Entscheidungsdatum
28.08.2019Norm
AsylG 2005 §10Spruch
W241 2185997-1/20E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Hafner als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch RA Mag. XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 11.01.2018, Zahl 15-1093577007/151680355, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 16.07.2018 zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird gemäß §§ 3, 8, 10 und 57 Asylgesetz 2005 sowie §§ 52 und 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
1. Verfahrensgang:
1.1. Der Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben irregulär in Österreich ein und stellte am 03.11.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG).
1.2. In seiner Erstbefragung am 03.11.2015 durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari im Wesentlichen Folgendes an:
Er sei afghanischer Staatsbürger, Hazara, Moslem und verheiratet.
Der BF sei im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern in den Iran gezogen, wo er zuletzt in Teheran gelebt habe. Seine Eltern seien verstorben, er habe neben seiner Ehefrau und zwei Töchtern noch einen Bruder. Diese würden sich an einem ihm unbekannten Ort aufhalten, er habe keinen Kontakt zu ihnen.
Vor ca. einem Monat sei der BF über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien und Slowenien nach Österreich gereist.
Als Fluchtgrund gab der BF an, dass er der Volksgruppe der Hazara angehöre, die in Afghanistan nicht gerne gesehen sei. Deshalb seien seine Eltern in den Iran geflüchtet, als er drei Jahre alt gewesen sei. Im Iran sei er nicht als Flüchtling anerkannt worden, er habe dort keine Perspektive gehabt. Er befürchte, dass er aus dem Iran nach Afghanistan geschickt werde. Dort befürchte er, wie schon sein Vater getötet zu werden.
1.3. Bei seiner Einvernahme am 16.11.2017 vor dem BFA, im Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari, legte der BF Bestätigungen über den Besuch diverser Kurse, der Teilnahme an Sportveranstaltungen und gemeinnützigen Tätigkeiten sowie Berichte über Anschläge in Kabul und Afghanistan vor.
Danach gab der BF im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus dem Einvernahmeprotokoll, Schreibfehler teilweise korrigiert):
F: Was war der konkrete Grund, warum Sie die Heimat verlassen haben? Erzählen Sie bitte möglichst chronologisch über alle Ereignisse, die Sie zum Verlassen der Heimat veranlasst haben (freie Erzählung)!
A: Mein Vater sagte, dass es in Afghanistan einen Konflikt zwischen den Hazara und den Paschtunen gab. Als die Lage sehr schlecht wurde, wurde der Bruder meines Vaters getötet. Mein Vater entschloss mit meiner Mutter und mir das Land zu verlassen. Er sagte auch, dass unsere Häuser zerstört wurden. Meine Familie hat Afghanistan wegen den Paschtunen verlassen. Deshalb kann ich auch nicht nach Afghanistan zurück, weil es dort Paschtunen gibt. Ich habe Angst um mein Leben.
Für Afghanistan habe ich keine weiteren Fluchtgründe vorzubringen, weil ich dort nur bis zu meinem 3. Lebensjahr war. Alle meine weiteren Fluchtgründe beziehen sich auf den Iran.
Vor ca. 10 Jahren starb meine Mutter und vor 8 Jahren entschloss mein Vater nach Afghanistan zurückzukehren um dort zu schauen, ob wir auch dorthin zurückkehren können. Er war in Afghanistan und wollte die Sicherheitslage überprüfen. Er entschloss nach Afghanistan zu gehen, weil wir alle im Iran unter großem Druck waren. Er kam nie mehr aus Afghanistan zurück und wurde dort getötet. Wir bekamen nach einem Monat einen Anruf, dass er in Afghanistan in Uruzgan getötet wurde. Als mein Vater getötet wurde, konnten wir unseren Aufenthaltstitel nicht mehr verlängern, weil unser Familienoberhaupt nicht mehr da war. Wir versuchten alles, aber wir schafften es nicht einen neuen Aufenthaltstitel zu beantragen. Ab diesem Zeitpunkt waren wir im Iran illegal.
Als ich keine Dokumente mehr hatte wurde auch mein Lohn nicht mehr richtig bezahlt, weil ich nicht mehr zur Polizei oder sonstigen Behörden gehen konnte. Ich konnte keine Arbeit mehr finden. Die allgemeine Situation war für uns sehr schlecht. Wenn wir keinen Lohn bekamen und ich fragte warum, bedrohten sie mich damit, dass sie die Polizei anrufen. Die Polizei nimmt einen dann entweder fest und man wird abgeschoben oder man muss nach Syrien in den Krieg gehen.
Ich wurde drei Mal von der Polizei festgenommen, aber ich habe immer Lösegeld bezahlt und kam wieder frei. Ich wurde von der Polizei auch geschlagen und schlecht behandelt. Darum habe ich den Iran verlassen. Ich konnte dort nicht mehr leben, weil ich sehr unter Druck war. Ich hatte immer Angst vor einer Abschiebung nach Afghanistan oder vor dem Krieg in Syrien. Das sind meine einzigen Gründe.
F: Sie werden nochmals auf das Neuerungsverbot im Beschwerdeverfahren aufmerksam gemacht. Ich frage Sie daher jetzt nochmals, ob Sie noch etwas Asylrelevantes angeben möchten oder etwas vorbringen möchten, was Ihnen wichtig erscheint, ich jedoch nicht gefragt habe?
A: Nein, ich habe alles erzählt. Ich habe keine weiteren Gründe mehr vorzubringen.
F: Von wem wurden Sie damals über den Tod Ihres Vaters informiert?
A: Ein Mitbewohner meines Vaters ist mit ihm gleichzeitig nach Afghanistan gereist. Er wurde auch dort umgebracht. Und sie hatten ein Notizbuch in der Tasche, in diesem Buch stand die Nummer von Bekannten meines Vaters. Meine Mutter war damals schon tot.
F: Wo wurde er begraben?
A: Das weiß niemand. Wir wurden nur informiert, dass er getötet wurde. Wir konnten die Leiche nicht suchen.
