RS Vfgh 2020/3/3 UA1/2020

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Veröffentlicht am 03.03.2020
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Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)

Norm

B-VG Art52b
B-VG Art53
B-VG Art138b Abs1 Z1
GOG NR §33
VO-UA §1, §3
VfGG §7 Abs1, §56c Abs7

Leitsatz

Rechtswidrigkeit eines Beschlusses des Geschäftsordnungsausschusses des Nationalrates betreffend das Verlangen auf Einsetzung des Ibiza-Untersuchungsausschusses hinsichtlich der "mutmaßlichen Käuflichkeit der türkis-blauen Bundesregierung"; unzulässige Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes durch eigenständige politische Interpretation und Wertung des Verlangens durch die beschlussfassende Mehrheit im Geschäftsordnungsausschuss

Rechtssatz

Der Geschäftsordnungsausschuss hat mit Beschluss vom 22.01.2020 das Verlangen von 54 Mitgliedern des Nationalrates auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses "betreffend mutmaßliche Käuflichkeit der türkis-blauen Bundesregierung (Ibiza-Untersuchungsausschuss)" teilweise für unzulässig erklärt. Der Präsident des Nationalrates hat als Zeitpunkt der Einsetzung des Untersuchungsausschusses den 22.01.2020, 21:34 Uhr, festgestellt. Die am 03.02.2020 von 53 das in Rede stehende Verlangen unterstützenden Mitgliedern des Nationalrates beim VfGH eingebrachte Anfechtung gemäß Art138b Abs1 Z1 B-VG erweist sich somit als rechtzeitig und als von einer ausreichenden Anzahl von Mitgliedern des Nationalrates eingebracht. §106 GOG NR bildet keine Prozessvoraussetzung; die Anfechtung ist zulässig.

Der Wahl des Anliegens sind zunächst keine Grenzen gesetzt; es ist allein der politischen Wertung von Abgeordneten des Nationalrates anheimgestellt, welches Anliegen der politischen Kontrolle durch einen Untersuchungsausschuss zugeführt werden soll. Es bedarf weder eines Verdachtes noch eines Anlasses. Da mit Art53 Abs1 B-VG einem Viertel der Mitglieder des Nationalrates ein Minderheitsrecht eingeräumt wurde, kommt der verlangenden Minderheit - im Sinne der wirksamen Ausgestaltung dieses Rechtes - grundsätzlich auch das Recht zu, das zu untersuchende Thema frei zu bestimmen, in das gegen ihren Willen nicht eingegriffen werden darf.

Im Hinblick darauf, dass ein Minderheitsverlangen der Überprüfung durch den Geschäftsordnungsausschuss unterzogen wird und dessen Beschluss im Rahmen eines Verfahrens gemäß Art138b Abs1 Z1 B-VG vom VfGH überprüft werden kann, hat schon das Verlangen der Minderheit das Vorliegen der verfassungsrechtlich geforderten Voraussetzungen nachvollziehbar darzulegen.

Aus dem Verlangen muss sich ergeben, dass es sich um einen Vorgang der Bundesvollziehung handelt; weiters haben sich aus dem Verlangen die ausreichende Bestimmtheit und der erforderliche Zusammenhang zu ergeben. Die Untersuchungsziele sind näher festzulegen und es ist auszuführen, welche Themenbereiche der Untersuchungsausschuss im Rahmen seines nachfolgenden Beweisverfahrens untersuchen soll; jeder einzelne dieser Bereiche hat einen ausreichenden Zusammenhang mit dem festgelegten Vorgang aufzuweisen, der darzulegen ist; diese Parameter müssen geeignete Grundlagen bilden, um dem Untersuchungsausschuss zur Erreichung seiner Prüfziele eine Beurteilung und Entscheidung zu ermöglichen. Es obliegt daher der Minderheit, ein hinreichend klar umrissenes Arbeitsprogramm für den Untersuchungsausschuss vorzugeben.

Im Hinblick auf die Verpflichtung des VfGH über eine Anfechtung gemäß §56c Abs6 VfGG zu entscheiden sowie auf die befristete Tätigkeit eines Untersuchungsausschusses hat die anfechtungsberechtigte Minderheit das Vorliegen der Voraussetzungen des Art53 Abs2 B-VG bereits gegenüber dem Geschäftsordnungsausschuss darzulegen und nicht erst im Verfahren vor dem VfGH diesem gegenüber zu begründen.

