TE Bvwg Erkenntnis 2020/1/7 W237 2214519-1

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Veröffentlicht am 07.01.2020
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Entscheidungsdatum

07.01.2020

Norm

AsylG 2005 §55
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W237 2214519-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Martin WERNER über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 03.01.2019, Zl. 468080507/180967453, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.12.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm § 55 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Am 11.10.2018 stellte der Beschwerdeführer beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005.

1.1. Im Zuge einer Einvernahme vor dem Bundesamt am 20.12.2018 brachte der Beschwerdeführer vor, derzeit bei seiner Lebensgefährtin wohnhaft zu sein, keine Miete zu zahlen und an der dortigen Adresse nicht amtlich gemeldet zu sein. Befragt zu seinem Lebenslauf gab er an, am XXXX in einer näher genannten Ortschaft in Kasachstan geboren worden zu sein, im Alter von sechs Jahren nach Tschetschenien gezogen zu sein und dort in der Folge bis zum 14. Lebensjahr gelebt zu haben. Im Jahr 2006 sei er mit seiner Mutter nach Tschechien geflüchtet, wo er die neunte Klasse besucht und danach eine Lehre als Mechaniker begonnen, aber nicht abgeschlossen habe. In Tschechien verrichte er beruflich Montagehilfsarbeiten.

In Österreich habe er bereits am 06.10.2008 einen Asylantrag eingebracht, über den negativ entschieden worden sei, weshalb er freiwillig nach Tschetschenien zurückgereist sei. In der Ukraine auf der tschechischen Botschaft habe er dann erfahren, dass er in Tschechien Asyl erhalten habe. Er lebe seither in Tschechien und reise immer wieder mit seinem Konventionspass zu seiner Lebensgefährtin und seinen drei Kindern. Er habe in Österreich noch nie über einen Aufenthaltstitel verfügt. Sein Vater und zwei Halbschwestern sowie ein Halbbruder seien in Tschetschenien aufhältig; er habe lediglich einmal im Jahr Kontakt zu seinen Halbgeschwistern. Seine Mutter lebe in Tschechien und habe bereits die tschechische Staatsbürgerschaft.

Weitere Familienangehörige in Österreich gebe es nicht. Er unterhalte sich mit Bekannten und Verwandten in Österreich auf Tschetschenisch und Deutsch; einen Deutschkurs habe er im Jahr 2009 besucht, aber keine Prüfung abgelegt. In Tschechien verrichte er Gelegenheitsarbeiten und verdiene zwischen 500,- und 600,- Euro monatlich netto. Er sei in keinem Verein aktiv, gehe keiner ehrenamtlichen Tätigkeit nach und sei mit dem Gesetz in Österreich nicht in Konflikt geraten. Er habe in Österreich Freunde, der Schwerpunkt seines sozialen Umfeldes liege jedoch auf seiner Familie.

1.2. Im Rahmen des Verfahrens vor dem Bundesamt legte der Beschwerdeführer seinen von der Tschechischen Republik ausgestellten Konventionsreisepass, seine Geburtsurkunde samt beglaubigter Übersetzung, seinen tschechischen Führerschein, ein mit "Vorvertrag zu einem Arbeitsvertrag" betiteltes Schreiben, den positiven Asylbescheid seiner Lebensgefährtin, die Geburtsurkunden sowie die positiven Asylbescheide seiner drei Kinder und Meldebestätigungen betreffend die Lebensgefährtin und die Kinder vor.

2. Mit Bescheid vom 03.01.2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK vom 11.10.2018 gemäß § 55 AsylG 2005 ab.

Begründend führte das Bundesamt aus, dass der Beschwerdeführer seit dem Jahr 2010 in Tschechien aufhältig sei und sich dort gut integriert habe. Er spreche die tschechische Sprache und bestreite dort seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsarbeiten. Auch seine Mutter lebe in Tschechien und habe bereits die tschechische Staatsbürgerschaft erlangt, weshalb von keiner völligen Isolation seiner Person in diesem Land ausgegangen werden könne. Sein Familienleben in Österreich müsse dahingehend relativiert werden, dass der Beschwerdeführer keinen dauernden gemeinsamen Wohnsitz mit seinen Familienmitgliedern darlegen könne, weil er immer wieder nur zu Besuchszwecken nach Österreich zur Familie reise. Auch habe der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Gründung seiner Familie über keinen Aufenthaltstitel für Österreich verfügt und bei der Geburt der drei Kinder auch nicht damit rechnen können, einen solchen zu erhalten. Da der Beschwerdeführer immer wieder lediglich zu Besuchszwecken nach Österreich reise, sei von keinem längerfristigen ununterbrochenen Aufenthalt in Österreich auszugehen.

3. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer die gegenständliche Beschwerde, in welcher er im Wesentlichen ausführte, lediglich zum Aufenthalt von jeweils drei Monaten berechtigt zu sein, weshalb es gezwungenermaßen zu Unterbrechungen seines Familienlebens komme; es bestehe jedoch nahezu täglich Kontakt über Telefon und diverse soziale Medien zu den Familienmitgliedern. Auch habe der Beschwerdeführer einen Arbeitsvorvertrag vorgelegt, woraus deutlich werde, dass sein weiterer Aufenthalt dem wirtschaftlichen Wohl des Landes nicht schaden würde.

3.1. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte die Beschwerde und den Bezug habenden Verwaltungsakt am 14.02.2019 dem Bundesverwaltungsgericht vor.

3.2. Am 20.12.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht mit dem Beschwerdeführer - unter Befragung seiner Ehefrau als Zeugin - eine mündliche Verhandlung durch, in der er zu seinen Lebensbeziehungen in Tschechien und Österreich näher befragt wurde. Der Beschwerdeführer legte dabei ein als Ehevertrag bezeichnetes Schreiben des "Islamischen Zentrum Wien" sowie ein Unterstützungsschreiben des Bürgermeisters von XXXX vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist russischer Staatsangehöriger, gehört der tschetschenischen Volksgruppe an und wurde in Kasachstan geboren. Im Alter von sechs Jahren zog er nach Tschetschenien, wo er die Schule besuchte. Im Jahr 2006 zog er gemeinsam mit seiner Mutter nach Tschechien und setzte dort seine Schullaufbahn fort. Noch als Minderjähriger reiste er im Jahr 2008 in das Bundesgebiet ein und stellte am 06.10.2008 einen Antrag auf internationalen Schutz, der als unzulässig zurückgewiesen wurde, weil ihm in Tschechien der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde. Im November 2009 versuchte er, ein Paar Handschuhe aus Geschäftsräumlichkeiten zu stehlen; der Beschwerdeführer, der heute seine Tat als jugendliche Torheit bereut, wurde deshalb am XXXX durch das Bezirksgericht XXXX wegen versuchten Diebstahls gemäß § 15 iVm § 127 StGB als junger Erwachsener zu einer auf die Probezeit von drei Jahren bedingten Freiheitsstrafe von einem Monat verurteilt. Er reiste am 06.05.2010 freiwillig aus dem Bundesgebiet nach Tschetschenien zurück, wo er bis November 2010 blieb; anschließend reiste er über die Ukraine nach Tschechien, wo er seit dem Jahr 2011 als anerkannter Flüchtling lebt.

Er verfügt über einen tschechischen Konventionsreisepass, einen tschechischen Führerschein und über eine Meldeanschrift in der tschechischen Hauptstadt Prag. Nach dem Besuch der neunten Schulstufe in Tschechien begann er eine Lehre als Mechaniker, die er nicht abschloss. Bereits seit dem Jahr 2011 arbeitet der gesunde und arbeitsfähige Beschwerdeführer als Hilfsarbeiter unregelmäßig auf Werkvertragsbasis in der Reinigungsfirma seines Stiefvaters und verdient dabei monatlich - je nach Arbeitsleistung - einen Betrag von 500,- bis 800,- Euro. Im Jahr 2016 beantragte er erfolglos die tschechische Staatsbürgerschaft; er beabsichtigt im kommenden Jahr eine erneute Antragstellung. Nach derzeitiger Rechtslage sind Grundvoraussetzung für den Erhalt der tschechischen Staatsbürgerschaft ein fünfjähriger ununterbrochener Aufenthalt in Tschechien, Unbescholtenheit sowie Kenntnisse der tschechischen Sprache; der Erhalt der bestehenden Staatsangehörigkeit ist möglich. Der Beschwerdeführer wohnt in Prag im Haushalt seiner Mutter, die bereits die tschechische Staatsbürgerschaft hat. Er bezahlt dabei keine Miete und wendet sein Einkommen für seinen eigenen notwendigen Lebensunterhalt sowie für die Unterstützung seiner Kernfamilie in Österreich auf.