F: Hat Ihr Vater noch Verwandte in Afghanistan?
A: Er hat mir davon nichts erzählt. Er sprach fast nie über Afghanistan. Mehr kann ich nicht sagen.
F: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder verfolgt worden?
A: Nein, aber ich Probleme mit meinem Schwager, weil ich seine Schwester ohne die Zustimmung der Eltern geheiratet habe.
F: Gab es jemals gezielte Übergriffe auf Sie oder Ihre Familie?
A: Nein, aber der Schwager war auf der Suche nach mir und wollte mich schlagen. Ich änderte dann einfach meine Adresse.
F: Was war der ausreisekausale Grund für das Verlassen des Iran?
A: Ich verließ den Iran wegen der allgemeinen schlechten Lage für afghanische Flüchtlinge.
F: Sind Sie in Ihrer Heimat oder in einem anderen Land vorbestraft bzw. haben Sie im Herkunftsland, oder hier Strafrechtsdelikte begangen?
A: Nein, ich bin nirgends vorbestraft.
F: Werden Sie in der Heimat von der Polizei, einer Staatsanwaltschaft, einem Gericht oder einer sonstigen Behörde gesucht?
A: Nein, ich war so gut wie niemals in Afghanistan.
F: Wurden Sie in Ihrer Heimat jemals von den Behörden angehalten, festgenommen oder verhaftet?
A: Nein, ich wurde niemals verhaftet.
F: Hatten Sie in Ihrer Heimat Probleme mit den Behörden?
A: Nein, mit den Behörden sicher nicht.
F: Waren Sie in Ihrer Heimat jemals Mitglied einer politischen Gruppierung oder Partei?
A: Nein, ich war politisch niemals tätig.
F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer politischen Gesinnung verfolgt?
A: Nein, weil ich nie wirklich in Afghanistan war.
F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Rasse verfolgt?
A: Nein, weil ich nie wirklich in Afghanistan war.
F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Religion verfolgt?
A: Nein, weil ich nie wirklich in Afghanistan war.
F: Wurden Sie in Ihrer Heimat von staatlicher Seite jemals wegen Ihrer Nationalität, Volksgruppe oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt?
A: Nein, weil ich nie wirklich in Afghanistan war.
F: Gab es jemals auf Sie irgendwelche Übergriffe oder ist an Sie persönlich jemals irgendwer herangetreten?
A: Im Iran wurde ich von der Polizei inhaftiert und ich wurde sehr schlecht behandelt und geschlagen.
F: Was hätten Sie im Falle einer eventuellen Rückkehr in Ihre Heimat konkret zu befürchten?
A: Ich habe Angst vor den Paschtunen, weil wir Probleme in unserem Dorf mit ihnen hatten. Meine Schwäger sind auch in Afghanistan und vor denen habe ich auch Angst.
F: Hätten Sie Probleme mit der Polizei oder anderen Behörden im Falle Ihrer Rückkehr?
A: Nein, mit den Behörden sicher nicht.
F: Warum sind Sie nicht in eine andere Stadt oder in einen anderen Landesteil gezogen?
A: Ich war damals ein Kleinkind. Meine Eltern entschlossen Afghanistan zu verlassen."
1.4. Nach Durchführung des Ermittlungsverfahrens wies das BFA mit Bescheid vom 11.01.2018 den Antrag des BF auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status eines Asylberechtigten ebenso wie gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan nicht zu (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde ihm nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des BF nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise des BF 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde Feststellungen zur Person des BF und zur Lage in seinem Herkunftsstaat. Eine asylrelevante Verfolgung liege nicht vor, das Vorbringen des BF betreffend eine Verfolgung seiner Person in Afghanistan sei nicht asylrelevant. Er habe keine Verfolgung im Sinne des AsylG glaubhaft gemacht und es bestünden keine stichhaltigen Gründe gegen eine Abschiebung des BF nach Afghanistan. Im Falle der Rückkehr drohe ihm keine Gefahr, die eine Erteilung des subsidiären Schutzes rechtfertigen würde.
Der BF erfülle nicht die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG, der Erlassung einer Rückkehrentscheidung stehe sein Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens angesichts der kurzen Aufenthaltsdauer und des Fehlens von familiären oder privaten Bindungen im Inland nicht entgegen. Angesichts der abweisenden Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz ergebe sich die Zulässigkeit einer Abschiebung des BF nach Afghanistan. Die Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ergebe sich aus § 55 FPG, da besondere Umstände, die der BF bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen habe, nicht gegeben seien.
Beweiswürdigend führte das BFA (zusammengefasst) aus, dass der BF bezüglich seiner behaupteten Herkunftsregion, Volks- und Staatsangehörigkeit aufgrund seiner Sprach- und Lokalkenntnisse - im Gegensatz zu seinem Fluchtvorbringen - glaubwürdig wäre. Die Feststellungen zur Situation in Afghanistan wären glaubhaft, weil sie verlässlichen, seriösen, aktuellen und unbedenklichen Quellen entstammten, deren Inhalt schlüssig und widerspruchsfrei sei.
Konkrete Angaben bezüglich einer (asylrelevante) Verfolgungshandlung, die den BF persönlich betroffen hätte oder in Zukunft betreffen könnte, habe er nicht vorgebracht. Eine staatliche Verfolgung habe der BF verneint.
In der rechtlichen Beurteilung wurde ausgeführt, dass die Begründung des Antrages keine Deckung in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) finde.
Subsidiärer Schutz wurde ihm nicht zuerkannt, da im Falle einer Rückkehr des BF in seinen Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder 13 zur GFK oder eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt oder im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes aufgrund der derzeitigen, allgemeinen Lage in Afghanistan nicht drohe. Eine Niederlassung in Kabul sei möglich, da er erwachsen, gesund und erwerbsfähig sei, sodass er dort selbstständig durch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit aus eigenen Kräften für die Deckung der grundlegendsten Bedürfnisse aufkommen könne.
Für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) wurde den BF mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG der Verein Menschenrechte Österreich gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig als Rechtsberater zur Seite gestellt.
