Entscheidungsdatum
30.10.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
W273 2187406-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Dr. Isabel FUNK-LEISCH als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. AFGHANISTAN, vertreten durch: Verein Menschenrechte Österreich (VMÖ) gegen den Bescheid des BFA, Regionaldirektion Salzburg vom 29.01.2018, Zl XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, ein männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Am gleichen Tag fand durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Erstbefragung des Beschwerdeführers statt. Dabei gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen an, dass in Afghanistan Krieg sei, sein sei Vater gestorben und die Taliban hätten ihn mitnehmen wollen. Die Taliban hätten bereits einen seiner Brüder und seinen Vater getötet. Im Fall seiner Rückkehr befürchte er, dass die Taliban ihn umbringen würden.
2. Das Bundesamt veranlasste eine Altersfeststellung des Beschwerdeführers. Mit Gutachten eines allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständen für medizinische Begutachtung im Asylverfahren vom XXXX wurde ein fiktives Geburtsdatum des Beschwerdeführers mit XXXX ermittelt.
3. Am XXXX fand eine Einvernahme des Beschwerdeführers vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden "Bundesamt" oder "BFA") statt. Zu seinen Fluchtgründen gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, dass sein Bruder im Kampf um Kunduz von den Taliban getötet worden sei. Der Beschwerdeführer sei von den Taliban mit einem Drohbrief bedroht worden und sei daraufhin geflüchtet. Der Beschwerdeführer legte eine Kopie des Drohbriefes sowie Fotos von der Beerdigung seines Bruders vor.
4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das Bundesamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkt I. und II.) und erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.). Gegen den Beschwerdeführer wurde eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt IV.) und festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.).
5. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Bescheid fristgerecht Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass ihm als Familienmitglied eines Angehörigen der afghanischen Polizei Verfolgungshandlungen von regierungsfeindlichen Gruppierungen ausgesetzt sein werde. Ihm drohen zudem als jungem Mann Zwangsrekrutierung durch die Taliban. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe nicht zur Verfügung, weil die Taliban den Beschwerdeführer in ganz Afghanistan finden könnten.
6. Das Bundesamt legte die Beschwerde dem Bundesverwaltungsgericht mit Schreiben vom XXXX vor.
7. Mit Schreiben vom XXXX legte der Beschwerdeführer Fotos seines Bruders in Afghanistan vor.
8. Das Bundesverwaltungsgericht führte am XXXX in Anwesenheit eines Dolmetschers für die Sprache Dari und des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers eine öffentliche mündliche Verhandlung durch.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer führt den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und sunnitischer Moslem. Der Beschwerdeführer gehört der Volksgruppe der Tadschiken an und ist ledig. Seine Muttersprache ist Paschtu, er spricht aber auch Dari.
Der Beschwerdeführer wurde in XXXX in der Provinz Kunduz geboren und lebte dort bis zu seiner Ausreise. Der Beschwerdeführer besuchte ein Jahr lang die Grundschule in seinem Heimatdorf. Er ist Analphabet. Er wuchs mit seinen Eltern und seinen vier Brüdern im Haus seiner Eltern auf. Der Vater des Beschwerdeführers war Lehrer, der ältere Bruder des Beschwerdeführers war Polizist. Der Vater und der ältere Bruder des Beschwerdeführers versorgten die Familie. Die wirtschaftliche Lage der Familie war gut. Die Eltern des Beschwerdeführers starben, als der Beschwerdeführer ca. 3 bis 4 Jahre alt war. Ab diesem Zeitpunkt versorgte der ältere Bruder des Beschwerdeführers diesen und die jüngeren Brüder allein. Der Beschwerdeführer hat keine Onkel und Tanten. Der ältere Bruder des Beschwerdeführers kam bei einem Angriff auf die Stadt Kunduz im Jahr 2015 ums Leben. Der Aufenthaltsort der jüngeren Brüder des Beschwerdeführers ist unbekannt.
Der Beschwerdeführer hat in seinem Heimatdorf zwei Jahre lang als Schneider gearbeitet.
Die Familie des Beschwerdeführers hat in Afghanistan Grundstücke und ein Haus im Heimatdorf des Beschwerdeführers.
Der Beschwerdeführer wurde nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert und ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
1.2. Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich
Der Beschwerdeführer hält sich seit seiner Antragstellung am XXXX aufgrund der vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet auf.
Der Beschwerdeführer hat bisher mehrere Deutschkurse (ÖSD-Zertifikat A1 vom 10.08.2017, Kursbestätigung der Volkshochschule XXXX vom 08.06.2017, Besuchsbestätigung - Deutschtraining XXXX vom 07.06.2017, Bestätigung Grund- und Basisbildung Jugend 10 des Vereins für Interkulturellen Ansatz in Erziehung, Lernen und Entwicklung vom 07.06.2017, Kursbestätigung der Volkshochschule XXXX vom 14.02.2017) besucht. Der Beschwerdeführer spielt Fußball beim Verein XXXX (Bestätigung Vereinsmitgliedschaft vom 11.11.2017).
Der Beschwerdeführer kann sich auf Deutsch verständlich machen und versteht auch einfache Aspekte einer Unterhaltung.
Der Beschwerdeführer war und ist nicht ehrenamtlich tätig.
Der Beschwerdeführer möchte gerne als Koch oder Schneider arbeiten. Der Beschwerdeführer ist nicht Mitglied eines Vereins oder einer anderen Gemeinschaftseinrichtung, abgesehen von seiner Vereinsmitgliedschaft im XXXX (Fußball). Der Beschwerdeführer hat einige österreichische Freunde in Österreich.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten.
Der Beschwerdeführer geht keiner Erwerbstätigkeit nach und lebt von der Grundversorgung. Er ist nicht selbsterhaltungsfähig (Speicherauszug aus dem Betreuungsinformationssystem vom XXXX ).
Der Beschwerdeführer ist unbescholten (Strafregisterauszug vom XXXX).
1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Der Bruder des Beschwerdeführers war keiner konkreten und individuell gegen ihn gerichteten Verfolgung oder Bedrohung durch die Taliban oder durch andere Personen ausgesetzt. Der Beschwerdeführer selbst und seine Familie wurden von den Taliban aufgrund der Tätigkeit des Bruders des Beschwerdeführers nicht bedroht oder verfolgt. Der Beschwerdeführer wurde nicht mittels eines Drohbriefes oder persönlich durch die Taliban bedroht und war keiner Zwangsrekrutierung ausgesetzt. Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität, noch wegen Lebensgefahr verlassen.
Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch die Taliban oder durch andere Personen. Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine Gefahr der Zwangsrekrutierung durch Taliban oder andere regierungsfeindliche Gruppen.
