TE Bvwg Erkenntnis 2019/10/17 W115 2200709-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.10.2019
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Entscheidungsdatum

17.10.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs4b
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W115 2200708-1/5E

W115 2200709-1/6E

W115 2200707-1/5E

W115 2200710-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. 110 XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

III. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

IV. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. 1179611510-180077474, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

I.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Zweitbeschwerdeführer, unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten sie am XXXX die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

1.1. Im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab die Erstbeschwerdeführerin im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari zusammengefasst an, dass sie afghanische Staatsangehörige sei und der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islams angehören würde. Ihre Muttersprache sei Dari. Sie sei im Iran geboren und noch nie in Afghanistan gewesen. Vor ca. einem Monat habe sie zusammen mit ihrem Ehemann den Iran verlassen und sie seien schlepperunterstützt über die Türkei, Griechenland und weitere ihr unbekannte Länder bis nach Österreich gereist. Zu ihren Fluchtgründen befragt gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie im Iran schon einmal verheiratet gewesen wäre. Sie habe sich aber scheiden lassen und habe ihren nunmehrigen Ehemann geheiratet. Daraufhin seien sie und ihre Familie von ihrem Ex-Mann mit dem Tod bedroht worden. Aus diesem Grund hätten sie den Iran verlassen müssen.

Der Zweitbeschwerdeführer gab im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprache Dari im Wesentlichen zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei und der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islams angehören würde. Seine Muttersprache sei Dari. Er sei im Iran geboren und noch nie in Afghanistan gewesen. Vor ca. einem Monat habe er zusammen mit seiner Ehefrau den Iran verlassen und sie seien schlepperunterstützt über die Türkei, Griechenland, Slowenien und weitere ihm unbekannte Länder bis nach Österreich gereist. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass seine Ehefrau im Iran schon einmal verheiratet gewesen wäre. Sie habe sich aber von ihrem Mann scheiden lassen. Nachdem sie geheiratet hätten, seien sie vom Ex-Mann seiner Ehefrau mit dem Tod bedroht worden. Um ihr Leben zu schützen, hätten sie den Iran verlassen müssen.

1.2. Eine EURODAC-Abfrage ergab keinen Treffer.

1.3. Am XXXX wurde die Drittbeschwerdeführerin, Tochter der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers, in Österreich geboren und stellte der Zweitbeschwerdeführer für sie als gesetzlicher Vertreter am XXXX im Rahmen eines Familienverfahrens einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.4. Mit Eingabe vom XXXX wurde unter Berufung auf die erteilte Vollmacht von XXXX bekanntgegeben, dass die Beschwerdeführer im weiteren Verfahren von ihm vertreten werden.

1.5. Am XXXX wurde die Viertbeschwerdeführerin, Tochter der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers, in Österreich geboren und stellte die Erstbeschwerdeführerin für sie als gesetzliche Vertreterin am XXXX im Rahmen eines Familienverfahrens einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.6. Nach Zulassung der Verfahren durch Ausfolgung von Aufenthaltsberechtigungskarten wurden die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer am XXXX vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Kurzbezeichnung BFA; in der Folge belangte Behörde genannt) im Beisein einer Dolmetscherin für die Sprachen Dari und Farsi niederschriftlich einvernommen.

Die Erstbeschwerdeführerin gab für sich und ihre minderjährigen Töchter im Wesentlichen zusammengefasst an, dass ihre bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Sie und ihre Töchter seien afghanische Staatsangehörige und würden der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islams angehören. Sie selbst sei im Iran geboren und noch nie in Afghanistan gewesen. Ihre Eltern würden aus der Provinz XXXX stammen, aber ebenfalls im Iran leben. Neben ihren Eltern würden im Iran auch ihre vier Brüder leben. In Afghanistan verfüge sie über keine Verwandten mehr. Befragt zu ihrer Schul- und Berufsausbildung gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie sechs Jahre die Schule besucht und drei Jahre als Schneiderin gearbeitet habe. Sie beherrsche die Sprachen Dari und Farsi. Weiters spreche sie mittlerweile auch schon etwas Deutsch. Befragt zu ihren Fluchtgründen gab die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst an, dass sie im Iran schon einmal verheiratet gewesen wäre. Sie habe sich aber scheiden lassen und habe ihren nunmehrigen Ehemann geheiratet. Daraufhin seien sie und ihr Ehemann von ihrem Ex-Mann bedroht worden. Aus diesem Grund habe sie Ende XXXX gemeinsam mit ihrem Ehemann den Iran verlassen. Ergänzend gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass in Afghanistan Krieg herrsche und es dort keine Sicherheit geben würde. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung des Islams würde ihr und ihrer Familie dort Verfolgung drohen. Zudem hätten in Afghanistan Frauen keine Rechte. Hier in Österreich sei sie frei und könne sich z.B. schminken oder ihre Freundinnen treffen. Außerdem sei es ihr wichtig, dass ihre beiden Töchter hier in Freiheit aufwachsen und später selbst über ihre Zukunft entscheiden könnten. Zu ihrer Situation in Österreich befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie hier bereits einige Deutschkurse bis zum Niveau A2 besucht habe. Sie habe auch schon einige Monate den B1-Kurs besucht, die diesbezügliche Prüfung aber noch nicht absolviert. Weiters habe sie bereits Freundinnen gefunden und gehe mit ihnen ins Kaffeehaus oder ins Restaurant. Sie gehe auch alleine einkaufen und suche sich ihre Kleidung selbst aus. Weiters gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihre Angaben auch für ihre beiden Töchter gelten würden, diese hätten keine eigenen Fluchtgründe.