1.5. Gegen diesen Bescheid brachte der BF mit Schreiben vom 08.02.2018 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde beim BVwG ein und beantragte die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung.
In der Beschwerdebegründung wurden das bisherige Vorbringen des BF im Wesentlichen wiederholt und um Ausführungen zur Situation der Hazara und der Sicherheitslage in Afghanistan ergänzt. Die Behörde habe darüber hinaus keine Feststellungen zur Problematik der Mischehen oder Eheschließungen ohne Einwilligung der Angehörigen der Braut getroffen, da der BF angegeben habe, von seinem Schwager verfolgt zu werden.
1.6. Die Beschwerde samt Verwaltungsakten langte am 14.02.2018 beim BVwG ein.
1.7. Am 02.03.2018 wurde ein Bericht zur Menschenrechtssituation der Hazara in Afghanistan und Pakistan übermittelt.
1.8. Am 02.07.2018 wurden Bestätigungen über die Teilnahme des BF an diversen Kursen übermittelt.
1.9. Das BVwG führte am 16.07.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein eines Dolmetsch für die Sprache Dari durch, zu der der BF im Beisein eines gewillkürten Vertreters und zweier Vertrauenspersonen persönlich erschien. Die belangte Behörde verzichtete auf eine Teilnahme an der Verhandlung.
Dabei legte der BF verschiedene Unterstützungsschreiben und Teilnahmebestätigungen über verschieden Kurse, Sportveranstaltungen (z.B. Deutschkurse und Orientierungskurse, Laufveranstaltungen) und gemeinnützige Tätigkeiten vor.
Daraufhin gab der BF auf richterliche Befragung im Wesentlichen Folgendes an (Auszug aus der Verhandlungsschrift):
"RI: Sind Sie verheiratet, oder leben Sie in einer eingetragenen Partnerschaft oder sonst in einer dauernden Lebensgemeinschaft?
BF: Ja, ich bin verheiratet, ich habe zwei Töchter. Aber meine Frau gehört einer anderen Volksgruppe an. Meine Frau ist eine Tadschikin. Wir haben ohne die Einwilligung der Familie meiner Frau geheiratet, weil wir nicht heiraten durften, aufgrund unserer Volksgruppenzugehörigkeit und auch Glaubensrichtung Schiiten und Sunniten. Meine Probleme sind darauf zurückzuführen, meine Ehefrau hat zwei Brüder. Diese waren gegen unsere Hochzeit, aber dennoch haben wir ohne Erlaubnis von ihnen geheiratet. Wir haben ständig unsere Wohnadresse geändert, wegen ihren Brüdern.
RI: Geben Sie bitte die Aufenthaltsorte seit Ihrer Geburt in Afghanistan an.
BF: Ich bin in Afghanistan geboren, bis zum 3. Lebensjahr lebten wir dort. In der Provinz Uruzgan. Meine Familie ist in den Iran gegangen. Bis zum 8. und 10. Lebensjahr wusste ich nicht, wo wir im Iran gelebt haben. Danach hat meine Familie in Teheran gelebt.
RI: Waren Sie jemals noch einmal in Afghanistan nach Ihrer Ausreise in Ihrem 3. Lebensjahr?
BF: Ich persönlich nicht.
RI: Wie waren in Teheran die Lebensumstände, haben Sie in einem Ort gelebt, wo es andere Hazara gibt?
BF: Wir haben in einem Ort im Iran gelebt, wo die Bewohner dort völlig gemischt waren, Afghanen, Iraner und auch Hazaras.
RI: Haben Sie dort afghanische Feiertage und Bräuche ausgeübt?
BF: Ja, so viel wir konnten, haben wir nach unserer Kultur gelebt.
RI: Haben Sie eine Schule besucht im Iran?
BF: Ja, ich habe im Iran eine inoffizielle Schule ca. 1 1/2 bis 2 Jahre besucht und zwar 4 Klassen. Es war eine Grundschule.
RI: War das eine afghanische Schule mit anderen Hazara und Afghanen?
BF: Es gab keine getrennte Schule für die verschiedenen Ethnien für Afghanistan. Es war eine Schule, in der man Lesen und Schreiben gelernt hat. Es war aber keine offizielle Schule.
RI: Waren dort hauptsächlich Afghanen, die im Iran groß geworden sind?
BF: Ja, Iraner kamen auch zu dieser Schule, diese Schule war nur dafür gedacht Lesen und Schreiben zu lernen.
RI: Geben Sie bitte Anzahl und Aufenthaltsorte Ihrer näheren Angehörigen bekannt!
BF: Ich habe eine kleine Familie. Meine Mutter starb vor ca. 10 Jahren. Mein Vater ging vor 8 Jahren nach Afghanistan und dort wurde er getötet. Ich habe einen Bruder, er ist 18 Jahre alt.
RI: Wo ist dieser Bruder aufhältig?
BF: Mein Bruder lebt derzeit bei meiner Frau und meinen Kindern. Diese Familienangehörigen leben in Teheran.
RI: Wer kümmert sich um die Frau und die Kinder. Wer bringt den Lebensunterhalt nach Hause?
BF: Leider, im Iran dürfen die Frauen nicht arbeiten gehen, wie in Europa. Mein Bruder geht arbeiten.
RI: Von was lebt Ihre Frau?
BF: Vom Einkommen meines Bruders. Mein Bruder kümmert sich um meine Frau.
RI: Was arbeitet Ihr Bruder?
BF: Er hat keinen fixen Job im Iran, weil er auch keine Aufenthaltsgenehmigung dort hat. Er ist tätig als Hilfsarbeiter.
RI: Gibt es sonst noch Onkel oder Tanten im Iran?
BF: Ich habe nur diese von mir bereits erwähnten Familienangehörigen im Iran.
RI: Gibt es in Afghanistan noch Familienangehörige?
BF: Nein.
RI: Wissen Sie, wodurch Ihr Vater in Afghanistan gestorben ist? An einem Anschlag?
