TE Bvwg Erkenntnis 2019/10/17 W253 2138828-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.10.2019
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Entscheidungsdatum

17.10.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
VwGVG §28 Abs2

Spruch

W253 2138828-1/30E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Jörg C. BINDER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Asyl in Not, Währinger Straße 59/2/1, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 18.09.2018 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und stellte am 14.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Zuge seiner Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er sei am XXXX in XXXX , Afghanistan geboren, gehöre der Volksgruppe der Hazara an und habe als Hirte gearbeitet. Die Kernfamilie des Beschwerdeführers bestehe aus seinen Eltern, zwei Brüdern sowie vier Schwestern. Die Familie besitze ein Grundstück im Ausmaß von einem Jerib, durch dessen Bewirtschaftung der Lebensunterhalt der Familie finanziert worden sei. Seine Flucht begründete der Beschwerdeführer mit der mangelnden Arbeitsmöglichkeit und der schlechten wirtschaftlichen Situation. Zudem herrsche zwischen den Volksgruppen der Hazara und jener der Paschtunen Krieg.

3. Am 05.01.2016 wurde die belangte Behörde von der Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Beschwerdeführer aufgrund des JGG in Kenntnis gesetzt.

4. Im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 01.08.2016 führte der Beschwerdeführer über seine bereits in der Erstbefragung getätigten Angaben hinausgehend aus, er bekenne sich zum schiitischen Glauben. Er habe in Serbien einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, weshalb seine Merkfähigkeit herabgesetzt sei. Zu seiner Schulbildung gab der Beschwerdeführer an, er sei ein Jahr in Maidan Wardak in einer Schule und drei weitere Jahre in einer Moschee unterrichtet worden. Er könne auf Dari gut lesen und schreiben. Seine beiden Brüder würden in Kabul leben, seine Eltern hingegen nach wie vor im Heimatdorf XXXX . Zu seinem Fluchtgrund befragt, gab der Beschwerdeführer ergänzend an, er habe im Dorf mit seinen Eltern zusammengelebt und die Lage sei unsicher gewesen. Jeden Sommer seien die Taliban gekommen, die sich als Kutschis ausgegeben und die Häuser bombardiert sowie Menschen getötet hätten. Der Beschwerdeführer sei persönlich nicht bedroht worden.

5. In der Stellungnahme vom 12.08.2016 wurde im Wesentlichen ausgeführt, die von der Behörde ins Verfahren eingebrachten Länderberichte seien sehr allgemein gehalten und würden sich weder mit den konkreten Gefährdungen betreffend die Rückkehr eines Minderjährigen beschäftigen noch am individuellen Vorbringen des Beschwerdeführers orientieren. Die Ursache der Bedrohung durch die Kutschis liege in der ethnischen Zugehörigkeit des Beschwerdeführers. Zusätzlich zu den Bedrohungen aufgrund der Volksgruppenzugehörigkeit durch die Kutschis würden auch weitere Verfolgungsgefahren aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit des Beschwerdeführers bestehen. Hazara würden eine seit Jahrzehnten verfolgte Volksgruppe in Afghanistan darstellen, deren Verfolgung in den letzten Jahren wieder massiv zugenommen habe. Auch die Religionsgruppe der Schiiten sei weiterhin durch Angriffe von regierungsfeindlichen Gruppierungen gefährdet. Die in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers, Maidan Wardak, vorherrschende Sicherheitslage stehe einer Rückkehr aufgrund von Art. 3 EMRK entgegen. Weiters sei auch die Sicherheitslage in Kabul als prekär einzustufen.

6. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).

Der Begründung des im Spruch bezeichneten Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl ist im Wesentlichen zu entnehmen, es sei glaubhaft, dass der Beschwerdeführer wegen des herrschenden Krieges und der schlechten Sicherheitslage Afghanistan verlassen habe. Er sei keinen Verfolgungshandlungen im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention ausgesetzt gewesen; solche seien auch zukünftig nicht zu erwarten. Der Beschwerdeführer könne seinen Lebensunterhalt in Kabul bestreiten, insbesondere durch Unterstützung seiner beiden älteren Brüder.

Gleichzeitig wurde dem Beschwerdeführer mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht der Verein Menschenrechte Österreich, Alser Straße 20/5, 1090 Wien, als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

7. Mit Schreiben vom 24.10.2016 erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde gegen den gegenständlichen Bescheid, in welcher er zusammengefasst ausführte, es sei nicht richtig, wenn die belangte Behörde in ihrer Entscheidung ausführe, dass es sich bei ihm um einen "arbeitsfähigen Mann" handeln würde. Gerade Minderjährige seien besonders schützenswert und würden in Afghanistan eine besondere Benachteiligung erleiden. Der Beschwerdeführer leide an einer Belastungsreaktion sowie an einem Schädelhirntrauma; er nehme regelmäßig Psychopharmaka. Weiters hätte die belangte Behörde unter anderem Informationen zum Konflikt zwischen Kutschis und Hazara sowie zu den drohenden Gefahren bei einer etwaigen Rückkehr einholen müssen. Wenn die belangte Behörde im Rahmen ihrer Beweiswürdigung vermeine, der BF hätte "wegen des herrschenden Krieges und der schlechten Sicherheitslage Afghanistan verlassen", seien diese Ausführungen aktenwidrig. Ebenso seien die Ausführungen, wonach der Beschwerdeführer keine Fluchtgründe in Bezug auf sein Heimatland Afghanistan im gesamten Verfahren vorgebracht hätte, unrichtig. Der Beschwerdeführer sei aber weiteren Verfolgungsgefahren ausgesetzt, zumal er Hazara und Schiite sei und er in seiner Herkunftsprovinz deshalb Verfolgungshandlungen durch die Kutschis - welche auch Taliban seien - ausgesetzt sei. Bei einer Rückkehr wäre der Beschwerdeführer auf sich alleine gestellt, weil er mit der Unterstützung seiner Brüder nicht rechnen könne. Aufgrund der Sicherheitslage in Afghanistan sei eine Rückkehr nicht möglich. Schließlich sei auch zu berücksichtigen, dass dem Beschwerdeführer in Afghanistan keine adäquate medizinische bzw. psychiatrische Behandlung zur Verfügung stehe.

8. Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 04.11.2016 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

9. Am 18.09.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seines Vertreters und einem Dolmetscher für die Sprache Dari statt, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Ein Vertreter der belangten Behörde nahm an der Verhandlung nicht teil. Der Beschwerdeführervertreter brachte ergänzend vor, der Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr als verwestlichte Person oder Agent wahrgenommen werden und Gefahr laufen, verfolgt zu werden.

10. Mit Beschluss vom 02.10.2018 wurde Univ. Prof. Dr. med. Georg PAKESCH, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, zum Sachverständigen bestellt und mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt.

11. Mit Eingabe vom 08.11.2018 brachte der Beschwerdeführer diverse Integrationsunterlagen in Vorlage.

12. In seinem psychiatrisch-neurologischem Gutachten vom 13.11.2018 führte der unter Pkt. I.10. genannte Sachverständige im Wesentlichen aus, beim Beschwerdeführer finde sich aus psychiatrischer Sicht eine Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion (ICD-10: F43.21). Die Symptomatik sei derzeit auch nach einer längerdauernden Behandlung als sehr leicht ausgeprägt zu bezeichnen. Weiters finde sich beim Beschwerdeführer ein Zustand nach Schädelhirntrauma, das er seinen Angaben nach im Juni 2015 erlitten habe, welches mit einer geringen Prellung des Gehirns verbunden gewesen sei und vermutlich auch zu einer Gehirnblutung im occipitalen geringen Bereich geführt habe, die durch eine Trepanation im Rahmen eines Krankenhausaufenthaltes seinen Angaben nach in Serbien behandelt worden sei. In einer 2017 bereits in Österreich durchgeführten Magnetresonanztomographie des Schädels habe sich links occipital geringgradiges Glioseareal mit Hämosiderinsaum gefunden, was laut Befund einer abgelaufenen Contusionsblutung zugeordnet worden sei. Diese Verletzung sei als abgeheilt zu betrachten. Bei der nunmehrigen Untersuchung habe sich ein unauffälliger neurologischer Befund und keine Hinweise auf sensomotorische Defizite gefunden. Aus psychiatrischer Sicht hätten sich keine Hinweise auf das Vorliegen eines organischen Psychosyndroms gefunden. Eine Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit liege ebenso nicht vor. Bei der Untersuchung habe sich occipital am Schädel eine Delle nach Schädelhintrauma gefunden, wobei in einer Computertomographie im Juli 2015 ein Knochendefekt beschrieben worden sei. Ab und inwieweit hier noch weitere Behandlungsschritte notwendig seien, müsste aus neurochirurgischer Sicht beurteilt werden. Zur Behandlung der Anpassungsstörung sei die Fortführung der nervenärztlichen Behandlung mit medikamentöser Einstellung zu empfehlen. Es sei beim Beschwerdeführer keine psychische Erkrankung bzw. Störung fassbar, die die Wiedergabe-, Wahrnehmungs- oder Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigen würde. Letztlich sei keine psychische Erkrankung in einem Ausmaß fassbar, die die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers für Tätigkeiten entsprechend seinem Ausbildungs- und Wissensniveau beeinträchtigen würde.

13. Das eingeholte psychiatrisch-neurologische Gutachten wurde anschließend dem Beschwerdeführer sowie der belangten Behörde zugestellt und ihnen eine Frist zur Stellungnahme von zwei Wochen eingeräumt. In der daraufhin am 19.12.2018 eingelangten Stellungnahme führte der Beschwerdeführer unter Verweis auf Seite 19 des Gutachtens zusammengefasst aus, dass sein gesundheitlicher Zustand, eventueller Behandlungsbedarf und Gefahren von etwaigen Spätfolgen bei Nichtbehandlung nicht geklärt werden hätten können. Aus diesem Grund sei ein Termin zur neurochirurgischen Untersuchung vereinbart worden. Weiters werde im Gutachten die Fortführung der Medikation Saroten 20 mg empfohlen. In Afghanistan würden psychische Erkrankungen von der Gesellschaft jedoch oft als Bestrafung für Sünden angesehen werden. Es herrsche zudem ein Mangel an ausgebildetem Personal sowie angemessener Infrastruktur. Es sei daher unwahrscheinlich, dass der Beschwerdeführer im Fall seiner Rückkehr eine adäquate medizinische Versorgung erhalten würde. Weiters führte der Beschwerdeführe eine Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und der Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten sowie aufgrund von "Verwestlichung" ins Treffen. Zudem hielt er fest, dass Kabul angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage keine innerstaatliche Fluchtalternative biete. Weiters seien die Provinzen Balkh und Herat von der extremen Dürre am meisten betroffen. Abschließend zitierte der Beschwerdeführer das Gutachten vom 28.03.2018 von Friederike STAHLMANN sowie das Gutachten von Amnesty International vom 05.02.2018 an das VG Wiesbaden.

14. In weiterer Folge wurden dem Beschwerdeführer die aktuellen Länderberichte übermittelt und diesem die Möglichkeit gegeben, zum Ergebnis der Beweisaufnahme innerhalb einer Frist von zwei Wochen schriftlich Stellung zu nehmen; eine Stellungnahme langte nicht ein.

15. Mit Eingabe vom 27.12.2018 wurde dem erkennenden Gericht ein Arztbrief vom XXXX 2018 übermittelt.

16. Mit Beschluss vom 28.01.2019 wurde Univ. Prof. Dr. med. Martin ORTLER, MSc, Facharzt für Neurochirurgie, zum Sachverständigen bestellt und mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt.