Der Zweitbeschwerdeführer gab im Wesentlichen zusammengefasst an, dass seine bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Er sei afghanischer Staatsangehöriger und würde der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung des Islams angehören. Er selbst sei im Iran geboren und noch nie in Afghanistan gewesen. Weiters wurde vom Zweitbeschwerdeführer angegeben, dass sein Geburtsdatum im bisherigen Verfahren nicht richtig protokolliert worden sei. Seine Eltern würden aus der Provinz XXXX stammen, aber schon lange im Iran leben. Neben seinen Eltern würden im Iran noch ein Bruder und eine Schwester von ihm leben. Ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester würden sich in Schweden aufhalten. In Afghanistan verfüge er über keine Verwandten mehr. Befragt zu seiner Schul- und Berufsausbildung gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er acht Jahre die Schule besucht und danach in der Landwirtschaft sowie am Bau gearbeitet habe. Er beherrsche die Sprache Farsi und könne mittlerweile auch schon etwas Deutsch sprechen. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Zweitbeschwerdeführer zusammengefasst an, dass seine Ehefrau im Iran schon einmal verheiratet gewesen wäre. Er und seine Ehefrau seien von ihrem Ex-Mann bedroht worden. Aus diesem Grund hätten sie gemeinsam den Iran verlassen. Nach Afghanistan könne er nicht zurückkehren, da er sich dort noch nie aufgehalten habe. Zu seiner Situation in Österreich befragt, gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er hier zusammen mit seiner Ehefrau und seinen beiden Töchtern lebe. Er habe bereits Deutschkurse bis zum Niveau A2 absolviert. Zurzeit besuche er den B1-Kurs. Weiters habe er einen Erste-Hilfe-Kurs absolviert. In seiner Freizeit spiele er mit anderen Leuten Fußball oder Volleyball bzw. gehe schwimmen.

Weiters wurden den Beschwerdeführern von der belangten Behörde Länderfeststellungen zu Afghanistan vorgehalten und ihnen die Möglichkeit eingeräumt, dazu binnen einer Wochen Stellung zu nehmen.

Im Zuge der Einvernahme wurde von den Beschwerdeführern ein Konvolut an integrationsbescheinigende Unterlagen in Vorlage gebracht.

1.7. Mit Schriftsatz vom XXXX wurde zu den im Rahmen der Einvernahme vom XXXX vorgehaltenen Länderfeststellungen vom bevollmächtigten Vertreter der Beschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst ausgeführt, dass die Erstbeschwerdeführerin in der Zeit ihres Aufenthaltes in Österreich einen westlichen Lebensstil verinnerlicht habe. Wie bereits in der Einvernahme von ihr dargelegt, führe sie in Österreich ein freies und selbstbestimmtes Leben und wolle auch weiterhin ein solches Leben - fernab des typisch afghanischen Frauenbildes - führen. Auch ihre beiden Kinder würden in diesem Sinne erzogen werden. Der Erstbeschwerdeführerin sei es wichtig, dass ihre Kinder ebenfalls ein selbstbestimmtes Leben führen und ihre Entscheidungen selbst treffen könnten, sei es in Bezug auf die Partnerwahl oder die Religion. Aufgrund der von der Erstbeschwerdeführerin angenommenen Lebensweise würde ihr bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dortigen aktuellen Situation für Frauen eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention drohen.

1.8. Mit den im Spruch genannten Bescheiden wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.); die Anträge bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.); ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt III.); gegen die Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt VI.).

1.9. Mit Verfahrensanordnung der belangten Behörde vom XXXX wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

1.10. Gegen die im Spruch genannten Bescheide der belangten Behörde erhob der bevollmächtigte Vertreter der Beschwerdeführer fristgerecht eine gemeinsame Beschwerde, mit der die Bescheide vollinhaltlich angefochten wurden. In der Begründung wurde der Beweisführung sowie der rechtlichen Beurteilung der belangten Behörde substantiiert entgegengetreten. Zudem wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.

2. Die gegenständlichen Beschwerden samt Verwaltungsakte langten der Aktenlage nach am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein. Im Rahmen der Beschwerdevorlage wurde von der belangten Behörde auf die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht verzichtet.

2.1. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte in der Folge eine mündliche Verhandlung für den XXXX an.

2.2. Mit Schriftsatz vom XXXX wurden vom bevollmächtigten Vertreter der Beschwerdeführer weitere integrationsbescheinigende Unterlagen, darunter das Prüfungszeugnis vom XXXX hinsichtlich der bestandenen Prüfung über die Kenntnisse der deutschen Sprache der Niveaustufe B1 durch die Erstbeschwerdeführerin, in Vorlage gebracht.

Weiters wurde in Ergänzung des Beschwerdevorbringens vorgebracht, dass sich das Leben der Erstbeschwerdeführerin hier in Österreich für sie komplett verändert habe. Sie habe in der Zeit ihres Aufenthaltes westliche Werte verinnerlicht und nütze die Chancen, die ihr hier geboten werden würden. So spreche die Erstbeschwerdeführerin mittlerweile Deutsch auf dem Niveau B1 und sei bestrebt in Zukunft einer Arbeit nachzugehen. Sie schätze die Freiheiten hier in Österreich und erziehe auch ihre Töchter nach diesen Werten. Weiters habe die Erstbeschwerdeführerin bereits viele österreichische Freunde gefunden und nehme am sozialen Leben in ihrer Heimatgemeinde teil, indem sie Feste bzw. Veranstaltungen besuche. Die Erstbeschwerdeführerin führe nunmehr ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben und sei diese Lebensführung ein Teil ihrer Identität geworden.