BF: Ich hatte nicht sehr viele Informationen über den Tod meines Vaters. Damals konnte ich nicht nach Afghanistan fahren. Ich habe von seinem Tod telefonisch erfahren, nachdem er nach Afghanistan gefahren ist, wurde er getötet und wie weiß ich nicht.
RI: Wissen Sie, wohin er zurückgekehrt ist?
BF: Mein Vater wollte nicht als afghanischer Flüchtling im Iran leben. Er hatte das Leben satt. Er sagte, dass er nach Afghanistan zurückkehren werde und dort schauen, im Ort, wo wir bereits Grundstücke und Haus hatten, ob ein Leben dort möglich wäre. In so einem Fall würde er uns und meine Ehefrau und meinen Bruder nach Afghanistan bringen.
RI: Vor wie vielen Jahren wurde Ihr Vater getötet?
BF: Ungefähr vor 8 Jahren.
RI: Haben Sie noch Kontakt zu Ihrem Bruder und zu Ihrer Ehefrau?
BF: Ja, manchmal habe ich telefonisch Kontakt.
RI: Haben Sie im Iran eine Berufsausbildung absolviert?
BF: Ja, ich habe den Beruf Maurer im Iran gelernt. Dass nennt sich in Österreich Baustellenarbeit. Mein Spezialgebiet ist Maurer und Fliesenleger. Diesen Beruf habe ich in Praxis erlernt. Ich habe diesbezüglich keine Schule absolviert.
RI: Damit haben Sie sich dann für Sie und Ihre Ehefrau und Ihre Kinder den Lebensunterhalt verdienen können?
BF: Ja.
RI: Wie stellt und stellte sich Ihre finanzielle Situation bzw. die Ihrer Familie dar?
BF: Mittelmäßig.
RI: Ist Sie aktuell auch noch mittelmäßig?
BF: Ja, sie ist noch immer mittelmäßig.
RI: Kann Ihre Ehefrau mit dem Einkommen Ihres Bruders im Iran mittelmäßig leben?
BF: Nein, das können sie nicht. Meine Frau könnte nicht ohne Unterstützung meines Bruders im Iran überleben. Mit dem Einkommen meines Bruders hält meine Familie sich über Wasser.
RI: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei oder einer anderen politisch aktiven Bewegung oder Gruppierung?
BF: Nein.
RI: Wann haben Sie den Iran genau verlassen?
BF: Ich bin am 03.11.2015 in Österreich eingereist. Genau weiß ich es nicht, meine Reise vom Iran nach Österreich dauerte ca. einen Monat.
Zur derzeitigen Situation in Österreich:
RI: Haben Sie in Österreich lebende Familienangehörige oder Verwandte?
BF: Nein.
RI ersucht D, die folgenden Fragen nicht zu übersetzen. RI stellt diverse Fragen.
RI: Sprechen Sie Deutsch? Haben Sie mich bis jetzt auch ohne Übersetzung durch den D verstehen können?
BF: Ja.
RI stellt fest, dass der BF die zuletzt gestellten und nicht übersetzten Fragen verstanden und auf verständlichem Deutsch beantwortet hat.
RI: Besuchen Sie derzeit einen Deutschkurs oder haben Sie einen Deutschkurs bereits besucht?
BF: Ich habe sehr viele Deutschkurse bereits in Österreich absolviert. Am Tag habe ich zwei Deutschkurse besucht. Ich habe ihnen bereits etliche Bestätigungen darüber vorgelegt. Seit 12.2017 habe ich keine weiteren Deutschkurse gemacht, weil ich keinen bekommen habe. Ich habe bereits versucht Deutschkurse für mich zu finden. An der zuständigen Stelle war ich bereits 2 oder 3 Mal. Sie sagten mir, dass ich bereits über 25 Jahre alt sei, deshalb hätte ich keinen Anspruch auf einen weiteren Deutschkurs.
RI: Haben Sie Arbeit in Österreich? Gehen Sie einer regelmäßigen Beschäftigung nach?
BF: Ich arbeite in einer Klinik, seit ca. 4 Monaten. Meine Tätigkeit ist ehrenamtlich. Ich arbeite 4 Stunden am Tag. Manchmal am Samstag und Sonntag gehen wir zu einer Dame. Es gibt verschiedene Laufgruppen, Kindergruppen und Erwachsenengruppen und an diesen Gruppenlaufen nehme ich teil. Dazu habe ich Ihnen die Bestätigungen vorgelegt.
RI: Besuchen Sie in Österreich bestimmte Kurse oder eine Schule, oder sind Sie aktives Mitglied in einem Verein? Gehen Sie sportlichen oder kulturellen Aktivitäten nach?
BF: Nein, aber ich möchte gerne kulturelle Aktivitäten in anderen Vereinen haben. Ich kenne nicht sehr viele Menschen, ansonsten würde ich gerne in einem anderen Verein aktiv werden. Ich bin Mitglied bei einem Leichtathletikverein.
RI: Wenn Sie in Österreich bleiben dürften, welchen Beruf würden Sie gerne ergreifen?
BF: Ich möchte gerne meinen Beruf ausüben oder in einer anderen Firma arbeiten. Außerdem könnte ich als was Anderes auch arbeiten, das würde keinen Unterschied machen. Ich möchte etwas ergänzen, zu Ihrer Frage zu den Deutschkursen. Einmal in der Woche lernen wir mit der heute anwesenden Dame Deutsch und mit ihrem Ehemann auch. Manchmal kommen sie ins Heim und manchmal gehen wir zu ihnen, wenn das Wetter schlecht ist, kommen sie zu uns ins Heim und besuchen uns. Wir kennen uns seit ca. 2 Jahren und wir haben regelmäßig Kontakt.
RI: Wurden Sie in Österreich jemals von einem Gericht wegen einer Straftat verurteilt oder von einer Behörde mit einem Aufenthaltsverbot oder Rückkehrverbot belegt?
BF: Nein.
Zu den Fluchtgründen und zur Situation im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat:
RI: Nennen Sie jetzt bitte abschließend und möglichst umfassend alle Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können (Fluchtgründe). Nehmen Sie sich dafür nun bitte ausreichend Zeit, alles vorzubringen.