17. Am 08.02.2019 übermittelte der Beschwerdeführer diverse Integrations- sowie Arztunterlagen.

18. In seinem neurochirurgischen Gutachten vom 01.05.2019 führte der Sachverständige zusammengefasst aus, beim Beschwerdeführer würde aus neurochirurgischer Sicht ein Zustand nach schwerem Schädelhirntrauma und ein Zustand nach osteoklastisch (= durch Knochenentfernung) versorgter Hirnverletzung bestehen. Die Delle am Hinterkopf könne mit einem chirurgischen Eingriff aus kosmetischen Gründen gedeckt werden. Medizinische Gründe zur Deckung würden mit Sicherheit nicht bestehen. Der Beschwerdeführer sei aus neurochirurgischer Sicht uneingeschränkt arbeitsfähig. Nachtarbeit und Tätigkeiten, die mit unregelmäßigem Schlaf verbunden seien, seien nach Möglichkeit zu meiden. In der klinischen Untersuchung sei das Vorliegen einer geringgradigen Einschränkung des Gesichtsfeldes nach rechts und unten möglich (Wahrscheinlichkeitsgrad 50 %), wobei die Untersuchungssituation durch sprachliche Kommunikationsbarrieren erschwert werde. Das beidäugige Sehen, das Lesen und das Erkennen von Gefahren, die von der Seite kommen würden, seien dadurch nicht beeinträchtigt. Selbst wenn sich der Befund eines Gesichtsfelddefekts augenärztlich objektivieren ließe, erfordere dies keine medizinische Behandlung und hätte keinen Einfluss auf die Gesamteinschätzung betreffend die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers. Ob das Unfallereignis bleibende Schäden hinterlassen habe, lasse sich nicht mit letzter Sicherheit klären. Weiters lasse sich nach Meinung des Sachverständigen nicht mit ausreichender Sicherheit ausschließen, ob eine sogenannte Spätepilepsie als Folge der Hirnverletzung vorliege oder sich noch entwickeln könne (Wahrscheinlichkeitsgrad des Vorliegens einer Spätepilepsie unter 1 %). Eine regelmäßige Medikamenteneinnahme aus prophylaktischen Gründen oder eine diesbezüglich spezielle medizinische Behandlung sei nicht notwendig.

19. Das unter Pkt. I.18. angeführte neurochirurgische Gutachten sowie aktuelle Länderberichte wurden dem Beschwerdeführer und der belangten Behörde übermittelt und ihnen eine Frist zur Stellungnahme von zwei Wochen eingeräumt. Am 24.05.2019 langte die Stellungnahme des Beschwerdeführers ein, in welcher er im Wesentlichen ausführte, er habe keine Berufsausbildung und sei in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt. Er leide an einer Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion. Die Dauer der weiteren Behandlung bzw. Einnahme der Medikation sei nicht abzusehen. Es bestehe außerdem der Verdacht auf eine partielle Gesichtsfeldeinschränkung. Hinzu komme, dass nicht auszuschließen sei, dass er epileptische Anfälle bekommen könnte, welche seine Arbeitsfähigkeit noch zusätzlich einschränken könnten. Der Beschwerdeführer verfüge weder in Herat noch in Mazar-e Sharif über ein soziales Netzwerk. Abschließend verwies der Beschwerdeführer auf zwei weiterere seiner Ansicht nach auf ihn zutreffende Risikoprofile (Zwangsrekrutierung durch regierungsfeindliche Kräfte; Personen, die vermeintlich gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch regierungsfeindliche Kräfte verstoßen).

20. Am 26.09.2019 wurden dem Beschwerdeführer sowie der belangten Behörde aktuelle Länderberichte, darunter eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 30.01.2018, übermittelt und ihnen eine Frist zur allfälligen Stellungnahme von 14 Tagen eingeräumt. In der daraufhin eingelangten Stellungnahme führte der Beschwerdeführer im Wesentlichen aus, die Kosten der angeführten Medikamente seien, was die Stadt Herat betreffe, nicht geklärt. Über die Anzahl der verfügbaren Einrichtungen, die Qualität der medizinischen Ausrüstung und hygienischen Standards und die Aus- bzw. etwaige Überlastungen von beratenden und behandelnden Einrichtungen würden keine bzw. unzureichende Angaben gemacht. In der Anfragebeantwortung werde außerdem auf angebliche Einzelquellen verwiesen, die als Anlage übermittelt worden wären. Dem Beschwerdeführer seien diese Anlagen nicht vorgelegt worden und damit sein durch § 45 Abs. 3 AVG geschütztes Recht auf Kenntnis- und Stellungnahme verletzt. Die Anfragebeantwortung sei zudem als veraltet anzusehen. Der Beschwerdeführer leide an einer Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion, Spannungskopfschmerzen, Belastungsreaktion, dysthyme Befindlichkeit mit verstärkt negativer Affizierbarkeit, teilweisen Biorythmusstörungen, immer wieder auftretenden Schlafstörungen, Pavor nocturnus mit Albträumen, Unruhe und Erinnerungsschwäche. Darüber hinaus wurde vorgebracht, dem Beschwerdeführer würde bei einer Rückkehr "Verwestlichung" unterstellt werden, und wäre er aufgrund seines wehrfähigen Alters der Gefahr von Zwangsrekrutierung ausgesetzt. Im Allgemeinen sei eine innerstaatliche Fluchtalternative für Antragsteller mit schweren Krankheiten oder Behinderungen nicht angemessen. Die Brüder des Beschwerdeführers könnten ihn aus wirtschaftlichen Gründen nicht unterstützen. Hinzu komme, dass im Fall des Auftretens einer Epilepsie nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne, dass der Beschwerdeführer im Falle von auftretenden epileptischen Anfällen in der Lage wäre, die Situation und etwaige Risiken vor Ort richtig einzuschätzen. Abschließend verwies der Beschwerdeführer auf den Bericht von EASO "Afghanistan Key socio-economic indicators - Focus on Kabul City, Mazar-e Sharif and Herat City" vom April 2019.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

Der entscheidungsrelevante Sachverhalt steht fest. Auf Grundlage des erhobenen Antrages auf internationalen Schutz, der Erstbefragung und Einvernahme des Beschwerdeführers durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sowie des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der Beschwerde gegen den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, der im Verfahren vorgelegten Dokumente, der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, des psychiatrisch-neurologischen Gutachtens vom 13.11.2018, des neurochirurgischen Gutachtens vom 01.05.2019, den Stellungnahmen, der Einsichtnahme in den Bezug habenden Verwaltungsakt, das Zentrale Melderegister, das Fremdeninformationssystem, das Strafregister und das Grundversorgungs-Informationssystem werden folgende Feststellungen getroffen und der Entscheidung zugrunde gelegt:

1. Feststellungen:

1.1. Zum Verfahrensgang:

Der Beschwerdeführer stellte am 14.07.2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 wurde der Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ihm wurde kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.). Dagegen erhob der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 24.10.2016 fristgerecht Beschwerde, woraufhin am 18.09.2018 vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers, seines Vertreters und einem Dolmetscher für die Sprache Dari stattfand, in welcher der Beschwerdeführer ausführlich zu seinen Fluchtgründen befragt und ihm Gelegenheit gegeben wurde, diese umfassend darzulegen. Mit Beschluss vom 02.10.2018 wurde Univ. Prof. Dr. med. Georg PAKESCH, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, zum Sachverständigen bestellt und mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Weiters wurde mit Beschluss vom 28.01.2019 Univ. Prof. Dr. med. Martin ORTLER, MSc, Facharzt Neurochirurgie, zum Sachverständigen bestellt und ebenfalls mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt.