2.3. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX brachten die Beschwerdeführer nach Erläuterung des bisherigen Verfahrensganges und des Akteninhaltes im Beisein des bevollmächtigten Vertreters sowie eines Dolmetschers für die Sprache Farsi auf richterliche Befragung im Wesentlichen zusammengefasst vor, dass ihre bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Hinsichtlich seines Geburtsdatums gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass dieses von der belangten Behörde nicht richtig protokolliert worden sei. Er sei nicht am XXXX , sondern am XXXX geboren worden. Diesen Umstand habe er bereits im Rahmen seiner Einvernahme vor der belangten Behörde am XXXX angemerkt, sein Geburtsdatum sei aber in weiterer Folge nicht korrigiert worden. Auf richterliche Befragung gaben die Beschwerdeführer an, dass sie afghanische Staatsangehörige seien und der Volksgruppe der Hazara sowie der schiitischen Glaubensrichtung des Islams angehören würden. Ihre Muttersprache sei Dari. Da sie jedoch im Iran geboren und aufgewachsen seien, würden sie Farsi sprechen. In diesen beiden Sprachen würden sie auch lesen und schreiben können. Weiters wurde sowohl von der Erstbeschwerdeführerin als auch vom Zweitbeschwerdeführer angegeben, mittlerweile auch gut deutsch sprechen zu können. Befragt zu ihrer Schul- und Berufsausbildung gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie im Iran sechs Jahre die Schule besucht und die letzten drei Jahre vor ihrer Ausreise als Schneiderin gearbeitet habe. Eine Berufsausbildung habe sie jedoch nicht absolviert. Vom Zweitbeschwerdeführer wurde in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass er im Iran acht Jahre die Schule besucht habe und sechs Jahre als Fliesenleger gearbeitet habe. Auch er habe keine Berufsausbildung absolviert. Befragt zu ihrem Herkunftsort gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie - wie bereits angegeben - im Iran geboren worden sei. Ihre Eltern würden aus der Provinz XXXX stammen, hätten aber Afghanistan bereits vor 37 Jahren verlassen und würden seither im Iran leben. Neben ihren Eltern würden sich im Iran auch noch ihre vier Brüder sowie Onkeln und Tanten väterlichersowie mütterlicherseits aufhalten. Zu ihrer Familie habe sie regelmäßig Kontakt. Der Zweitbeschwerdeführer gab in diesem Zusammenhang an, dass er ebenfalls im Iran geboren worden sei. Seine Eltern würden aus der Provinz XXXX stammen, hätten Afghanistan aber bereits zur Zeit der iranischen Revolution verlassen und würden seither im Iran leben. Neben seinen Eltern würden im Iran noch ein Bruder und eine Schwester von ihm leben. Ein weiterer Bruder und eine weitere Schwester würden sich in Schweden aufhalten. Darüber hinaus verfüge er im Iran noch über Onkeln und Tanten väterlichersowie mütterlicherseits. Zu seiner Familie habe er regelmäßig Kontakt. Übereinstimmend gaben die Beschwerdeführer an, dass sie in Afghanistan über keine Verwandten mehr verfügen würden.

Zu ihrer Situation in Österreich befragt gab die Erstbeschwerdeführerin im Wesentlichen zusammengefasst an, dass sie bereits kurz nach ihrer Ankunft in Österreich begonnen habe, Deutschkurse zu besuchen. Sie habe bereits die Prüfungen bis zum Niveau B1 positiv abgelegt. Zu ihrer Zukunft in Österreich gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie bestrebt sei einen Beruf zu erlernen, da sie ihr eigenes Geld verdienen und ein selbstständiges Leben führen wolle. Sie würde gerne als Verkäuferin arbeiten und habe sich diesbezüglich auch schon in einem Bekleidungsgeschäft erkundigt, welche Voraussetzungen sie für diesen Beruf mitbringen müsse. In ihrer Freizeit treffe sie sich regelmäßig mit ihren österreichischen Freundinnen und Freunden und sie würden z.B. einen Kaffee zusammen trinken gehen. Auch gehe sie gerne mit ihren Freundinnen oder ihrer Familie in ein öffentliches Schwimmbad zum Schwimmen. Befragt gab die Erstbeschwerdeführerin dazu an, dass sie dabei einen Badeanzug bzw. einen Bikini, wie auch alle anderen Frauen, trage. Zudem trage sie seit sie in Österreich sei kein Kopftuch mehr, würde sich schminken, Schmuck tragen und sich auch wie andere österreichische Frauen kleiden. Befragt zu ihrer Ehe gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie sich gleichberechtigt neben ihrem Ehemann sehe. Sie verwalte auch das Familieneinkommen und gehe alleine einkaufen bzw. nehme Behördenwege oder Arztbesuche ohne Begleitung ihres Ehemannes wahr. Sie müsse ihren Ehemann auch nicht um Erlaubnis fragen, wenn sie etwas alleine unternehmen wolle. So passe ihr Ehemann auch auf ihre beiden Töchter auf, wenn sie sich mit ihren Freundinnen bzw. Freunden treffe. Befragt zur Erziehung ihrer Kinder gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass es ihr wichtig sei, dass ihre Töchter hier in Österreich eine gute Schul- und Berufsausbildung erhalten würden. Die diesbezüglichen Entscheidungen würden ihre Töchter aber später einmal selbst treffen können. Auch hätten ihre Töchter die Freiheit selbst zu entscheiden, wen sie heiraten bzw. welcher Religion sie angehören wollen würden. In dieser Hinsicht werde sie ihnen keine Vorgaben machen. Weiters gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie sich die Erziehung ihrer Töchter mit ihrem Ehemann teile.

Nach Erörterung jener Länderberichte, die der Entscheidung zugrunde gelegt werden, gaben die Beschwerdeführer und ihr bevollmächtigter Vertreter an, dass auf eine Stellungnahme dazu verzichtet werde. Abschließend wurde vom bevollmächtigten Vertreter der Beschwerdeführer ausgeführt, dass die Erstbeschwerdeführerin durch ihr Auftreten und ihre Aussagen in der heutigen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht glaubhaft dargelegt habe, dass sie nunmehr ein eigenständiges sowie selbstbestimmtes Leben führe und dass diese Lebenseinstellung zu einem Teil ihrer Identität geworden sei. Sie wünsche sich für sich selbst und ihre Töchter ein freies Leben, fernab des typischen afghanischen Frauenbildes.

2.4. Weiters wurde vom Bundesverwaltungsgericht eine Kopie der Niederschrift der mündlichen Verhandlung der belangten Behörde übermittelt. Eine Stellungnahme dazu wurde von dieser nicht erstattet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer tragen die im Spruch genannten Namen und sind am XXXX (Erstbeschwerdeführerin), am XXXX (Zweitbeschwerdeführer), am XXXX (Drittbeschwerdeführerin) sowie am XXXX (Viertbeschwerdeführerin) geboren. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind verheiratet und die Eltern der minderjährigen Dritt- und der minderjährigen Viertbeschwerdeführerin. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer haben, bevor sie nach Österreich eingereist sind, im Iran geheiratet.