Der Beschwerdeführer ist aufgrund seines in Österreich ausgeübten Lebensstils oder seinem Aufenthalt in einem europäischen Land in Afghanistan keiner psychischen oder physischen Gewalt ausgesetzt. Ebenso wenig ist jeder Rückkehrer aus Europa, allein aufgrund des Aufenthaltes in Europa, in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.
1.4. Zu einer Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat
Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr in seine Herkunftsprovinz Kunduz aufgrund der dort herrschenden allgemeinen schlechten Sicherheitslage ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.
In den Städten Mazar-e Sharif und Herat droht dem Beschwerdeführer im Hinblick auf die allgemeine Sicherheitslage kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit. Der Beschwerdeführer kann die Städte Mazar-e Sharif und Herat sicher mit dem Flugzeug erreichen.
Die Wohnraum- und Versorgungslage in Mazar- e Sharif und Herat ist angespannt. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan in die Städte Mazar-e Sharif oder Herat kann der Beschwerdeführer jedoch grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen, sich eine Existenz aufbauen und diese - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Der Beschwerdeführer kann sich in Mazar-e Sharif oder Herat niederlassen und sich eine Existenz aufbauen, die mit jener andere vor Ort ansässiger Personen vergleichbar ist. Der Beschwerdeführer kann Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen.
1.5. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan
1.5.1. Allgemeine Sicherheitslage
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung.
(Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018 mit integrierter Kurzinformation vom 04.06.2019 - im Folgenden "LIB 04.06.2019", S. 22 ff). Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen. Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (LIB 04.06.2019, S. 14).
Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst mit Stand 22.10.2018 53,8% der Distrikte. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (LIB 04.06.2019, S. 22).
1.5.2. Regierungsfeindliche Gruppierungen
Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden: Das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden (LIB 04.06.2019, S. 76f.).
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (LIB 04.06.2019, S. 68).
1.5.3. Potentielle Zielpersonen der Taliban / Wichtigkeit für die Taliban
Der Taliban Führung scheint daran gelegen zu sein, willkürliche Gewaltanwendung möglichst zu vermeiden und sich nach klar definierten Regeln ausschließlich auf Personen zu konzentrieren, die eindeutig Taliban-Gegner sind (Afghanistan: Taliban's Intelligence and the intimidation campaign) vom 23.08.2017 - im Folgenden "Landinfo Nachrichtendienst Taliban", S. 3).
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten":
a) Politische Feinde: die Anführer und wichtigsten Mitglieder der Parteien und Gruppen, die den Taliban feindlich gesinnt sind; b) Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer "feindlicher" Regierungen - alle Zivilisten, die für die Regierung oder für westliche diplomatische Vertretungen und andere Einrichtungen arbeiten; c) Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges; d) Personen, von denen angenommen wird, dass sie die Taliban für die Regierung ausspionieren oder Informationen über sie liefern; e) Personen, die gegen die Shari'a (entsprechend der Auslegung der Taliban) und die Regeln der Taliban verstoßen; f) Kollaborateure der afghanischen Regierung - praktisch jeder, der der Regierung in irgendeiner Weise hilft; g) Kollaborateure des ausländischen Militärs - praktisch jeder, der den ausländischen Streitkräften in irgendeiner Weise hilft; h) Auftragnehmer der afghanischen Regierung; i) Auftragnehmer anderer Länder, die gegen die Taliban sind; j) Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten; k) Personen jeder Art, die die Taliban in irgendeiner Weise für nützlich oder notwendig für ihre Kriegsführung erachten, die die Zusammenarbeit verweigern (Landinfo Nachrichtendienst Taliban, S. 11).
Außer den Personen in den oben genannten Kategorien a), d), e) und
k) bieten die Taliban allen Personen, die sich "fehlverhalten" die Chance, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Personen in den Kategorien a), d), e) und k) haben allein schon durch die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie, Verbrechen begangen, im Gegensatz zu einer Tätigkeit als Auftragnehmer. Dies sehen die Taliban nur dann als Verbrechen an, wenn der Auftragnehmer die Warnungen der Taliban in den Wind schlägt. Die Personen der Kategorien b), c), f), g), h), i) und j) können einer "Verurteilung" durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlichen "feindseligen" Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen (Landinfo Nachrichtendienst Taliban, S. 12).
Überall, wo die Taliban vertreten sind, zielten sie von vorne herein insbesondere auf die Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte ab, die sich weigern, den Dienst zu quittieren. Sie übten Druck auf deren Familien aus, um deren Ausscheiden zu erzwingen und drohten Bestrafung an, wenn ihrer Forderung nicht Folge geleistet würde. In einigen Fällen sind sie sogar soweit gegangen, Verwandte hinzurichten. Zumeist waren diese Sicherheitskräfte und ihre Familien schließlich gezwungen, in sicherere, von der Regierung kontrollierte Gebiete umzusiedeln, obwohl die Taliban ihre Ziele teilweise auch dort heimsuchen. Andere, die es sich leisten können, scheiden aus und im Laufe der Jahre sind hunderte hingerichtet worden. Selbst diejenigen, die umsiedeln, laufen Gefahr, auf dem Weg an den Straßensperren der Taliban festgehalten zu werden (Landinfo Nachrichtendienst Taliban, S. 13).
Im Grunde genommen steht jeder auf der schwarzen Liste, der (aus Sicht der Taliban) ein 'Übeltäter' ist und dessen Identität und Anschrift die Taliban ausfindig machen können. Diese Details sind wesentlich, denn nach den Regeln der Taliban, muss ein Kollaborateur gewarnt werden und Gelegenheit erhalten, auf den richtigen Weg zurückzukehren, bevor er auf die schwarze Liste gesetzt wird. Damit die Einschüchterungstaktiken der Taliban funktionieren, hängen sie also davon ab, dass ihre Informanten Angaben zu den potenziellen Zielpersonen liefern. Die Taliban behaupten jedoch, dass sie, dank ihrer Spione bei der Grenzpolizei am Flughafen Kabul und auch an vielen anderen Stellen, überwachen können, wer in das Land einreist. Sie geben an, dass sie regelmäßig Berichte darüber erhalten, wer neu ins Land einreist (Landinfo Nachrichtendienst Taliban, S. 14).
1.5.4. Drohbriefe
Die Associated Press - eine multinationale, profitfreie Nachrichtenagentur mit Sitz in New York City - berichtet, dass die handgeschriebenen Nachrichten auf dem Briefpapier des sogenannten islamischen Emirates traditionellerweise an jene gesendet wurden, die angeblich für die afghanischen Sicherheitskräfte oder die US - geführten Truppen gearbeitet haben; es wurden deren "Verbrechen" aufgelistet und sie wurden gewarnt, dass die "militärische Kommission" über ihre Strafen entscheidet.