1.2. Zum Beschwerdeführer:

1.2.1. Der volljährige, ledige und kinderlose Beschwerdeführer führt den Namen XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und wurde am XXXX in Afghanistan geboren. Er wuchs in der Provinz Maidan Wardak, im Bezirk XXXX , im Dorf XXXX auf. Der Beschwerdeführer gehört der Volksgruppe der Hazara an, ist schiitischer Muslim und seine Muttersprache ist Dari.

Die Kernfamilie des Beschwerdeführers besteht aus seinem Vater und seiner Mutter sowie seinen sechs Geschwistern. Die Eltern des Beschwerdeführers leben gemeinsam mit der ledigen und volljährigen Schwester des Beschwerdeführers nach wie vor im Heimatdorf. Sie besitzen ein Grundstück im Ausmaß von einem Jerib, durch dessen Bewirtschaftung sie ihr Einkommen erzielen. Zwei Brüder des Beschwerdeführers leben gemeinsam mit deren Ehefrauen und Kindern in Kabul. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt durch die Tätigkeit als Tagelöhner. Ebenso leben zwei verheiratete Schwestern sowie drei Onkel mütterlicherseits des Beschwerdeführers in der Hauptstadt. Die vierte Schwester des Beschwerdeführers lebt in Pakistan und ist verheiratet. Der Beschwerdeführer steht in Kontakt mit seinen in Kabul aufhältigen Brüdern.

Der Beschwerdeführer wurde in seinem Heimatdorf ein Jahr in einer Schule und drei weitere Jahre in einer Moschee unterrichtet. Er kann lesen und schreiben. In Afghanistan hat der Beschwerdeführer ungefähr vier Jahre als Hirte gearbeitet.

Der Beschwerdeführer hat sein Heimatdorf im Alter von 14 Jahren verlassen. Nachdem er sich vier Tage bei seinen Brüdern in Kabul aufgehalten hat, ist er für ungefähr ein bis eineinhalb Jahre in den Iran gereist, wo er als Küchenhilfe gearbeitet hat. Anschließend ist der Beschwerdeführer über die Türkei nach Europa gereist. In Serbien hat der Beschwerdeführer durch einen Schlag auf seinen Hinterkopf ein schweres Schädelhirntrauma erlitten. Dieses wurde in einem Krankenhaus in Serbien chirurgisch über einen bogenförmigen Hautschnitt und mit Entfernung des lokalen Schädelknochens versorgt. Aus dem Fehlen des Knochens resultiert keine Gefährdung des Beschwerdeführers im Alltagsleben.

Der Beschwerdeführer leidet an einer Anpassungsstörung mit längerer depressiver Reaktion. Dagegen nimmt er abends das Medikament "Saroten". Beim Beschwerdeführer ist keine psychische Erkrankung bzw. Störung fassbar, die seine Wiedergabe-, Wahrnehmungs- oder Erinnerungsfähigkeit beeinträchtigt. Der Beschwerdeführer ist arbeitsfähig.

Er ist mit der afghanischen Tradition und Lebensweise vertraut.

1.2.2. Der Beschwerdeführer beherrscht die deutsche Sprache gut; er hat das ÖSD-Deutschzertifikat auf dem Sprachniveau A2 am XXXX 2017 bestanden. Weiters hat er in XXXX , seinem ehemaligen Wohnort, gemeinnützige Hilfstätigkeiten verrichtet, sich beim Roten Kreuz engagiert, und aktiv die Bezirksorganisation der XXXX unterstützt, wie beispielsweise durch handwerkliche Tätigkeiten oder Umsiedelung von geschützten Pflanzen. Derzeit holt er den Pflichtschulabschluss nach und besucht in seiner Freizeit regelmäßig ein Fitnessstudio und betreibt Bodybuilding. Der Beschwerdeführer ist weder erwerbstätig noch selbsterhaltungsfähig. Er hat sich bereits bemüht gezeigt, eine Arbeit zu finden.

Der Beschwerdeführer verfügt in Österreich über keine familiären Anknüpfungspunkte. Substanzielle Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens (wie z.B. intensive Freundschaften oder Beziehungen) können nicht festgestellt werden.

Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer - wie behauptet - bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung z.B. von den Kutschis aufgrund seiner Religions- und/oder Volksgruppenzugehörigkeit zu befürchten hätte.

Ebenso kann nicht festgestellt werden, dass konkret der Beschwerdeführer auf Grund der Tatsache, dass er sich im Iran und in Europa aufgehalten hat (bzw. jeder derartige "Rückkehrer") in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt ist bzw., dass er eine solche im Falle der Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hätte.

Insgesamt kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Ansichten von staatlicher Seite oder von Seiten Dritter bedroht wäre.

1.4. Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer eine konkrete Verfolgung oder Bedrohung im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan zu befürchten hat. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Falle der Rückkehr nach Afghanistan (Mazar-e Sharif) Gefahr liefe, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

Außergewöhnliche Gründe, die eine Rückkehr des Beschwerdeführers nach Mazar-e Sharif ausschließen, konnten ebenfalls nicht festgestellt werden. Er kann dort seine Existenz - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Es kann nicht festgestellt werden, dass er nicht in der Lage ist, in Mazar-e Sharif eine einfache Unterkunft zu finden. Mazar-e Sharif ist über den dort vorhandenen Flughafen sicher erreichbar.

Der Beschwerdeführer kann im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von seiner Familie (wenn auch nur geringfügig) finanziell unterstützt werden.

1.5. Zur Situation im Herkunftsstaat:

Das Bundesverwaltungsgericht trifft aufgrund der im Beschwerdeverfahren eingebrachten aktuellen Erkenntnisquellen folgende entscheidungsrelevante Feststellungen:

1.5.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 29.06.2018, letzte Kurzinformation vom 04.06.2019 (in Folge kurz "LIB"), und aus der EASO-Country Guidance zu Afghanistan vom Juni 2019, der auf Grund der gerichtsnotorischen englischen Sprache im englischen Original verwendet wird (in Folge kurz "EASO Juni 2019"):

1.5.1.1. Zur Sicherheitslage in Afghanistan im Allgemeinen (LIB Kapitel 1. und 3.):

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil.

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil.

Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum 16.08.2018 - 15.11.2018 5.854 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 2 % gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Bewaffnete Zusammenstöße gingen um 5 % zurück, machten aber weiterhin den Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle (63 %) aus. Selbstmordanschläge gingen um 37 % zurück, was möglicherweise an erfolgreichen Bekämpfungsmaßnahmen in Kabul-Stadt und Jalalabad liegt. Luftangriffe durch die afghanische Luftwaffe (AAF) sowie internationale Streitkräfte stiegen um 25 %. Die am stärksten betroffenen Regionen waren der Süden, der Osten und der Süd-Osten. Bis Oktober 2018 fanden die meisten Angriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen in den Provinzen Badghis, Farah, Faryab, Ghazni, Helmand, Kandahar, Uruzgan und Herat statt. Von Oktober bis Dezember 2018 verzeichneten Farah, Helmand und Faryab die höchste Anzahl regierungsfeindlicher Angriffe.

Nach dem Taliban-Angriff auf Ghazni-Stadt im August 2018, bestand weiterhin die Befürchtung, dass die Taliban großangelegte Angriffe im Südosten des Landes verüben könnten. Dies war zwar nicht der Fall, dennoch setzten Talibankämpfer die afghanischen Sicherheitskräfte am Stadtrand von Ghazni, in Distrikten entlang des Highway One nach Kabul und durch die Einnahme des Distrikts Andar in Ghazni im Oktober weiterhin unter Druck. Im Westen der Provinz Ghazni, wo die ethnische Gruppierung der Hazara eine Mehrheit bildet, verschlechterten sich die Sicherheitsbedingungen wegen großangelegter Angriffe der Taliban, was im November zur Vertreibung zahlreicher Personen führte. In Folge eines weiteren Angriffs der Taliban im Distrikt Khas Uruzgan der Provinz Uruzgan im selben Monat wurden ebenfalls zahlreiche Hazara-Familien vertrieben. Des Weiteren nahmen Talibankämpfer in verschiedenen Regionen vorübergehend strategische Positionen entlang der Hauptstraßen ein und behinderten somit die Bewegungsfreiheit zwischen den betroffenen Provinzen. Beispiele dafür sind Angriffe entlang Hauptstraßen nach Kabul in den Distrikten Daymirdad und Sayyidabad in Wardak, der Route Mazar - Shirbingham und Maimana - Andkhoy in den nördlichen Provinzen Faryab, Jawzjan und Balkh und der Route Herat - Qala-e-Naw im westlichen Herat und Badghis. Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 gemäß SIGAR die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung.

Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst mit Stand 22.10.2018 53,8 % der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9 % der Distrikte sind umkämpft und 12,3 % befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5 % der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8 % in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6 % leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand.

Der ISKP ist weiterhin im Osten des Landes präsent und bekennt sich zu Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen in Nangarhar und zu sechs Angriffen in Kabul-Stadt. Des Weiteren finden in den Provinzen Nangarhar und Kunar weiterhin Kämpfe zwischen ISKP- und Talibankämpfern statt. Die internationalen Streitkräfte führten Luftangriffe gegen den ISKP in den Distrikten Deh Bala, Achin, Khogyani, Nazyan und Chaparhar der Provinz Nangarhar aus.

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im Berichtszeitraum (01.01.2018 - 31.12.2018) 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte), eine allgemeine Steigerung von 5 % sowie eine Steigerung der Zahl der Toten um 11 % gegenüber dem Vorjahreswert. 42 % der zivilen Opfer (4.627 Opfer;

1.361 Tote und 3.266 Verletzte) wurden durch IED im Zuge von Anschlägen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich ISKP) verursacht. Die Anzahl der Selbstmordanschläge unter Einsatz von IED stieg dabei um 22 % und erreichte somit einen Rekordwert. Diese Art von Anschlägen verursachte 26 % aller zivilen Opfer, während IED, die bei Nichtselbstmordanschlägen verwendet wurden, 16 % der zivilen Opfer forderten. Kabul war mit insgesamt 1.866 Opfern (596 Tote und 1.270 Verletzte) die Provinz mit der höchsten Anzahl an Selbstmordanschlägen durch IED, während die Zahl der Opfer in Nangarhar mit insgesamt 1.815 (681 Tote und 1.134 Verletzte) zum ersten Mal fast die Werte von Kabul erreichte (hauptsächlich wegen des Einsatzes von IED bei Nichtselbstmordanschlägen). Kabul-Stadt verzeichnete insgesamt 1.686 zivile Opfer (554 Tote und 1.132 Verletzte) wegen komplexen und Selbstmordangriffen.

Zusammenstöße am Boden (hauptsächlich zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Gruppierungen) verursachten 31 % der zivilen Opfer (insgesamt 3.382; davon 814 Tote und 2.568 Verletzte), was einen Rückgang um 3 % im Vergleich mit dem Vorjahreswert bedeutet. Grund dafür war der Versuch regierungsfreundlicher Gruppierungen, die zivile Bevölkerung zu schonen. Die Verlagerung der Kämpfe in dünn besiedelte Gebiete, die Vorwarnung der lokalen Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen und die Implementierung von Strategien zum Schutz der Bevölkerung waren einige der bestimmenden Faktoren für den Rückgang bei zivilen Opfern. Jedoch ist die Opferzahl bei gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichteten komplexen Angriffen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen gestiegen (plus 48 % gegenüber 2017; 4.125 Opfer insgesamt, davon 1.404 Tote und 2.721 Verletzte). Sowohl der ISKP als auch die Taliban griffen gezielt Zivilisten an: Der ISKP war für 1.871 zivile Opfer verantwortlich, darunter waren ua Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft, und die Taliban für 1.751. Obwohl die Gesamtzahl der zivilen Opfer durch gezielte Tötungen von Einzelpersonen (hauptsächlich durch Erschießung) zurückging, blieben Zivilisten inklusive religiöser Führer und Stammesältester weiterhin Ziele regierungsfeindlicher Gruppierungen. Die Gesamtzahl der durch Luftangriffe verursachten zivilen Opfer stieg im Vergleich mit dem Vorjahreswert um 61 % und die Zahl der Todesopfer erreichte 82 %. 9 % aller zivilen Opfer wurden Luftangriffen (mehrheitlich der internationalen Luftwaffe) zugeschrieben, der höchste Wert seit 2009.

