Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Mag. S***** M***** H*****, vertreten durch Dr. Leopold Hirsch, Rechtsanwalt in Salzburg, gegen die beklagte Partei W***** AG *****, vertreten durch Themmer, Toth & Partner, Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Feststellung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 2. April 2019, GZ 1 R 76/19a-25, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 23. Jänner 2019, GZ 18 C 317/18a-21, abgeändert wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der Revision wird Folge gegeben.
Das Urteil des Berufungsgerichts wird aufgehoben und diesem die neuerliche Entscheidung über die Berufung der Klägerin aufgetragen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Die Klägerin hat aufgrund ihres Antrags vom 18. 2. 2012 mit der Beklagten einen Rechtsschutzversicherungsvertrag mit Versicherungsbeginn 1. 3. 2012 abgeschlossen. Der Antrag enthielt (ua) folgende Frage und von der Klägerin gemachte Angabe:
„Bestehen für die zu versichernde Sache noch andere Versicherungsverträge, oder haben Sie welche beantragt: Nein“
In den im Antrag enthaltenen Schlusserklärungen ist (ua) Folgendes angeführt:
„…
VORVERTRAGLICHE ANZEIGEPFLICHT
Der Antragsteller ist gemäß § 16 VersVG verpflichtet, die Fragen nach den gefahrenerheblichen Umständen richtig und vollständig zu beantworten. Unvollständige und unrichtige Angaben hindern den Versicherer, die von ihm zu übernehmende Gefahr richtig einzuschätzen. Bei schuldhafter Verletzung dieser Pflicht kann der Versicherer vom Vertrag zurücktreten oder ihn anfechten und gegebenenfalls die Leistung verweigern. Versicherungsanträge sowie sämtliche Anzeigen und Erklärungen des Versicherungsnehmers und des Versicherten müssen schriftlich erfolgen. Der Antragsteller übernimmt durch seine Unterschrift die Verantwortung für die Richtigkeit und Vollständigkeit aller Angaben auch dann, wenn er diese nicht eigenhändig geschrieben hat.“
Die Klägerin las die Angaben im Antrag vor ihrer Unterschrift nicht, sondern unterschrieb das von einem Außendienstmitarbeiter der Beklagten ausgefüllte Schriftstück ungelesen. Es steht nicht fest, ob der Außendienstmitarbeiter mit der Klägerin vorab den Antrag durchgegangen war.
Die Klägerin verfügte zum Zeitpunkt der Antragstellung über einen ihr bekannten Rechtsschutzversicherungsvertrag bei einem anderen Versicherer mit umfassender Deckung, der dem mit der Beklagten abgeschlossenen Versicherungsvertrag entspricht und bis 1. 8. 2014 aufrecht war. Seit 6. 7. 2015 verfügt die Klägerin über einen weiteren Rechtsschutzversicherungsvertrag mit umfassender Deckung bei einem anderen Versicherer.
Hätte die Klägerin der Beklagten das Bestehen eines anderen Rechtsschutzversicherungsvertrags angezeigt, hätte diese den Vertrag nicht abgeschlossen.
Die Klägerin führt zu AZ 3 Cg 31/18t des Landesgerichts Salzburg ein Verfahren. Die Beklagte sagte hiefür zunächst eingeschränkte Deckung zu. Die letztlich eingebrachte Klage umfasste nur jene Punkte, hinsichtlich derer die Beklagte Deckung zugesagt hatte.
Die Beklagte erhielt erstmals im Februar 2017 einen konkreten Hinweis auf das Vorliegen eines anderen Rechtsschutzversicherungsvertrags der Klägerin. Nachdem die Klägerin einem Ersuchen der Beklagten um Aufklärung nicht nachkam, erklärte die Beklagte aufgrund der Mehrfachversicherungen den Rücktritt vom Vertrag.
Die Klägerin begehrte die Feststellung des aufrechten Bestands des mit der Beklagten abgeschlossenen Rechtsschutzversicherungsvertrags sowie der Unwirksamkeit der Kündigung der Beklagten und die Deckungspflicht der Beklagten für das von ihr beim Landesgericht Salzburg geführte Verfahren.
Die Beklagte beantragte die Abweisung der Klagebegehren wegen ihres infolge Mehrfachversicherungen berechtigten Rücktritts.