Der Taliban-Sprecher Zabiullah Mujahid, sagt, dass, wenn ein Kämpfer vermutet, dass jemand mit der Regierung oder den Sicherheitskräften arbeitet, dessen Familie kontaktiert und gefordert wird, diese Tätigkeit einzustellen. "Wir senden keine Drohbriefe, das ist nicht unser Stil. Nur sehr selten verwenden wir das Telefon, wenn wir auf ernsthafte Probleme stoßen. Nur sehr selten würden wir das Telefon benutzen, wenn wir ernsthafte Probleme wahrnehmen", sagte er. "Alle diese so genannten Taliban-Drohbriefe sind gefälscht", fügte er hinzu und enthüllte eine Liste von Personen, von denen er sagt, dass sie fälschlicherweise behauptet haben, sie hätten Drohbriefe von den Taliban erhalten. Ein Sprecher der afghanischen Nationalen Sicherheitsdirektion wies die Briefe ebenfalls zurück.
Von den Taliban wurde berichtet, dass sie 2015 Afghanen aufgefordert hätten, ihr Land nicht zu verlassen und die Taliban durch gefälschte Briefe zu diffamieren. The Voice of America (VoA) zitierte eine Erklärung der Taliban an Journalisten, in der es hieß: "Die gefälschten Drohbriefe, die von den Flüchtlingen an [internationale Flüchtlingsorganisationen] weitergeleitet wurden, haben keine Gültigkeit und werden von Mafiagruppen für einen mageren Preis an sie verkauft". (Auszug aus Country Policy & Information note Afghanistan: Anti-Gouverment Elements (AGES) vom August 2019 (im Folgenden "Analyse Home Office"), Rz. 4.5.6 bis 4.5.7, Seiten 21 bis 22)
1.5.5. Rekrutierung bzw. Zwangsrekrutierung durch die Taliban
Regierungsfeindliche Kräfte rekrutieren, wie berichtet wird, weiterhin Kinder - sowohl Jungen als auch Mädchen - um sie für Selbstmordanschläge, als menschliche Schutzschilde oder für die Beteiligung an aktiven Kampfeinsätzen einzusetzen, um Sprengsätze zu legen, Waffen und Uniformen zu schmuggeln und als Spione, Wachposten oder Späher für die Aufklärung zu dienen (Auszug bzw. Zusammenfassung entscheidungsrelevanter Passagen aus den UNHCR-RL 2018, Pkt. III.A.3.a.).
Es sind Fälle von Zwangsrekrutierung dokumentiert, sie bilden allerdings die Ausnahme. Die Rekrutierung durch die Taliban ist nicht durch Zwang, Drohungen und Gewalt gekennzeichnet, weil die Taliban auch ohne Zwangsrekrutierung ausreichend Zulauf haben. Das geänderte Konfliktschema und die Tatsache, dass die Taliban ihre Truppen professionalisiert haben, bedeuten auch, dass unmittelbare Zwangsrekrutierungen vermutlich sehr gering verbreitet sind. Dies wurde in Gesprächen von Landinfo im April/Mai 2017 in Kabul bestätigt; unmittelbare Zwangsrekrutierungen erfolgen in sehr beschränktem Ausmaß und lediglich in Ausnahmefällen. Die Taliban haben ausreichend Zugriff zu freiwilligen Rekruten. Eine Quelle äußerte den Gedanken, dass es "schwierig sei, einen Afghanen zu zwingen, gegen seinen Willen gegen jemanden/etwas zu kämpfen" (Landinfo Report Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban vom 29.06.2017, S. 19).
Der Grund für seltene Zwangsrekrutierungen liegt auch in der Strategie der Taliban, Personen mit militärischem Hintergrund anzuwerben, die Waffen, Uniformen und Wissen über den Feind einbringen. Es kann aber auch Personen treffen, die über Knowhow und Qualifikationen verfügen, die die Taliban im Gefechtsfeld benötigen, etwa für die Reparatur von Waffen (Landinfo Report Afghanistan: Rekrutierung durch die Taliban vom 29.06.2017, S. 18-19).
1.5.6. Sicherheitsbehörden
Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Bestandteile der ANDSF sind die afghanische Nationalarmee (ANA), die afghanische Nationalpolizei (ANP) und die afghanischen Spezialsicherheitskräfte (ASSF) (LIB 04.06.2019, S. 278).
Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen (LIB 04.06.2019, S. 278.).
Regierungsfeindliche Kräfte haben Berichten zufolge Familienangehörige von Personen mit den oben angeführten Profilen als Vergeltungsmaßnahme und gemäß dem Prinzip der Sippenhaft angegriffen. Insbesondere wurden Verwandte, darunter Frauen und Kinder, von Regierungsmitarbeitern und Angehörige der afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte Opfer von Schikanen, Entführung, Gewalt und Tötung (UNCHR RL 2018, S. 54).
1.5.7. Kunduz
Kunduz liegt 337 km nördlich von Kabul und grenzt an die Provinzen Takhar im Osten, Baghlan im Süden, Balkh im Westen und Tadschikistan im Norden (LIB 04.06.2019, S. 176f). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.049.249 geschätzt. In der Provinz leben Paschtunen, Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Hazara und Paschai (LIB 04.06.2019, S. 177).
Strategisch wichtig ist die Stadt Kunduz nicht nur für Afghanistan, denn Kunduz war bis zum Einmarsch der US-Amerikaner im Jahr 2001 die letzte Hochburg der Taliban. Wer die Stadt kontrolliert, dem steht der Weg nach Nordafghanistan offen. Kunduz liegt an einer wichtigen Straße, die Kabul mit den angrenzenden nördlichen Provinzen verbindet. Kunduz-Stadt ist eine der größten Städte Afghanistans und war lange Zeit ein strategisch wichtiges Transportzentrum für den Norden des Landes. Kunduz ist durch eine Autobahn mit Kabul im Süden, Mazar-e Sharif im Westen, sowie Tadschikistan im Norden verbunden (LIB 04.06.2019, S. 177).
Kunduz zählt zu den relativ volatilen Provinzen Afghanistans, in der Aufständische aktiv sind. In den Jahren 2015 und 2016 fiel Kunduz-Stadt jeweils einmal an Taliban-Aufständische; die Stadt konnte in beiden Fällen von den afghanischen Streitkräften zurückerobert werden. Das deutsche Militär hat einen großen Stützpunkt in der Provinz Kunduz. Während des Jahres 2017 sank die Anzahl der zivilen Opfer in Folge von Bodenoffensiven u.a. in der Provinz Kunduz; ein Grund dafür war ein Rückgang von Militäroffensiven in von Zivilist/innen bewohnten Zentren durch die Konfliktparteien (LIB 04.06.2019, S. 178).