Regierungsfeindliche Gruppierungen waren im UNAMA-Berichtszeitraum (01.01.2018 - 31.12.2018) für 6.980 zivile Opfer (2.243 Tote und 4.737 Verletzte) verantwortlich. Das entspricht 63 % der gesamten zivilen Opfer. 37 % davon werden den Taliban, 20 % dem ISKP und 6 % unbestimmten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben. Im Laufe des Jahres 2018 wurden vermehrt Anschläge gegen Bildungseinrichtungen verzeichnet, meist durch Talibankämpfer, da in Schulen Registrierungs- und Wahlzentren untergebracht waren. Der ISKP attackierte und bedrohte Bildungseinrichtungen als Reaktion auf militärische Operationen afghanischer und internationaler Streitkräfte. UNAMA berichtet auch über anhaltende Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, welche Auswirkungen auf einen Großteil der zivilen Bevölkerung haben. Trotzdem die Taliban nach eigenen Angaben Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen haben, attackierten diese weiterhin Zivilisten, zivile Einrichtungen und regierungsfreundliche Gruppierungen in Zivilgebieten.

Ungefähr 24 % der zivilen Opfer (2.612, davon 1.185 Tote und 1.427 Verletzte), werden regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben: 14 % den afghanischen Sicherheitskräften, 6 % den internationalen Streitkräften und 4 % unbestimmten regierungsfreundlichen Gruppierungen. Die Steigerung um 4 % gegenüber dem Vorjahr geht auf Luftangriffe der internationalen Streitkräfte und Fahndungsaktionen der afghanischen Sicherheitskräfte und regierungsfreundlicher Gruppierungen zurück.

Die verbleibenden 13 % der verzeichneten zivilen Opfer wurden im Kreuzfeuer während Zusammenstößen am Boden (10 %), durch Beschuss aus Pakistan (1 %) und durch die Explosion von Blindgängern verursacht.

UNAMA registrierte im ersten Quartal 2019 (01.01.2019 - 31.03.2019)

1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23 % gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist. Diese Verringerung wurde durch einen Rückgang der Zahl ziviler Opfer von Selbstmordanschlägen mit IED (Improvised Explosive Devices - unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung/Sprengfallen) verursacht. Der Quelle zufolge könnten die besonders harten Winterverhältnisse in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 zu diesem Trend beigetragen haben. Es ist unklar, ob der Rückgang der zivilen Opfer wegen Maßnahmen der Konfliktparteien zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung oder durch die laufenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien beeinflusst wurde. Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden. Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen. Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge).

1.5.1.2. Zur Sicherheitslage in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers, Maidan Wardak (LIB Kapitel 3.10.):

(Maidan) Wardak ist eine der zentralen Provinzen Afghanistans. Maidan Shahr ist die Provinzhauptstadt. Distrikte der Provinz Wardak sind: Sayed Abad, Jaghto, Chak, Daimirdad, Jalrez, central Bihsud/Behsood und Hisa-i-Awal Bihsud. Kabul und Logar liegen im Osten der Provinz (Maidan) Wardak, Bamyan im Westen und Nordwesten, Ghazni im Süden und Südwesten, sowie die Provinz Parwan im Norden. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 615.992 geschätzt. In der Provinz leben hauptsächlich ethnische Paschtunen, Tadschiken und Hazara; auch Kuchis sind in der Vergangenheit insbesondere in den Distrikt Behsood gezogen.

Die Hauptautobahn (Ring Road) Kabul-Kandahar führt durch die Provinz Maidan Wardak, von wo aus sie die südlichen, aber auch südöstlichen Provinzen des Landes mit der Hauptstadt Kabul verbindet. Polizisten arbeiten hart daran, die Autobahn von Minen zu befreien, da der südliche Abschnitt der Kabul-Kandahar Autobahn neun Provinzen mit der Hauptstadt Kabul verbindet.

Mit Stand November 2017 ist die Provinz Wardak zumindest seit dem Jahr 2006 komplett opiumfrei - im Jahr 2005 wurden in Daimirdad noch 106 Hektar Mohnanbauflächen verzeichnet.

Drei Frauen haben bei der Provinzwahl von Maidan Wardak Sitze für den Provinzrat erhalten. Im März 2018 hat eine Gruppe junger Frauen in der Provinz die Kunstbewegug "Village Sisters Art Movement" gegründet, wodurch Lyrik-Vorträge organisiert werden. Das Projekt wird vom Kultur- und Informationsdepartment begrüßt.

Wardak zählt seit einiger Zeit zu den volatilen Provinzen Afghanistans. Regierungsfeindliche, bewaffnete Aufständische sind in unterschiedlichen Distrikten aktiv - speziell in den Distrikten nächst der Autobahn.

Im Zeitraum 01.01.2017 - 30.04.2018 wurden in der Provinz 81 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 83 zivile Opfer (42 getötete Zivilisten und 41 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten/willkürlichen Tötungen und Luftangriffen. Dies deutet einen Rückgang von 35 % im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016.

In der Provinz Wardak werden groß angelegte militärische Operationen durchgeführt; Aufständische werden getötet und festgenommen. Bei diesen Operationen werden unter anderem auch Führer von regierungsfeindlichen Gruppierungen getötet. Luftangriffe werden ebenso durchgeführt; bei diesen werden auch Aufständische getötet. Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften finden statt.

Regierungsfeindliche bewaffnete Aufständische sind in unterschiedlichen Distrikten aktiv. Dazu zählen u. a. die Taliban; Quellen zufolge hat das Haqqani-Netzwerk in einem Teil der Provinz Wardak eine Zentrale gehabt. Das Haqqani-Netzwerk operiert großteils in Ostafghanistan und der Hauptstadt Kabul.

Für den Zeitraum 01.01.2017 - 31.01.2018 wurden keine IS-bezogene Vorfälle in der Provinz gemeldet.

1.5.1.3. Zur Sicherheitslage in der Stadt Mazar-e Sharif, der Hauptstadt der Provinz Balkh (LIB Kapitel 3.5.):

Die Provinz Balkh liegt in Nordafghanistan; sie ist geostrategisch gesehen eine wichtige Provinz und bekannt als Zentrum für wirtschaftliche und politische Aktivitäten. Die Provinzhauptstadt ist Mazar-e Sharif. Die Provinz grenzt im Norden an Tadschikistan und Usbekistan. Die Provinz Samangan liegt sowohl östlich als auch südlich von Balkh. Die Provinzen Kunduz und Samangan liegen im Osten, Jawzjan im Westen und Sar-e Pul im Süden. Balkh grenzt an drei zentralasiatische Staaten: Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 1.382.155 geschätzt.