Prüfungsgegenstand nach Art138b Abs1 Z1 B-VG vor dem VfGH ist nicht das (Minderheits-)Verlangen, sondern der Beschluss des Geschäftsordnungsausschusses des Nationalrates, mit dem ein Verlangen eines Viertels der Mitglieder des Nationalrates, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, für ganz oder teilweise unzulässig erklärt wird.

Gemäß §3 Abs4 Verfahrensordnung für parlamentarische Untersuchungsausschüsse (VO-UA) darf der Geschäftsordnungsausschuss den im Verlangen gemäß §1 Abs2 VO-UA bezeichneten Untersuchungsgegenstand nicht ändern, es sei denn, alle in der Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses stimmberechtigten Abgeordneten, die das Verlangen unterstützt haben, stimmen dem zu.

Zulässigkeit der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Verlangens auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses am Maßstab des Art53 Abs2 B-VG: Bereits die Materialien zu §3 Abs2 VO-UA führen als Prüfungsmaßstab für die Beurteilung durch den Geschäftsordnungsausschuss ausdrücklich Art53 Abs2 B-VG an. Die VO-UA versteht die Übereinstimmung des Untersuchungsgegenstandes mit Art53 Abs2 B-VG jedenfalls auch als Voraussetzung, die der Geschäftsordnungsausschuss nach §3 Abs2 VO-UA zu prüfen hat. So enthält §1 Abs5 VO-UA, der Voraussetzungen für ein Verlangen auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses festlegt, die Anordnung, dass eine inhaltliche Gliederung des Gegenstandes der Untersuchung nach Beweisthemen zulässig ist, eine Sammlung nicht direkt zusammenhängender Themen hingegen unzulässig ist. Die in §1 Abs5 VO-UA vorgesehene Unzulässigkeit einer Sammlung nicht direkt zusammenhängender Themen entspricht jener Umschreibung der Wendung "bestimmter Vorgang", die die Materialien zu Art53 Abs2 B-VG verwenden, und stellt die einfachgesetzliche Ausführung dieser Wendung dar. Daraus ist abzuleiten, dass §3 Abs2 VO-UA die Prüfung der "Zulässigkeit" (zumindest auch) als Prüfung der Übereinstimmung des Verlangens mit den Vorgaben des Art53 Abs2 B-VG versteht.

Gerade weil nach den (verfassungs-)gesetzlichen Regelungen nicht das Verlangen, sondern der Beschluss des Geschäftsordnungsausschusses Gegenstand im Verfahren vor dem VfGH ist, muss Prüfungsmaßstab für diesen Beschluss Art53 Abs2 B-VG sein; andernfalls wäre der VfGH auf die Nachprüfung bloß der Einhaltung der formalen Kriterien des §1 VO-UA beschränkt, weil nur diese Inhalt des zu überprüfenden Beschlusses wäre.

Der VfGH ist zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Beschlusses des Geschäftsordnungsausschusses des Nationalrates berufen; daraus ergibt sich, dass Art53 Abs2 B-VG Prüfungsmaßstab für die Prüfung der Zulässigkeit des Verlangens durch den Geschäftsordnungsausschuss nach §3 Abs2 VO-UA ist.

Der Beschluss des Geschäftsordnungsausschusses ist nicht bereits aus dem Grund rechtswidrig, dass der Geschäftsordnungsausschuss die inhaltliche Gliederung des Untersuchungsgegenstandes nach Beweisthemen im Verlangen auf Einsetzung des Untersuchungsausschusses in die Prüfung einbezogen und auch im Rahmen dieser Streichungen vorgenommen hat. Gegenstand der Entscheidung des Geschäftsordnungsausschusses ist gemäß §3 Abs2 VO-UA das Verlangen. §1 Abs5 VO-UA regelt, dass eine inhaltliche Gliederung des Gegenstandes der Untersuchung in Beweisthemen in einem Antrag oder einem Verlangen auf Einsetzung zulässig ist. Daraus ist zu schließen, dass in dem Fall, in dem von einer solchen zulässigen, aber nicht zwingenden Gliederung in Beweisthemen in einem Verlangen Gebrauch gemacht wird, diese Teil des Verlangens werden. Damit sind auch die Beweisthemen grundsätzlich tauglicher Prüfungsgegenstand und können auch - bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen - durch Beschluss des Geschäftsordnungsausschusses zulässigerweise gestrichen werden.

Der Geschäftsordnungsausschuss ist gemäß §3 Abs2 VO-UA auch befugt, nur einzelne genau zu bezeichnende Teile des Verlangens als unzulässig zu erklären. Eine Mehrheit im Geschäftsordnungsausschuss kann somit ohne Zustimmung der Abgeordneten, die das Verlangen unterstützt haben, einzelne Teile des Untersuchungsgegenstandes aus Gründen ihrer Unzulässigkeit streichen und diesen somit einschränken. Die entsprechenden Teile sind im Beschluss des Geschäftsordnungsausschusses genau zu bezeichnen, und die Unzulässigkeit ist zu begründen.