Diese besteht aus seiner Lebensgefährtin und seinen drei minderjährigen Kindern im Alter von drei, fünf und sechs Jahren; die Lebensgefährtin ist derzeit mit dem vierten gemeinsamen Kind schwanger. Alle genannten Familienangehörigen sind russische Staatsangehörige und leben als Asylberechtigte in der oberösterreichischen Ortschaft XXXX . Der Beschwerdeführer ist mit seiner Lebensgefährtin seit dem Jahr 2012 nach islamischem Ritus verheiratet. Sie ist arbeitslos und kümmert sich um die gemeinsamen Kinder. Spätestens seit dem Jahr 2012 führt der Beschwerdeführer das Familienleben mit seiner Lebensgefährtin und seinen Kindern dergestalt, dass er abwechselnd mehrere Wochen oder ein paar Monate in Tschechien arbeitet und dann - unter Ausnützung der Reiseberechtigung, die ihm sein tschechischer Konventionspass erlaubt - für mehrere Wochen bis zu einem Zeitraum von maximal drei Monaten (innerhalb von sechs Monaten) bei seinen Familienangehörigen in XXXX wohnt. In dieser Zeit unterstützt er seine Frau in der Haushaltsführung sowie der Erziehung der gemeinsamen Kinder und beschäftigt sich mit Freizeitaktivitäten; zum Teil verrichtet er unentgeltlich handwerkliche Hilfstätigkeiten für bekannte Personen in der Wohnsitzgemeinde. Während der in Tschechien verbrachten Zeit hält er zu seiner Lebensgefährtin und seinen Kindern nahezu täglich telefonisch bzw. über soziale Medien Kontakt. Die im Besitz eines österreichischen Konventionsreisepasses befindliche Lebensgefährtin besucht den Beschwerdeführer mit den Kindern nur selten in Prag. Seine Kinder sind altersentsprechend im Unwissen der aufenthaltsrechtlichen Regelungen und den Rhythmus der Besuche ihres Vaters gewohnt; der ältesten Tochter werden die Besuchsabfolgen damit erklärt, dass der Beschwerdeführer zur Unterstützung seiner Mutter immer wieder nach Tschechien reisen muss. Der Beschwerdeführer war sich bei der Gestaltung seiner Beziehung zu seiner Lebensgefährtin und der Gründung seiner Familie der beschränkten Besuchsmöglichkeiten bewusst.

In Österreich besuchte er weder eine Schule noch schloss er eine Ausbildung ab; er ist in keinem Verein aktiv tätig oder geht einer ehrenamtlichen Tätigkeit nach. Sein Berufswunsch ist es, dem Tischlerhandwerk in unselbständiger Beschäftigung nachzugehen. Von dieser Vorstellung abgesehen stünde ihm bei einer entsprechenden arbeitsmarktrechtlichen Erlaubnis die Möglichkeit offen, in Österreich rasch bei befreundeten Unternehmern eine Erwerbsarbeit als Hilfsarbeiter aufzunehmen. Der Beschwerdeführer kann sich auf Alltagsniveau in deutscher Sprache sehr gut verständigen, die tschechische Sprache spricht er fließend. Er verfügt über Freunde im Bundesgebiet, der Schwerpunkt seiner sozialen Beziehungen liegt aber auf seinen Familienmitgliedern. Der Bürgermeister von XXXX unterstützt den Beschwerdeführer in seinem Wunsch, sich in Österreich bei seiner Familie niederlassen zu können.