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, gehören der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensrichtung des Islams an. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind im Iran geboren und sind noch nie in Afghanistan gewesen. Die Eltern der Erstbeschwerdeführerin stammen aus der Provinz XXXX , haben Afghanistan aber bereits vor ca. 37 Jahren verlassen und leben seither im Iran. Weiters halten sich im Iran noch die vier Brüder der Erstbeschwerdeführerin sowie alle ihre Onkel und Tanten väterlicher- sowie mütterlicherseits auf. Die Eltern des Zweitbeschwerdeführers stammen aus der Provinz XXXX , haben Afghanistan aber bereits zur Zeit der iranischen Revolution verlassen und leben seither im Iran. Weiters halten sich im Iran noch eine Schwester und ein Bruder sowie alle seine Onkel und Tanten väterlicher- sowie mütterlicherseits auf. Der zweite Bruder und die zweite Schwester des Zweitbeschwerdeführers leben in Schweden. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer haben regelmäßig telefonischen Kontakt zu ihren Familienmitgliedern im Iran. Weder die Erstbeschwerdeführerin noch der Zweitbeschwerdeführer verfügen in Afghanistan über Verwandte. Die Dritt- und die Viertbeschwerdeführerin sind in Österreich geboren.

Im Jahr XXXX haben die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer gemeinsam den Iran verlassen und sind schlepperunterstützt nach Österreich gereist und haben hier am XXXX die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Der Antrag auf internationalen Schutz für die minderjährige Drittbeschwerdeführerin ist am XXXX durch den Zweitbeschwerdeführer und der Antrag auf internationalen Schutz für die minderjährige Viertbeschwerdeführerin ist am XXXX durch die Erstbeschwerdeführerin gestellt worden.

Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Dari. Weiters beherrschen sie auch noch die Sprache Farsi. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer können in diesen Sprachen auch lesen und schreiben. Weiters verfügt die Erstbeschwerdeführerin über bereits sehr weit fortgeschrittene Kenntnisse der deutschen Sprache. Die Erstbeschwerdeführerin hat im Iran sechs Jahre die Schule besucht und vor ihrer Ausreise drei Jahre als Schneiderin gearbeitet. Über eine Berufsausbildung verfügt sie nicht. Der Zweitbeschwerdeführer hat im Iran acht Jahre die Schule besucht und sechs Jahre als Fliesenleger gearbeitet. Über eine Berufsausbildung verfügt er nicht.

Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur Situation der Erstbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine selbstständige Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Sie kleidet sich nach westlicher Mode und schminkt sich. Auf das Tragen des Kopftuches wird verzichtet. Die Erstbeschwerdeführerin hat in Österreich bereits mehrere Deutschkurse besucht und hat am XXXX die Prüfung über die Kenntnisse der deutschen Sprache der Niveaustufe B1 erfolgreich absolviert. Sie beabsichtigt einen Beruf auszuüben, um in Österreich berufliche und wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erlangen. Sie bewältigt ihren Alltag in Österreich selbstständig und sieht sich als gleichberechtigt neben ihrem Ehemann an. Die Erstbeschwerdeführerin teilt sich die Erziehung der Kinder mit ihrem Ehemann und das Familieneinkommen wird von ihr verwaltet. Die Erstbeschwerdeführerin will ihre beiden Töchter frei von Zwängen erziehen und ist sehr darum bemüht, dass ihre Töchter in Österreich eine gute Schul- und Berufsausbildung erhalten, damit sie ein selbstbestimmtes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führen können. Weiters geht die Erstbeschwerdeführerin alleine einkaufen bzw. absolviert falls erforderlich Arztbesuche und Behördenwege selbstständig. In ihrer Freizeit trifft sie sich regelmäßig mit ihren österreichischen Freundinnen bzw. Freunden und geht mit diesen z. B. Kaffee trinken. Weiters geht sie öfters zusammen mit ihren Freundinnen oder ihrer Familie schwimmen. Wenn die Erstbeschwerdeführerin etwas mit ihren Freundinnen bzw. Freunden unternimmt, beaufsichtigt ihr Ehemann während dieser Zeit die Kinder. Die von der Erstbeschwerdeführerin angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Sie lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die persönliche Haltung der Erstbeschwerdeführerin über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

Der Erstbeschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer Wertehaltung eine Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen. Vom afghanischen Staat kann sie keinen effektiven Schutz erwarten. Ebenso besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer:

Aufgrund der in der Ladung angeführten und im Rahmen der mündlichen Verhandlung mit den Beschwerdeführern erörterten aktuellen Erkenntnisquellen zur Lage in Afghanistan werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, in der Fassung vom 04.06.2019:

Politische Lage (Verfassung):

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Sicherheitslage (Allgemein):

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im ersten Quartal 2019 (1.1.2019 - 31.3.2019) 1.773 zivile Opfer (581 Tote und 1.192 Verletzte), darunter waren 582 der Opfer Kinder (150 Tote und 432 Verletzte). Dies entspricht einem Rückgang der gesamten Opferzahl um 23% gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres, welches somit der niedrigste Wert für das erste Jahresquartal seit 2013 ist (UNAMA 24.4.2019).

Diese Verringerung wurde durch einen Rückgang der Zahl ziviler Opfer von Selbstmordanschlägen mit IED (Improvised Explosive Devices - unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung/Sprengfallen) verursacht. Der Quelle zufolge könnten die besonders harten Winterverhältnisse in den ersten drei Monaten des Jahres 2019 zu diesem Trend beigetragen haben. Es ist unklar, ob der Rückgang der zivilen Opfer wegen Maßnahmen der Konfliktparteien zur Verbesserung des Schutzes der Zivilbevölkerung oder durch die laufenden Gespräche zwischen den Konfliktparteien beeinflusst wurde (UNAMA 24.4.2019).

Die Zahl der zivilen Opfer aufgrund von Nicht-Selbstmord-Anschlägen mit IEDs durch regierungsfeindliche Gruppierungen und Luft- sowie Suchoperationen durch regierungsfreundliche Gruppierungen ist gestiegen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, die regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben wurden, übertraf im ersten Quartal 2019 die zivilen Todesfälle, welche von regierungsfeindlichen Elementen verursacht wurden (UNAMA 24.4.2019).