Die Hauptstadt Mazar-e Sharif liegt an der Autobahn zwischen Maimana [Anm.: Provinzhauptstadt Faryab] und Pul-e-Khumri [Anm.:

Provinzhauptstadt Baghlan]; sie ist gleichzeitig ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region. Viele der Straßen, vor allem in den gebirgigen Teilen des Landes, sind in schlechtem Zustand, schwer zu befahren und im Winter häufig unpassierbar. In Mazar-e Sharif gibt es einen internationalen Flughafen, welcher 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul liegt (vgl. EASO Juni 2019, Kapitel V. "Internal protection alternative").

Im Juni 2017 wurde ein großes nationales Projekt ins Leben gerufen, welches darauf abzielt, die Armut und Arbeitslosigkeit in der Provinz Balkh zu reduzieren.

Nach monatelangen Diskussionen hat Ende März 2018 der ehemalige Gouverneur der Provinz Balkh Atta Noor seinen Rücktritt akzeptiert und so ein Patt mit dem Präsidenten Ghani beendet. Er ernannte den Parlamentsabgeordneten Mohammad Ishaq Rahgozar als seinen Nachfolger zum Provinzgouverneur. Der neue Gouverneur versprach, die Korruption zu bekämpfen und die Sicherheit im Norden des Landes zu garantieren.

Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften, oder auch zu Angriffen auf Einrichtungen der Sicherheitskräfte.

In der Provinz befindet sich ua das von der deutschen Bundeswehr geführte Camp Marmal (TAAC-North: Train, Advise, Assist Command - North), sowie auch das Camp Shaheen.

Im Zeitraum 01.01.2017 - 30.04.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 129 zivile Opfer (52 getötete Zivilisten und 77 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Bodenoffensiven und Blindgänger/Landminen. Dies bedeutet einen Rückgang von 68 % im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Die afghanischen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte führen regelmäßig militärische Operationen durch, um regierungsfeindliche Aufständische zu verdrängen und sie davon abzuhalten, Fuß im Norden des Landes zu fassen. Diese militärischen Operationen werden in gewissen Gegenden der Provinz geführt. Dabei werden Taliban getötet und manchmal auch ihre Anführer. Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften finden statt.

Regierungsfeindliche Gruppierungen versuchen ihren Aufstand in der Provinz Balkh voranzutreiben. Sowohl Aufständische der Taliban als auch Sympathisanten des IS versuchen in abgelegenen Distrikten der Provinz Fuß zu fassen. Im Zeitraum 01.01.2017 - 15.07.2017 wurden keine IS-bezogenen Vorfälle in der Provinz registriert. Im Zeitraum 16.07.2017 - 31.01.2018 wurden dennoch vom IS verursachten Vorfälle entlang der Grenze von Balkh zu Sar-e Pul registriert.

1.5.1.4. Zur den allgemeinen Lebensbedingungen in der Stadt Mazar-e Sharif (EASO Juni 2019, Kapitel V. "Internal protection alternative"):

Mazar-e Sharif ist ein regionales Handelszentrum für Nordafghanistan und ein Industriezentrum mit großen Produktionsunternehmen und einer großen Anzahl kleiner und mittlerer Unternehmen.

Die meisten Menschen in Mazar-e Sharif haben Zugang zu verbesserten Trinkwasserquellen (76 %), die in der Regel verrohrt sind oder aus den Brunnen stammen. 92 % der Haushalte verfügen über verbesserte sanitäre Einrichtungen.

Laut Einschätzung des "Famine Early Warning System" (FEWS) ist die Situation in Mazar-e Sharif betreffend die Ernährungslage im Dezember 2018 als "angespannt" (engl.: "stressed") einzustufen, das bedeutet, dass mindestens jeder fünfte Haushalt trotz humanitärer Hilfe über einen gerade noch angemessenen Lebensmittelverbrauch verfügt, aber nicht in der Lage ist, sich wesentliche nicht nahrungsbezogene Güter zu leisten ohne irreversible Bewältigungsstrategien anzuwenden.

1.5.1.5. Zur Lage der Hazara in Afghanistan (LIB Kapitel 16.2.):

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10 % der Bevölkerung aus. Sie besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden; andererseits gehören ethnische Hazara hauptsäch dem schiitischen Islam an (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten.

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können.

Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert.

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Einer Quelle zufolge existiert in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Einer weiteren Quelle zufolge, beschweren sich Mitglieder der Hazara-Ethnie über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. So berichtet eine weitere Quelle, dass Arbeitsplatzanwerbung hauptsächlich über persönliche Netzwerke erfolgt. Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke.

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen.

Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit einem Anteil von etwa 10 % in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert.

1.5.1.6. Zur Lage der Schiiten in Afghanistan (LIB Kapitel 15.1.):

Die Bevölkerung schiitischer Muslime wird auf 10 - 15 % geschätzt. Zur schiitischen Bevölkerung zählen die Ismailiten und ein Großteil der ethnischen Hazara. Die meisten Hazara-Schiiten gehören der Jafari-Sekte (Zwölfer-Sekte) an. Im letzten Jahrhundert ist allerdings eine Vielzahl von Hazara zur Ismaili-Sekte übergetreten. Es gibt einige Hazara-Gruppen, die zum sunnitischen Islam konvertierten. In Uruzgan und vereinzelt in Nordafghanistan leben einige schiitische Belutschen. Afghanische Schiiten und Hazara neigen dazu, weniger religiös und gesellschaftlich offener zu sein als ihre Glaubensbrüder im Iran.

Die politische Repräsentation und die Beteiligung an den nationalen Institutionen seitens der traditionell marginalisierten schiitischen Minderheit, der hauptsächlich ethnische Hazara angehören, ist seit 2001 gestiegen. Obwohl einige schiitischen Muslime höhere Regierungsposten bekleiden, behaupten Mitglieder der schiitischen Minderheit, dass die Anzahl dieser Stellen die demographischen Verhältnisse des Landes nicht reflektiere; auch vernachlässige die Regierung in mehrheitlich schiitischen Gebieten die Sicherheit. Das afghanische Ministry of Hajj and Religious Affairs (MOHRA) erlaubt sowohl Sunniten als auch Schiiten Pilgerfahrten zu unternehmen.

Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS.

1.5.1.7. Zum Konflikt zwischen Hazara und Kutschi:

1.5.1.7.1. Allgemeines, Wurzeln des Konfliktes (LIB Kapitel 16.5.):

Die Kutschi sind die Nomaden Afghanistans. Sie sind Angehörige der paschtunischen Volksgruppe und verteilen sich im ganzen Land. Wenngleich die tatsächliche Anzahl der Nomaden in Afghanistan unbekannt ist, kann deren Anwesenheit als signifikant bezeichnet werden und wirkt sich auf die ländliche Wirtschaft aus. Im Jahr 2004 wurde die Anzahl der "aktiv migrierenden" Nomaden in Afghanistan auf 1,5 Millionen geschätzt. Diese Zahl beinhaltet sowohl alle nomadischen Haushalte als auch aktiv migrierende Mitglieder von teilweise niedergelassenen Haushalten. Dennoch wird angenommen, dass die Zahl der Nomaden heutzutage niedriger ist. Die Anzahl jener vollständig-nomadischer Haushalte, die noch in Zelten leben und kein fixes Heim haben, ist heute wahrscheinlich gering. Viele nomadische Gemeinschaften sind teilweise sesshaft. Manche Mitglieder leben in Häusern und migrieren auch saisonal nicht, während andere Mitglieder mit dem Viehbestand jährlich in grünere Regionen migrieren.

Im Rahmen eines Projektes wurden zwischen 2008 und 2009 die nomadischen Migrationsrouten untersucht. Daraus ging hervor, dass der Großteil der Nomaden während des Sommers in Richtung der Weideflächen des Hazarajats (zentrales Hochland) zieht.

Die Beziehung zwischen Nomaden und Bauern ist komplex - noch vor dem Konflikt existierten zumindest einige symbiotische Elemente: So verkauften die Nomaden in abgelegenen Dörfern Waren, an die man dort nur schwer gelangen konnte. Nachdem sich das afghanische Straßennetz entwickelte, wurden diese Handelsaktivitäten für einen Großteil der ländlichen Gesellschaft überflüssig. Gleichzeitig kam es in bestimmten Gegenden zu Spannungen zwischen Nomaden und Bauern.

Die Wurzeln des Konfliktes zwischen Kutschi-Nomaden und Hazara in Zentralafghanistan reichen bis in das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Seit 2007 hat sich der Konflikt um das Weideland in den Provinzen Wardak und Ghazni zunehmend verschärft und mündete immer wieder in gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kutschi und Hazara. Trotz der Mediationsbemühungen von Seiten der afghanischen Regierung und der Vereinten Nationen ist der Konflikt bisher, sowohl rechtlich als auch politisch, ungelöst.

Trotzdem haben die Kutschi in Fragen um Ländereien einen guten Draht zur Regierung in Kabul. Einige Kutschi wie Hashmat Ghani, der Bruder des gegenwärtigen Präsidenten Ashraf Ghani und Repräsentant aller Kutschi in Afghanistan, sind reiche Geschäftsmänner. Dennoch sind die meisten Kutschi-Nomaden sehr arm, leben in einfachen Verhältnissen und sind als Hirten oder Händler tätig. Die Regierung verfügt mit dem unabhängigen Direktorium für die Angelegenheiten der Kutschi, über eine eigene Organisationseinheit, welche die Angelegenheiten der Kutschi behandelt.

Der afghanischen Verfassung zufolge ist die Regierung verpflichtet, den Kutschi Land für die permanente Nutzung zur Verfügung zu stellen und ihre Integration in besiedelten Gebieten zu fördern. Die Verfassung sieht vor, dass zehn Sitze im Unterhaus der Nationalversammlung für die Kutschi-Minderheit reserviert sind. Auch sollen laut Verfassung vom Präsidenten zwei Kutschi zu Mitgliedern für das Oberhaus ernannt werden.

1.5.1.7.2. Auszug aus der ACCORD-Anfragebeantwortung vom 02.09.2016 (Lage der Hazara, Zugang zu staatlichem Schutz und Hintergründe des Konfliktes zwischen Kutschis und Hazara [a-9737-V2]), welche vom Beschwerdeführer als Quelle herangezogen wurde (siehe Beschwerde S. 12 ff):

"[...] Melissa Chiovenda Kerr, eine in der USA und Afghanistan tätige Anthropologin, die sich mit Hazara beschäftigt, antwortet in einer E-Mail-Auskunft an ACCORD vom 25. August 2016 folgendes auf die Frage, ob es bestimmte Regionen gebe, in denen die Sicherheit von Hazara besonders gefährdet sei, oder ob es möglich sei, zwischen gefährlichen und weniger gefährlichen Regionen für Hazara zu unterscheiden ("Are there specific regions (provinces, districts etc.) where the security of Hazara is particularly threatened? Or is it possible to localize security threats, saying that some regions are more dangerous and other regions are less dangerous?"). Auch wenn dies definitiv der Fall sei, gebe es große Vorbehalte gegen eine solche Unterteilung in sichere und nicht-sichere Regionen, da grundsätzlich jeder, der in Mehrheitsgebieten der Hazara ansässig sei, aufgrund von Arbeit, Bildung und Gesundheitsversorgung in größere Städte reisen müsse. Fast alle Hazara würden durch unsichere Regionen reisen müssen, wo sie aufgrund ihrer Ethnizität und Religionszugehörigkeit gefährdet seien.

Grundsätzlich seien homogene Gebiete, in denen hauptsächlich Hazara wohnen würden, sicher, die Provinzen Bamiyan und Daikondi seien Großteils sicher. Es gebe instabile Gebiete im nördlichen Teil Bamiyans, der an Regionen grenze, in denen es Aktivitäten aufständischer Kämpfer gebe. Die Provinz Daikondi sei auch zu großen Teilen sicher, mit Ausnahme der Gebiete, die an die Provinz Urusgan grenzen würden, wo es Aktivitäten aufständischer Kämpfer gebe. Nötige Reisen aus diesen sicheren Gebieten und Provinzen nach Kabul oder Kandahar seien aber extrem heimtückisch. In der Provinz Wardak gebe es zwei Distrikte mit Hazara-Mehrheiten namens Behsud, die zu großen Teilen sicher seien, außer wenn jährlich Konflikte mit paschtunischen Kuchi-Nomaden, die in die Region ziehen würden, aufgrund von Landstreitigkeiten

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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