2. Beweiswürdigung:

Die Feststellungen ergeben sich zur Gänze aus den glaubhaften und auch von der belangten Behörde nicht in Zweifel gezogenen Angaben des Beschwerdeführers im Verfahren, insbesondere in der mündlichen Verhandlung. Diese konnte mit dem Beschwerdeführer auch im Wesentlichen in deutscher Sprache abgehalten werden, woraus sich seine festgestellten Sprachkenntnisse ergeben. Seine Aussagen zu seinen Lebensbeziehungen in den vergangenen Jahren wurden durch seine in der Verhandlung als Zeugin befragte Lebensgefährtin bestätigt. Die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdeführers ergibt sich aus einem Auszug aus dem Strafregister; er gab in der Verhandlung seine Straftat auch zu und beteuerte glaubhaft, diese zu bereuen. Die festgestellten Grundvoraussetzungen zur Erlangung der tschechischen Staatsbürgerschaft ergeben sich aus im Internet abrufbaren Informationen der entsprechenden tschechischen Behörden. Der Beschwerdeführer legte im Verfahren vor der belangten Behörde eine Arbeitsplatzzusage vor, weshalb entsprechend seinen Angaben auch festgestellt werden konnte, dass er bei Vorliegen der arbeitsmarktrechtlichen Erlaubnis rasch eine Erwerbsarbeit in Österreich aufnehmen könnte. Dass der Bürgermeister der österreichischen Wohngemeinde des Beschwerdeführers seinen Antrag unterstützt, ergibt sich aus einem entsprechenden (undatierten) Schreiben, das in der Verhandlung vorgelegt wurde.

3. Rechtliche Beurteilung:

Der angefochtene Bescheid wurde der - diesbezüglich bevollmächtigten - Lebensgefährtin des Beschwerdeführers am 11.01.2019 durch persönliche Übernahme zugestellt. Die am 05.02.2019 dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl per Fax übermittelte Beschwerde ist gemäß § 7 Abs. 4 erster Satz VwGVG rechtzeitig.

Zu A)

3.1. § 55 AsylG 2005 lautet:

"Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK

§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen."

3.2. Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.

Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung zuletzt etwa VwGH 26.06.2019, Ra 2019/21/0034, Rn 9, mwN).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seiner langjährigen Rechtsprechung zu Ausweisungen Fremder wiederholt ausgesprochen, dass die EMRK Fremden nicht das Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem bestimmten Land garantiert und die Konventionsstaaten im Allgemeinen nicht verpflichtet sind, die Wahl des Aufenthaltslandes durch Einwanderer zu respektieren und auf ihrem Territorium die Familienzusammenführung zu gestatten. Dennoch könne in einem Fall, der sowohl die Achtung des Familienlebens, als auch Fragen der Einwanderung betrifft, der Umfang der staatlichen Verpflichtung, Familienangehörigen von im Staat ansässigen Personen Aufenthalt zu gewähren, - je nach der Situation der Betroffenen und dem Allgemeininteresse - variieren (vgl. z.B. EGMR 05.09.2000, Solomon v. Niederlande, Appl. 44328/98; EGMR 09.10.2003, Slivenko v. Lettland, Appl. 48321/99; EGMR 22.04.2004, Radovanovic v. Österreich, Appl. 42703/98; EGMR 31.01.2006, da Silva und Hoogkamer

v.

Niederlande, Appl. 50435/99; EGMR 31.07.2008, Darren Omoregie ua

v.

Norwegen, Appl. 265/07).

3.3. Vor diesem Hintergrund ist im vorliegenden Fall nach Maßgabe einer Interessenabwägung die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK nicht geboten:

3.3.1. Unzweifelhaft führt der Beschwerdeführer mit seiner in der oberösterreichischen Ortschaft XXXX lebenden Lebensgefährtin, die er bereits seit über sieben Jahren kennt und mit welcher er auch nach muslimischem Ritus verheiratet ist, und seinen drei minderjährigen Kindern ein ausgeprägtes Familienleben im Bundesgebiet: Soweit es seine berufliche bzw. finanzielle Situation sowie die Einreisebestimmungen in Bezug auf seinen tschechischen Konventionsreisepass erlauben, lebt der Beschwerdeführer bei seinen Familienmitgliedern in Österreich im gemeinsamen Haushalt und bringt sich in die Kindererziehung ein. Sowohl durch das Zusammenleben mit seinen Kindern und seiner Lebensgefährtin als auch durch seine Eingebundenheit in soziale Strukturen seiner österreichischen Wohnsitzgemeinde, seine Bekanntschaften und seine beruflichen Vorstellungen entfaltete der Beschwerdeführer in den letzten Jahren auch ein in Österreich bestehendes Privatleben.