Kampfhandlungen am Boden waren die Hauptursache ziviler Opfer und machten etwa ein Drittel der Gesamtzahl aus. Der Einsatz von IEDs war die zweithäufigste Ursache für zivile Opfer: Im Gegensatz zu den Trends von 2017 und 2018 wurde die Mehrheit der zivilen Opfer von IEDs nicht durch Selbstmordanschläge verursacht, sondern durch Angriffe, bei denen der Angreifer nicht seinen eigenen Tod herbeiführen wollte. Luftangriffe waren die Hauptursache für zivile Todesfälle und die dritthäufigste Ursache für zivile Opfer (Verletzte werden auch mitgezählt, Anm.), gefolgt von gezielten Morden und explosiven Kampfmittelrückständen (UXO - unexploded ordnance). Am stärksten betroffen waren Zivilisten in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kunduz (in dieser Reihenfolge) (UNAMA 24.4.2019).

Nach dem Taliban-Angriff auf Ghazni-Stadt im August 2018, bestand weiterhin die Befürchtung, dass die Taliban großangelegte Angriffe im Südosten des Landes verüben könnten. Dies war zwar nicht der Fall, dennoch setzten Talibankämpfer die afghanischen Sicherheitskräfte am Stadtrand von Ghazni, in Distrikten entlang des Highway One nach Kabul und durch die Einnahme des Distrikts Andar in Ghazni im Oktober weiterhin unter Druck. Im Westen der Provinz Ghazni, wo die ethnische Gruppierung der Hazara eine Mehrheit bildet, verschlechterten sich die Sicherheitsbedingungen wegen großangelegter Angriffe der Taliban, was im November zur Vertreibung zahlreicher Personen führte. In Folge eines weiteren Angriffs der Taliban im Distrikt Khas Uruzgan der Provinz Uruzgan im selben Monat wurden ebenfalls zahlreiche Hazara-Familien vertrieben. Des Weiteren nahmen Talibankämpfer in verschiedenen Regionen vorübergehend strategische Positionen entlang der Hauptstraßen ein und behinderten somit die Bewegungsfreiheit zwischen den betroffenen Provinzen. Beispiele dafür sind Angriffe entlang Hauptstraßen nach Kabul in den Distrikten Daymirdad und Sayyidabad in Wardak, der Route Mazar - Shirbingham und Maimana - Andkhoy in den nördlichen Provinzen Faryab, Jawzjan und Balkh und der Route Herat - Qala-e-Naw im westlichen Herat und Badghis (UNGASC 7.12.2018). Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 gemäß SIGAR die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.1.2019).

Im Laufe des Wahlregistrierungsprozesses und während der Wahl am 20. und am 21. Oktober wurden zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die Taliban und den Islamischen Staat - Provinz Khorasan (ISKP) beansprucht wurden (UNGASC 7.12.2018; vgl. UNAMA 10.10.2018, UNAMA 11.2018). Während der Wahl in der Provinz Kandahar, die wegen Sicherheitsbedenken auf den 27. Oktober verschoben worden war, wurden keine sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Die afghanischen Sicherheitskräfte entdeckten und entschärften einige IED [Improvised Explosive Devices - Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen] in Kandahar-Stadt und den naheliegenden Distrikten (UNAMA 11.2018). Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hatte zwischen 1.1.2018 und 30.9.2018 im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen insgesamt 366 zivile Opfer (126 Tote und 240 Verletzte) registriert (UNAMA 10.10.2018). Am offiziellen Wahltag, dem 20. Oktober, wurden 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) registriert, darunter 117 Kinder (21 Tote und 96 Verletzte) und 48 Frauen (2 Tote und 46 Verletzte). Am folgenden Wahltag, dem 21. Oktober, wurden 47 weitere zivile Opfer (4 Tote und 43 Verletzte) verzeichnet, inklusive 17 Kinder (2 Tote und 15 Verletzte) und Frauen (3 Verletzte). Diese Zahlen beinhalten auch Opfer innerhalb der Afghan National Police (ANP) und der Independet Electoral Commission (IEC) (UNAMA 11.2018). Die am 20. Oktober am meisten von sicherheitsrelevanten Vorfällen betroffenen Städte waren Kunduz und Kabul. Auch wenn die Taliban in den von ihnen kontrollierten oder beeinflussten Regionen die Wählerschaft daran hinderten, am Wahlprozess teilzunehmen, konnten sie die Wahl in städtischen Gebieten dennoch nicht wesentlich beeinträchtigen (trotz der hohen Anzahl von Sicherheitsvorfällen) (UNGASC 7.12.2018).

Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst - laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 22.10.2018 53,8% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9% der Distrikte sind umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Der ISKP ist weiterhin im Osten des Landes präsent und bekennt sich zu Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen in Nangarhar und zu sechs Angriffen in Kabul-Stadt. Des Weiteren finden in den Provinzen Nangarhar und Kunar weiterhin Kämpfe zwischen ISKP- und Talibankämpfern statt. Die internationalen Streitkräfte führten Luftangriffe gegen den ISKP in den Distrikten Deh Bala, Achin, Khogyani, Nazyan und Chaparhar der Provinz Nangarhar aus (UNGASC 7.12.2018).

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte), eine allgemeine Steigerung von 5% sowie eine Steigerung der Zahl der Toten um 11% gegenüber dem Vorjahreswert. 42% der zivilen Opfer (4.627 Opfer;

1.361 Tote und 3.266 Verletzte) wurden durch IED im Zuge von Anschlägen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich ISKP) verursacht. Die Anzahl der Selbstmordanschläge unter Einsatz von IED stieg dabei um 22% und erreichte somit einen Rekordwert. Diese Art von Anschlägen verursachte 26% aller zivilen Opfer, während IED, die bei Nichtselbstmordanschlägen verwendet wurden, 16% der zivilen Opfer forderten. Kabul war mit insgesamt 1.866 Opfern (596 Tote und 1.270 Verletzte) die Provinz mit der höchsten Anzahl an Selbstmordanschlägen durch IED, während die Zahl der Opfer in Nangarhar mit insgesamt 1.815 (681 Tote und 1.134 Verletzte) zum ersten Mal fast die Werte von Kabul erreichte (hauptsächlich wegen des Einsatzes von IED bei Nichtselbstmordanschlägen). Kabul-Stadt verzeichnete insgesamt 1.686 zivile Opfer (554 Tote und 1.132 Verletzte) wegen komplexen und Selbstmordangriffen (UNAMA 24.2.2019).

