Entscheidungsdatum
31.10.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W178 2191841-1/14E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch Richterin Dr.in Maria PARZER über die Beschwerde des Herrn XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch RA Dr. Joachim RATHBAUER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 14.03.2018, 1098947808-151993914, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 04.07.2019 und 31.07.2019 zu Recht erkannt:
A)
I. Der Beschwerde zu Spruchpunkt I wird stattgegeben und Herrn XXXX gemäß § 3 Abs 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs 5 AsylG wird festgestellt, dass Herr XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
II. Die Spruchpunkte II bis VI werden aufgehoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der unter Umgehung der Grenzkontrollen ins Bundesgebiet eingereiste Bf stellt am 14.12.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Einvernahme vor der Polizei gab er neben seinen Personalien an, dass er für die deutsche Organisation "Mediothek" gearbeitet habe, die Taliban hätten diese als Ungläubige bezeichnet und ihn aufgefordert zu kündigen oder er werde getötet.
2. Der Bf hat sich nach Deutschland begeben und wurde am 15.09.2017 von dort nach Österreich rückverstellt.
3. Bei der Einvernahme vor dem BFA am 24.01.2018 ergänzte er seine Familiensituation und gab an, dass er 2 Probleme habe: Einerseits werde er vom früheren Verlobten seiner Frau bedroht, weil sie mit ihm geflohen sei und er habe deswegen auch Probleme mit den Eltern seiner Frau. Andererseits sei er von den Taliban als Spion betrachtet worden; in der Zeit seiner Arbeit für die "Mediothek" habe er im Dorf Halgakul, Distirikt Qala- Zal, übernachtet; in dieser Nacht sei ein Kommandant der Taliban von den Regierungstruppen verhaftet worden. Er sei vom Dorfältesten nach seiner Abreise angerufen worden, dass die Taliban und die Familien der Taliban ihn der Zusammenarbeit mit der Regierung und der Spionage für sie verdächtigen. Sein Vorgesetzter in der "Mediathek" habe Abdullah Rasuly geheißen.
Im Distrikt Iskamesh (Provinz Tachar) sei er vom lokalen Polizeikommandanten mit dem Tode bedroht worden, weil er sich geweigert hat, diesem einen Teil der Hilfsgüter abzugeben. Er habe die Vorfälle seinem Nachbar, einem Kommandanten der lokalen Sicherheitsbehörden erzählt; dieser habe ihm versichert, dass ihm nichts Schlimmes geschehe, solange er lebe. Kurz vor seiner Ausreise sei dieser bei einer Explosion getötet worden und die Taliban seien in 2 Nachbardörfer gekommen; daraufhin habe er das Land verlassen.
4. Mit Bescheid vom 14.03.2018 wurde der Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberichtigten abgewiesen, auch der Antrag hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten wurde abgewiesen, ein Aufenthaltstitel nach den §§ 57 und 55 AsylG 2005 wurde nicht erteilt und gemäß § 10 AsylG 2005 i.V.m. § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt dass die Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Es wurde eine Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise gestellt. Zur Begründung wurde angeführt, dass das Fluchtvorbringen nicht glaubhaft sei. Weiters sei von keiner gültigen Ehe auszugehen. Hinsichtlich der Ablehnung des subsidiären Schutzes wird angeführt, dass der Bf jung, gesund und gebildet sei und Verwandte in Afghanistan habe.
In den Heimatprovinzen Kunduz und Tahkar liege eine relative Gefährdungslage vor, eine interne Fluchtalternative in Herat sei zumutbar.
5. In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde wird vorgebracht, dass die Behörde keine Ermittlungen zu seinen Fluchtgründen getätigt habe. Er habe- entgegen der Ausführungen im Bescheid- sehr wohl Örtlichkeiten und Namen seiner Tätigkeit geschildert. Die Bedrohung gehe vom ehemaligen Verlobten und von den Eltern seiner Partnerin aus. Er habe weder in Kabul noch in Herat soziale und wirtschaftliche Anknüpfungspunkte. Außerdem sei Afghanistan nicht sicher (unter Anschluss eines Berichtes). Allein schon die Anreise nach Herat sei lebensgefährlich.
6. Am 04.07.2019 und am 31.07.2019 fanden vor dem BVwG mündliche Verhandlungen statt; der Bf wurde einvernommen, es wurde umfassende ergänzende Unterlagen vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers (Bf)
Der Bf, geboren am XXXX , stammt aus der Provinz Takhar, XXXX , Dorf XXXX und hat zuletzt mit seiner Partnerin (im Verfahren an manchen Stellen als Frau bezeichnet) und den 3 minderjährige Kindern in der Provinz Kunduz, Distrikt XXXX , in einem Haus zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern gelebt. Er hat 4 Brüder und 3 Schwestern.
Er gehört der Volksgruppe der Usbeken an, mit sunnitischem Glaubensbekenntnis, seine Partnerin ist Tadschikin.
Der Bf und seine Partnerin XXXX sind ohne Vermittlung und Zustimmung der Eltern eine Partnerschaft eingegangen; sie haben 2007 ohne formale Zeremonie, ohne Mullah, begonnen, in einer der Ehe entsprechenden Form in Afghanistan bis zur Ausreise des Bf 2015 als Familie zusammengelebt. es wurde nach Vollzug der von Zeugen nachträglich als Ehe bezeichneten Gemeinschaft (vgl. Unterlagen, die in der mündlichen Verhandlung vorgelegt wurden) eine Mitgift an die Brauteltern entrichtet. In der Gesellschaft gelten sie als Ehepaar.
Aus der Ehe sind 3 Kinder (2 Söhne, 1 Tochter) hervorgegangen, sie sind derzeit 10, 8 und 6 Jahre alt.
In diesem Verfahren ist nicht endgültig zu prüfen, ob die Ehe nach afghanischem Recht gültig ist, vgl. dazu unter 3.
Die Familie des Bf (Partnerin XXXX , Eltern, Kinder) lebt derzeit im Iran. Nach der Zerstörung des Hauses der Familie im Dorf XXXX aufgrund von Kampfhandlungen nach Einnahme durch die Taliban war die Familie in die Stadt Kunduz gezogen. Von dort sind sie in den Iran ausgereist. Ein Bruder, der bei der afghanischen Armee war, und ein weiterer Bruder leben derzeit in der Türkei. Im Iran leben noch 3 Schwestern und 2 Brüder. Der Bf hat noch 3 Onkeln und Tanten mütterlicherseits, die in Afghanistan leben.
Der Bf hat 12 Jahre Schulbildung.
Der Bf hat von 2010 bis 2015 für die deutsche NGO "Mediothek Afghanistan" im Büro in Kunduz -Stadt gearbeitet. Vorher hat er ein Jahr als Angestellter bei einem Projekt für die Alphabetisierung von Frauen und Kindern gearbeitet, dort hat er auch seine Frau kennengelernt. Er hat in verschiedenen Dörfern der Provinz Kunduz, Takhar und Nachbarprovinzen an Flüchtlinge, die aus dem Iran oder Pakistan zurückgekommen sind bzw. an Binnenflüchtlinge Hilfsgüter verteilt und an der Schaffung von Unterkünften für diese Personen mitgearbeitet. Zur Tätigkeit der NGO, vgl. http://mediothek-afghanistan.org. Er hat in diesem Zusammenhang mit den Verantwortlichen in den Dörfern zusammengearbeitet.
Während eines Übernacht-Aufenthaltes in einem Dorf wurde ein Talibanführer in diesem Dorf festgenommen, der Bf und seine Organisation wurden als "Spion" dafür verantwortlich gemacht. Diese Information erhielt der Bf von seinen Kontaktpersonen im Dorf als er sich nicht mehr dort aufhielt. Die Taliban bzw. deren Familien, die im Dorf wohnen, drohten ihn zu ermorden. Der mit ihm in Kontakt stehende Mullah hat ihm davon abgeraten, wieder in diese Gegend zu fahren. Die Organisation hat ihm geraten, nicht mehr in dieses Gebiet zu fahren.
Ein Job bei der Organisation in einer anderen Provinz war nicht verfügbar.
Weiters hat ein Kommandant der Sicherheitskräfte der Regierung vom Bf seinen Anteil an den Hilfsgütern eingefordert. Da der Bf nicht kooperieren wollte, wurde er bedroht.
Ein Bekannter und Nachbar des Bf wurde in dieser Zeit getötet (Bombe).
Bedrohungshandlungen durch die Familie seiner Partnerin konnte nicht festgestellt werden.
1.3 Zur maßgeblichen Lage in Afghanistan: Länderfeststellungen
1.3.1 Vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt mit 04.06.2019, Seite 160 ff (kurz LIB, S 160) -
Zur Provinz Kunduz, Kapitel 3.19
Kunduz liegt 337 km nördlich von Kabul und grenzt an die Provinzen Takhar im Osten, Baghlan im Süden, Balkh im Westen und Tadschikistan im Norden (NPS o.D.; vgl. Pajhwok o.D.a). Die Provinz hat folgende Distrikte: Imam Sahib/Emamsaheb, Dasht-e-Archi, Qala-e-Zal, Chahar Dara/Chardarah, Ali Abad/Aliabad, Khan Abad/Khanabad und Kunduz; die Hauptstadt ist Kunduz- Stadt (Pajhwok o.D.b; vgl. UN OCHA 4.2014). Gemäß einer Quelle wurden vor zwei Jahren in der Provinz drei neue Distrikte gegründet: Atqash, Gultapa, Gulbad (Pajhwok 11.2.2018).
Auch ist die Provinzhauptstadt Kunduz-Stadt etwa 250 km von Kabul entfernt (Xinhua 7.7.2017). Als strategischer Korridor wird Kunduz als bedeutende Provinz in Nordafghanistan erachtet - Sher Khan Bandar, die Hafenstadt am Fluß Pandsch, an der Grenze zu Tadschikistan, ist beispielsweise von militärischer und wirtschaftlicher Bedeutung (Khabarnama 22.8.2016; vgl. Pajhwok 2.1.2018, AN 21.12.2017).
Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.049.249 geschätzt (CSO 4.2017). In der Provinz leben Paschtunen, Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Hazara und Paschai (NPS o.D.). Strategisch wichtig ist die Stadt Kunduz nicht nur für Afghanistan (DW 30.9.2015; vgl. Xinhua 7.7.2017), denn Kunduz war bis zum Einmarsch der US-Amerikaner im Jahr 2001 die letzte Hochburg der Taliban (RFE/RL 9.2015). Wer die Stadt kontrolliert, dem steht der Weg nach Nordafghanistan offen. Kunduz liegt an einer wichtigen Straße, die Kabul mit den angrenzenden nördlichen Provinzen verbindet (DW 30.9.2015). Kunduz-Stadt ist eine der größten Städte Afghanistans und war lange Zeit ein strategisch wichtiges Transportzentrum für den Norden des Landes. Kunduz ist durch eine Autobahn mit Kabul im Süden, Mazar-e Sharif im Westen, sowie Tadschikistan im Norden verbunden (BBC News 3.10.2016). Die Regierung plant u.a. die Turkmenistan-Afghanistan-Tadschikistan-Eisenbahnlinie, die Andkhoy, Sheberghan, Mazar-e- Sharif, Kunduz und Sher Khan Bandar verbinden und als Anbindung an China über Tadschikistan dienen soll (TD 5.12.2017).
Um Ordnung und Normalität in die Stadt Kunduz zu bringen, hat die Kommunalverwaltung im Februar 2018 eine Massenaufräum-Aktion gestartet. Ebenso wurden weitere Projekte implementiert: im Rahmen dieser werden Landstraßen und Wege gewartet, vier neue Parks errichtet - die insbesondere von Frauen und Kindern genutzt werden sollen, etc. Diese Projekte führten zusätzlich zur Schaffung von 550 Jobs - auch für Frauen. Das Erscheinungsbild der Stadt hat sich u.a. aufgrund der Errichtung von Straßenbeleuchtung verbessert (Tolonews 17.2.2018).
In Kunduz gibt es zahlreiche Unternehmen, die verschiedene Produkte wie Fruchtsäfte, Klopapier, Taschentücher und Sojabohnen produzieren. Die Sicherheitslage hatte mit Stand März 2017 jedoch negative Auswirkungen auf das wirtschaftliche Wachstum in der Provinz (UNAMA 26.3.2017).
In der Provinz wird ein Projekt im Wert von 9.5 Mio. USD für den Ausbau der ANA Infrastruktur [Anmerkung: der Infrastruktur der Afghan National Army] implementiert (SIGAR 30.1.2018).
Kunduz gehörte im November 2017 zu den Opium-freien Provinzen Afghanistans (UNODC 11.2017).
Kunduz zählt zu den relativ volatilen Provinzen Afghanistans, in der Aufständische aktiv sind (AJ 4.10.2017; vgl. Khaama Press 15.8.2017, Reuters 22.7.2017, Tolonews 24.5.2017). In den Jahren 2015 und 2016 fiel Kunduz-Stadt jeweils einmal an Taliban-Aufständische (Xinhua 8.7.2017); die Stadt konnte in beiden Fällen von den afghanischen Streitkräften zurückerobert werden (BBC 4.10.2016; vgl. Reuters 1.10.2015, NYT 14.1.2018, UNAMA 26.3.2017). Das deutsche Militär hat einen großen Stützpunkt in der Provinz Kunduz (Gandhara 7.3.2018; vgl. SZ 7.3.2018). Während des Jahres 2017 sank die Anzahl der zivilen Opfer in Folge von Bodenoffensiven u.a. in der Provinz Kunduz; ein Grund dafür war ein Rückgang von Militäroffensiven in von Zivilist/innen bewohnten Zentren durch die Konfliktparteien (UNAMA 2.2018).
Im Februar 2018 berichteten einige Quellen, die Sicherheitslage in der Provinzhauptstadt Kunduz hätte sich sehr verbessert; den Einwohnern in Kunduz-Stadt sei es aufgrund der Beleuchtung zahlreicher Straßen möglich, auch nachts in der Stadt zu bleiben (Tolonews 26.2.2018; vgl. Tolonews 17.2.2018).
Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 225 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die folgende Darstellung der Staatendokumentation veranschaulicht werden sollen:
Im gesamten Jahr 2017 wurden 377 zivile Opfer (93 getötete Zivilisten und 284 Verletzte) in der Provinz Kunduz registriert. Hauptursache waren Bodenangriffe, gefolgt von IEDs und gezielten Tötungen. Dies bedeutet einen Rückgang von 41% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Aufgrund von Terrorbekämpfungsoperationen in der Provinz sind zahlreiche Familien nach Kunduz-Stadt vertrieben worden (Pajhwok 23.1.2018; vgl. Pajhwok 20.1.2018).
Nach dem US-amerikanischen Luftangriff auf das Médecins Sans Frontières (MSF)-Krankenhaus im Jahr 2015 wurde im Juli 2017 wieder eine Klinik von MSF in Kunduz-Stadt eröffnet (AJ 4.10.2017; vgl. Reuters 22.7.2017).
Militärische Operationen in der Kunduz
In der Provinz werden militärische Operationen durchgeführt, um bestimmte Gegenden von Aufständischen zu befreien (Pajhwok 23.1.2018; vgl. Pajhwok 20.1.2018, Tolonews 25.10.2017, Xinhua 24.9.2017, Khaama Press 22.1.2017, Z News 12.1.2017, Khaama Press 9.1.2017). Auch werden regelmäßig Luftangriffe durchgeführt (LWJ 27.1.2018; vgl. Khaama Press 20.1.2018, Xinhua 14.2.2018, Khaama Press 7.6.2017, TG 4.11.2017, Tolonews 18.10.2017); dabei werden Aufständische - u.a. tadschikische Kämpfer - (Khaama Press 7.6.2017) und manchmal auch Talibankommandanten getötet (Xinhua 14.2.2018). Manchmal werden Talibankämpfer (Xinhua 4.3.2018) verhaftet. In der Provinz kommt es zu Zusammenstößen zwischen den Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften (UNGASC 27.2.2018; vgl. Pajhwok 23.2.2018, NYT 16.1.2018, Khaama Press 27.1.2018, Khaama Press 15.8.2017, Tolonews 4.7.2017).
Regierungsfeindliche Gruppierungen in Kunduz
Talibankämpfer, insbesondere Mitglieder der "Red Unit", einer Taliban-Einheit, die in
zunehmendem Ausmaß Regierungsstützpunkte angreift, sind in der Provinz Kunduz aktiv (NYT 16.1.2018; vgl. AT 17.1.2018; NYT 14.11.2017). Einige Distrikte, wie Atqash, Gultapa und Gulbad, sind unter Kontrolle der Taliban (Pajhwok 11.2.2018). Auch in Teilen der Distrikte Dasht-e-Archi und Chardarah sind Talibankämpfer zum Berichtszeitpunkt aktiv (UOL 9.3.2018; Pajhwok 16.1.2018; Xinhua 14.2.2018, Tolonews 25.10.2017, Xinhua 24.9.2017).
Im Zeitraum 1.1.2017 - 15.7.2017 wurden IS-bezogene Sicherheitsvorfälle registriert, während zwischen 16.7.2017 - 31.1.2018 keine sicherheitsrelevanten Ereignisse mit Bezug auf den IS gemeldet wurden (ACLED 23.2.2018).
1.3.2 LIB, Kap. 3.31 Takhar
Takhar grenzt im Nordosten an die Provinz Badakhshan - Kunduz liegt im Westen, Baghlan im Süden und im Norden grenzt Takhar an Tadschikistan. Die Provinz hat folgende Distrikte: Warsaj, Farkhar, Khawaja Ghar, Khawajah Bahawodin/Khwaja Bahauddin, Baharak, Hazar Sumuch, Dashti Qala, Yangi Qala, Chahab, Rustaq, Bangi, Ishkamish, Kalafgan, Chal, Namakab und Darqad/Durqad; Taluqan ist die Hauptstadt (Pajhwok o.D.aa; vgl. UN OCHA 4.2014). Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.017.575 geschätzt (CSO 4.2017).
Die Provinz Takhar ist für Landwirtschaft besonders geeignet (Pajhwok o.D.aa). Takhar zählt zu den für ihre Früchte berühmten Provinzen: Angebaut werden Granatäpfel und Birnen (UNDP 16.1.2017) sowie auch Zitronen (Pajhwok 19.1.2016).
Es existiert eine Autobahn, die Kunduz und Takhar verbindet (Pajhwok 21.2.2017; vgl. Tolonews 12.5.2017); ebenso gibt es einen Bus, der zwischen Takhar und Kabul verkehrt (Planet Biometrics 14.2.2017).
Die Provinz Takhar behält auch im Jahr 2017 den opiumfreien Status, den sie seit dem Jahr 2008 hat. Kleinere Mengen an Mohnanbau (unterhalb der Grenze von 100 Hektar) wurden beobachtet.
Nichtsdestotrotz, wurden 15 Hektar an Mohnanbauflächen zerstört (UNODC 11.2017).
Allgemeine Information zur Sicherheitslage
Im Februar und März 2018 wurde verlautbart, dass Takhar zu den relativ volatilen Provinzen in Nordostafghanistan zählt, in der oft Aktivitäten von Aufständischen und Zusammenstöße zwischen afghanischen Sicherheitskräften und Rebellen registriert werden (Khaama Press 11.2.2018; vgl. Khaama Press 8.3.2018, Ansar 9.3.2018). Noch im Juni und Oktober 2017 zählte Takhar zu den relativ ruhigen Provinzen, in der, seit dem Fall des Talibanregimes, nur selten Aktivitäten von Aufständischen, registriert wurden. Dennoch haben aufständische Gruppierungen ihre Aktivitäten in der Provinz in den letzten Jahren erhöht. Auch grenzt die Provinz Takhar an gewisse unruhige Provinzen des nördlichen Afghanistan - Aufständische reisen über Takhar, um in andere Provinzen zu gelangen und dort aktiv zu werden (KhaamaPress 22.10.2017; vgl. Khaama 23.6.2017). Manchmal finden in der Provinz Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte statt (Pajhwok 9.3.2018; vgl. 25.4.2017).
Im Zeitraum 1.1.2017-30.4.2018 wurden in der Provinz 77 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die folgende Darstellung der Staatendokumentation veranschaulicht werden sollen:
Im gesamten Jahr 2017 wurden 98 zivile Opfer (36 getötete Zivilisten und 62 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von Blindgängern/Landminen und Luftangriffen.
Dies bedeutet einen Rückgang von 8% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Militärische Operationen in Takhar
Militärische Operationen werden in der Provinz durchgeführt (Khaama Press 11.2.2018; vgl.Pajhwok 10.2.2018, Xinhua 11.2.2018, Pajhwok 6.2.2018, Khaama Press 23.6.2017, ST 20.6.2017); manchmal werden hochrangige Anführer der Taliban getötet (Xinhua 11.2.2018; vgl. Khaama Press 23.6.2017, Khaama Press 22.4.2017); Aufständische werden getötet und
festgenommen (Pajhwok 11.2.2018; ST 20.6.2017). Luftangriffe bei denen auch Taliban getötet werden, werden ebenso durchgeführt (MD 26.3.2018; vgl. RFE/RL 6.3.2018, Tolonews 11.2.2018).
Zusammenstöße zwischen den Sicherheitskräften und Aufständischen finden in der Provinz statt (Xinhua 17.3.2018; vgl. SS 11.3.2018, Tolonews 9.3.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen in Takhar
Aufständische der Taliban sind in gewissen Distrikten der Provinz aktiv (FNA 9.3.2018; vgl.
Khaama Press 11.2.2018, Tolonews 20.3.2018). Die Taliban haben auf etwa 40 Hektar Land (100 Acker) im Distrikt Darqad eine Siedlung errichtet, die u. a. mit Wohnungen, Gesundheitszentren und Geschäften ausgestattet ist (Pajhwok 24.1.2018). Die Siedlung ist unter dem Namen "Omari Town" bekannt gewesen (1TV News 8.2.2018). Die Taliban verlautbarten, der Distrikt Darqad sei ihr Zentrum in der Gegend (SW 7.10.2017). Im Februar 2018 wurde bekannt gegeben, dass die Region wieder unter Kontrolle der afghanischen Sicherheitskräfte sei (FN 13.2.2018; vgl. 1TV News 8.2.2018). Eine weitere Siedlung der Taliban soll im Distrikt Khawajah Bahawodin errichtet werden (Pajhwok 8.10.2017; vgl. SW 7.10.2017). Für den Zeitraum 1.1.2017 - 31.1.2018 wurden keine IS-bezogenen Vorfälle in der Provinz Takhar registriert (ACLED 23.2.2018).
1.3.3 Norweg. Landinfo report Afghanistan, Taliban¿s Intelligence and intimidation campaign, Stand August 2017, Arbeitsübersetzung des BFA), Kap. 4,
Identifizierung von Zielpersonen zur Einschüchterung und Tötung
Insbesondere die Einschüchterung und Identifizierung von Zielpersonen durch die Taliban hängt stark von den Resultaten ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit ab. Hierbei ist jedoch zu beachten, dass Einschüchterung und Verfolgung nur eine von vielen Aufgaben der Nachrichtendienste sind. Die Taliban-Interviewpartner beschrieben die Aufgaben der Nachrichtendienste wie folgt: Tätigkeit für alle Bereiche der Taliban-Bewegung, Grundlagen für künftige Operationen legen und Gefahren seitens des Feindes abwehren, u.a. durch die Entlarvung feindlicher Informanten. Sie untersuchen auch verdächtige Kollaborateure der Regierung und wählen die Zielpersonen aus der schwarzen Liste aus, die auf die Abschussliste gesetzt werden sollen (dies ist eine Teilmenge der schwarzen Liste, mit denjenigen, die zur Tötung frei gegeben wurden). Eine Ausnahme bildet hier der Nachrichtendienst von Quetta, der nicht zu einer Militär-Kommission gehört und soweit berichtet wurde, keine Zielpersonen auswählt. Außerdem sollen die Dienste ein Auge auf Taliban haben, die sich danebenbenehmen, wenn es also zu Übergriffen gegen die Bevölkerung und Korruption kommt.
Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach 'fehlverhalten':
a) Politische Feinde: die Anführer und wichtigsten Mitglieder der Parteien und Gruppen, die den Taliban feindlich gesinnt sind; dazu gehören beispielsweise
b) Regierungsbeamte und Mitarbeiter westlicher und anderer 'feindlicher' Regierungen - alle Zivilisten, die für die Regierung oder für westliche diplomatische Vertretungen und andere Einrichtungen arbeiten;
c) Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges;
....
f) Kollaborateure der afghanischen Regierung - praktisch jeder, der der Regierung in irgendeiner Weise hilft;
g) Kollaborateure des ausländischen Militärs - praktisch jeder, der den ausländischen Streitkräften in irgendeiner Weise hilft;
h) Auftragnehmer der afghanischen Regierung;
i) Auftragnehmer anderer Länder, die gegen die Taliban sind;
j) Dolmetscher, die für feindliche Länder arbeiten;
k) Personen jeder Art, die die Taliban in irgendeiner Weise für nützlich oder notwendig für ihre Kriegsführung erachten, die die Zusammenarbeit verweigern.
Diese Kategorien von Zielpersonen beinhalten eine Reihe von Gruppen, die sich nur schwer genau quantifizieren lassen, aber es dürften mit aller Wahrscheinlichkeit insgesamt mehr als eine Million Menschen sein (die Sicherheitskräfte sind zirka 400.000 bis 450.000 Mann stark, ferner hat die Regierung über 500.000 zivile Mitarbeiter, dazu kommen noch zehntausende von Auftragnehmern).
Anschläge gegen die genannten Personengruppen gibt es seit den Anfängen des Aufstandes (2002). In der Tat war die Ermordung einzelner 'Kollaborateure' 2002-2004, als ihr militärisches Potenzial noch schwach war, die wesentliche Aktivität der Taliban. 2005-2007 begannen die Taliban großangelegte militärische Operationen und die gezielten Morde verloren etwas an Bedeutung. Ab 2007 mussten die Taliban vermehrt Einschüchterungstaktiken anwenden, als sie dem vermehrten militärischen Druck durch die ausländischen Streitkräfte (ISAF) ausgesetzt waren. Eine asymmetrische Taktik sollte die Konsolidierung der Kabuler Regierung verzögern bzw. verhindern.
Mit dem Abzug eines Großteils der ausländischen Streitkräfte im Laufe des Jahres 2014 verschoben sich die Prioritäten für die Taliban wiederum. 2014, als die ausländischen Kräfte kaum noch an den Kampfhandlungen teilnahmen, zeigten die Unterlagen der UNAMA über die zivilen Opfer von gezielten Ermordungen durch die Taliban einen leichten Rückgang um 3,6%, dies war der erste Rückgang seit Beginn der Erhebungen durch die UNAMA 2008. 2015 schnellte die Zahl dann wieder um 10,4% nach oben, 2016 fiel sie stärker als jemals zuvor, um 27,3% (Tabelle 1 unten). Da die Taliban nach übereinstimmenden Berichten zu diesem
Zeitpunkt ihre Operationen ausweiteten und weite Gebiete unter ihre Kontrolle brachten, ist dieser Rückgang sicherlich nicht darauf zurückzuführen, dass sie dazu weniger in der Lage gewesen wären, sondern vielmehr auf einen anderen Fokus und eine Änderung der Strategie: man war weniger daran interessiert, die afghanische Regierung zu unterminieren, als daran, sie direkt zu stürzen. Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass viele der 'Kollaborateure', die sich schutzlos fühlten, aus diesen gefährdeten Gebieten flohen und die Taliban somit keine leichten Ziele mehr hatten.
Außer den Personen in den oben genannten Kategorien a), d), e) und
k) bieten die Taliban allen Personen, die sich 'fehlverhalten' die Chance, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Personen in den Kategorien a), d), e) und k) haben allein schon durch die Zugehörigkeit zu dieser Kategorie, Verbrechen begangen, im Gegensatz zu einer Tätigkeit als Auftragnehmer. Dies sehen die Taliban nur dann als Verbrechen an, wenn der Auftragnehmer die Warnungen der Taliban in den Wind schlägt. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperation an die Taliban zu binden. Die Personen der Kategorien b), c), f), g), h), i) und j) können einer 'Verurteilung' durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlichen 'feindseligen' Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen.
Im Laufe der Jahre haben die Taliban eine ausgeklügelte Organisation für ihre nachrichtendienstliche Tätigkeit entwickelt. Die Dienste beschäftigen insgesamt fast 6.000 qualifizierte Mitarbeiter (unter Einschluss der Rasool Shura) und eine Vielzahl von bezahlten und unbezahlten Informanten. Gleichzeitig wirkte sich die zunehmende Zersplitterung der Taliban negativ auf die Entwicklung ihrer nachrichtendienstlichen Tätigkeit aus. Mit Ausnahme der Rasool Shura, haben die anderen Bestandteile der Taliban-Bewegung einen Mechanismus für den Informationsaustausch eingeführt, daher funktioniert das System zur Einschüchterung und Verfolgung von Zielpersonen der Taliban weiterhin landesweit, wenngleich nicht unbedingt immer reibungslos.
1.3.4 Norweg. Landinfo, 23.08.2017), Arbeitsübersetzung BFA, Afghanistan: Organisation und Struktur der Taliban, Kapitel 7 (S.17ff.): Das Verhältnis der Taliban zur Bevölkerung
Die Taliban wenden eine Kombination von Zwang und Kooptierung an, um sich die Gunst der Lokalbevölkerung zu sichern. Taliban-feindliche Elemente und Kollaborateure der Regierung werden im Regelfall ermahnt, sich zu bessern oder mit den Taliban zu kooperieren; nach mindestens drei erfolgten Ermahnungen können sie von den Taliban auf die schwarze Liste gesetzt werden. Das Töten von feindlichen Elementen und Kollaborateuren dient als Exempel und soll eine Einschüchterungswirkung entfalten: Die Taliban dotieren ungenügende Ressourcen für gezielte Maßnahmen gegen alle, die sie als Kollaborateure einstufen (derer gibt es nahezu eine Million), doch versuchen sie offensichtlich, die Zentralregierung durch Angstpropaganda zu untergraben und die Menschen davon zu überzeugen, sich für den friktionsfreieren Weg einer Zusammenarbeit mit den Taliban zu entscheiden.
Die Taliban wissen, dass sie mit der afghanischen Regierung nicht konkurrieren können, wenn es um Leistungen für die Bevölkerung und wirtschaftliche Entwicklung geht. Vor allem in entlegenen Gebieten gibt es Bevölkerungssegmente, die entweder von allen positiven Folgen der internationalen Intervention in Afghanistan nach dem Jahr 2001 ausgeschlossen waren, oder deren negative Folgen zu spüren bekommen. Die Masse der Bevölkerung in Gebieten, die vom zunehmenden Wohlstand im Zeitraum 2002 bis 2014 profitierten, sieht die Taliban jedoch als potentielle Bedrohung, die den Zugang zu diesem Wohlstand abschneiden könnte. Ohne eine zumindest indirekte Androhung von Zwang wäre es den Taliban nicht möglich gewesen, ihre sozialen Kontrollmaßnahmen durchzusetzen. In der Zeit nach 2014, als die Regierung zusehends nicht mehr in der Lage war (direkt oder indirekt), Wirtschaftswachstum und Leistungen für die Bevölkerung sicherzustellen, wurde es für die Taliban immer weniger notwendig, Zwang auszuüben.
Die lokalen Talibanmilizen spielen eine Schlüsselrolle in der Vernetzung der Taliban mit den lokalen Gemeinschaften. Talibanteams werden in den Dörfern zumeist über Vermittlung des örtlichen Mullahs nach Einigung mit den Ältesten rekrutiert. Die örtlichen Taliban stehen unter dem Einfluss der Ältesten, sind jedoch dem Gouverneur der Taliban verantwortlich. Die Präsenz örtlicher Taliban in einem Dorf bietet Schutz vor marodierenden Banden, gewalttätigen ausländischen Kämpfern und gebietsfremden Taliban und verschafft den Dorfältesten eine gewisse Mitsprache beim Talibangouverneur. Die Talibanführung behält sich das Recht vor, die Kommandanten dieser Milizen auszuwählen, und die Mullahs vertreten die Interessen der Taliban auf lokaler Ebene.
Auch wenn sich die Taliban darum bemühen, dass ihnen die örtlichen Talibanmilizen Folge leisten, haben sich örtliche Taliban durchaus öfters auf die Seite der Dorfbewohner und gegen ausländische Kämpfer und gebietsfremde Taliban gestellt, etwa dadurch, dass sie NGO-Projekte oder Schulen, die den Vorschriften der Taliban widersprachen, unter ihren Schutz stellten. Nach 2014 war es tendenziell so, dass die Talibanführung den örtlichen Taliban zunehmend die Verantwortung für die Verlegung von Minen übertrug, um zivile Opfer möglichst gering zu halten. Berichten zufolge sei dies das Ergebnis von Lobbying bei den Dorfältesten gewesen, wurde aber auch dadurch ermöglicht, dass nach dem Abzug des Großteils der westlichen Truppen im Jahr 2014 Minen nur mehr in schwindendem Ausmaß eingesetzt wurden. Der Versuch einer strikten Umsetzung der Talibanvorschriften betreffend NGOs und humanitären Zugang beeinträchtigte vielfach die Beziehungen mit den örtlichen Gemeinschaften. Dies war vor allem bei verschiedenen Stämmen in Loya Paktia im Zeitraum 2016-2017 der Fall (Zazai, Mangal, Mandozai, Tanai, Khosti).
Nach den Regeln der Taliban sollten Leiter der Militärkommissionen und Richter nicht lokal rekrutiert werden, alle anderen "Funktionsträger" werden jedoch zumeist lokal rekrutiert. Dadurch sind sie lokal verankert, aber auch in örtliche Stammesfehden und innergemeinschaftliche Dispute involviert. Die negativen Folgen dieser Praxis haben sich mit der zunehmenden internen Zersplitterung der Taliban noch verschärft; die Entscheidung, sich der einen oder anderen Schura anzuschließen, wird oft von Stammes-, Gemeinschafts- und persönlichen Rivalitäten innerhalb der Taliban diktiert.
Die Haltung der Taliban gegenüber örtlichen Traditionen und Bräuchen ist unterschiedlich, im Lauf der Zeit waren sie jedoch eindeutig um Aufgeschlossenheit bemüht. In der Justiz, beispielsweise, ist es nunmehr gängige Praxis, Streitigkeiten und Familienangelegenheiten nach den örtlichen Gepflogenheiten (etwa dem Paschtunwali) von den Ältesten schlichten zu lassen. Die Taliban intervenieren nur dann, wenn derartige Versuche scheitern. Es kommt nicht von ungefähr, dass salafistische Gruppen wie der Islamische Staat die Taliban wegen ihrer "unreinen" islamischen Praktiken kritisieren.
Neben der Kooptierung von Gemeinschaften versuchen die Taliban auch, die Bevölkerung nach Möglichkeit direkt zu beeinflussen, vor allem die jüngere Generation. Zu diesem Zweck rekrutieren sie Lehrer an Schulen und Madrasen und finanzieren darüber hinaus ihre eigenen Madrasen zu Hunderten. Auch bezahlen sie Mullahs in den Moscheen, während sich die Bemühungen der lokalen Talibanmilizen hauptsächlich auf die Beeinflussung und Kontrolle der Bevölkerung konzentrieren. Soziale Medien und das Internet kommen ebenfalls zum Einsatz, spielen aber in der Propagandakampagne der Taliban durchwegs eine sekundäre bzw. untergeordnete Rolle.
Im Lauf der Jahre haben die Taliban ihre Vorschriften betreffend die Bewegungsfreiheit von Frauen und deren Zugang zum Arbeitsmarkt gelockert. Frauen ist es seitens der Taliban heute gestattet, als Lehrerinnen, Krankenschwestern und Ärztinnen zu arbeiten, solange sie sich im Rahmen der Vorschriften der Taliban bewegen, beispielsweise der Geschlechtertrennung. Frauen sollten jedoch stets in der Begleitung eines Familienmitglieds sein, wenn sie sich außer Haus begeben. Mädchenschulen sind nun erlaubt, sofern sie sich den strengen Regeln der Taliban unterwerfen: d.h. Geschlechtertrennung, kein Englischunterricht, Taliban-Curriculum und Lehrbücher, Überwachung durch die Taliban.
Einige Talibananführer vermeinen, die Erbringung von Leistungen sei ein Quell politischer Legitimität. Aufgrund finanzieller Einschränkungen erbringen die Taliban von der Justiz abgesehen nur sehr wenige Leistungen. Die von Haibatullah Akhund im Jahr 2016 getroffene Entscheidung, die Talibankliniken für die Allgemeinheit zu öffnen, wurde aufgrund von finanziellen Engpässen nur bruchstückhaft umgesetzt. Es gab Fälle, in denen die Taliban die einheimische Bevölkerung für spezielle Projekte mit einer Steuer belegten, etwa für den Bau von Straßen. Die von den Taliban angebotene Ausbildung beschränkt sich auf einige hundert Madrasen.
Ansonsten bemächtigen sich die Taliban einfach der staatlichen Leistungen, etwa des Bildungswesens. Sie oktroyieren ihren eigenen Lehrplan, ihre Lehrbücher und Lehrenden, während die Regierung weiterhin die Gehälter und andere Aufwendungen bezahlt. Die Taliban drücken auch Projekten von NGO und humanitären Organisationen ihr Gütesiegel auf. Vielfach entsenden sie - zusätzlich zu den staatlichen Funktionären - ihre eigenen Vertreter zur feierlichen Eröffnung von Projekten. Auch wenn sich das entwicklungsfeindliche Image der Taliban abgeschwächt hat, haftet es ihnen nach wie vor an, schließlich ist es den Dorfältesten sehr wohl bewusst, woher das Geld stammt und sie fürchten, die Mittel könnten versiegen, hätten die Taliban die uneingeschränkte Kontrolle.
Die Bewegungen der Menschen werden von den Taliban in von ihnen selbst beherrschten Gebieten aus Angst vor gegen sie gerichtete Spionagetätigkeiten strengstens kontrolliert. Wer eine entlegene Gegend besucht oder sich von einer Taliban-kontrollierten Zone in eine von der Regierung kontrollierten Zone begibt und wieder zurückkehrt, macht sich verdächtig, es sei denn, er hätte diese Absicht vorab gemeldet. Möglicherweise kommt es zu einem Verhör. Wer das Pech hat, in zeitlicher Nähe zu einer erfolgreichen Razzia gegen die Taliban in ein Gebiet zu reisen, riskiert ernsthaft, als Spion verdächtigt zu werden. Der Besitz von Funkgeräten und Satellitentelefonen würde als belastender Beweis gewertet werden.
Zu beachten ist dabei auch, dass die Regierung lediglich 53 % der Distrikte des Landes (mit 65 % der Wohnbevölkerung) kontrolliert, vgl. Kurzinformation zum Kapitel "Sicherheitslage" vom 01.03.2019 des LIB.
Ansonsten bemächtigen sich die Taliban einfach der staatlichen Leistungen, etwa des Bildungswesens. Sie oktroyieren ihren eigenen Lehrplan, ihre Lehrbücher und Lehrenden, während die Regierung weiterhin die Gehälter und andere Aufwendungen bezahlt. Die Taliban drücken auch Projekten von NGO und humanitären Organisationen ihr Gütesiegel auf. Vielfach entsenden sie - zusätzlich zu den staatlichen Funktionären - ihre eigenen Vertreter zur feierlichen Eröffnung von Projekten. Auch wenn sich das entwicklungsfeindliche Image der Taliban abgeschwächt hat, haftet es ihnen nach wie vor an, schließlich ist es den Dorfältesten sehr wohl bewusst, woher das Geld stammt und sie fürchten, die Mittel könnten versiegen, hätten die Taliban die uneingeschränkte Kontrolle.
Die Bewegungen der Menschen werden von den Taliban in von ihnen selbst beherrschten Gebieten aus Angst vor gegen sie gerichtete Spionagetätigkeiten strengstens kontrolliert. Wer eine entlegene Gegend besucht oder sich von einer Taliban-kontrollierten Zone in eine von der Regierung kontrollierten Zone begibt und wieder zurückkehrt, macht sich verdächtig, es sei denn, er hätte diese Absicht vorab gemeldet. Möglicherweise kommt es zu einem Verhör. Wer das Pech hat, in zeitlicher Nähe zu einer erfolgreichen Razzia gegen die Taliban in ein Gebiet zu reisen, riskiert ernsthaft, als Spion verdächtigt zu werden. Der Besitz von Funkgeräten und Satellitentelefonen würde als belastender Beweis gewertet werden.
1.3.5 LIB, Seite 276, Kap. "Korruption
Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2017 von Transparency International, belegt Afghanistan von 180 Ländern den 177. Platz (TI 21.2.2018). Einer Umfrage zufolge betrachten 83,7% der Afghanen die Korruption als ein Hauptproblem des Landes. Die Provinzen mit der höchsten Korruptionswahrnehmung sind Kabul mit 89,6%, Uruzgan mit 87,9%, Nangarhar mit 87,8% und Helmand mit 86,9% (AF 2017).
Das Gesetz sieht zwar strafrechtliche Sanktionen für amtliche Korruption vor, jedoch setzt die Regierung diese Vorschriften nicht effektiv um. Berichten zufolge gehen Beamte oft ungestraft korrupten Praktiken nach. Korruption ist in der afghanischen Gesellschaft verbreitet und die Geldflüsse des Militärs, der internationalen Geldgeber und des Drogenhandels verschärfen das Problem zusätzlich. Verschiedene Bereiche sind von Korruption betroffen. Zahlreiche staatliche Infrastrukturprojekte der letzten 15 Jahre wurden auf Basis von Günstlingswirtschaft vergeben. Auch im Justizsystem ist Korruption weit verbreitet, insbesondere im Strafrecht und bei der Anordnung von Haftentlassungen. Es wird auch von illegaler Aneignung von Land durch staatliche und private Akteure berichtet (USDOS 20.4.2018).
Bestechung bleibt im öffentlichen Sektor weiterhin verbreitet und Schmiergeldzahlungen können direkt oder indirekt von Beamten gefordert oder auch von den Bürgern und Bürgerinnen selbst angeboten werden. Afghanen zahlen in den folgenden Bereichen Bestechungsgelder: Rechtswesen, Arbeitsmarkt, an administrativen Behörden auf Provinz- und Distriktebene, Sicherheitsbehörden (ANA und ANP) sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen (AF 2017). Trotz der Bemühungen der Geldgeber und der afghanischen Regierung Mechanismen zur Förderung von Verantwortlichkeit und Transparenz zu entwickeln, wurde ein erheblicher Teil der Hilfsgelder für Afghanistan durch Korruption und Fehlleitung veruntreut (AAN 17.5.2018).
Die afghanische Regierung bekennt sich zur Korruptionsbekämpfung mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft und die Zivilgesellschaft. Am 25. August 2008 ratifizierten die damaligen afghanischen Führungskräfte die United Nations Convention against Corruption (UNCAC). Die 2014 gewählte Einheitsregierung (NUG) ist Teil des Self-Reliance through Mutual Accountability Framework (SMAF), einem Abkommen zwischen der afghanischen Regierung und der internationalen Gemeinschaft u. a. zur Bekämpfung von Korruption (UNAMA 4.2017; vgl. UNAMA 5.2018, USDOS 3.1.2017). Im Jahr 2017 und Anfang 2018 war die Korruptionsbekämpfung weiterhin ein prioritäres Anliegen der afghanischen Machtträger. Wichtige Entwicklungen sind unter anderem die Annahme der Government's Anti-Corruption Strategy am 28. September 2017, die Verabschiedung und das Inkrafttreten des Strafgesetzbuchs jeweils am 4. März 2017 und am 14. Februar 2018, die Erweiterung der Tätigkeiten des High Council on Rule of Law and Anti-Corruption, die Genehmigung des reformierten Haushaltsplans usw. (UNAMA 5.2018). Mit Stand April 2017 gab es in Afghanistan insgesamt 18 Korruptionsbekämpfungsbehörden wie das High Office of Oversight and Anti-Corruption (HOOAC), das High Council on Rule of Law and Anti-Corruption usw. (UNAMA 4.2017).
Im Juni 2016 unterzeichnete Präsident Ashraf Ghani ein Dekret zur Einrichtung des Anti-Corruption Justice Center (ACJC), einer unabhängigen Korruptionsbekämpfungsbehörde, die für die strafrechtliche Verfolgung von Korruptionsfällen auf hoher Ebene zuständig ist (USDOS 20.4.2018). Seit der Eröffnung des ACJC im August 2016 verhandelte dieses 21 Fälle gegen 83 Angeklagte und verhängte annähernd 47 Mrd. USD in Form von Geldstrafen, Geldeinziehungen und Beschlagnahmungen sowie lange Gefängnisstrafen für die Verurteilten. Elf Angeklagte wurden freigesprochen. Beobachtern zufolge waren die Verfahren ordnungsgemäß, fair, systematisch und professionell (USDOS 20.4.2018).
1.3.6 LIB, Kinder, Kap. 17.1. Die Situation der Kinder hat sich in den vergangenen Jahren verbessert. So werden mittlerweile rund zwei Drittel aller Kinder eingeschult. Während Mädchen unter der Taliban-Herrschaft fast vollständig vom Bildungssystem ausgeschlossen waren, machen sie von den heute ca. acht Millionen Schulkindern rund drei Millionen aus. Der Anteil der Mädchen nimmt jedoch mit fortschreitender Klassen- und Bildungsstufe ab. Den geringsten Anteil findet man im Süden und Südwesten des Landes (Helmand, Uruzgan, Zabul und Paktika) (AA 5.2018). Landesweit gehen in den meisten Regionen Mädchen und Buben in der Volksschule in gemischten Klassen zur Schule; erst in der Mittel- und Oberstufe werden sie getrennt (USDOS 3.3.2017).
Ein Großteil der Täter hat keinerlei Unrechtsbewusstsein (AA 5.2018). Mit Inkrafttreten des neuen afghanischen Strafgesetzbuches im Jahr 2018, wurde die Praxis des Bacha Bazi kriminalisiert. Den Tätern drohen bis zu sieben Jahre Haft. Jene, die mehrere Buben unter zwölf Jahren halten, müssen mit lebenslanger Haft rechnen. Das neue Bildungssystem in Afghanistan
Der Schulbesuch ist in Afghanistan bis zur Unterstufe der Sekundarbildung Pflicht (die Grundschule dauert sechs Jahre und die Unterstufe der Sekundarbildung drei Jahre). Das Gesetz sieht kostenlose Schulbildung bis zum Hochschulniveau vor (USDOS 20.4.2018).
Aufgrund von Unsicherheit, konservativen Einstellungen und Armut haben Millionen schulpflichtiger Kinder keinen Zugang zu Bildung - insbesondere in den südlichen und südwestlichen Provinzen. Manchmal fehlen auch Schulen in der Nähe des Wohnortes (USDOS 3.3.2017). Auch sind in von den Taliban kontrollierten Gegenden gewalttätige Übergriffe auf Schulkinder, insbesondere Mädchen, ein weiterer Hinderungsgrund beim Schulbesuch. Taliban und andere Extremisten bedrohen und greifen Lehrer/innen sowie Schüler/innen an und setzen Schulen in Brand (USDOS 20.4.2018). Nichtregierungsorganisationen sind im Bildungsbereich tätig, wie z. B. UNICEF, NRC, AWEC und Save the Children. Eine der Herausforderungen für alle Organisationen ist der Zugang zu jenen Gegenden, die außerhalb der Reichweite öffentlicher Bildung liegen. Der Bildungsstand der Kinder in solchen Gegenden ist unbekannt und Regierungsprogramme sind für sie unzugänglich - speziell, wenn die einzigen verfügbaren Bildungsstätten Madrassen sind. UNICEF unterstützt daher durch die Identifizierung von Dorfgemeinschaften, die mehr als drei Kilometer von einer ordentlichen Schule entfernt sind. Dort wird eine Dorfschule mit lediglich einer Klasse errichtet. UNICEF bezeichnet das als "classroom". Auf diese Art "kommt die Schule zu den Kindern". Auch wird eine Lehrkraft aus demselben, gegebenenfalls aus dem nächstgelegenen Dorf, ausgewählt - bevorzugt werden Frauen. Lehrkräfte müssen fortlaufend Tests des Provinzbüros des Bildungsministeriums absolvieren. Je nach Ausbildungsstand beträgt das monatliche Gehalt der Lehrkräfte zwischen US$ 90 und 120. Die Infrastruktur für diese Schulen wird von der Dorfgemeinschaft zur Verfügung gestellt, UNICEF stellt die Unterrichtsmaterialien. Aufgrund mangelnder Finanzierung sind Schulbücher knapp. Wenn keine geeignete Lehrperson gefunden werden kann, wendet sich UNICEF an den lokalen Mullah, um den Kindern des Dorfes doch noch den Zugang zu Bildung zu ermöglichen. UNICEF zufolge ist es wichtig, Kindern die Möglichkeit zu geben, auch später einem öffentlichen Schulplan folgen zu können (BFA Staatendokumentation 4.2018).
In Afghanistan existieren zwei parallele Bildungssysteme; religiöse Bildung liegt in der Verantwortung des Klerus in den Moscheen, während die Regierung kostenfreie Bildung an staatlichen Einrichtungen bietet (BFA Staatendokumentation 4.2018; vgl. IOM 2017). Nachdem in den meisten ländlichen Gemeinden konservative Einstellungen nach wie vor präsent sind, ist es hilfreich, wenn beim Versuch Modernisierungen durchzusetzen, auf die Unterstützung lokaler Meinungsträger zurückgegriffen wird - vor allem lokaler religiöser Würdenträger, denen die Dorfgemeinschaft vertraut. Im Rahmen von Projekten arbeiten unterschiedliche UN-Organisationen mit religiösen Führern in den Gemeinden zusammen, um sie in den Bereichen Frauenrechte, Bildung, Kinderehen und Gewalt, aber auch Gesundheit, Ernährung und Hygiene zu beraten. Eines dieser Projekte wurde von UNDP angeboten; als Projektteilnehmer arbeiten die Mullahs der Gemeinden, die weiterzugebenden Informationen in ihre Freitagpredigten ein. Auch halten sie Workshops zu Themen wie Bildung für Mädchen, Kinderehen und Gewalt an Frauen. Auf diesem Wege ist es ihnen möglich eine Vielzahl von Menschen zu erreichen. Im Rahmen eines Projektes hat UNICEF im Jahr 2003 mit rund 80.000 Mullahs zusammengearbeitet, mit dem Ziel Informationen zu Gesundheit, Ernährung, Hygiene, Bildung und Sicherheit in ihre Predigten einzubauen. Die tatsächliche Herausforderung dabei ist es, die Informationen in den Predigten zu vermitteln, ohne dabei Widerstand innerhalb der Gemeinschaft hervorzurufen (BFA Staatendokumentation 4.2018).
Der gewaltfreie Umgang mit Kindern hat sich in Afghanistan noch nicht als Normalität durchsetzen können (AA 9.2016). Körperliche Züchtigung und Übergriffe im familiären Umfeld (AA 9.2016; vgl. CAN 2.2018), in Schulen oder durch die afghanische Polizei sind verbreitet. Dauerhafte und durchsetzungsfähige Mechanismen seitens des Bildungsministeriums, das Gewaltpotenzial einzudämmen, gibt es nicht. Gerade in ländlichen Gebieten gehört die Ausübung von Gewalt zu den gebräuchlichen Erziehungsmethoden an Schulen. Das Curriculum für angehende Lehrer beinhaltet immerhin Handreichungen zur Vermeidung eines gewaltsamen Umgangs mit Schülern (AA 9.2016). Einer Befragung in drei Städten zufolge (Jalalabad, Kabul und Torkham), berichteten Kinder von physischer Gewalt - auch der Großteil der befragten Eltern gab an, physische Gewalt als Disziplinierungsmethode anzuwenden. Eltern mit höherem Bildungsabschluss und qualifizierterem Beruf wendeten weniger Gewalt an, um ihre Kinder zu disziplinieren (CAN 2.2018).
Bacha Bazi (Bacha Bazi) - Tanzjungen
Bacha Bazi, auch Tanzjungen genannt, sind Buben oder transsexuelle Kinder, die sexuellem Missbrauch und/oder dem Zwang, bei öffentlichen oder privaten Ereignissen zu tanzen, ausgesetzt sind (MoJ 15.5.2017: Art. 653). In weiten Teilen Afghanistans, vor allem in den Rängen von Armee und Polizei, ist der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen nach wie vor ein großes Problem. Das Thema ist gesellschaftlich tabuisiert und wird nicht selten unter dem Deckmantel kultureller Gepflogenheiten verschwiegen oder verharmlost. afghanische Strafgesetzbuch kriminalisiert nicht nur die Praxis von Bacha Bazi, sondern auch die Teilnahme an solchen Tanzveranstaltungen. Der Artikel 660 des fünften Kapitels beschreibt, dass Beamte der afghanischen nationalen Sicherheitskräfte (ANSF), die in die Praxis von Bacha Bazi involviert sind, mit durchschnittlich bis zu fünf Jahren Haft rechnen müssen (MoJ 15.5.2017; vgl. LSE 24.1.2018).
Üblicherweise sind die Jungen zwischen zehn und 18 Jahre alt (SBS 20.12.2016; vgl. AA 9.2016); viele von ihnen werden weggeben, sobald sie erste Anzeichen eines Bartes haben (SBS 21.12.2016). Viele der Jungen wurden entführt, manchmal werden sie auch von ihren Familien aufgrund von Armut an die Täter verkauft (SBS 20.12.2016; vgl. AA 5.2018). Manchmal sind die Betroffenen Waisenkinder und in manchen Fällen entschließen sich Jungen, Bacha Bazi zu werden, um ihre Familien zu versorgen (TAD 9.3.2017). Die Jungen und ihre Familien werden oft von ihrer sozialen Umgebung verstoßen; eine polizeiliche Aufklärung findet nicht statt (AA 5.2018).
Kinderarbeit
Das Arbeitsgesetz in Afghanistan setzt das Mindestalter für Arbeit mit 18 Jahren fest; es erlaubt Jugendlichen ab 14 Jahren als Lehrlinge zu arbeiten und solchen über 15 Jahren "einfache Arbeiten" zu verrichten. 16- und 17-Jährige dürfen bis zu 35 Stunden pro Woche arbeiten. Kinder unter 14 Jahren dürfen unter keinen Umständen arbeiten. Das Arbeitsgesetz verbietet die Anstellung von Kindern in Bereichen, die ihre Gesundheit gefährden. In Afghanistan existiert eine Liste, die gefährliche Jobs definiert; dazu zählen: Arbeit im Bergbau, Betteln, Abfallentsorgung und Müllverbrennung, arbeiten an Schmelzöfen sowie in großen Schlachthöfen, arbeiten mit Krankenhausabfall oder Drogen, arbeiten als Sicherheitspersonal und Arbeit im Kontext von Krieg (USDOS 20.4.2018).
Afghanistan hat die Konvention zum Schutze der Kinder ratifiziert (AA 5.2018; vgl. UNTC 9.4.2018). Kinderarbeit ist in Afghanistan somit offiziell verboten (AA 5.2018). Berichten zufolge arbeiten mindestens 15% der schulpflichtigen Kinder (IRC 15.2.2018; vgl. FEWS NET 29.3.2018, IDMC 1.2018). Viele Familien sind auf die Einkünfte ihrer Kinder angewiesen (AA 5.2018; vgl. IDMC 1.2018). Daher ist die konsequente Umsetzung eines Kinderarbeitsverbots schwierig. Es gibt allerdings Programme, die es Kindern erlauben sollen, zumindest neben der Arbeit eine Schulausbildung zu absolvieren. Auch ein maximaler Stundensatz und Maßnahmen zum Arbeitsschutz (wie z. B. das Tragen einer Schutzmaske beim Teppichknüpfen) wurden gesetzlich geregelt. Der Regierung fehlt es allerdings an durchsetzungsfähigen Überprüfungsmechanismen für diese gesetzlichen Regelungen (AA 5.2018). Allgemein kann gesagt werden, dass schwache staatliche Institutionen die effektive Durchsetzung des Arbeitsrechts hemmen und die Regierung zeigt nur geringe Bemühungen, Kinderarbeit zu verhindern oder Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen zu befreien (USDOS 20.4.2018; vgl. AA 5.2018).
Kinderarbeit bleibt ein tiefgreifendes Problem (USDOS 20.4.2018; vgl. IRC 15.2.2018, FEWS NET 29.3.2018, IDMC 1.2018). Das Arbeitsministerium verweigert Schätzungen zur Zahl der arbeitenden Kinder in Afghanistan und begründet dies mit fehlenden Daten und Mängeln bei der Geburtenregistrierung. Dies schränkt die ohnehin schwachen Kapazitäten der Behörden bei der Durchsetzung des Mindestalters für Arbeit ein. Berichten zufolge werden weniger als 10% der Kinder bei Geburt registriert. Oft sind Kinder sexuellem Missbrauch durch erwachsene Arbeiter ausgesetzt (USDOS 20.4.2018).
Viele Kinder sind unterernährt. Ca. 10% (laut offizieller Statistik 91 von 1.000, laut Weltbank 97 von 1.000) der Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Straßenkinder gehören zu den am wenigsten geschützten Gruppen Afghanistans und sind jeglicher Form von Missbrauch und Zwang ausgesetzt (AA 9.2016). Nachdem im Jahr 2016 die Zahl getöteter oder verletzter Kinder gegenüber dem Vorjahr um 24% gestiegen war (923 Todesfälle, 2.589 Verletzte), sank sie 2017 um 10% (861 Todesfälle, 2.318 Verletzte). 2017 machten Kinder 30% aller zivilen Opfer aus. Die Hauptursachen sind Kollateralschäden bei Kämpfen am Boden (45%), Sprengfallen (17%) und zurückgelassene Kampfmittel (16%) (AA 5.2018).
Rekrutierung von Kindern
Im Februar 2016 trat das Gesetz über das Verbot der Rekrutierung von Kindern im Militär in Kraft. Berichten zufolge rekrutieren die ANDSF und andere regierungsfreundliche Milizen in limitierten Fällen Kinder; die Taliban und andere regierungsfeindliche Gruppierungen benutzen Kinder regelmäßig für militärische Zwecke. Im Rahmen eines Regierungsprogramms werden Schulungen für ANP-Mitarbeiter zu Alterseinschätzung und Sensibilisierungskampagnen betreffend die Rekrutierung von Minderjährigen organisiert sowie Ermittlungen in angeblichen Kinderrekrutierungsfällen eingeleitet (USDOS 20.4.2018).
.................................
1.3.7 UNHCR-Richtlinien zum Schutzbedarf afghanischer Asylsuchender,
Stand 30.08.2018, Ka. III C §: Interne Flucht- und
Neuansiedlungsalternative in afghanischen Städten
......
UNHCR macht darauf aufmerksam, dass nur wenige Städte von Angriffen regierungsfeindlicher Kräfte, die gezielt gegen Zivilisten vorgehen, verschont bleiben. UNHCR stellt fest, dass gerade Zivilisten, die in städtischen Gebieten ihren tagtäglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer dieser Gewalt zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe; sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.
Im Hinblick auf die Prüfung der Zumutbarkeit verweist UNHCR auf die allgemeine Bemerkung des Amtes der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in seinem Überblick von 2018 über den Bedarf an humanitärer Hilfe, in der es heißt:
"Insgesamt halten sich heute über 54 Prozent der Binnenvertriebenen (IDPs) in den Provinzhauptstädten Afghanistans auf, was den Druck auf die ohnehin überlasteten Dienstleistungen und Infrastruktur weiter erhöht und die Konkurrenz um Ressourcen zwischen der Aufnahmegemeinschaft und den Neuankömmlingen verstärkt." Außerdem herrscht, wie in Abschnitt II.D beschrieben, in den nördlichen und westlichen Teilen Afghanistans die seit Jahrzehnten schlimmste Dürre, weshalb die Landwirtschaft als Folge des kumulativen Effekts jahrelanger geringer Niederschlagsmengen zusammenbricht. Am schlimmsten betroffen sind die Provinzen Balkh, Ghor, Faryab, Badghis, Herat und Jowzjan.
Dazu kamen 2016, wie in Abschnitt II.F beschrieben, über eine Million aus Iran und Pakistan zurückkehrender Afghanen, gefolgt von weiteren 620 000 Heimkehrern im Jahr 2017. Der Protection Cluster in Afghanistan stellte schon im April 2017, nach den Rückkehrerströmen von 2016, aber noch vor den meisten Rückkehrern des Jahres 2017, Folgendes fest: "Der enorme Anstieg der Zahl der Heimkehrer [aus Pakistan und Iran] führte zu einer extremen Belastung der bereits an ihre Grenzen gelangten Aufnahmekapazität der wichtigsten Provinz- und Distriktzentren Afghanistans, nachdem sich viele Afghanen den Legionen von Binnenvertriebenen anschlossen, da sie aufgrund des sich zuspitzenden Konflikts nicht in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren konnten. [...] Mit begrenzten Lebensgrundlagen, ohne soziale Schutznetze und angewiesen auf schlechte Unterkünfte sind die Vertriebenen nicht nur mit einem erhöhten Risiko der Schutzlosigkeit in ihrem alltäglichen Leben konfrontiert, sondern werden auch in erneute Vertreibung und negative Bewältigungsstrategien gezwungen, wie etwa Kinderarbeit, frühe Verheiratung, weniger und schlechtere Nahrung usw.""
Laut der Erhebung über die Lebensbedingungen in Afghanistan 2016-2017 leben 72,4 Prozent der städtischen Bevölkerung Afghanistans in Slums, informellen Siedlungen oder unter unzulänglichen Wohnverhältnissen.
Außerdem wird berichtet, dass das Armutsniveau in Afghanistan ansteigt: Der Anteil der Bevölkerung, der unter der nationalen Armutsgrenze lebt, ist von 34 Prozent in den Jahren 2007/2008 auf 55 Prozent im Zeitraum 2016/2017 gestiegen.
4. Interne Flucht- oder Neuansiedlungsalternative in Kabul
Neben den allgemeinen Anleitungen in den Abschnitten III.C.1 und III.C.2 und vor dem Hintergrund der zusätzlichen Informationen in Abschnitt III.C.3 empfiehlt UNHCR folgende speziellen Leitlinien für das Beispiel Kabul im Hinblick auf die zwei Teile einer Prüfung auf Eignung als Schutzalternative. Wie schon in den Abschnitte III.C.1 und III.C.2 festgestellt, setzt eine Bewertung der Möglichkeiten für eine Neuansiedlung in Kabul eine Beurteilung der Relevanz und der Zumutbarkeit dieses vorgeschlagenen Neuansiedlungsortes voraus. Wird eine interne Schutzalternative in Kabul im Zuge von Asylverfahren ins Auge gefasst, müssen darüber hinaus alle für die Relevan