Das aufgezeigte Ausmaß des hier gelebten Privat- und Familienlebens spricht im Rahmen der Interessenabwägung sehr stark dafür, dem Beschwerdeführer den dauernden Verbleib im Bundesgebiet zu ermöglichen. Er beherrscht auch die deutsche Sprache auf Alltagsniveau und würde rasch eine Erwerbsarbeit aufnehmen können. Seine strafgerichtliche Verurteilung aus dem Jahr 2010 fällt zu seinen Ungunsten nicht ins Gewicht, weil es sich um ein minderschweres Delikt (versuchter Diebstahl von Winterhandschuhen) handelte, das der Beschwerdeführer vor über zehn Jahren als junger Erwachsener beging und für welches er sich heute reuig zeigt.

3.3.2. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass der Beschwerdeführer und seine Lebensgefährtin ihre Beziehung im vollen Bewusstsein ihrer aufenthaltsrechtlichen Stellung eingingen. Beide gaben im Verfahren an, dass sie seit ihrem Kennenlernen wussten, mit ihren Konventionsreisepässen einander jeweils nur für eine Höchstdauer von drei Monaten innerhalb eines sechsmonatigen Zeitraums in Österreich bzw. Tschechien besuchen zu können (vgl. § 31 Abs. 1 Z 3 FPG iVm Art. 21 Abs. 1 SDÜ). Unter dieser Maßgabe gründeten sie auch ihre Familie und bekamen gemeinsam drei Kinder, wobei die Beschwerdeführerin derzeit mit dem vierten (während des Beschwerdeverfahrens gezeugten) Kind schwanger ist.

Dabei fällt nicht nur das Bewusstsein des Beschwerdeführers ins Gewicht, sondern der Umstand, dass bislang das Familienleben unter der genannten aufenthaltsrechtlichen Einschränkung funktionierend gelebt wird: Während der in Tschechien verbrachten Wochen und Monate verdient der Beschwerdeführer als Hilfsarbeiter genug Geld, um damit auch seine in Österreich lebende Familie zu unterstützen, zumal er im gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter in Prag keine Miete bezahlen muss. Er hat darüber hinaus in Tschechien die Möglichkeit, im Unternehmen seines Stiefvaters seine Arbeitszeiten flexibel zu gestalten, sodass er mehrere Wochen bzw. bis zu drei Monaten Zeit mit seiner Familie in Österreich verbringen kann. In Tschechien pflegt der Beschwerdeführer zu seiner Lebensgefährtin und den gemeinsamen Kindern nahezu täglich Kontakt über Telefon und soziale Medien.

An dieser Stelle ist festzuhalten, dass eine Nichterteilung des begehrten Aufenthaltstitels lediglich die Fortführung des bereits bislang geführten Familienlebens unter den geschilderten Bedingungen bedeutet. Damit unterscheidet sich der vorliegende Fall auch von einer Interessenabwägung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK, die bei der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme vorzunehmen ist, welche mit einer Verpflichtung des betroffenen Fremden einhergeht, in einen außerhalb des Unionsgebiets liegenden Herkunftsstaat zurückzukehren, wobei keine Möglichkeit laufender Besuche besteht, wie sie für den Beschwerdeführer und seine Familienangehörigen nach dem Schengener Durchführungsübereinkommen in Tschechien und Österreich möglich sind.

3.3.3. Zudem sind keine Umstände ersichtlich, aus denen eine maßgeblich höhere Schutzwürdigkeit des Privat- und Familienlebens des gesunden Beschwerdeführers mit seinen - ebenso gesunden und nicht in besonderer Weise unterstützungsbedürftigen - Familienangehörigen sprechen würde, auch wenn nicht verkannt wird, dass ein dauerhaftes Zusammenleben sämtlicher Familienmitglieder von diesen gewünscht ist und eine Erleichterung in der Haushaltsführung und Kindererziehung darstellen würde. Eine solche Erleichterung bzw. Intensivierung des Familienlebens zu ermöglichen, ist nach der aufgezeigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte aber keine staatliche Verpflichtung nach Art. 8 EMRK. Außerdem weist der Beschwerdeführer keine besonderen beruflichen Qualifikationen auf, die er in diesem Zusammenhang als Verstärkung seiner persönlichen Interessen im Verhältnis zu den zu berücksichtigenden öffentlichen Interessen ins Treffen führen könnte. Der Beschwerdeführer ist in Österreich auch weder Mitglied in einem Verein noch geht er einer ehrenamtlichen Tätigkeit nach oder hat eine Schule oder Ausbildung im Bundesgebiet abgeschlossen.