Das Erstgericht wies die Klagebegehren auf der Grundlage des eingangs zusammengefassten Sachverhalts ab. Es führte rechtlich aus, dass die Beklagte berechtigt gemäß § 16 VersVG wegen Doppelversicherung zurückgetreten sei. Die Klägerin habe ein fehlendes Verschulden nicht unter Beweis stellen können. Der Rücktritt sei auch innerhalb der einmonatigen Frist des § 20 Abs 1 VersVG erfolgt.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Klägerin Folge und änderte die Entscheidung des Erstgerichts im Sinn der Klagestattgebung ab. Es war der Rechtsansicht, dass § 58 VersVG die mehrfache Versicherung eines Interesses gegen dieselbe Gefahr bei verschiedenen Versicherern regle. Das Verhältnis der §§ 58 ff VersVG und der §§ 16 ff VersVG zueinander sei umstritten. Nach einer Meinung sei das Bestehen anderer Versicherungen auch gemäß §§ 16 ff VersVG anzeigepflichtig. Nach anderer Ansicht sei § 58 VersVG eine lex specialis und verdränge §§ 16 ff VersVG in ihrem Anwendungsbereich. Den Befürworter einer Anzeigepflicht nach § 16 VersVG sei nach Ansicht des Berufungsgerichts entgegenzuhalten, dass der Abschluss mehrerer Versicherungen nicht notwendigerweise auf unlautere Beweggründe des Versicherungsnehmers zurückgeführt werden könne. Der Versicherungsnehmer sei nämlich wie jeder andere Wirtschaftsteilnehmer dem Insolvenzrisiko seines Vertragspartners ausgesetzt und überdies bestehe das Risiko, dass der Versicherer seine Leistung aufgrund unklarer Versicherungsbedingungen im Schadensfall verweigere oder zurückhalte, was für den Versicherungsnehmer wirtschaftlich existenzbedrohend sein könne. Demgegenüber seien für den Versicherer außer der Angst vor einem betrügerischen Versicherungsnehmer keine Nachteile ersichtlich. Wie die Anzeigepflicht nach § 58 VersVG als lex specialis die entsprechenden Pflichten gemäß § 23 Abs 2 VersVG, § 27 Abs 2 VersVG über die Erhöhung der Gefahr nach Abschluss des Versicherungsvertrags verdränge, so müsse dies auch für die vorvertragliche Anzeigepflicht nach § 16 VersVG gelten. Schließlich wäre es mit der Gleichbehandlung aller Versicherer unvereinbar, wenn bei mehrfacher Versicherung nur der zweite Versicherer vom Vertrag zurücktreten könnte, während der erste Versicherer mangels Gefahrerhöhung im Sinn des § 23 VersVG an den Vertrag auch nach Abschluss einer weiteren Versicherung gebunden bliebe. Der Beklagten sei daher die Vertragsauflösung wegen nicht angezeigter Doppelversicherung gemäß § 16 VersVG verwehrt.
Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Wert des Entscheidungsgegenstands 5.000 EUR, nicht aber 30.000 EUR übersteigt und die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Frage des Verhältnisses der §§ 58 ff VersVG zur Anzeigepflicht nach § 16 VersVG keine ausreichende Rechtsprechung vorliege und dieser Frage über den Einzelfall hinaus Bedeutung zukomme.
Gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts richtet sich die Revision der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und im Sinn der Klageabweisung zu entscheiden.
Die Klägerin erstattete eine Revisionsbeantwortung mit dem Antrag, die Revision der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise diese abzuweisen und das Urteil des Berufungsgerichts zu bestätigen.
Rechtliche Beurteilung
Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und im Sinn der Aufhebung des Berufungsurteils zur neuerlichen Entscheidung berechtigt.
1. Die §§ 16 ff enthalten Regelungen über die vorvertragliche Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers. Demgegenüber bestimmt § 58 Abs 1 VersVG (nur) für alle Zweige der Schadensversicherung, zu der auch die Rechtsschutzversicherung zählt, nicht aber für die Summenversicherung (Schauer in Fenyves/Schauer [Hrsg], VersVG [3. Lfg 2016] § 58 Rz 9), dass, wer für ein Interesse gegen dieselbe Gefahr bei mehreren Versicherern Versicherung nimmt (mehrfache Versicherung), jedem Versicherer von der anderen Versicherung unverzüglich Mitteilung zu machen hat. Für das deutsche Recht enthält § 77 Abs 1 Satz 1 VVG eine nahezu wortgleiche Regelung.
