üblicherweise Bestechungsgelder bezahlt werden, um Dienstleistungen wie Polizeischutz, Schuleinschreibung, Zugang zu Wasserversorgung oder Beihilfen zu beschleunigen (USDOS 20.04.2018). Die unteren Bereiche des Gerichtswesens sind im Speziellen von Korruption betroffen und die meisten Bürger haben Schwierigkeiten, Recht durch die Gerichte zu erhalten (FH 28.01.2018). Korruption ist auf allen Regierungsebenen vertreten (USDOS 20.04.2018).

Obwohl Politiker und Beamte regelmäßig bei der Entgegennahme von Bestechungsgeldern erwischt werden, gibt es zahlreiche Korruptionsfälle, die unbemerkt und unbestraft bleiben (FH 27.01.2018). Das Gesetz sieht Strafen für Korruption im öffentlichen Dienst vor, in der Praxis kommen Staatsdiener mit korrupten Praktiken häufig straflos davon (USDOS 20.04.2018). Durch das vom Präsidenten im Jahr 2014 unterzeichnete Lok Pal- und Lokayuktas Gesetz wurden unabhängige, staatliche Gremien eingerichtet, an die man Beschwerden wegen korrupter Beamter oder Politiker richten kann und die ermächtigt sind, die Beschwerden zu untersuchen und Verurteilungen vor Gericht zu verfolgen. Obwohl Modi und Angehörige seiner Regierung Unterstützung für das Gesetz signalisiert haben, gibt es wenig Belege dafür, dass es effektiv umgesetzt wird. Das 2005 geschaffene Recht auf Information (RTI) wird vor allem angewandt, um Transparenz zu steigern und korrupte Machenschaften aufzudecken. Seit der Verabschiedung des Gesetzes sind mindestens 65 "Recht auf Informationsaktivisten" ermordet und mehr als 400 angegriffen oder belästigt worden (FH 27.01.2018).

Korruption behindert manchmal auch Regierungsprogramme zur Untersuchung behaupteter Korruption im Regierungsbereich (USDOS 20.04.2018). Im Mai 2015 nahm die Lok Sabha (Volkskammer) Änderungen des Gesetzes zum Schutz von Informanten (Whistleblowers Protection Act) aus 2014 an. Mitglieder der Opposition kritisierten, dass dadurch die ohnehin schon begrenzten Auswirkungen des Gesetzes weiter aufgeweicht würden (FH 27.01.2018).

Gemäß Angaben des Zentrale Untersuchungsbehörde (Central Bureau of Investigation - CBI) unterhält jeder Bundesstaat in Indien mindestens ein Büro unter der Leitung eines Polizeichefs, in welchem Beschwerden per Post, Fax oder persönlich eingereicht werden können. Dabei kann auf Wunsch auch die Identität des Beschwerdeführers geheim gehalten werden. Vom CBI wurden im Untersuchungszeitraum [Anm.: 2016] 673 Korruptionsfälle registriert (CBI o.D.; vgl. USDOS 20.04.2018).

Eine von Transparency International und LocalCircles durchgeführte Umfrage hat ergeben, dass ein Einsatz von Bestechungsgeldern immer noch das effizienteste Mittel darstellt, um die Arbeit von Regierungsstellen abzuwickeln. Die Zahl jener Personen, die zugaben, ein Bestechungsgeld bei Behörden erlegt zu haben, lag 2017 bei 45 Prozent. So hat es einen Anstieg der Bestechung um 11 Prozent gegeben. Kommunale Unternehmen, Grundbuchabteilungen wie auch Polizeidienststellen stellen dabei die korruptionsanfälligsten Regierungsstellen dar (IT 11.10.2018).

Der Bericht mit dem Titel India Corruption Survey 2018 besagt, dass 58 Prozent der Bürger angeben, dass ihre Staaten über keine Anti-Korruptions-Helpline verfügen, während bis zu 33 Prozent angaben, dass sie sich nicht über das Vorhandensein einer solchen Hotline in ihren Staaten im Klaren seien (ICS 2018).