3.3.4. Ein Aufenthaltstitel nach § 55 AsylG 2005 dient der Vermeidung der Verletzung der Rechte eines im Inland befindlichen Fremden nach Art. 8 Abs. 1 EMRK und stellt in diesem Sinne gleichsam eine ultima ratio dar, den Aufenthalt zu legalisieren. Im vorliegenden Fall stünden dem Beschwerdeführer aber andere fremdenrechtliche Mittel im geregelten Zuwanderungswesen zur Verfügung, sich in Österreich mit seiner Familie niederzulassen; insbesondere zeigte er im Verfahren keine nachvollziehbaren Gründe auf, warum er nicht angesichts der festgestellten allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen - ebenso wie seine Mutter - die tschechische Staatsbürgerschaft, mit der ihm die Niederlassung in Österreich schon unionsrechtlich möglich wäre, (erneut) beantragen und erhalten könnte. Den Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang bis auf Weiteres auf die Fortführung des bisher bereits gelebten Familienverfahrens zu verweisen, kann nicht als unstatthaft beurteilt werden.

Dabei ist auch festzuhalten, dass sogar eine Intensivierung des Familienlebens bereits unter den bestehenden Maßgaben möglich erscheint, weil die Lebensgefährtin und die gemeinsamen Kinder den Beschwerdeführer häufiger in Prag besuchen könnten. Von verständlichen Beschwerlichkeiten, die das Reisen mit vier minderjährigen Kindern mit sich brächte, legte die Lebensgefährtin des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung keine zwingenden Gründe dar, die gegen häufigere besuche in Tschechien sprächen. Da sie mit ihrem österreichischen Konventionsreisepass in Tschechien ebenso die Rechte nach Art. 21 SDÜ in Anspruch zu nehmen vermag, könnte unter der Annahme nachfolgender wechselseitiger Besuche das Familienleben (zumindest theoretisch) fast durchgehend gemeinsam gelebt werden.

3.3.5. Schließlich ist nicht ersichtlich, dass die Nichtzuerkennung des begehrten Aufenthaltstitels dem Kindeswohl der minderjährigen Kinder des Beschwerdeführers in maßgeblicher Weise widerspricht. Zwar wird nicht verkannt, dass ein durchgehender gemeinsamer Haushalt mit dem Vater im Interesse seiner minderjährigen Kinder wäre. Wie bereits ausgeführt, bedeutet die Nichtzuerkennung des Aufenthaltstitels allerdings bloß die Perpetuierung einer Situation, die die Kinder zu keinem Zeitpunkt anders kannten. Sie leben mit ihrer Mutter durchgehend im gemeinsamen Haushalt und haben zu ihrem Vater durch seine regelmäßigen ausgedehnten Besuche mehrere Monate im Jahr persönlichen, jedoch nahezu täglich telefonischen Kontakt. Der Aussage der Lebensgefährtin des Beschwerdeführers in der Verhandlung ist auch nicht zu entnehmen, dass die Kinder - die die aufenthaltsrechtlichen Beschränkungen ihrer Eltern altersentsprechend noch nicht begreifen können - mit der Situation nicht umgehen könnten; für die älteste, sechsjährige Tochter finden die Eltern eine kindgerechte Erklärung für die Besuchsabfolge des Beschwerdeführers (regelmäßige Unterstützung der Großmutter in Tschechien).

3.4. Aufgrund dieser Erwägungen ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 nicht geboten, weil die Nichterteilung desselben zwar in die Rechte des Beschwerdeführers nach Art. 8 EMRK sowie das Kindeswohl seiner minderjährigen Kinder eingreift, diese Rechte jedoch nicht verletzt.

Die Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid ist somit als unbegründet abzuweisen.

Zu B)

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer solchen Rechtsprechung, des Weiteren ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei der Beschwerdeabweisung auf eine ständige Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts sowie des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten zu Spruchteil A wiedergegeben. Insoweit die in der rechtlichen Beurteilung angeführte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu früheren Rechtslagen ergangen ist, ist diese nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts auf die inhaltlich meist völlig gleichlautenden Bestimmungen der nunmehr geltenden Rechtslage unverändert übertragbar.

Schlagworte

Aufenthaltstitel, mangelnder Anknüpfungspunkt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2020:W237.2214519.1.00

Zuletzt aktualisiert am

09.03.2020
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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