BF: Erstens ich kann mich nicht an den Grund meiner Eltern erinnern, weil ich damals ein Kind war. Was mein Vater mir erzählt hat, meine Eltern haben in der Provinz Uruzgan gelebt. In diesem Wohngebiet gab es Konflikte zwischen Hazara und Paschtunen. Mein Vater hat mir erzählt, dass in diesem Konflikt auch sein Bruder getötet wurde. Nach dem Tod meines Onkels, nachdem unser Haus in Brand gesetzt wurde, sind meine Eltern mit weiteren Menschen, die auch Hazara waren aus diesem Gebiet, in der Nacht geflohen. Meine Eltern haben auch mich mitgenommen. Ich könnte nicht mehr nach Afghanistan zurückkehren, weil in unserem Wohngebiet herrschen dieselben Probleme, die mein Vater auch hatte, und zwei Schwager von mir, die Brüder meiner Ehefrau leben auch in Afghanistan. Ich weiß leider nicht, wo diese zwei Brüder leben, weil wir keinen Kontakt zu ihnen hatten, weil wir Angst vor ihnen hatten.
RI: Von wo stammte Ihre Gattin?
BF: Meine Gattin stammt aus der Provinz Herat.
RI: Hat es durch die Brüder jemals persönliche Bedrohungen zB auch telefonisch gegeben? Wissen Sie, wie die Brüder aussehen? Gab es persönliche Treffen?
BF: Ich konnte aus der Angst ihnen nicht begegnen. Wäre ich ihnen begegnet, dann wäre ich nicht am Leben.
RI wiederholt und erklärt die Frage.
BF: Ich habe meine Ehefrau nicht bei ihrer Elternfamilie geheiratet, ich habe sie mitgenommen, woanders, und dort haben wir geheiratet. Die Hochzeit war sehr klein, mit unseren Gebräuchen und Ritualen. Von Anfang an wollten wir heiraten. Wir beide hatten nur zueinander Kontakt. Als ich erfahren habe, dass die Familie die Hand ihrer Tochter mir nicht anvertraut, dann haben wir geheiratet. Die Familie wollte, dass sie unter Zwang mit jemanden anderen verheiratet wird. Aufgrund dessen haben wir ohne Erlaubnis der Familie meiner Ehefrau heimlich geheiratet.
RI wiederholt die Frage.
BF: Die Bedrohungen erfolgten telefonisch. Die Drohanrufe hat auch meine Ehefrau bekommen. Ich und sie wechselten immer die SIM-Karten. Wir haben auch andauernd die Wohnadresse gewechselt.
RI: Die Brüder kamen diese in den Iran? Diese lebten ja in Afghanistan?
BF: Diese waren auch im Iran, dort haben sie uns telefonisch bedroht und verfolgt. Aber sie konnten uns nicht ausfindig machen bzw. wussten unsere Adresse nicht. Einerseits diese Bedrohungen andererseits Bedrohungen durch die iranische Polizei.
RI: Wenn Sie dann die SIM-Karte gewechselt haben, gab es noch weitere Anrufe oder war es danach vorbei?
BF: Diese Brüder haben zwei bis dreimal die neue Telefonnummer gefunden. Es gab eine Zeit, wo wir kein Telefon mehr benutzt haben.
RI: Wie konnten diese Brüder diese neuen Telefonnummern wieder herausfinden?
BF: Diese zwei Brüder haben uns verfolgt und haben die Menschen um uns herum nach uns gefragt, und haben gesagt, dass sie die Brüder meiner Frau seien. So kamen sie zu der Telefonnummer meiner Ehefrau. Sie haben nie meine Telefonnummer gefunden.
RI: Was passierte weiter?
BF: Nachdem meine Frau dann kein Telefon mehr benutzt hat, dachten diese zwei, dass wir wieder nach Afghanistan zurückgekehrt seien. Nun fürchte ich mir vor einer Rückkehr nach Afghanistan. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würden wir von ihnen ausfindig gemacht werden. Im Iran war es relativ sicher im Vergleich zu Afghanistan. Diese zwei konnten uns dort verfolgen und unsere Telefonnummer finden. In Afghanistan wäre es für diese zwei sehr leicht mich zu finden.
RI: Haben Sie Ihre Frau in Teheran kennengelernt? Hatte sie dort mit ihren Eltern gewohnt?
BF: Ja, die Familie meiner Ehefrau war im Iran, damals kannte ich sie ein, zwei Jahre lang. Ihre Mutter ist auch bereits verstorben. Ihr Vater wollte sie zwangsverheiraten.
RI: Wissen Sie, was die beiden Brüder Ihrer Frau beruflich machen?
BF: Ich weiß es nicht, was sie beruflich gemacht haben, aber was ich damals gehört habe, diese zwei gehören einer Gruppe von 8 bis 10 Menschen an, die einfach herumgehen und sie sind sehr gefährliche Menschen.
RI: Wie können diese zwei Brüder Sie in Afghanistan ausfindig machen, da Afghanistan sehr groß ist und zB in Kabul 4 Mio. Menschen leben. Wie soll das den Brüdern gelingen, Sie dort ausfindig zu machen?
BF: Die Gefahr würde nicht nur von ihrer Seite ausgehen, sondern es bestehen andere Gefahren auch. Kabul ist keine sichere Stadt. Die einzigen Bilder, die ich von Afghanistan im Kopf habe sind zerstückelte Leichen, wie könnte ich dann zu so einem Land zurückkehren. Bei der letzten Entscheidung ist begründet worden, dass Kabul sicher sei und ich könnte dorthin zurückkehren. Ich hätte niemanden in Kabul bzw. hätte ich keine Wohnmöglichkeit und keinen Platz in Kabul. Man kennt es über Afghanistan und Kabul, es sind nur die Bilder, die ich im Kopf habe über zerstückelte Leichen.
RI: Was würden Sie machen, wenn Sie hypothetisch nach Afghanistan zurückmüssten?