Talibankämpfer, insbesondere Mitglieder der "Red Unit", einer Taliban-Einheit, die in zunehmendem Ausmaß Regierungsstützpunkte angreift, sind in der Provinz Kunduz aktiv. Einige Distrikte, wie Atqash, Gultapa und Gulbad, sind unter Kontrolle der Taliban. Auch in Teilen der Distrikte Dasht-e-Archi und Chardarah sind Talibankämpfer zum Berichtszeitpunkt aktiv. Im Zeitraum 1.1.2017 - 15.7.2017 wurden IS-bezogene Sicherheitsvorfälle registriert, während zwischen 16.7.2017 - 31.1.2018 keine sicherheitsrelevanten Ereignisse mit Bezug auf den IS gemeldet wurden (LIB 04.06.2019, S. 179).
1.5.8. Zur Provinz Balkh und der Hauptstadt Mazar-e Sharif
Die Provinz Balkh liegt in Nordafghanistan. Mazar-e Sharif ist die Hauptstadt der Provinz Balkh. Mazar-e Sharif liegt an der Autobahn zwischen Maimana [Anm.: Provinzhauptstadt Faryab] und Pul-e-Khumri [Anm.: Provinzhauptstadt Baghlan] und ist gleichzeitig ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst (LIB 04.06.2019, S. 108f.). Die Infrastruktur ist noch unzureichend, da viele der Straßen, vor allem in den gebirgigen Teilen des Landes, in schlechtem Zustand und in den Wintermonaten unpassierbar sind (LIB 04.06.2019, S. 109). Mazar-e Sharif ist jedoch grundsätzlich auf dem Straßenweg mittels Bus erreichbar, eine Fahrt kostet zwischen 400 und 1.000 Afghani (LIB 04.06.2019, S. 264).
In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen, durch den die Stadt über den Luftweg von Kabul sicher zu erreichen ist (LIB 04.06.2019, S. 266). Der Flughafen befindet sich 9 km östlich der Stadt (s. EASO Leitlinien Afghanistan vom Juni 2019 (EASO Country Guidance Afghanistan of June 2019), S. 130), die Verbindungsroute in die Stadt ist bei Tageslicht jedenfalls sicher.
Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften (LIB 04.06.2019, S. 109, ECOI.net Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.07.2019). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.382.155 geschätzt. Im Herbst 2018 wurde im Norden Afghanistans - darunter u.a. in der Provinz Balkh - eine große Zahl von Kampfhandlungen am Boden registriert; Vorfälle entlang der Ring Road beeinträchtigten die Bewegungsfreiheit zwischen den Hauptstädten der Provinzen Balkh, Faryab und Jawzjan (LIB 04.06.2019, S. 108-109).
Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führen regelmäßig militärische Operationen durch, um regierungsfeindliche Aufständische zu verdrängen und sie davon abzuhalten, Fuß im Norden des Landes zu fassen. Dabei werden Taliban getötet und manchmal auch ihre Anführer (LIB 04.06.2019, S. 110).
Regierungsfeindliche Gruppierungen versuchen ihren Aufstand in der Provinz Balkh voranzutreiben. Sowohl Aufständische der Taliban als auch Sympathisanten des IS versuchen in abgelegenen Distrikten der Provinz Fuß zu fassen. Im Zeitraum 1.1.2017 - 15.7.2017 wurden keine IS-bezogenen Vorfälle in der Provinz registriert. Im Zeitraum 16.7.2017 - 31.1.2018 wurden dennoch vom IS verursachte Vorfälle entlang der Grenze von Balkh zu Sar-e Pul registriert (LIB 04.06.2019, S. 111).
1.5.9. Zu den aktuellen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen in der Stadt Mazar-e Sharif (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019 zu den angegebenen Seitenzahlen):
In der Stadt leben Tadschiken und Paschtunen, Usbeken und Hazara und weitere Ethnien gemischt (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019, S. 12). 38 % der Bevölkerung - hauptsächlich ökonomische MigrantInnen - davon nur 17 % Rückkehrer aus dem Ausland (Iran und andere Länder) sind IPD und Rückkehrer (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019, S. 14f).
Die Stadt ist ein Industriezentrum. Es bestehen Arbeitsmöglichkeiten im Bereich Handel und Handwerk. Mazar-e Sharif ist im Vergleich zu Kabul und Herat (auch wirtschaftlich) stabiler. Die größten Gruppen sind DienstleistungsmitarbeiterInnen und Handelsangestellte (23%), gefolgt von Managern/Technikern/ Angestellten (20,9 %). Familiennetzwerke sind lebensnotwendig für Rückkehrer, um Arbeit und Unterkunft zu finden. (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019, S. 29).
Lt. IOM arbeiten der Großteil der IDPs und der Rückkehrer als Gelegenheitsarbeiter. Wenige arbeiten in der Landwirtschaft oder haben eigenes Vieh. Märkte und kleine Geschäfte bieten Arbeitsmöglichkeiten, welche aber oft zeitlich begrenzt sind (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019, S. 30).
Laut Prognose des FEWS befindet sich Mazar-e Sharif im Zeitraum Juni 2019 bis September 2019 in Phase 1 des Klassifizierungssystems für Nahrungsmittelversorgung und im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in Phase 2 (stressed). In Phase 1, auch "minimal" genannt, sind die Haushalte in der Lage, den Bedarf an lebensnotwenigen Nahrungsmitteln und Nicht-Nahrungsmitteln zu decken, ohne atypische und unhaltbare Strategien für den Zugang zu Nahrung und Einkommen zu verfolgen. In Phase 2 weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentliche, nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ECOI.net Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.07.2019, 3.1.)
Zum Gesundheitswesen wird berichtet, dass in Mazar-e Sharif das größte Krankenhaus das Abu Ali Sinha Regional Hospital ist, welches für die gesamte Region tätig ist. Es gibt 10 - 15 Spitäler in Mazar, der Großteil davon ist privat, und 30 bis 50 Gesundheitskliniken. Es gibt die erste private neuro-psychiatrische Krankenhaus Afghanistans in Mazar-e Sharif, das Alemi Hospital, welches am Stadtrand von Mazar-e Sahrif liegt. Zudem gibt es noch zwei Einrichtungen, die Behandlung bei psychischen Erkrankungen anbieten. (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019, S. 50ff).
Zu den Themen Unterkunft, Wasser und sanitäre Einrichtungen wird berichtet, dass 66,5 % der Menschen in Mazar-e Sharif im eigenen Haus leben, während 24,5 % ihre Unterkunft gemietet haben (2015). Mehr als die Hälfte der Häuser in Mazar besteht aus Lehm, Erde oder Holz, der Rest ist aus Ziegeln und Metall, Zement oder anderen Materialien errichtet. Die meisten Menschen haben Zugang zu verbesserten Trinkwasser (76 %), das normalerweise aus Brunnen stammt. 92% der Haushalte hat eine verbesserte sanitäre Einrichtung (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019, S. 56f).
1.5.10. Zur Provinz Herat
Herat wird als eine der relativ friedlichen Provinzen gewertet, dennoch sind Aufständische in einigen Distrikten der Provinz, wie Shindand, Kushk, Chisht-i-Sharif und Gulran, aktiv. Es kommt manchmal zu Zusammenstößen zwischen regierungsfeindlichen Gruppen und afghanischen Sicherheitskräften (ECOI.net Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.07.2019). Dem Iran wird von verschiedenen Quellen nachgesagt, afghanische Talibankämpfer auszubilden und zu finanzieren. Regierungsfeindliche Aufständische griffen Mitte 2017 heilige Orte, wie schiitische Moscheen, in Hauptstädten wie Kabul und Herat, an. Dennoch erklärten Talibanaufständische ihre Bereitschaft, das TAPI-Projekt zu unterstützen und sich am Friedensprozess zu beteiligen. Es kam zu internen Konflikten zwischen verfeindeten Taliban-Gruppierungen. Anhänger des IS haben sich in Herat zum ersten Mal für Angriffe verantwortlich erklärt, die außerhalb der Provinzen Nangarhar und Kabul verübt wurden. ACLED registrierte für den Zeitraum 1.1.2017-15.7.2017 IS-bezogene Vorfälle (Gewalt gegen die Zivilbevölkerung) in der Provinz Herat (LIB 04.06.2019, S. 146-148).
Mitte Februar 2018 wurde von der Entminungs-Organisation Halo Trust bekannt gegeben, dass nach zehn Jahren der Entminung 14 von 16 Distrikten der Provinz sicher seien. In diesen Gegenden bestünde keine Gefahr mehr, Landminen und anderen Blindgängern ausgesetzt zu sein, so der Pressesprecher des Provinz-Gouverneurs. Aufgrund der schlechten Sicherheitslage und der Präsenz von Aufständischen wurden die Distrikte Gulran und Shindand noch nicht von Minen geräumt. In der Provinz leben u.a. tausende afghanische Binnenflüchtlinge.
In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um einige Gegenden von Aufständischen zu befreien. Auch werden Luftangriffe verübt; dabei wurden Taliban getötet. Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Aufständischen finden statt. In Herat sind Truppen der italienischen Armee stationiert, die unter dem Train Advise Assist Command West afghanische Streitmächte im Osten Afghanistans unterstützen.
1.5.11. Zu den aktuellen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen in der Stadt Herat
Die Provinz Herat hat im Zeitraum 2017-2018 ca. 507.000 EinwohnerInnen (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019, S.12f). Die Bevölkerung in Herat setzt sich aus Tadschiken (Hauptbevölkerung Herats), einer paschtunischen Minderheit und Hazara (ca. ein Viertel der Bevölkerung) zusammen. Viele davon sind aus dem Exil zurückgekehrt und leben im Stadtteil Jebrael im Westen der Stadt, wo insgesamt ca. 60.000 Menschen leben. Die Ethnien leben meist getrennt voneinander (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019, S.12f). 47 % der Bevölkerung besteht aus intern Vertriebenen und Rückkehrern, wobei es sich hauptsächlich um ökonomische MigrantInnen handelt (EASO "Afghanistan Key socio-economic indicators - Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City", April 2019, S.14f). Da Stämme in Herat weniger Rolle spielen, ist es für MigrantInnen leichter, sich dort niederzulassen. Lt. IOM ist Herat am meisten von MigrantInnen betroffen. Daher ist Herat geprägt von sozialer Instabilität, inadäquatem Zugang zu Grundservices und es besteht ein begrenzter Zugang zum Arbeitsmarkt. Aufgrund der Dürre im Herbst 2018 kamen zusätzlich ca. 60.000 Personen aus dem Umfeld in die Stadt Herat (S.14f). Herat hat einen Flughafen, der außerhalb der Stadt, ca. 13 km nördlich des Zentrums liegt (S.21f).
Die Hälfte der Beschäftigten in Herat sind Tagelöhner (Handel, Bergbau und Handwerk). Herats Industrie wächst. Die Gefahr von Entführungen von Geschäftsleuten und deren Familienangehörigen durch Kriminelle, Energiemangel und Schwierigkeiten, im Wettbewerb mit Produkten aus dem Iran und dem Ausland zu konkurrieren, sowie steigende Arbeitslosigkeit, machen einen Aufschwung der Industrie unsicher (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019, S.28f). Familiennetzwerke sind lebensnotwendig für Rückkehrer, um Arbeit und Unterkunft zu finden. (S.29).
Stammeskonflikte spielen in Herat weniger eine Rolle, als die Konkurrenz um Arbeitsplätze, vor allem, da der Großteil der Rückkehrer als ungelernte Hilfskräfte arbeiten. Die Probleme der IDPs/Rückkehrer sind vor allem, so viel zu verdienen, dass sie sich Nahrung leisten zu können und Arbeitslosigkeit, mangelnde Ausbildung, Fähigkeiten und Kenntnisse, um eine Arbeit zu finden (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019, S. 30).
Herat ist relativ sicher, was Beschäftigung und Business-Möglichkeiten anbelangt, was die Stadt für Rückkehrer attraktiv macht. Herat kommt derzeit an die Grenze der Aufnahmekapazitäten, vor allem, weil viele Familien der Rückkehrer nachziehen. Shahrak Saadat wurde von der afghanischen Regierung im Jahr 2010 als Bezirk für Rückkehrer etabliert. Bisher wurde erst eine der geplanten 13 Phasen implementiert. Ca. 300 Familien bekamen Land und Häuser, davon sind nur noch 66 Familien dort. Es gibt viele leere Häuser, die von IDPs besiedelt werden. Es gibt dort Wasser und Strom, Schulen und medizinische Versorgung. Die Menschen wollen dort nicht leben, weil es weit weg von der Stadt Herat ist, es kaum Transportmöglichkeiten und es so gut wie keine Arbeitsmöglichkeiten dort gibt. Ein weiterer Bezirk ist Shegofan, der näher zur Stadt Herat gelegen ist. Auch dort gibt es Unterkunft, Wasser, Strom, Schulen und medizinische Versorgung. Dort leben IDPs und Rückkehrer samt ihren Familien. Es gibt dort einen Community Development Council (CDC), an welchem IDPs und Rückkehrer gemeinsam mit der Zivilbevölkerung von Herat teilnehmen, um deren Integration zu forcieren. Der Großteil der IDPs und Rückkehrer arbeitet als Gelegenheitsarbeiter, die Männer arbeiten am Bau, als Auf- und Abladearbeiter am Markt, Frauen arbeiten als Reinigungskräfte (EASO Bericht Sozio-Ökonomie 2019, S.30).
Laut Prognose des FEWS befindet sich Herat im Zeitraum Oktober 2019 bis Januar 2020 in der zweithöchsten Stufe (Phase 2) des Klassifizierungssystems für Nahrungsmittelversorgung. In Phase 2, auch "stressed" genannt, weisen Haushalte nur einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch auf und sind nicht in der Lage, sich wesentlich, nicht nahrungsbezogenen Güter zu leisten, ohne dabei irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden (ECOI.net Themendossier zu Afghanistan: Sicherheitslage und sozio-ökonomische Lage in Herat und Mazar-e Sharif vom 26.07.2019, 3.1.).
Zugang zum Gesundheitswesen ist in Herat auch für Arme möglich. Das Herat Regional Hospital liegt im Zentrum von Herat. Die große Anzahl der aufgrund der Dürre nach Herat drängenden IDPs ist eine Herausforderung für das Gesundheitswesen in Herat. Dies führte zu einer 150%igen Auslastung des Herat Regional Hospital. Das Jebrael Gesundheitszentrum im Nordwesten der Stadt stellte Gesundheitsversorgung für ca. 60.000 Menschen zur Verfügung. In Herat gibt es 65 private Kliniken. Trotzdem lassen sich viele Heratis im Ausland behandeln. Es gibt Möglichkeiten, sich kostenlos in zwei Spitälern wegen psychischer Krankheiten behandeln zu lassen. Auch ein privates Krankenhaus bietet Behandlung an, dies kostet ca. AFN 250 bis 450 (€ 3 bis € 5) pro Behandlung und AFN 1500 bis 6000 (€ 18 bis € 70) pro Nacht. In Herat gibt es auch eine vom Roten Kreuz geführte Psychiatrische Klinik. Dort sind etwa 300 Patienten untergebracht. Behinderte Menschen - geistig behinderte und körperlich Behinderte - sind in Herat unter den IDPS allgegenwärtig (S.50ff).
Seit dem Jahr 2011 steigen die Grundstückspreise in Herat, ausgelöst durch einen Bauboom, der teilweise aus Drogengeldern finanziert wurde. Nach 2014 sind die Preise um 20 % - 30 % gesunken. 61,3 % der Haushalte lebte im Jahr 2016 im eigenen Haus, 23,4 lebten in einer gemieteten Unterkunft. 92,1 % der Haushalte hatten verbesserte sanitäre Einrichtungen, 42,8 % lebten in Häusern mit Dächern aus Zement. In der Stadt Herat lebt ca. 5 % der Bevölkerung in Zelten. 81,2 % der Bevölkerung Herats hat Zugang zu Wasser. 90,7 % nutzt Elektrizität für Licht, 92,1 % hat verbesserte sanitäre Einrichtungen. 30 % haben Zugang zum Kanalisationssystem (04/2016 lt. APPRO). Herat hat kein zentrales Abwasserentsorgungssystem. Die Versickerung von Abwasser in das Grundwasser stellt ein großes Problem dar. Der Grundwasserspiegel ist gesunken und das Grundwasser ist verschmutzt. Der Großteil der Bevölkerung nutzt Trinkwasser aus der Leitung oder aus Brunnen. Innerhalb der sieben IDP Siedlungen in Herat sind lt. UNHCR die meisten 1- Raum Lehmhütten, die nicht ausreichenden Schutz vor den Elementen bieten. Eine große Anzahl der Familien lebt in Zelten, die noch weniger Schutz bieten. Zugang zu Wasser und sanitären Einrichtungen war in diesen Siedlungen lt. UNHCR eine Herausforderung. Viele Familien hatten keinen Zugang zu Latrinen und die meisten waren auf Gemeinschaftswasserzugänge für Wasser angewiesen, wo es Probleme mit Stau und der Wasserqualität gab. Bedingt durch die Dürre 2018 haben sich zusätzlich 60.000 Menschen in Herat angesiedelt. Dies führte zu einer Überbevölkerung der Camps in und um Herat. Viele dieser Menschen litten an Unterernährung und keines der Kinder aus diesen Verdrängungscamps besuchte die Schule (S.56)
1.5.12. Versorgung mit Nahrungsmitteln und Auswirkungen von Dürre und Überflutungen
Die Versorgung mit Lebensmitteln erweist sich - wie im Rest von Afghanistan - als grundsätzlich gegeben (EASO-Leitlinien 2019, Seite 132), ist aber den Einflüssen von Wetterextremen wie der im Jahr 2018 herrschenden Dürre (UNHCR RL 2018, Seite 35) ausgesetzt.
Nach schweren Regenfällen in 14 afghanischen Provinzen kamen mindestens 63 Menschen ums Leben. In den Provinzen Farah, Kandahar, Helmand, Herat, Kapisa, Parwan, Zabul und Kabul, wurden ca. 5.000 Häuser zerstört und 7.500 beschädigt. Dem Amt für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten der Vereinten Nationen (UN OCHA) zufolge waren mit Stand 19.3.2019 in der Provinz Herat die Distrikte Ghorvan, Zendejan, Pashtoon Zarghoon, Shindand, Guzarah und Baland Shahi betroffen. Die Überflutungen folgten einer im April 2018 begonnen Dürre, von der die Provinzen Badghis und Herat am meisten betroffen waren und von deren Folgen (z.B. Landflucht in die naheliegenden urbanen Zentren, Anm.) sie es weiterhin sind. Gemäß einer Quelle wurden in den beiden Provinzen am 13.9.2018 ca. 266.000 IDPs vertrieben: Davon zogen 84.000 Personen nach Herat-Stadt und
94.945 nach Qala-e-Naw, wo sie sich in den Randgebieten oder in Notunterkünften innerhalb der Städte ansiedelten und auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (LIB 04.06.2019, S. 18).
Aufgrund der Dürre 2018 wird die Getreideernte geringer ausfallen, als in den vergangenen Jahren. Da die Getreideernte in Pakistan und im Iran gut ausfallen wird, kann ein Defizit in Afghanistan ausgeglichen werden. Die Preise für Getreide waren im Mai 2018 verglichen zum Vormonat in den meisten großen Städten unverändert und lagen sowohl in Herat-Stadt als auch in Mazar-e Sharif etwas unter dem Durchschnitt der Jahre 2013-2017 (Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Afghanistan: Lage in Herat-Stadt und Mazar-e-Sharif auf Grund anhaltender Dürre, 13.9.2018, im Folgenden "ABSD Dürre", S. 3). Das Angebot an Weizenmehl ist relativ stabil (Anfragebeantwortung von ACCORD zu Afghanistan, Folge von Dürre in den Städten Herat und Mazar-e Sharif vom 12.10.2018 - im Folgenden "Accord Dürre", S. 8). Aufgrund der Dürre wurde bisher kein nationaler Notstand ausgerufen (ABSD Dürre, S. 11).
Für die Landflucht spielen die Sicherheitslage und die fehlende Beschäftigung eine Rolle. Durch die Dürre wird die Situation verstärkt, sodass viele Haushalte sich in städtischen Gebieten ansiedeln. Diese Personen - Vertriebene, Rückkehrer und Flüchtlinge - siedeln sich in informellen Siedlungen an (Accord Dürre, S. 2, S. 5). Dort ist die größte Sorge der Vertriebenen die Verfügbarkeit von Lebensmitteln, diese sind jedoch mit der Menge und der Regelmäßigkeit des Trinkwassers in den informellen Siedlungen und den erhaltenen Hygienesets zufrieden. Viele Familien, die Bargeld für Lebensmittel erhalten, gaben das Geld jedoch für Schulden, für Gesundheitsleistungen und für Material für provisorische Unterkünfte aus. Vielen Familien der Binnenvertriebenen gehen die Nahrungsmittel aus bzw. können sich diese nur Brot und Tee leisten (Accord Dürre, S. 6). Arme Haushalte, die von einer wassergespeisten Weizenproduktion abhängig sind, werden bis zur Frühjahrsernte sowie im nächsten Jahr Schwierigkeiten haben, den Konsumbedarf zu decken (Accord Dürre, S. 11). Es werden, um die Folgen der Dürre entgegen zu treten, nationale und internationale Hilfsmaßnahmen für die Betroffenen gesetzt (Accord Dürre, S. 17ff).
Die Abnahme der landwirtschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten zusammen mit der steigenden Migration sowie der hohen Anzahl an Rückkehrerin und Binnenvertriebenen führt zu einer Senkung der Löhne für Gelegenheitsarbeit in Afghanistan und zu einer angespannten Wohnraum- und Arbeitsmarktlage in urbanen Gebieten (Accord Dürre, S. 15f).
Von Mai bis Mitte August 2018 sind ca. 12.000 Familie aufgrund der Dürre aus den Provinzen Badghis und Ghor geflohen um sich in der Stadt Herat anzusiedeln. Diese leben am westlichen Stadtrand von Herat in behelfsmäßigen Zelten, sodass am Rand der Stadt Herat die Auswirkungen der Dürre am deutlichsten sind (ABSD Dürre, S. 5f). Mittlerweile sind 60.000 Personen nach Herat geflohen (Accord Dürre, S. 5). Es ist besonders die ländliche Bevölkerung, insbesondere in der Provinz Herat, betroffen (Accord Dürre, S. 7). Personen die von der Dürre fliehen, siedeln sich in Herat-Stadt, in Qala-e-Naw sowie in Chaghcharan an, dort wurden unter anderem Zelte, Wasser, Nahrungsmittel sowie Geld verteilt (ABSD Dürre, S. 10).
Während das Lohnniveau in Mazar-e Sharif weiterhin über dem Fünfjahresdurchschnitt liegt, liegt dieses in Herat-Stadt 17% unter dem Fünfjahresdurchschnitt (ABSD Dürre, S. 8). Es gibt keine signifikante dürrebedingte Vertreibung bzw. Zwangsmigration nach Mazar-e Sharif- Stadt (Accord Dürre, S. 3; ABSD Dürre, S. 1 und 3). Im Umland der Stadt Mazar-e Sharif kommt es zu Wasserknappheit und unzureichender Wasserversorgung (ABSD Dürre, S. 1).
Nach schweren Regenfällen in 14 afghanischen Provinzen kamen mindestens 63 Menschen ums Leben. In den Provinzen Farah, Kandahar, Helmand, Herat, Kapisa, Parwan, Zabul und Kabul, wurden ca. 5.000 Häuser zerstört und 7.500 beschädigt Die Überflutungen folgten einer im April 2018 begonnen Dürre, von der die Provinzen Badghis und Herat am meisten betroffen waren und von deren Folgen (z.B. Landflucht in die naheliegenden urbanen Zentren, Anm.) sie es weiterhin sind. Gemäß einer Quelle wurden in den beiden Provinzen am 13.9.2018 ca. 266.000 IDPs vertrieben: Davon zogen 84.000 Personen nach Herat-Stadt und 94.945 nach Qala-e-Naw, wo sie sich in den Randgebieten oder in Notunterkünften innerhalb der Städte ansiedelten und auf humanitäre Hilfe angewiesen sind (LIB 04.06.2019, S. 18).
1.5.13. Tadschiken
Die Dari-sprachige Minderheit der Tadschiken ist die zweitgrößte; und zweitmächtigste Gemeinschaft in Afghanistan. Sie machen etwa 30% der afghanischen Gesellschaft aus. Außerhalb der tadschikischen Kerngebiete in Nordafghanistan bilden Tadschiken in weiten Teilen Afghanistans ethnische Inseln, namentlich in den größeren Städten:
In der Hauptstadt Kabul sind sie knapp in der Mehrheit. Aus historischer Perspektive identifizierten sich Sprecher des Dari-Persischen in Afghanistan nach sehr unterschiedlichen Kriterien, etwa Siedlungsgebiet oder Herkunftsregion. Dementsprechend nannten sie sich zum Beispiel kaboli (aus Kabul), herati (aus Herat), mazari (aus Mazar-e Scharif), panjsheri (aus Pajshir) oder badakhshi (aus Badakhshan). Sie konnten auch nach ihrer Lebensweise benannt werden. Der Name tajik (Tadschike) bezeichnete traditionell sesshafte persischsprachige Bauern oder Stadtbewohner sunnitischer Konfession. Der Hauptführer der "Nordallianz", einer politisch-militärischen Koalition, ist Dr. Abdullah Abdullah dessen Mutter Tadschikin und dessen Vater Pashtune ist. Trotz seiner gemischten Abstammung, sehen ihn die Menschen als Tadschiken an. Auch er selbst identifiziert sich politisch gesehen als Tadschike, da er ein hochrangiger Berater von Ahmad Shah Masoud, war. Mittlerweile ist er "Chief Executive Officer" in Afghanistan; ein Amt, das speziell geschaffen wurde und ihm die Rolle eines Premierministers zuweist. Die Tadschiken sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 25% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert (LIB 04.06.2019, S. 324).
1.5.14. Medizinische Versorgung
Medizinische Behandlung ist in Afghanistan in großen Städten wie Mazar-e Sharif und Herat in öffentliche und privaten Krankenhäusern verfügbar. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Behandlung stark einkommensabhängig. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung (LIB 04.06.2019, S. 362-363).