2. Der Regelungszweck des § 58 VersVG besteht darin, das aus einer Mehrfachversicherung resultierende Informationsinteresse des jeweiligen Versicherers durch eine Mitteilungspflicht des Versicherungsnehmers zu schützen (Schauer in Fenyves/Schauer [Hrsg], VersVG [3. Lfg 2016] § 58 Rz 1). Die beteiligten Versicherer sollen über die nebeneinander bestehenden Versicherungen informiert werden, um entscheiden zu können, ob sie auf Dauer mehrere Versicherungsverhältnisse akzeptieren wollen (Armbrüster in Prölss/Martin30 § 77 VVG Rn 1, Halbach in Langheid/Wandt in MünchKomm [2016] § 77 VVG Rz 1) und um gegebenenfalls ihre Rechte nach § 59 VersVG (Doppelversicherung; vgl § 78 VVG [Mehrfachversicherung]) geltend machen zu können. Auch wegen des möglicherweise erhöhten subjektiven Risikos ist die Kenntnis der mehreren Versicherungen für die Versicherer unerlässlich (Koppenfels-Spies in Looschelders/Pohlmann, VVG3 [2016] § 77 Rn 3; allgemein zum subjektiven Risiko s T. Honsell, Der rechtliche Schutz der Privatversicherer vor dem sogenannten subjektiven Risiko, VersR 1982, 113).
3. Das Verhältnis der Mitteilungspflicht nach § 58 Abs 1 VersVG zur Anzeigepflicht nach § 16 VersVG wurde bislang nicht immer einheitlich beantwortet (vgl die Nachweise aus Rechtsprechung und Lehre bei Schauer in Fenyves/Schauer [Hrsg], VersVG [3. Lfg 2016] § 58 Rz 6):
3.1. Die (nunmehr) herrschende Meinung geht dahin, dass das Bestehen mehrerer Versicherungen nicht nur nach § 58 Abs 1 VersVG (§ 77 Abs 1 Satz 1 VVG) anzeigepflichtig ist, sondern – auch in der Schadensversicherung – nach §§ 16 ff VersVG (§§ 19 ff VVG) relevant sein kann (Schauer in Fenyves/Schauer [Hrsg], VersVG [3. Lfg 2016] § 58 Rz 6; Armbrüster in Prölss/Martin30 § 77 VVG Rn 18; Schnepp in Bruck/Möller, VVG9 [2009] § 77 Rn 93 f; Brambach in Rüffer/Halbach/Schimikowski, VVG3 [2015] § 77 Rn 14).
3.2. Für diese Ansicht spricht, dass § 58 Abs 1 VersVG schon insoweit keine lex specialis zu den §§ 16 ff VersVG sein kann, als die Mitteilungspflicht nach der erstgenannten Vorschrift erst nach Abschluss der zweiten (mehrfachen) Versicherung anwendbar ist, während die §§ 16 ff VersVG die Anzeigepflicht vor dem Versicherungsabschluss regeln (vgl Armbrüster in Prölss/Martin30 § 77 VVG Rn 18). Für Anzeigepflichtverletzungen vor dem Vertragsabschluss ist der Versicherer daher auf die Regelungen der §§ 16 ff angewiesen (vgl Schauer in Fenyves/Schauer [Hrsg], VersVG [3. Lfg 2016] § 58 Rz 6). Für die herrschende Meinung kann weiters eine gebotene Gleichbehandlung der Schadensversicherung mit der Summenversicherung ins Treffen geführt werden, bei welcher der Bestand anderer Versicherungsverträge überwiegend zu den anzeigepflichtigen Umständen gerechnet wird (vgl Schauer in Fenyves/Schauer [Hrsg], VersVG [3. Lfg 2016] § 58 Rz 6; 7 Ob 28/87; aA nur 7 Ob 4/94).
3.3. Der Fachsenat vertritt daher zusammengefasst die Rechtsansicht, dass in der Schadensversicherung die Mitteilungspflicht des § 58 VersVG die vorvertraglichen Anzeigepflichten nach §§ 16 ff VersVG nicht verdrängt, sondern diese selbständig nebeneinander bestehen. § 58 Abs 1 VersVG lässt daher die Anzeigepflichten nach §§ 16 ff VersVG unberührt.
4.1. Nach § 16 Abs 1 VersVG hat der Versicherungsnehmer bei Abschluss des Versicherungsvertrags alle ihm bekannten Umstände, die für die Übernahme der Gefahr erheblich sind, dem Versicherer anzuzeigen. Erheblich sind Gefahrenumstände, die geeignet sind, auf den Entschluss des Versicherers, den Vertrag überhaupt oder zu dem vereinbarten Inhalt abzuschließen, Einfluss auszuüben (7 Ob 174/01s; 7 Ob 57/05s je mwN). Ein Umstand, nach welchem der Versicherer ausdrücklich und schriftlich gefragt hat, gilt im Zweifel als erheblich (RS0080628).
4.2. Das Bestehen mehrerer Versicherungen betrifft die subjektive Vertragsgefahr. Dem Versicherer ist daher grundsätzlich ein schutzwürdiges Interesse daran zuzubilligen, über bereits bestehende gleichartige Versicherungen informiert zu werden, um abschätzen zu können, ob bzw unter welchen Bedingungen er dieses Versicherungsverhältnis begründen will (vgl Punkt 2.). Solche Umstände sind daher jedenfalls dann, wenn der Versicherer – wie hier – nach ihnen ausdrücklich und in geschriebener Form gefragt hat, anzeigepflichtig (vgl Armbrüster in Prölss/Martin30 § 19 VVG Rn 3). Die Pflicht der Klägerin zur Anzeige der Vorversicherung ist daher zu bejahen.
4.3. Ist dem § 16 Abs 1 VersVG zuwider die Anzeige eines erheblichen Umstands unterblieben, so kann der Versicherer nach § 16 Abs 2 VersVG vom Vertrag zurücktreten. Nach § 17 Abs 1 VersVG kann der Versicherer vom Vertrag auch dann zurücktreten, wenn über einen erheblichen Umstand eine unrichtige Anzeige gemacht worden ist. Gemäß § 17 Abs 2 VersVG ist der Rücktritt ausgeschlossen, wenn die Anzeige ohne Verschulden des Versicherungsnehmers unrichtig gemacht worden ist.
4.4. Nach Lehre und Rechtsprechung sind an die vom Versicherungsnehmer bei Erfüllung seiner vorvertraglichen Anzeigepflicht anzuwendende Sorgfalt insbesondere dann, wenn die gestellten Fragen Individualtatsachen betreffen, ganz erhebliche Anforderungen zu stellen (7 Ob 170/13w; RS0080641 [insb T4]). Bei der Beantwortung von Individualtatsachen über die der Versicherungsnehmer nur aus eigenem Wissen Auskunft erteilen kann, ist es diesem bereits als Verschulden anzulasten, wenn er das vom Versicherungsagenten unrichtig oder unvollständig ausgefüllte Formular unterfertigt, ohne es vorher auf seine Richtigkeit überprüft zu haben (RS0080580). Die Beweislast für das mangelnde Verschulden an der Verletzung seiner vorvertraglichen Anzeigenpflicht trifft grundsätzlich den Versicherungsnehmer (RS0080809).
4.5. Gemäß § 20 Abs 1 VersVG ist der Rücktritt nur innerhalb eines Monats zulässig. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in welchem der Versicherer von der Verletzung der Anzeigepflicht Kenntnis erlangt.
5. Das Berufungsgericht hat infolge abweichender Rechtsansicht die von der Klägerin in ihrer Berufung erhobene Verfahrensrüge sowie die – auch das Verschulden der Klägerin an der Anzeigepflichtverletzung und an der Wahrung der Frist des § 20 Abs 1 VersVG betreffende – Tatsachen- und Beweisrüge unerledigt gelassen. Deren Behandlung ist aber zur abschließenden Beurteilung der Berechtigung des von der Beklagten erklärten Vertragsrücktritts – auf der Grundlage der zuvor dargestellten Rechtslage – unumgänglich. Dem Berufungsgericht war daher die neuerliche Entscheidung über die Berufung der Klägerin aufzutragen. Sonstige Rechtsfragen werden im Revisionsverfahren nicht mehr aufgegriffen.
6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.
Textnummer
E127484European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2020:0070OB00112.19Z.0122.000Im RIS seit
06.03.2020Zuletzt aktualisiert am
23.09.2020