Zusammenstöße am Boden (hauptsächlich zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Gruppierungen) verursachten 31% der zivilen Opfer (insgesamt 3.382; davon 814 Tote und 2.568 Verletzte), was einen Rückgang um 3% im Vergleich mit dem Vorjahreswert bedeutet. Grund dafür war der Versuch regierungsfreundlicher Gruppierungen, die zivile Bevölkerung zu schonen. Die Verlagerung der Kämpfe in dünn besiedelte Gebiete, die Vorwarnung der lokalen Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen und die Implementierung von Strategien zum Schutz der Bevölkerung waren einige der bestimmenden Faktoren für den Rückgang bei zivilen Opfern. Jedoch ist die Opferzahl bei gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichteten komplexen Angriffen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen gestiegen (plus 48% gegenüber 2017; 4.125 Opfer insgesamt, davon 1.404 Tote und 2.721 Verletzte). Sowohl der ISKP als auch die Taliban griffen gezielt Zivilisten an: Der ISKP war für 1.871 zivile Opfer verantwortlich, darunter waren u.a. Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft, und die Taliban für 1.751. Obwohl die Gesamtzahl der zivilen Opfer durch gezielte Tötungen von Einzelpersonen (hauptsächlich durch Erschießung) zurückging, blieben Zivilisten inklusive religiöser Führer und Stammesältester weiterhin Ziele regierungsfeindlicher Gruppierungen. Die Gesamtzahl der durch Luftangriffe verursachten zivilen Opfer stieg im Vergleich mit dem Vorjahreswert um 61% und die Zahl der Todesopfer erreichte 82%. 9% aller zivilen Opfer wurden Luftangriffen (mehrheitlich der internationalen Luftwaffe) zugeschrieben, der höchste Wert seit 2009 (UNAMA 24.2.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen waren im UNAMA-Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) für 6.980 zivile Opfer (2.243 Tote und 4.737 Verletzte) verantwortlich. Das entspricht 63% der gesamten zivilen Opfer. 37% davon werden den Taliban, 20% dem ISKP und 6% unbestimmten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben. Im Laufe des Jahres 2018 wurden vermehrt Anschläge gegen Bildungseinrichtungen verzeichnet, meist durch Talibankämpfer, da in Schulen Registrierungs- und Wahlzentren untergebracht waren. Der ISKP attackierte und bedrohte Bildungseinrichtungen als Reaktion auf militärische Operationen afghanischer und internationaler Streitkräfte. UNAMA berichtet auch über anhaltende Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, welche Auswirkungen auf einen Großteil der zivilen Bevölkerung haben. Trotzdem die Taliban nach eigenen Angaben Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen haben, attackierten diese weiterhin Zivilisten, zivile Einrichtungen und regierungsfreundliche Gruppierungen in Zivilgebieten (UNAMA 24.2.2019).

Ungefähr 24% der zivilen Opfer (2.612, davon 1.185 Tote und 1.427 Verletzte), werden regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben: 14% den afghanischen Sicherheitskräften, 6% den internationalen Streitkräften und 4% unbestimmten regierungsfreundlichen Gruppierungen. Die Steigerung um 4% gegenüber dem Vorjahr geht auf Luftangriffe der internationalen Streitkräfte und Fahndungsaktionen der afghanischen Sicherheitskräfte und regierungsfreundlicher Gruppierungen zurück (UNAMA 24.2.2019).

Die verbleibenden 13% der verzeichneten zivilen Opfer wurden im Kreuzfeuer während Zusammenstößen am Boden (10%), durch Beschuss aus Pakistan (1%) und durch die Explosion von Blindgängern verursacht (UNAMA 24.2.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden:

das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).

Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen - insbesondere die Taliban - ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017).

Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören u.a. die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (SIGAR 1.2018).

Außerdem haben Militäroperationen der pakistanischen Regierung einige Zufluchtsorte Aufständischer zerstört. Jedoch genießen bestimmte Gruppierungen, wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk Bewegungsfreiheit in Pakistan (USDOD 12.2017). Die Gründe dafür sind verschiedene: das Fehlen einer Regierung, das permissive Verhalten der pakistanischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsamen kommunalen Bindungen über die Grenze und die zahlreichen illegalen Netzwerke, die den Aufständischen Schutz bieten (AAN 17.10.2017).

Rechtsschutz/Justizwesen:

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. (Casolino 2011). Die wichtigste religiöse Institution des Landes ist der Ulema-Rat (Afghan Ulama Council - AUC, Shura-e ulama-e afghanistan, Anm.), eine nationale Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. den Präsidenten in islamrechtlichen Angelegenheiten berät und Einfluss auf die Rechtsformulierung und die Auslegung des existierenden Rechts hat (USDOS 15.8.2017; vgl. AB 7.6.2017, AP o.D.).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.:

Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (NYT 26.12.2015; vgl. AP o.D.).

Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen, einschließlich Menschenrechtsverträge, vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (AP o.D.; vgl. vertrauliche Quelle 10.4.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle als auch das islamische Recht anzuwenden (AP o.D.).

Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten umgesetzt. Die Umsetzung der rechtlichen Bestimmungen ist innerhalb des Landes uneinheitlich. Dem Gesetz nach gilt für alle Bürger/innen die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Bürger/innen sind bzgl. ihrer Verfassungsrechte oft im Unklaren und es ist selten, dass Staatsanwälte die Beschuldigten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informieren. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt, sich von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt (USDOS 20.4.2018). In Afghanistan existieren keine Strafverteidiger nach dem westlichen Modell; traditionell dienten diese nur als Mittelsmänner zwischen der anklagenden Behörde, dem Angeklagten und dem Gericht. Seit 2008 ändert sich diese Tendenz und es existieren Strafverteidiger, die innerhalb des Justizministeriums und auch außerhalb tätig sind (NYT 26.12.2015). Der Zugriff der Anwälte auf Verfahrensdokumente ist oft beschränkt (USDOS 3.3.2017) und ihre Stellungnahmen werden während der Verfahren kaum beachtet (NYT 26.12.2015). Berichten zufolge zeigt sich die Richterschaft jedoch langsam respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern (USDOS 20.4.2018).