Einzelpersonen - oder NGOs im Namen von Einzelpersonen oder Gruppen - können sogenannte Rechtsstreitpetitionen von öffentlichem Interesse ("Public interest litigation petitions") bei jedem Obersten Gericht oder direkt beim Obersten Bundesgericht, dem "Supreme Court" einbringen, um rechtliche Wiedergutmachung für öffentliche Rechtsverletzungen einzufordern. Diese Beschwerden können Verstöße gegen staatliche Aufgaben durch einen Regierungsangestellten oder eine Verletzung von Verfassungsbestimmungen sein. NGOs schätzen diese Anträge sehr, um Regierungsangehörige gegenüber zivilgesellschaftlichen Organisationen für Korruption und Parteilichkeit, zur Rechenschaft zu ziehen (USDOS 20.04.2018).

Nach glaubwürdigen, vertraulichen Schätzungen des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) kommt es weiterhin zu systematischer Folter in den Verhörzentren in Jammu und Kaschmir. Für den Zeitraum Januar bis August 2017 beziffert Amnesty International die Zahl der Todesfälle in Haftanstalten auf 894, in Polizeigewahrsam auf 74 (AA 18.09.2018). Trotz der Trainings für senior police officers bleiben willkürliche Verhaftungen, Folter und erzwungene Geständnisse durch Sicherheitskräfte verbreitet (ÖB 12.2018).

Es kommt immer wieder zu willkürlichen Übergriffen der Staatsorgane, insbesondere der Polizeikräfte, vor allem gegenüber Häftlingen in Polizeigewahrsam. In einigen Fällen wird von willkürlichen und nicht gemeldeten Verhaftungen berichtet, bei denen dem Verhafteten mitunter ausreichend Wasser und Nahrung vorenthalten werden. Von etlichen Ausnahmen abgesehen, werden gesetzeswidrige Handlungen in diesem Bereich geahndet. Die angerufenen Gerichte haben hierbei in den letzten Jahren verstärkt Verantwortung gezeigt, zumal NGOs und die Presse kritisch über die ihnen bekannt gewordenen Fälle berichten. Auch über Übergriffe der Militärs und der paramilitärischen Gruppen bei ihren Einsätzen im Inneren (vor allem in Jammu und Kaschmir sowie in Indiens Nordosten) berichten Menschenrechtsorganisationen und die Nationale Menschenrechtskommission. Auch diese werden vereinzelt (militär-) gerichtlich geahndet, Prozess und Prozessausgang bleiben allerdings geheim (ÖB 12.2018).

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11. Allgemeine Menschenrechtslage

Indien hat 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet (AA 18.09.2018). Die nationale Gesetzgebung in Menschenrechtsangelegenheiten ist breit angelegt. Alle wichtigen Menschenrechte sind verfassungsrechtlich garantiert (ÖB 12.2018). Die Umsetzung dieser Garantien ist allerdings häufig nicht in vollem Umfang gewährleistet (AA 18.09.2018). Eine Reihe von Sicherheitsgesetzen schränken die rechtsstaatlichen Garantien, z.B. das Recht auf ein faires Verfahren, aber ein. Diese Gesetze wurden nach den Terroranschlägen von Mumbai im November 2008 verschärft; u. a. wurde die Unschuldsvermutung für bestimmte Straftatbestände außer Kraft gesetzt. Besonders in Unruhegebieten haben die Sicherheitskräfte zur Bekämpfung sezessionistischer und terroristischer Gruppen weitreichende Befugnisse, die oft exzessiv genutzt werden. Es gibt glaubhafte Berichte über extralegale Tötungen (AA 18.09.2018).

Die wichtigsten Menschenrechtsprobleme sind Missbrauch durch Polizei und Sicherheitskräfte einschließlich außergerichtlicher Hinrichtungen, Folter und Vergewaltigung. Korruption bleibt weit verbreitet und trägt zur ineffektiven Verbrechensbekämpfung bei, insbesondere auch von Verbrechen gegen Frauen, Kinder und Mitglieder registrierter Kasten und Stämme sowie auch gesellschaftlicher Gewalt aufgrund von Geschlechts-, Religions-, Kasten- oder Stammeszugehörigkeit (USDOS 20.04.2018).

Eine verallgemeinernde Bewertung der Menschenrechtslage ist für Indien kaum möglich: Drastische Grundrechtsverletzungen und Rechtsstaatsdefizite koexistieren mit weitgehenden bürgerlichen Freiheiten, fortschrittlichen Gesetzen und engagierten Initiativen der Zivilgesellschaft. Vor allem die Realität der unteren Gesellschaftsschichten, die die Bevölkerungsmehrheit stellen, ist oftmals von Grundrechtsverletzungen und Benachteiligung gepr

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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