BF: Ich kenne niemanden in Afghanistan oder Kabul. Ich weiß es nicht im Falle einer Rückkehr, wo ich hingehen sollte. Da müsste ich auch meine Familie aus dem Iran nach Afghanistan holen. Ich könnte nicht unter dem Blut der Menschen dort leben.
RI: Könnten Sie sich theoretisch vorstellen, in Kabul wieder Ihrem Job nachzugehen, als Maurer oder Fliesenleger an einer Baustelle?
BF: Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan würde ich am 2. Tag getötet werden. Nicht nur in Kabul, sondern im ganzen Land Afghanistan.
RI: Wer würde Sie töten?
BF: Die zwei Brüder meiner Ehefrau, sie könnten mich leicht dort ausfindig machen und töten.
RI: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?
BF: Das sind meine Gründe. Ich kann auf keinen Fall in die Heimatprovinz zurückkehren. Manche meiner Familienangehörigen, zB mein Vater, als auch mein Onkel, wurden dort getötet. Ich kann nicht dorthin zurückkehren. Ich habe ihnen wiederholt vorgebracht, hätten mich meine Schwager erwischt, dann hätten sie mich getötet. Wenn Sie mir das nicht glauben... Dort ist nicht Europa, dass sie mir schriftliche Bestätigungen geben, dass sie die Brüder meiner Ehefrau sind und sie mich verfolgen.
BFV: Haben Sie heimlich geheiratet?
BF: Ich hatte nicht eine große Familie, ich hatte nur einen jüngeren Bruder. Ich habe meine damalige Freundin von zu Hause mitgenommen und geheiratet. Ich habe auch nicht bei uns zu Hause geheiratet, sondern wo anders.
BFV: Sie haben versteckt geheiratet? Es wussten weder Ihre Eltern noch die Eltern Ihrer Frau Bescheid?
BF: Leider, meine Eltern waren bereits zu diesem Zeitpunkt verstorben und getötet.
RI: Waren Ihnen damals, als Sie die Frau mitgenommen haben, bewusst, dass Sie in Gefahr geraten und von den Angehörigen verfolgt werden könnten?
BF: Ja, das war mir 100% bewusst, dass wir in Gefahr geraten werden. Ich habe sie mitgenommen und geheiratet, weil ihre Familie sie damals zwangsverheiraten wollte.
(...)
BF: Abschließend möchte ich noch sagen: Hätte ich dort keine Probleme gehabt, wäre ich nicht einen Monat lang zu Fuß über die Berge, ohne Essen und über den Seeweg hierhergekommen. Ich habe dort zwei Töchter... Ich habe meine Familie zurücklassen müssen. Ich wohne seit zwei Jahren in einem Heim, in einem 20 m² Zimmer, mit 6 weiteren Personen. Die Umstände unseres Lebens in diesem Heim ist nicht gut. Das Heim ist voller Zecken, die anwesende Dame weiß darüber Bescheid. Ich bin nicht aus Spaß in Österreich und habe auch nicht aus Spaß meine Familie im Iran zurückgelassen."
1.10. In einer Stellungnahme vom 30.07.2018 wurden Ausführungen zur Sicherheitslage in Afghanistan und zur Situation von Rückkehrern aus dem Iran getroffen.
1.11. Mit Schreiben des BVwG vom 07.01.2019 wurden dem BF das aktuelle Länderinformationsballt zu Afghanistan, Feststellungen zur Lage in Mazar-e-Sharif und ein Bericht zur Dürre in Herat und Mazar-e-Sharif zur Stellungnahme übermittelt.
1.12. Eine Stellungnahme zur den Länderberichten langte am 28.01.2019 ein.
1.13. Eine ergänzende Stellungnahme wurde am 15.02.2019 übermittelt.
1.14. Am 18.02.2019 wurde ein Empfehlungsschreiben nachgereicht.
2. Beweisaufnahme:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem BVwG vorliegenden Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend die Niederschriften der Erstbefragung am 03.11.2015 und der Einvernahme vor dem BFA am 16.11.2017 sowie die Beschwerde vom 08.02.2018
* Einsicht in Dokumentationsquellen betreffend den Herkunftsstaat des BF im erstbehördlichen Verfahren (Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation)
* Einvernahme des BF im Rahmen der öffentlichen mündlichen Verhandlung vor dem BVwG am 16.07.2018
* Einsicht in die vom BF vorgelegten Schriftstücke und Befunde
* Einsichtnahme in folgende vom BVwG zusätzlich eingebrachte Erkenntnisquellen zum Herkunftsstaat des BF:
o Feststellungen und Berichte über die allgemeine Lage im Herkunftsstaat (Auszüge aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018 samt Aktualisierungen)
o Zusammenfassung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs Afghanischer Asylsuchender vom April 2016 sowie Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Innern vom Dezember 2016
o Feststellungen zu den ethnischen Minderheiten in Afghanistan (Hazara)
o Festellungen zur Lage in der Stadt Mazar-e Sharif und zur Dürre in Herat und Mazar-e Sharif
o Auszug aus einer Anfragebeantwortung von ACCORD zur Situation für AfghanInnen (insbesondere Hazara), die ihr ganzes Leben im Iran verbracht haben und dann nach Afghanistan kommen.
3. Ermittlungsergebnis (Sachverhaltsfeststellungen):
Folgende Feststellungen werden aufgrund des glaubhaft gemachten Sachverhaltes getroffen:
3.1. Zur Person des BF:
3.1.1. Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Hazara und bekennt sich zum schiitischen Islam. Die Muttersprache des BF ist Dari, er spricht aber auch Farsi und Deutsch (A2).
Der BF ist verheiratet und wurde in der Provinz Uruzgan, Afghanistan, geboren. Im Alter von drei Jahren ist der BF gemeinsam mit seinen Eltern in den Iran ausgewandert.
Aktuell halten sich die Ehefrau, die beiden Töchter und der Bruder des BF in Teheran, Iran, auf. Der Bruder kommt für den Lebensunterhalt der Familie des BF auf.