Gemäß einem Bericht der New York Times über die Entwicklung des afghanischen Justizwesens wurden im Land zahlreiche Fortbildungskurse für Rechtsgelehrte durch verschiedene westliche Institutionen durchgeführt. Die Fortbildenden wurden in einigen Fällen mit bedeutenden Aspekten der afghanischen Kultur (z. B. Respekt vor älteren Menschen), welche manchmal mit der westlichen Orientierung der Fortbildenden kollidierten, konfrontiert. Auch haben Strafverteidiger und Richter verschiedene Ausbildungshintergründe: Während Strafverteidiger rechts- und politikwissenschaftliche Fakultäten besuchen, studiert der Großteil der Richter Theologie und islamisches Recht (NYT 26.12.2015).

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll (USIP 3.2015; vgl. USIP o.D.). Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht. Dazu zählen unter anderem das Frauenrecht, Strafrecht und -verfahren, die Verbindlichkeit von Rechten gemäß internationalem Recht und der gesamte Bereich der Grundrechte (USIP o. D.).

Laut dem allgemeinen Islamvorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Trotz großer legislativer Fortschritte in den vergangenen 14 Jahren gibt es keine einheitliche und korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht) (AA 9.2016; vgl. USIP o.D., NYT 26.12.2015, WP 31.5.2015, AA 5.2018). Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, so ist nicht festgelegt, welches Gesetz im Fall eines Konflikts zwischen dem traditionellen islamischen Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und eine fehlende Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen (AA 5.2018).

Das kodifizierte Recht wird unterschiedlich eingehalten, wobei Gerichte gesetzliche Vorschriften oft zugunsten der Scharia oder lokaler Gepflogenheiten missachteten. Bei Angelegenheiten, wo keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht (welches auch nicht einheitlich ist, Anm.) durch (USDOS 20.4.2018).

Gemäß dem "Survey of the Afghan People" der Asia Foundation (AF) nutzten in den Jahren 2016 und 2017 ca. 20.4% der befragten Afghan/innen nationale und lokale Rechtsinstitutionen als Schlichtungsmechanismen. 43.2% benutzten Schuras und Jirgas, während 21.4% sich an die Huquq-Abteilung [Anm.: "Rechte"-Abteilung] des Justizministeriums wandten. Im Vergleich zur städtischen Bevölkerung bevorzugten Bewohner ruraler Zentren lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Schuras und Jirgas (AF 11.2017; vgl. USIP o.D., USDOS 20.4.2018). Die mangelnde Präsenz eines formellen Rechtssystems in ruralen Gebieten führt zur Nutzung lokaler Schlichtungsmechanismen. Das formale Justizsystem ist in den städtischen Zentren relativ stark verankert, da die Zentralregierung dort am stärksten ist, während es in den ländlichen Gebieten - wo ungefähr 76% der Bevölkerung leben - schwächer ausgeprägt ist (USDOS 3.3.2017; vgl. USDOS 20.4.2018). In einigen Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle setzen die Taliban ein paralleles auf der Scharia basierendes Rechtssystem um (USDOS 20.4.2018).

Die Unabhängigkeit des Justizwesens ist gesetzlich festgelegt; jedoch wird die afghanische Judikative durch Unterfinanzierung, Unterbesetzung, inadäquate Ausbildung, Unwirksamkeit und Korruption unterminiert (USDOS 20.4.2018). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent angewandt (AA 9.2016). Dem Justizsystem mangelt es weiterhin an der Fähigkeit die hohe Anzahl an neuen und novellierten Gesetzen einzugliedern und durchzuführen. Der Zugang zu Gesetzestexten wird zwar besser, ihre geringe Verfügbarkeit stellt aber für einige Richter/innen und Staatsanwälte immer noch eine Behinderung dar. Die Zahl der Richter/innen, welche ein Rechtsstudium absolviert haben, erhöht sich weiterhin (USDOS 3.3.2017). Im Jahr 2017 wurde die Zahl der Richter/innen landesweit auf 1.000 geschätzt (CRS 13.12.2017), davon waren rund 260 Richterinnen (CRS 13.12.2017; vgl. AT 29.3.2017). Hauptsächlich in unsicheren Gebieten herrscht ein verbreiteter Mangel an Richtern und Richterinnen. Nachdem das Justizministerium neue Richterinnen ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen in unsichere Provinzen versetzen wollte und diese protestierten, beschloss die Behörde, die Richterinnen in sicherere Provinzen zu schicken (USDOS 20.4.2018). Im Jahr 2015 wurde von Präsident Ghani eine führende Anwältin, Anisa Rasooli, als erste Frau zur Richterin des Obersten Gerichtshofs ernannt, jedoch wurde ihr Amtsantritt durch das Unterhaus [Anm.: "wolesi jirga"] verhindert (AB 12.11.2017; vgl. AT 29.3.2017). Auch existiert in Afghanistan die "Afghan Women Judges Association", ein von Richterinnen geführter Verband, wodurch die Rechte der Bevölkerung, hauptsächlich der Frauen, vertreten werden sollen (TSC o.D.).

Korruption stellt weiterhin ein Problem innerhalb des Gerichtswesens dar (USDOS 20.4.2017; vgl. FH 11.4.2018); Richter/innen und Anwält/innen sind oftmals Ziel von Bedrohung oder Bestechung durch lokale Anführer oder bewaffnete Gruppen (FH 11.4.2018), um Entlassungen oder Reduzierungen von Haftstrafen zu erwirken (USDOS 20.4.2017). Wegen der Langsamkeit, der Korruption, der Ineffizienz und der politischen Prägung des afghanischen Justizwesens hat die Bevölkerung wenig Vertrauen in die Judikative (BTI 2018). Im Juni 2016 errichtete Präsident Ghani das "Anti-Corruption Justice Center" (ACJC), um innerhalb des Rechtssystems gegen korrupte Minister/innen, Richter/innen und Gouverneure/innen vorzugehen, die meist vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt waren (AB 17.11.2017; vgl. Reuters 12.11.2016). Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen (BTI 2018). Seit 1.1.2018 ist Afghanistan für drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.2.2018).