Gemäß §3 Abs4 VO-UA darf der Geschäftsordnungsausschuss den im Verlangen gemäß §1 Abs2 VO-UA bezeichneten Untersuchungsgegenstand aber nicht ändern, es sei denn, alle in der Sitzung des Geschäftsordnungsausschusses stimmberechtigten Abgeordneten, die das Verlangen unterstützt haben, stimmen dem zu. Eine Änderung des Untersuchungsgegenstandes ohne diese Zustimmung ist ausgeschlossen. Ebenso wenig darf eine Änderung der Beweisthemen, sofern diese im Sinne einer Gliederung des Untersuchungsgegenstandes im Verlangen enthalten sind, durch eine Mehrheit im Geschäftsordnungsausschuss erfolgen.

Der Geschäftsordnungsausschuss überschreitet die verfassungsrechtlichen Grenzen des Art53 Abs2 B-VG. Die Entscheidung über die teilweise Unzulässigkeit des Untersuchungsgegenstandes wird im Wege einer politischen Wertung des Geschäftsordnungsausschusses herbeigeführt:

Die beschlussfassende Mehrheit zieht einen von ihr definierten Themenkomplex "Casinos Austria - Glücksspiel" als Bezugsgröße heran, um bei den einzelnen Vollziehungsbereichen, bei denen eine (Teil-)Streichung vorgenommen wird, den erforderlichen Zusammenhang zu untersuchen. Die einzelnen Bereiche, die einer Streichung unterzogen werden, werden jeweils in Bezug auf den von der Mehrheit selbst ermittelten "Schwerpunkt" im Hinblick auf das Vorliegen eines inhaltlichen Zusammenhanges geprüft. Es wird ausdrücklich festgehalten, dass es "angebracht (erscheine), lediglich die teilweise Unzulässigkeit jener Teile des Verlangens festzustellen, die mit dem genannten Themenkomplex in keinem direkten Zusammenhang stehen und somit dem Bestimmtheitserfordernis des Art53 Abs2 B-VG und des §1 Abs5 2. Satz VO-UA zuwiderlaufen."

Die beschlussfassende Mehrheit im Geschäftsordnungsausschuss beschränkt sich somit nicht darauf, das Verlangen im Hinblick auf das Vorliegen der notwendigen Voraussetzungen (Art53 Abs2 B-VG) zu prüfen; vielmehr gewichtet sie das politische Anliegen selbst, gestaltet eigenständig einen Untersuchungsgegenstand und untersucht in weiterer Folge unter Zugrundelegung dieser gewonnenen Prämisse das Vorliegen des inhaltlichen Zusammenhanges bei den unter lita) bis g) aufgezählten "Bereichen" und den Beweisthemen.

Dem Geschäftsordnungsausschuss ist die Aufgabenstellung übertragen, das Vorliegen der Voraussetzungen des Art53 Abs2 B-VG zu überprüfen; ist er der Auffassung, dass diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, so hat er dies entsprechend zu begründen. Die verfassungsrechtlichen Rechtsvorschriften eröffnen jedoch keinen Raum dafür, es ins Belieben der Mehrheit zu stellen, ungeachtet dieser Rechtsauffassung - unter Zugrundelegung einer eigenständigen politischen Wertung - eine reduzierende Bewertung vorzunehmen und eine Teileinsetzung zu ermöglichen. Im Ergebnis ist die anfechtungswerbende Minderheit daher im Recht, dass der Geschäftsordnungsausschuss eine unzulässige Änderung des Untersuchungsgegenstandes vorgenommen hat.

Keine Bestellung eines Kurators für die beschlussfassende Mehrheit im Geschäftsordnungsausschuss weil der VfGH in einem Verfahren gemäß Art138b Abs1 Z1 B-VG auf Grund der Aktenlage entscheidet, im vorliegenden Fall keine Veranlassung zur Einbeziehung des Anfechtungsgegners bestand und die Zustellung der vorliegenden Entscheidung gemäß §13 Abs6 GOG NR an den Präsidenten des Nationalrates erfolgt.

Entscheidungstexte

Schlagworte

VfGH / Untersuchungsausschuss, Nationalrat, Auslegung verfassungskonforme, VfGH / Präjudizialität

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2020:UA1.2020

Zuletzt aktualisiert am

25.08.2021
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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