Der BF wurde laut eigenen Aussagen von seinen Eltern gemäß dem afghanischen Kulturkreis erzogen und lebte - in einem vornehmlich von Afghanen bewohnten Viertel in Teheran - nach den afghanischen Sitten. Er hat zwei Jahre eine - laut eigener Aussage inoffizielle - Schule, welche für afghanische Flüchtlinge im Iran eingerichtet worden sein soll, besucht und dabei schreiben und lesen gelernt. Der BF hat später dann im Iran als Arbeiter auf Baustellen gearbeitet und den Beruf des Maurers und Fliesenlegers erlernt.
Die aktuelle finanzielle Lage der Angehörigen im Iran wurde vom BF als mittelmäßig beschrieben.
Laut Angaben des BF besteht zu Ehefrau und Bruder im Iran Kontakt.
3.1.2. Der BF ist jung und männlich. Der BF hat im Verfahren keine ärztlichen Befunde vorgelegt und keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen geltend gemacht. Hinweise auf lebensbedrohende oder schwerwiegende Krankheiten haben sich daher zum aktuellen Zeitpunkt keine ergeben.
Der BF hat zwei Jahre eine Schule besucht, dabei schreiben und lesen gelernt, und verfügt über Berufserfahrung als Maurer und Fliesenleger.
3.1.3. Der BF ist im Alter von drei Jahren aus Afghanistan ausgereist und hat sich seitdem im Iran aufgehalten. Er reiste nunmehr Ende 2015 vom Iran über die Türkei nach Europa und stellte am 03.11.2015 in Österreich den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
3.1.4. Der BF hält sich seit November 2015 in Österreich auf und spricht Deutsch auf dem Niveau A2. Er geht keiner regelmäßigen Beschäftigung nach, legte aber verschiedene Bestätigungen betreffend ehrenamtliche Tätigkeiten vor. Er arbeitet vier Stunden täglich ehrenamtlich in einem Krankenhaus. Er ist Mitglied bei einem Leichtathletikverein, nimmt auch an Wettkämpfen teil und pflegt Kontakte zu österreichischen Personen. Der BF bezieht Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig. Er hat in Österreich keine Verwandten und ist strafrechtlich unbescholten.
3.2. Zu den Fluchtgründen des BF:
Der BF verließ im Alter von drei Jahren gemeinsam mit seinen Eltern Afghanistan und lebte bis zu seiner Ausreise im Iran. Dass dem BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aktuell eine Gefahr durch Angehörige der Volksgruppe der Paschtunen drohen würde, konnte der BF nicht glaubhaft machen.
Der BF konnte ebenso nicht glaubhaft machen, dass er in Afghanistan von den Brüdern seiner Ehefrau verfolgt würde.
Der BF verließ den Iran aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen für dort aufhältige Afghanen, insbesondere schiitische Hazara.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara bzw. zur schiitischen Religion bei einer Rückkehr nach Afghanistan konkret und individuell physische und/oder psychische Gewalt droht. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara bzw. der schiitischen Religion in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt ist.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan allein auf Grund der Tatsache, dass er den Großteil seines Lebens im Iran verbracht hat bzw. dass jedem Rückkehrer aus dem Iran physische und/oder psychische Gewalt droht.
Der BF wurde nach eigenen Angaben in seinem Herkunftsstaat niemals inhaftiert, ist nicht vorbestraft und hatte mit den Behörden seines Herkunftsstaates weder auf Grund seines Religionsbekenntnisses oder seiner Volksgruppenzugehörigkeit noch sonst irgendwelche Probleme. Der BF war nie politisch tätig und gehörte nie einer politischen Partei an.
3.3. Zu einer möglichen Rückkehr des BF in den Herkunftsstaat:
3.3.1. Es konnte vom BF nicht glaubhaft vermittelt werden, dass er im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat einer Verfolgung aus asylrelevanten Gründen ausgesetzt wäre.
3.3.2. Der BF ist im erwerbsfähigen Alter und männlich. Dass sein allgemeiner Gesundheitszustand erheblich beeinträchtigt wäre, hat der BF im Verfahren weder behauptet, noch ist es dem erkennenden Gericht sonst bekannt geworden.
3.3.3. Eine Rückkehr des BF in die Herkunftsprovinz der Eltern Uruzgan scheidet aus, weil ihm dort aufgrund der vorherrschenden Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.
Dem BF ist es aber möglich und zumutbar, sich stattdessen in der Hauptstadt Kabul oder auch in Mazar-e Sharif niederzulassen. Er ist mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates - so wurde er von seinen Eltern nach afghanischen Sitten erzogen - und einer in Afghanistan gesprochenen Sprache (Dari) vertraut. Er ist in einem afghanischen Familienverband aufgewachsen und hat zwei Jahre lang eine Schule besucht und dabei lesen und schreiben gelernt. Der BF lebte bisher nicht in Kabul oder Mazar-e Sharif, und es konnte nicht festgestellt werden, dass der BF dort über familiäre oder soziale Anknüpfungspunkte verfügt. Dem BF ist jedoch aus eigenem der Aufbau einer Existenzgrundlage in diesen Städten möglich. Der BF kann seine Existenz in Kabul oder Mazar-e Sharif - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern, wobei festzuhalten ist, dass der BF bereits auf Baustellen im Iran gearbeitet hat und in der Verhandlung vor dem BVwG angab, den Beruf des Maurers und Fliesenlegern erlernt zu haben. Zudem verfügt der BF über ein familiäres Netzwerk, mit dem er in Kontakt steht. So ist sein Bruder im Iran aufhältig und unterstützt die Frau und Kinder des BF finanziell. Somit besteht die Möglichkeit, dass der Bruder in der Lage ist, dem BF - zumindest zu Beginn als Starthilfe - finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Mit dieser Unterstützung ist ihm der Aufbau einer Existenzgrundlage in Kabul oder Mazar-e Sharif möglich. Der BF ist auch in der Lage, in Kabul oder Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Er hat auch die Möglichkeit, Rückkehrunterstützung in Anspruch zu nehmen und damit eine weitere finanzielle Hilfe zu erhalten. Als alleinstehender, gesunder und leistungsfähiger Mann im berufsfähigen Alter samt Berufserfahrung im Baugewerbe ohne festgestellten besonderen Schutzbedarf liefe der BF auch nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Der BF leidet an keinen Erkrankungen.