Haftbedingungen:

Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), ist verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) des Justizministeriums ist verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren. Das National Directorate of Security (NDS) unter den Afghan National Security Forces (ANDSF) ist für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Bezirksebene verantwortlich. Das Verteidigungsministerium (MoD) betreibt die afghanischen nationalen Haftanstalten in Parwan. Berichten zufolge verwalten Mitglieder der ANDSF private Gefängnisse, in denen Gefangene misshandelt werden (USDOS 20.4.2018). Die Haftbedingungen in Afghanistan entsprechen nicht den internationalen Standards. Es gibt Berichte über Misshandlungen in Gefängnissen. Vor allem Frauen und Kinder werden häufig Opfer von Misshandlungen (AA 5.2018).

Wegen der Überbelegung, den unhygienischen Verhältnissen und dem begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung sind die Haftbedingungen in afghanischen Gefängnissen schwierig. Es herrscht ein Mangel an separaten Einrichtungen für Untersuchungs- und Strafhäftlinge. Lokale Gefängnisse und Haftanstalten haben nicht immer getrennte Einrichtungen für weibliche Gefangene. Überbelegung ist weiterhin ein ernstes, verbreitetes Problem: Gemäß den empfohlenen Standards des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) waren 28 von 34 Gefängnissen für Männer stark überbelegt. Mit Stand Juni 2017 befanden sich im Pul-e-Charkhi-Gefängnis, der größten Vollzugsanstalt des Landes, 11.527 Gefangene, darunter u.a. Kinder von inhaftierten Müttern, was doppelt so viel war wie vorgesehen (USDOS 20.4.2018). Schätzungen zufolge leben über 300 Kinder in afghanischen Gefängnissen, ohne selbst eine Straftat begangen zu haben. Ab einem Alter von fünf Jahren ist es möglich, die Kinder in ein Heim zu transferieren. Allerdings gibt es diese Heime nicht in jeder Provinz. Die wenigen existierenden Heime sind überfüllt. Zusätzlich müssen die Mütter einem Transfer der Kinder in ein Heim zustimmen (AA 5.2018).

Der Zugang zu Nahrung, Trinkwasser, sanitären Anlagen, Heizung, Lüftung, Beleuchtung und medizinischer Versorgung in den Gefängnissen ist landesweit unterschiedlich und im Allgemeinen unzureichend. Einigen Quellen zufolge ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser in Gefängnissen des GDPCD hingegen ausreichend. Nichtsdestotrotz ist das Budget für das nationale Ernährungsprogramm von Häftlingen des GDPDC sehr limitiert. Daher müssen Familienangehörige oft für die notwendigen Nahrungsergänzungsmittel usw. aufkommen (USDOS 20.4.2018).

Im Oktober 2015 unterzeichneten das Gesundheitsministerium (MoPH) und das Innenministerium eine gemeinsame Absichtserklärung zur Erbringung von Gesundheitsdiensten in Gefängnissen und Haftanstalten landesweit. Das Dokument beschreibt die Zuständigkeiten beider Ministerien bzgl. der Gewährleistung von Zugang zu angemessenen, kostenlosen Gesundheitsdienstleistungen und regelmäßigen Untersuchungen durch qualifizierte medizinische Fachkräfte. Einem Bericht der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) über medizinische Dienste in den afghanischen Gefängnissen zufolge bot ein Großteil der von UNAMA besuchten Strafvollzugsanstalten des NDS die Möglichkeit, grundlegende medizinische Untersuchungen und Behandlungen der Gefangenen durchzuführen, obwohl es kein Abkommen zwischen MoPH und NDS gab. Einige vom NDS betriebene Einrichtungen hatten gut ausgestattete Kliniken und andere konnten hingegen nur grundlegende medizinische Versorgungsdienste gewährleisten (UNAMA 3.2016).

Beobachter berichten über landesweit vorkommende willkürliche, längere Inhaftierungen. Dabei bleiben die Inhaftierten oft über die gegen sie erhobene Anklage im Unklaren. Garantien wie Rechtsberatung, die Nutzung von Haftbefehlen und die zeitliche Begrenzung des Gewahrsams ohne Anklageerhebung, sind zwar vom Gesetz vorgesehen, werden jedoch nicht immer eingehalten. Auch gewährt das Gesetz einem Angeklagten das Recht, gegen die Untersuchungshaft Einspruch zu erheben und ein Gerichtsverfahren zu beantragen. Nichtsdestotrotz stellt die lange Untersuchungshaft weiterhin ein Problem dar. Aufgrund fehlender Ressourcen, einer geringen Anzahl an Verteidigern, unerfahrenen Rechtsanwälten sowie Korruption profitierten viele Inhaftierte nicht von allen Bestimmungen der Strafprozessordnung. Viele Häftlinge werden trotz der rechtlichen Bestimmungen über die gesetzliche Frist hinaus festgehalten, selbst wenn es keine Anklage gibt (USDOS 20.4.2018).

Häftlinge sind gesetzlich dazu berechtigt, bis zu 20 Tage das Gefängnis zu verlassen, um Familienbesuche abzustatten; jedoch setzen zahlreiche Justizvollzugsanstalten diese Vorschriften nicht um. Des Weiteren ist die Zielgruppe des Gesetzes nicht klar definiert (USDOS 20.4.2018).

Einem Bericht über die Haftbedingungen in Afghanistan zwischen Jänner 2015 und Dezember 2016 zufolge berichteten 39% der Befragten, dass sie während der Verhaftung oder des Gewahrsams in verschiedenen Strafvollzugsanstalten des NDS oder der ANP gefoltert bzw. misshandelt geworden würden (HRC 21.2.2018). Trotz des rechtlich verankerten Folterverbots wird von Foltervorfällen durch di

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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