TE Vwgh Erkenntnis 1998/6/29 96/10/0236

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Veröffentlicht am 29.06.1998
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Index

40/01 Verwaltungsverfahren;

Norm

AVG §58 Abs2;
AVG §60;

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Jabloner und die Hofräte Dr. Novak, Dr. Mizner, Dr. Bumberger und Dr. Stöberl als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Binder-Krieglstein, über die Beschwerde der S-Gesellschaft m.b.H. in Wien, vertreten durch Schönherr, Barfuss, Torggler & Partner, Rechtsanwälte in Wien I, Tuchlauben 13, gegen den Bescheid des Bundesministers für Gesundheit und Konsumentenschutz vom 10. Oktober 1996, Zl. 21.420/126-II/A/3/96, betreffend Aufhebung der Zulassung von Arzneispezialitäten, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.980,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit Bescheid des Bundesministers für Gesundheit und Konsumentenschutz vom 10. Oktober 1996 wurde die Zulassung näher bezeichneter Arzneispezialitäten gemäß § 23 Z. 1 i.V.m.

§ 22 Abs. 1 Z. 3, 8 und 9 des Arzneimittelgesetzes aufgehoben. Hiezu wurde - nach Darstellung der Rechtslage - im wesentlichen ausgeführt, der wirksame Bestandteil der genannten Arzneispezialitäten sei Chloralhydrat. Am 12. Mai 1995 sei der Beschwerdeführerin gemäß § 45 Abs. 3 AVG folgendes mitgeteilt worden:

"Chloralhydrat ist ein Sedativum und Hypnotikum mit geringer therapeutischer Breite. Nach Dosierungen im oberen therapeutischen Bereich und Überdosierungen wurden verschiedene unerwünschte Wirkungen wie Störungen von Seiten des Magen-Darmtraktes, Depressionen und Erregungszustände, Atemdepression und Herzrhythmusstörungen, in Einzelfällen mit letalem Ausgang beobachtet.

Bei Untersuchungen an verschiedenen Zelltypen (in vivo und in vitro) wurde das Auftreten von Aneuploidien u.a. chromosomalen Effekten beobachtet. Diese Hinweise auf eine Aneuploidie-auslösende Wirkung von Chloralhydrat müssen beachtet werden, denn es ist davon auszugehen, daß Aneuploidien möglicherweise zur Tumorentstehung führen können.

Auf Grund des Fehlens geeigneter Kanzerogenitätsstudien ist der Verdacht auf eine kanzerogene Wirkung nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließen.

Ebenso sind epidemiologische Untersuchungen über ein mögliches Auftreten gentoxischer, keimschädigender und karzinogener Effekte von Chloralhydrat beim Menschen nicht bekannt, entsprechende Risken sind daher derzeit nicht quantifizierbar."

Die Beschwerdeführerin habe zu dieser Mitteilung mit Schreiben vom 1. Juni 1995 wie folgt Stellung genommen:

"Anfang der 90iger Jahre wurden aufgrund von Berichten aus den USA umfassende Studien zur Mutagenität und Karzinogenität von Chloralhydrat durch Pohl-Boskamp (dem Hersteller und Zulassungsinhaber von Chloraldurat-Kapseln in der BRD) initiiert, die im August dieses Jahres mit dem Abschlußbericht über eine zweijährige Karzinogenitätsstudie abgeschlossen sein werden. Alle bisherigen Zwischenergebnisse deuten auf kein kanzerogenes Potential hin."

Mit Schreiben vom 4. Oktober 1995 habe die Beschwerdeführerin eine Zusammenfassung der angekündigten Kanzerogenitätsstudie übermittelt, wonach unter den gegenwärtigen Testbedingungen Chloralhydrat keine neoplastischen Eigenschaften bei den drei Dosisgruppen (15, 45 und 135 mg/kg Körpergewicht/Tag) zeige. Toxizitätsanzeichen (hepatozelluläre Hypertrophie der Leber) seien erst bei 135 mg/kg Körpergewicht/Tag (im Trinkwasser) beobachtet worden.

Durch diese Stellungnahme habe sich jedoch aus folgenden Gründen keine Änderung des seinerzeitigen Kenntnisstandes ergeben: Nach sorgfältiger Durchsicht der neuen Literatur stelle sich die Risikoabschätzung für Chloralhydrat aus toxikologischer Sicht weiterhin negativ dar. Chloralhydrat zeige in vitro eindeutige gentoxische Wirkungen. In vivo gebe es ebenfalls deutliche Hinweise aus Tierversuchen dazu. Die am 4. Oktober 1995 vorgelegte Studie an Ratten sei im Hinblick auf einen Risikoausschluß auf Kanzerogenität beim Menschen von begrenztem Wert, da die im Experiment verabreichten Dosierungen keine sicheren Schlüsse auf die mögliche kanzerogenen Auswirkungen beim Menschen zuließen. (In der medizinischen Praxis erfolge die Verabreichung der gesamten Dosis als Einmalgabe. Im genannten Tierversuch erfolge die Aufnahme von Chloralhydrat kontinuierlich über das Trinkwasser über den ganzen Tag verteilt, was zu anderen Konzentrationsverläufen im Organismus und dadurch zu anderen Resultaten führe.) Darüber hinaus sei die aneuploisierende Wirkung von Chloralhydrat durch eine größere Zahl von Experimenten in vivo und in vitro belegt. In bezug auf die Kanzerogenität liege eine weitere Studie an Mäusen vor, in der eine erhöhte Inzidenz an Lebertumoren beobachtet worden sei. Außerdem sei die geringe therapeutische Breite von Chloralhydrat weiterhin in Betracht zu ziehen. Die seinerzeitige negative Nutzen-Risikobewertung von Chloralhydrat habe sich nicht geändert. Aufgrund der insgesamt negativen Nutzen-Risikobewertung der genannten Arzneispezialitäten sei deren Verwendung als Tagessedativum, Ein- und Durchschlafmittel nicht mehr vertretbar. Der bestehende Mangel könne auch nicht durch nachträgliche Auflagen saniert werden.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragte.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 23 Z. 1 Arzneimittelgesetz ist die Zulassung einer Arzneispezialität aufzuheben, wenn bekannt wird, daß bei der Zulassung ein Versagungsgrund gemäß § 22 Abs. 1 vorgelegen oder nachträglich eingetreten ist, und der Schutz der Gesundheit von Mensch oder Tier durch nachträgliche Vorschreibung von Auflagen im Sinne des § 22 Abs. 2 nicht gewährleistet erscheint.

Einem Antrag auf Zulassung einer Arzneispezialität ist gemäß § 22 Abs. 1 Z. 3 leg. cit. dann nicht stattzugeben, wenn nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis und nach den praktischen Erfahrungen nicht als gesichert erscheint, daß die Arzneispezialität auch bei bestimmungsgemäßen Gebrauch keine schädliche Wirkung hat, die über ein nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbares Maß hinausgeht, gemäß Abs. 1 Z. 8 weiters dann, wenn die Wirksamkeit der Arzneispezialität nicht ausreichend nachgewiesen ist und gemäß Abs. 1 Z. 9, wenn die Arzneispezialität im Hinblick auf ihre Wirksamkeit, Zusammensetzung, Stärke, Beschaffenheit, Arzneiform, Dosierung, Haltbarkeit, Anwendungsart oder ihr Anwendungsgebiet keine zweckmäßige Zubereitung darstellt.

Gemäß § 58 Abs. 2 AVG sind Bescheide zu begründen, wenn dem Standpunkt der Partei nicht vollinhaltlich Rechnung getragen oder über Einwendungen oder Anträge von Beteiligten abgesprochen wird.

In der Begründung sind gemäß § 60 AVG die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtslage klar und übersichtlich zusammenzufassen.