3.3.4. Der BF kann die Hauptstadt Kabul und die Stadt Mazar-e Sharif - über Kabul - von Österreich aus sicher mit dem Flugzeug erreichen.
3.4. Zur Lage im Herkunftsstaat des BF:
Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG zusätzlich in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat des BF getroffen:
3.4.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Afghanistan ("Gesamtaktualisierung am 29.06.2018", Schreibfehler teilweise korrigiert):
Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen
Kl vom 08.01.2019, Anschlag in Kabul und Verschiebung der Präsidentschaftswahl (relevant für Abschnitt 2/Politische Lage und Abschnitt 3/Sicherheitslage)
Anschlag auf Regierungsgebäude in Kabul
Am 24.12.2018 detonierte vor dem Ministerium für öffentliches Bauwesen im Osten Kabuls (PD 16) eine Autobombe; daraufhin stürmten Angreifer das nahe gelegene Gebäude des Ministeriums für Arbeit, Soziales, Märtyrer und Behinderte und beschossen weitere Regierungseinrichtungen in der Umgebung (ORF 24.12.2018; vgl. ZO 24.12.2018, Tolonews 25.12.2018). Nach einem mehrstündigen Gefecht zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Angreifern konnten diese besiegt werden. Quellen zufolge kamen ca. 43 Menschen ums Leben (AJ 25.12.2018; vgl. Tolonews 25.12.2018, NYT 24.12.2018). Bisher bekannte sich keine Gruppierung zum Anschlag (Tolonews 25.12.2018; vgl. AJ 25.12.2018).
Problematische Stimmenauszählung nach Parlamentswahlen und Verschiebung der Präsidentschaftswahl
Am 06.12.2018 erklärte die afghanische Wahlbeschwerdekommission (IECC) alle in der Provinz Kabul abgegebenen Stimmen für ungültig (RFE/RL 06.12.2018). Somit wurden die Stimmen von ungefähr einer Million Kabulis annulliert (Telepolis 15.12.2018; vgl. TAZ 06.12.2018). Die Gründe für die Entscheidung der IECC seien mehrere, darunter Korruption, Wahlfälschung und die mangelhafte Durchführung der Wahl durch die Unabhängige Wahlkommission (IEC) (Telepolis 15.12.2018; vgl. RFE/RL 06.12.2018). Die Entscheidung wurde von der IEC als "politisch motiviert" und "illegal" bezeichnet (Tolonews 12.12.2018). Am 08.12.2018 erklärte die IECC dennoch, die Kommission würde ihre Entscheidung revidieren, wenn sich die IEC kooperationswillig zeige (Tolonews 08.12.2018). Einer Quelle zufolge einigten sich am 12.12.2018 die beiden Wahlkommissionen auf eine neue Methode zur Zählung der abgegebenen Stimmen, welche die Transparenz und Glaubhaftigkeit dieser wahren sollte; ca. 10% der Stimmen in Kabul sollen durch diese neue Methode nochmals gezählt werden (Tolonews 12.12.2018). Die Überprüfung der Wahlstimmen in der Provinz Kabul ist weiterhin im Gange (Tolonews 07.01.2019). Dem Gesetz zufolge müssen im Falle der Annullierung der Stimmen innerhalb von einer Woche Neuwahlen stattfinden, was jedoch unrealistisch zu sein scheint (Telepolis 15.12.2018). Bisher hat die IEC die vorläufigen Ergebnisse der Wahl für 32 Provinzen veröffentlicht (IEC o.D.).
Am 30.12.2018 wurde die Verschiebung der Präsidentschaftswahl vom 20.04.2019 auf den 20.07.2019 verkündet. Als Gründe dafür werden u. a. die zahlreichen Probleme während und nach der Parlamentswahlen im Oktober genannt (WP 30.12.2018; vgl. AJ 30.12.2018, Reuters 30.12.2018)
[...]
2. Politische Lage
Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.01.2004).
Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan sieht vor, dass der Präsident der Republik direkt vom Volk gewählt wird und sein Mandat fünf Jahre beträgt (Casolino 2011). Implizit schreibt die Verfassung dem Präsidenten auch die Führung der Exekutive zu (AAN 13.2.2015).
Nach den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2014 einigten sich die beiden Kandidaten Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah Mitte 2014 auf eine Regierung der Nationalen Einheit (RNE) (AM 2015; vgl. DW 30.09.2014). Mit dem RNE-Abkommen vom 21.09.2014 wurde neben dem Amt des Präsidenten der Posten des CEO (Chief Executive Officer) eingeführt, dessen Befugnisse jenen eines Premierministers entsprechen. Über die genaue Gestalt und Institutionalisierung des Postens des CEO muss noch eine loya jirga [Anm.: größte nationale Versammlung zur Klärung von wichtigen politischen bzw. verfassungsrelevanten Fragen] entscheiden (AAN 13.02.2015; vgl. AAN o. D.), doch die Einberufung einer loya jirga hängt von der Abhaltung von Wahlen ab (CRS 13.12.2017).
Die afghanische Innenpolitik war daraufhin von langwierigen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Regierungslagern unter Führung von Präsident Ashraf Ghani und dem Regierungsvorsitzenden (Chief Executive Officer, CEO) Abdullah Abdullah geprägt. Kurz vor dem Warschauer NATO-Gipfel im Juli 2016 wurden schließlich alle Ministerämter besetzt (AA 9.2016).
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch "Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.01.2017; vgl. USDOS 20.04.2018, USDOS 15.08.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.01.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.02.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.04.2018; vgl. USDOS 15.08.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht Am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.01.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20.10.2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.04.2018; vgl. AAN 22.01.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.08.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische O