TE Vfgh Erkenntnis 1996/9/24 B331/95

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Veröffentlicht am 24.09.1996
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht, Fremdenrecht

Norm

EMRK Art8
AufenthaltsG §6 Abs2
AufenthaltsG §6 Abs3

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch Abweisung von Anträgen auf Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung wegen Versäumung der im AufenthaltsG normierten Frist von vier Wochen vor Ablauf der gültigen Bewilligung zur Stellung von Verlängerungsanträgen; Unterlassung der im Sinne einer verfassungskonformen Interpretation trotz imperativer Anordnung im Gesetz gebotenen Interessenabwägung

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres bevollmächtigten Vertreters die mit S 15.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Beschwerdeführerin, eine türkische Staatsangehörige, lebt - nach dem unwidersprochen gebliebenen Beschwerdevorbringen - seit 1987 in Österreich. Sie ist seit November 1987 verheiratet. Ihr Ehemann lebt seit 1971 ständig in Österreich und besitzt seit 1984 auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Auch das gemeinsame Kind lebt in Österreich und besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft.

Die nunmehrige Beschwerdeführerin brachte am 2. September 1994 einen Antrag auf Verlängerung ihrer bis zum 27. September 1994 befristeten Aufenthaltsbewilligung ein. Dieser Antrag wurde mit dem im Instanzenzug ergangenen, nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesministers für Inneres unter Berufung auf §6 Abs3 AufG, BGBl. Nr. 466/1992 idF vor der Novelle BGBl. Nr. 351/1995, mit der Begründung abgewiesen, Verlängerungsanträge seien gemäß dieser Bestimmung spätestens vier Wochen vor Ablauf der Geltungsdauer der Bewilligung zu stellen; aufgrund der Nichteinhaltung dieser Frist sei die Erteilung der Bewilligung ausgeschlossen und auf das Vorbringen der Beschwerdeführerin - auch im Zusammenhang mit ihren persönlichen Verhältnissen - nicht weiter einzugehen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des Bescheides begehrt wird.

2. Der Bundesminister für Inneres als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift abgesehen und die Abweisung der Beschwerde beantragt.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

Der angefochtene Bescheid greift in das der Beschwerdeführerin gemäß Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes ist ein Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich garantierte - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruht oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (vgl. VfSlg. 11638/1988).

Wie der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis vom 10. Oktober 1995, B1722/94 ua., mit näherer Begründung dargelegt hat, ist die Behörde auch bei Anwendung der Bestimmung des §6 Abs3 AufG, die eine Antragstellung spätestens vier Wochen vor Ablauf der Geltungsdauer der Bewilligung vorsieht, in Fällen, in denen durch die Versagung der Bewilligung in das durch Art8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens eingegriffen wird, - ein solcher liegt im Hinblick auf den eingangs geschilderten Sachverhalt hier vor - verhalten, die Notwendigkeit der Versagung aus den in Art8 Abs2 EMRK umschriebenen öffentlichen Interessen zu prüfen und dabei auch auf die familiären und sonstigen privaten Interessen des Bewilligungswerbers Bedacht zu nehmen.

Die belangte Behörde hat im Fall der Beschwerdeführerin - ausgehend von einer verfehlten Rechtsansicht - diese im Sinne des Art8 EMRK gebotene Interessenabwägung nicht vorgenommen.

Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.

III.        Die Kostenentscheidung

gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in der Höhe von S 2.500,-- enthalten.

IV.                                 Diese Entscheidung konnte

gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben, Interessenabwägung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1996:B331.1995

Dokumentnummer

JFT_10039076_95B00331_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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