Die Beschwerdeführerin wendet gegen den angefochtenen Bescheid ein, sie habe der belangten Behörde verschiedene Unterlagen vorgelegt, denen zu entnehmen sei, daß gegen den Wirkstoff Chloralhydrat - in der in Rede stehenden Dosierung - keine Bedenken bestünden. Dennoch habe die belangte Behörde die Zulassung der erwähnten Arzneispezialitäten unter Angabe einer durch das Ermittlungsverfahren nicht gedeckten und "höchst allgemein" gehaltenen Begründung aufgehoben. Die herangezogenen Gründe seien überdies nicht Gegenstand eines ordnungsgemäßen Parteiengehörs gewesen. Mangels Beachtung einschlägiger wissenschaftlicher Fachliteratur - wie in einem von der Beschwerdeführerin der Beschwerde angeschlossenen Fachgutachten ausgewiesen - sei die belangte Behörde zu den in der Begründung des angefochtenen Bescheides aufgestellten, aber nicht näher begründeten Behauptungen gelangt. Die belangte Behörde habe der Beschwerdeführerin weder im Ermittlungsverfahren noch in der Begründung des angefochtenen Bescheides dargelegt, worauf sie ihre Überlegungen und Vermutungen konkret stütze.

Die Beschwerde ist aus folgenden Gründen berechtigt:

Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. die bei Walter-Thienel,

Verwaltungsverfahrensgesetze I2 (1998) 1044 f, referierte hg. Judikatur) muß die Begründung eines Bescheides erkennen lassen, welchen Sachverhalt die Behörde ihrer Entscheidung zugrunde gelegt hat, aus welchen Erwägungen sie zur Ansicht gelangt ist, daß gerade dieser Sachverhalt vorliegt und aus welchen Gründen die Behörde die Subsumtion des Sachverhaltes unter einen bestimmten Tatbestand für zutreffend erachtet.

Das innere Ausmaß der Begründungspflicht wird durch das von der Rechtsordnung anerkannte Rechtsschutzinteresse der Partei bestimmt. Begründungsmängel sind dann wesentlich, wenn sie zur Folge haben, daß der Beschwerdeführer über die von der Behörde getroffenen Erwägungen nicht ausreichend unterrichtet und dadurch an der Verfolgung seines Rechtsanspruches gehindert bzw. die Überprüfung des angefochtenen Bescheides auf die Rechtmäßigkeit seines Inhaltes gehindert wird.

Ein solcher Fall liegt hier vor; wurde die Beschwerdeführerin in der Begründung des angefochtenen Bescheides über die Erwägungen der belangten Behörde, aus denen diese zur Auffassung einer negativen Nutzen-Risikobewertung der in Rede stehenden Arzneispezialitäten gelangte, doch nicht in einer Weise unterrichtet, die es ihr ermöglichen würde, dieser Auffassung substantiiert entgegenzutreten. Vielmehr läßt der angefochtene Bescheid - wie die Beschwerdeführerin zu Recht rügt - offen, wie die belangte Behörde zu den ihre Auffassung tragenden Annahmen betreffend die gentoxische, aneuploisierende und karzerogene Wirkung von Chloralhydrat gelangte.

Soweit die belangte Behörde in ihrer Gegenschrift auf die von ihr eingeholten Sachverständigengutachten verweist, so vermag sie damit den Mangel der Begründung des angefochtenen Bescheides schon deshalb nicht zu beheben, weil es der Beschwerdeführerin - mangels Kenntnis - unmöglich war, bei Beschwerdeerhebung darauf einzugehen.

Der angefochtene Bescheid erweist sich somit als mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Er war daher - ohne auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen - gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994.

Schlagworte

Begründungspflicht Beweiswürdigung und Beweismittel Behandlung von Parteieinwendungen Ablehnung von Beweisanträgen Abstandnahme von Beweisen Begründungspflicht und Verfahren vor dem VwGH Begründungsmangel als wesentlicher Verfahrensmangel

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:1998:1996100236.X00

Im RIS seit

20.11.2000
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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