1.5.15. Grundversorgung und Wirtschaft:
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist angespannt und die Arbeitslosigkeit ist hoch. Sogar für gut ausgebildete und gut qualifizierte Personen ist es schwierig ohne ein Netzwerk einen Arbeitsplatz zu finden, wenn man nicht empfohlen wird oder dem Arbeitgeber nicht vorgestellt wird. Vetternwirtschaft ist gang und gebe. Arbeitgeber bewerten persönliche Beziehungen und Netzwerke höher als formelle Qualifikationen. Es gibt lokale Webseiten, die offene Stellen im öffentlichen und privaten Sektor annoncieren. Die meisten Afghanen sind unqualifiziert und Teil des informellen, nicht-regulierten Arbeitsmarktes. Der Arbeitsmarkt besteht Großteiles aus manueller Arbeit ohne Anforderungen an eine formelle Ausbildung und spiegelt das niedrige Bildungsniveau wieder. In Kabul gibt es öffentliche Plätze, wo sich Arbeitssuchende und Nachfragende treffen. Viele bewerben sich, nicht jeder wird engagiert. Der Lohn beträgt für Hilfsarbeiter meist USD 4,3 und für angelernte Kräfte bis zu USD 14,5 pro Tag (EASO Bericht Afghanistan Netzwerke vom Januar 2018, Seite 29-31)
In Kabul und in großen Städten stehen Häuser und Wohnungen zur Verfügung. Es ist auch möglich an Stelle einer Wohnung ein Zimmer zu mieten. Dies ist billiger als eine Wohnung zu mieten. Heimkehrer mit Geld können Grund und Boden erwerben und langfristig ein eigenes Haus bauen. Vertriebene in Kabul, die keine Familienanbindung haben und kein Haus anmieten konnten, landen in Lagern, Zeltsiedlungen und provisorischen Hütten oder besetzen aufgelassene Regierungsgebäude. In Städten gibt es Hotels und Pensionen unterschiedlichster Preiskategorien. Für Tagelöhner, Jugendliche, Fahrer, unverheiratete Männer und andere Personen, ohne permanenten Wohnsitz in der jeweiligen Gegend, gibt es im ganzen Land Angebote geringerer Qualität, sogenannte chai khana (Teehaus). Dabei handelt es sich um einfache große Zimmer in denen Tee und Essen aufgetischt wird. Der Preis für eine Übernachtung beträgt zwischen 0,4 und 1,4 USD. In Kabul und anderen großen Städten gibt es viele solche chai khana und wenn ein derartiges Haus voll ist, lässt sich Kost und Logis leicht anderswo finden. Man muss niemanden kennen um dort eingelassen zu werden (EASO Bericht Afghanistan Netzwerke vom Januar 2018, Seite 29-31).
1.5.16. Rückkehrer
Im Jahr 2017 kehrten sowohl freiwillig, als auch zwangsweise insgesamt 98.191 Personen aus Pakistan und 462.361 Personen aus dem Iran zurück. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück. Im Jahr 2018 kehrten mit Stand
21.3. 1.052 Personen aus den an Afghanistan angrenzenden Ländern und nicht-angrenzenden Ländern zurück (LIB 04.06.2019, S. 371).
Die International Organization for Migration (IOM) gewährt seit April 2019 keine temporäre Unterkunft für zwangsrückgeführte Afghanen mehr. Diese erhalten eine Barzuwendung von ca. 150 Euro sowie Informationen über mögliche Unterkunftsmöglichkeiten. Gemäß dem Europäischen Auswärtigen Amt (EAD) nutzten nur wenige Rückkehrer die Unterbringungsmöglichkeiten von IOM (LIB 04.06.2019, S. 16).
Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung, wo Rückkehrer/innen für maximal zwei Wochen untergebracht werden können (LIB 04.06.2019, S. 371f.).
Die Organisationen IOM, IRARA, ACE und AKAH bieten Unterstützung und nachhaltige Begleitung bei der Reintegration einschließlich Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung oder Schulungen an. NRC bietet Rückkehrer/innen aus Pakistan, Iran und anderen Ländern Unterkunft sowie Haushaltsgegenstände und Informationen zur Sicherheit an und hilft bei Grundstücksstreitigkeiten. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) unterstützt Rückkehrer/innen dabei, ihre Familien zu finden. Hilfeleistungen für Rückkehrer/innen durch die afghanische Regierung konzentrieren sich auf Rechtsbeistand, Arbeitsplatzvermittlung, Land und Unterkunft. Seit 2016 erhalten Rückkehr/innen Hilfeleistungen in Form einer zweiwöchigen Unterkunft (LIB 04.06.2019, S. 373-374). UNHCR ist bei der Ankunft von Rückkehrer/innen anwesend und begleitet die Ankunft (LIB 04.06.2019, S. 374).
Die Großfamilie ist die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Nur sehr wenige Afghanen in Europa verlieren den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migranten in Afghanistan dar. Dennoch haben alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen (LIB 04.06.2019, S. 375f.).
Familien in Afghanistan halten in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren (LIB 04.06.2019, S. 376).
Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden (LIB 04.06.2019, S. 376).
Afghanistan hat kein zentrales Bevölkerungsregister, ebenso wenig "gelbe Seiten" oder Datenbanken mit Telefonnummerneinträgen. Dennoch gibt es Mittel und Wege, um Familienmitglieder ausfindig zu machen. Das Dorf, aus dem jemand stammt, ist der naheliegende Ort, um eine Suche zu starten. Die lokalen Gemeinschaften verfügen über zahlreiche Informationen über die Familien in dem Gebiet und die Ältesten haben einen guten Überblick (LIB 04.06.2019, S. 351-352).
2. Beweiswürdigung:
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt, durch Einvernahme des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung und durch Einsichtnahme in die zum Akt genommenen und in das Verfahren eingebrachten Unterlagen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation über Afghanistan vom 29.06.2018 mit Aktualisierung vom 04.06.2019; UNHCR - Richtlinien zur Beurteilung internationaler Schutzbedürftigkeit von AsylwerberInnen aus Afghanistan (Entwicklungen in Afghanistan;
Sicherheitslage; Auswirkungen des Konflikts auf ZivilistInnen;
Menschenrechtslage; humanitäre Lage; Risikoprofile; interne Fluchtalternative; Ausschlussgründe; etc.) vom 30.08.2018; Leitfaden zur Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Afghanistan, UNHCR Österreich, November 2018; EASO-Leitlinien zu Afghanistan (EASO Country Guidance: Afghanistan Guidance Note and Common Analysis) vom Juni 2019 (nur auf Englisch verfügbar); Ecoi Themendossie